<author TEIform="author"/> </titleStmt> <publicationStmt TEIform="publicationStmt"> <publisher TEIform="publisher"/> <date TEIform="date"/> <idno>o:usb-06C-342</idno> </publicationStmt> </fileDesc> </teiHeader> <text TEIform="text"> <front TEIform="front"> <titlePage TEIform="titlePage"> <docTitle TEIform="docTitle"> <titlePart TEIform="titlePart" type="main"> <hi TEIform="hi" rend="bold">Point of View und „Inettitudine“ in Svevos <hi TEIform="hi" rend="bold-italic">Senilità</hi> </hi> </titlePart> <titlePart TEIform="titlePart" type="sub"/> </docTitle> <docAuthor TEIform="docAuthor"> <name TEIform="name"/> </docAuthor> <docDate TEIform="docDate"/> </titlePage> </front> <body TEIform="body"> <div TEIform="div" org="uniform" part="N" sample="complete"> <head TEIform="head"> <hi TEIform="hi" rend="bold"/> </head> <p TEIform="p" type="TO">Als ein konstitutives Phänomen moderner Romanentwicklung gilt seit langem der Übergang von einem Erzählen, in dem der Erzähler allwissend über das Innenleben der Figuren verfügt, zu stärker eingeschränkten und personal perspektivierten Erzählsituationen. Wesentliche Stationen auf diesem Weg, der etwa von Franz K. Stanzel idealtypisch beschrieben worden ist<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="1" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Vgl. dazu <hi TEIform="hi" rend="italic">Die typischen Erzählsituationen im Roman</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>Wien-Stuttgart 1955, sowie das Resümee in <hi TEIform="hi" rend="italic">Theorie des Erzählens</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>Göttingen3 1985, 242.</p> </note> </hi>, sind vor allem die Romane Flauberts und Henry James’. Besonders an <hi TEIform="hi" rend="italic">Madame Bovary</hi> oder <hi TEIform="hi" rend="italic">L’Education sentimentale </hi>läßt sich beobachten, wie auktorial begründete Introspektivanalysen zunehmend zurücktreten, wie die Wahrnehmung des Geschehens stattdessen aus dem Blickwinkel einer einzigen privilegierten Figur – Emma Bovarys oder Frédéric Moreaus – erfolgt und wie der style indirect libre, die erlebte Rede, mehr und mehr die traditionelle Form des Gedankenberichts verdrängt.<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="2" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Eine detaillierte Darstellung dieses Prozesses liefert U. Dethloff: <hi TEIform="hi" rend="italic">Das Romanwerk Gustave Flauberts</hi>, München 1976, bes. 104–183.</p> </note> </hi> Was sich als Standard einer gleichsam realistischen Perspektivik bei Flaubert durchsetzt, wird dann von Henry James zur Virtuosität des narrativen Tour de force zugespitzt<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="3" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Problematischer wirkt in diesem Zusammenhang die Position Marcel Prousts, in dessen <hi TEIform="hi" rend="italic">Recherche </hi>ein ‚auktoriales‘ Balzacsches Erzählmodell die „règle ‚flaubertienne‘“ bekanntlich immer wieder durchbricht; vgl. dazu G. Genette: <hi TEIform="hi" rend="italic">Figures III</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>Paris 1972, 188, 263ff. und passim.</p> </note> </hi>: man denke z. B. an das immer wieder kommentierte perspektivische Raffinement der <hi TEIform="hi" rend="italic">Ambassadors </hi>oder mehr noch an das Kunststück, die psychischen und sozialen Komplikationen der Fin-de-Siècle-Welt wie in <hi TEIform="hi" rend="italic">What Maisie knew</hi> einzig aus der limitierten Innenperspektive eines heranwachsenden Kindes darzustellen<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="4" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Zu den kompositorischen Folgelasten, welche die Bestimmung Maisies zur „central intelligence“ des Romans nach sich zieht, vgl. Wayne C. Booth: <hi TEIform="hi" rend="italic">The Rhetoric of Fiction</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>Chicago-London9 1970, 47ff.</p> </note> </hi>.</p> <p TEIform="p" type="TM"> <pb TEIform="pb" n="132"/>Für die von Flaubert und Henry James repräsentierte Entwicklung zu einem gleichsam objektiven, d. h.: nicht mehr auktorialen, Erzählen in strikt personalen Erzählsituationen wird im Bereich der Italianistik nun häufig Italo Svevo herangezogen. So gehört es zu den Grundüberzeugungen der Svevo-Kritik, daß schon <hi TEIform="hi" rend="italic">Senilità – </hi>ein Roman, der 1898 nur wenig später als <hi TEIform="hi" rend="italic">What Maisie knew </hi>erschien – auf dem Parcours der Personalisierung des auktorialen Erzählens eine wichtige Rolle spielt: nicht umsonst wird er in seiner Gesamtanlage ja auch gerne mit der <hi TEIform="hi" rend="italic">Education sentimentale </hi>verglichen, wo Frédéric Moreaus oft gerügte ‚Passivität‘ offenbar an Emilio Brentanis ‚inettitudine‘ erinnert<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="5" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Vgl. E. Saccone: <hi TEIform="hi" rend="italic">IlPoeta travestito </hi>– <hi TEIform="hi" rend="italic">Otto scritti su Svevo</hi>, Pisa 1977, 133–200 („Un’Educazione Sentimentale?“).</p> </note> </hi>. Modern und wegweisend sei an diesem Roman, wie man meint, eben der Verzicht auf erzählerische Allwissenheit und die Einführung eines Erzählers, der ,sich allein dem Bewußtsein seines Protagonisten widmet‘, dessen ‚Perspektive (abgesehen vom sechsten Kapitel) nie verläßt‘ und von dem Innenleben der übrigen Gestalten nur soviel preisgibt, wie Emilio – als ein intelligenter, aber nicht außergewöhnlich scharfsichtiger Beobachter – erraten kann.</p> <p TEIform="p" type="TM">Diese Communis Opinio, die ich hier in der Form referiere, wie sie in der ansonsten überaus suggestiven Interpretation von Eduardo Saccone erscheint<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="6" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Vgl. <hi TEIform="hi" rend="italic">ebda. </hi>184ff. Prononcierter noch äußert sich diesbezüglich Mario Lavagetto (<hi TEIform="hi" rend="italic">L’Impiegato Schmitz e altri saggi su Svevo</hi>, Torino2 1986, 68): „Al protagonista viene firmata una delega in bianco […]; non c’è informazione, accadimento, notizia, fatto, episodio, filo d’erba o sollevarsi di brezza che non passi attraverso la coscienza di Emilio o di Alfonso. Tutti gli altri personaggi – ed è la prova più sicura della ‚prospettiva ristretta‘ – sono visti da fuori […]; solo il protagonista è visto da dentro“. Von Lavagetto wird die Erzählperspektive der frühen Romane Svevos als „focalisation interne fixe“(G. Genette) im übrigen auch explizit mit den konsequenten Techniken gleichgesetzt, welche Henry James in <hi TEIform="hi" rend="italic">The Ambassadors </hi>und <hi TEIform="hi" rend="italic">What Maisie knew </hi>entwickelt hat (vgl. ebda. 68f.).</p> </note> </hi>, macht zunächst zwei Bemerkungen nötig. Zum einen belegt sie, daß die Abwendung vom auktorial allwissenden Erzählen und die Ausbildung einer personalen Erzählperspektivik tatsächlich weithin als das hauptsächliche Konstituens der narrativen Moderne angesehen werden. Als Erkennungszeichen modernen Erzählens par excellence ist der Point-of-View-Technik indes ein außerordentliches Prestige zugefallen, das jeden Text, der an dieser Technik teilhat, auszeichnen und erhöhen muß. Das Verfahren strenger perspektivischer Konsistenz auch Svevo zuzuschreiben, dient demnach – wie ich in einer zweiten Bemerkung hinzufügen möchte – durchaus der wohlgemeinten literaturkritischen Erhöhung seines Werkes. Wie sich stets aufs neue herausstellt, <pb TEIform="pb" n="133"/>ist das allgemeine Kunstbewußtsein nämlich immer noch von einem geradezu teleologischen Verständnis des ,Projekts der Moderne‘ geprägt, weshalb einem Autor normalerweise nichts Besseres passieren kann, als wenn er gewissermaßen in die Höhe, oder genauer gesagt: nach vorne, gelesen und in einen anerkannten formalen Modernisierungsprozeß integriert wird<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="7" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">In diesem Sinne läßt Lavagetto den Autor der <hi TEIform="hi" rend="italic">Coscienza di Zeno </hi>sogar an dem notorischen Kampf teilnehmen, den die rezentere Moderne – nach der Poetik Barthes’ oder Ricardous – gegen die ,illusion référentielle‘ führt (vgl. ebda. 106). Andererseits vertritt gerade Lavagetto die These, daß Zenos ‚Beichte‘ zu einem nicht geringen Teil aus ,Lügen‘ besteht: „La parola di Zeno deve essere per sua natura sospetta, deve avere un doppio fondo, costituito di volta in volta dalla verità o dalla menzogna che tenderanno a sovrapporsi e a integrarsi, ma senza confondersi“ (ebda. 89). Wie aber soll sich Zeno als ein „vecchio bugiardo“ (ebda. 213) erweisen, wenn er gleichzeitig auf keine – wie auch immer fiktive – Realitätsnorm referiert und folglich weder falsifiziert noch verifiziert werden kann?</p> </note> </hi>.</p> <p TEIform="p" type="TM">Doppelt verführerisch drängt die Interpretationsstrategie des Nach-Vorne-Lesens sich natürlich dann auf, wenn der Autor im Rahmen einer monographischen Studie betrachtet wird. Sobald er isoliert vor dem Hintergrund dessen erscheint, was als hegemonialer Zug der jeweiligen Modernisierung gilt, endet die Lektüre fast immer mit einer resoluten Promotion an die Spitze des Fortschritts. Eben dieser Mechanismus, der tief in der (inzwischen selbst traditional gewordenen) neuzeitlichen Mentalität des Progredierens verankert ist, scheint nun auch bei der verbreiteten Anpassung Svevos an die Poetik eines narrativen Perspektivismus à la Flaubert oder Henry James mitzuspielen. Betrachtet man seine frühen Romane speziell unter dem Aspekt ihres erzählerischen Point of View, ergibt sich nämlich, daß sie gerade von der Flaubertschen Tendenz zur Personalisierung beträchtlich abweichen, und zwar in einer Haltung, die etwas irritierend Widerspenstiges und Eigenwilliges besitzt.</p> <p TEIform="p" type="TM">Dabei muß vorausgeschickt werden, daß der Befund einer erzählerischen Konzentration auf die Perspektive eines Protagonisten selbstverständlich nicht allein durch das Wahrnehmungsschema der Svevo-Interpreten begründet ist. Der Sachverhalt entspricht dem Wahrnehmungsschema ja insofern, als bei Svevo tatsächlich eine bemerkenswerte Privilegierung der Bewußtseinsvorgänge einer einzigen Romangestalt vorliegt, wobei dieser Sachverhalt vielleicht am eklatantesten in <hi TEIform="hi" rend="italic">Una vita </hi>sichtbar wird, da er hier im spannungsreichen Widerspruch zu den partiell naturalistischen Intentionen des Romans hervortritt<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="8" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Zu Elementen eines Panoramas verschiedener sozialer Klassen, das der Roman nach naturalistischen und veristischen Vorbildern zu entwerfen versucht, vgl. G. Borghello: <hi TEIform="hi" rend="italic">La coscienza borghese – Saggio sulla narrativa di Svevo</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>Roma 1977, 40–57.</p> </note> </hi>. Es handelt sich offenkundig um eine Affinität Svevos zur franzö<pb TEIform="pb" n="134"/>sischen Tradition des ,roman d’analyse‘<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="9" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Diese Nähe, die eine genauere Untersuchung verdienen würde, hat die Kritik bisher sonderbarerweise noch kaum in Betracht gezogen (vgl. etwa den knappen Hinweis von N. Jonard: <hi TEIform="hi" rend="italic">Italo Svevo et la crise de la bourgeoisie européenne</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>Paris 1969, 77).</p> </note> </hi>, in dessen zentralen Texten – etwa Constants <hi TEIform="hi" rend="italic">Adolphe</hi> oder Fromentins <hi TEIform="hi" rend="italic">Dominique</hi> – das Problem des Point of View freilich durch die Wahl der Ich-Erzählung gelöst wurde, auf die dann später auch Svevo in <hi TEIform="hi" rend="italic">La coscienza di Zeno </hi>rekurrieren wird. Abgesehen von dieser Affinität, die vor allem eine Verwandtschaft im Handlungsgefüge und im psychologischen Interesse bedeutet, ist die Personalisierung der Perspektive – was die Erzähltechnik sensu strictiori betrifft – in Svevos frühen Romanen jedoch überraschend wenig und (zumindest auf den ersten Blick) eher inkonsistent entwickelt.</p> <p TEIform="p" type="TM">Für den Roman <hi TEIform="hi" rend="italic">Una vita </hi>braucht diese Feststellung kaum erörtert zu werden; denn hier ist der vorherrschende Modus erzählerischer Vermittlung eindeutig die traditionelle Introspektivanalyse sowie der ihr entsprechende, im allgemeinen knapp resümierende Gedankenbericht. Damit schließt Svevo nicht nur, wie häufig zu Recht betont wurde, thematisch, sondern gleichfalls erzähltechnisch an das Vorbild von Stendhals <hi TEIform="hi" rend="italic">Le Rouge et le Noir</hi> an<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="10" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Vgl. dazu D. Schlumbohm: „Svevo und Stendhal – Zur Interpretation von <hi TEIform="hi" rend="italic">Una vita</hi>“, <hi TEIform="hi" rend="italic">R]b </hi>20 (1969), 91–112. Im Gegensatz zu vielen Vorläufern sieht Schlumbohm bei diesem „zu einem Gemeinplatz geworden(en)“ Vergleich (ebda. 93) auch deutlich die erzähltechnische Verwandtschaft der beiden Autoren (vgl. ebda. lll).</p> </note> </hi>. In dessen Sinn werden Handlungen und Verhaltensweisen, deren Zeugen wir sind, jeweils prompt mit einem Motiv versehen, das im allgemeinen in der Form eines scharf umrissenen und selten näher differenzierten Begriffs auftritt. Dafür ein Beispiel aus dem 12. Kapitel, das Alfonso im Gespräch mit Annetta beim Verfassen des gemeinsamen Romans zeigt<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="11" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Alle Zitate aus <hi TEIform="hi" rend="italic">Una vita </hi>und <hi TEIform="hi" rend="italic">Senilità </hi>sind der folgenden Ausgabe entnommen: I. Svevo: <hi TEIform="hi" rend="italic">Opera omnia II</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>Mailand 1969.</p> </note> </hi>:</p> <p TEIform="p" type="citation">Improvvisamente Alfonso divenne ciarliero. Ciarlava per il bisogno di parlare, e parlò del romanzo e della sua ammirazione per le idee di Annetta perché d’altro non poteva. Quando si grida è indifferente quale parola si vesta del grido, lo sfogo si trova nell’emissione di voce. Alfonso nel fiume delle proprie parole si calmava e se tacque fu proprio per calcolo e con isforzo al pensare che se non lasciava parlare Annetta nulla da lei avrebbe potuto apprendere. Per ultimo e con una freddezza di calcolo che immediatamente lo portò allo scopo, descrisse con parola animata la sua vita di ogni giorno concludendo che di un anno intero le ore liete da lui vissute sommavano a pochi giorni quantunque contasse fra quelle tutte le ore passate in casa Maller. (<hi TEIform="hi" rend="italic">Op.om.II</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"> </hi>255f.)</p> <p TEIform="p" type="TO">Wie intrikat die Beziehung zwischen Alfonso und Annetta im Moment dieses Berichts auch immer sein mag, so läßt der Erzähler doch keinerlei Unsi<pb TEIform="pb" n="135"/>cherheit erkennen. Er weiß, daß sein Protagonist zunächst redet „per il bisogno di parlare“ und daß sich mit dem folglich leidenschaftlichen Reden ein „sfogo“ verbindet. Wenn Alfonso darauf schweigt, besteht erneut kein Zweifel am Motiv: „fu proprio per calcolo“, das dann noch ein zweites Mal herangezogen wird („Per ultimo e con una freddezza di calcolo“), um Alfonsos neuerliche Rede zu begründen.</p> <p TEIform="p" type="TM">Derart wird Alfonsos Erleben nach Maßgabe der Begriffe, die dem Erzähler zur Verfügung stehen, durchaus transparent, und verwunderlich wirkt einzig die Unmittelbarkeit des Übergangs zwischen den Stimmungen des Enthusiasmus und der kalkulierenden Kälte. Dabei wollen wir außer acht lassen, daß – literarhistorisch gesehen – auch solche Unmittelbarkeit jäher Stimmungsbrüche nur wenig Verwunderliches hat, da sie von Julien Sorel ja bereits vorgelebt worden war<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="12" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Vgl. dazu meine Interpretation von Stendhals <hi TEIform="hi" rend="italic">Le Rouge et le Noir </hi>(„Der Bürger als unzeitgemäßer Held“) in P. Brockmeier – H. H. Wetzel (Hrsg.), <hi TEIform="hi" rend="italic">Französische Literatur in Einzeldarstellungen</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>Bd. 2: <hi TEIform="hi" rend="italic">Von Stendhal bis Zola</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>Stuttgart 1982, 8–19, bes. 18f.</p> </note> </hi>. Werkimmanent betrachtet, ist die Kontiguität des Gegensätzlichen indessen erstaunlich, und offenbar benötigt das Erstaunliche die Verläßlichkeit eines auktorialen Berichts, damit es auf knappstem Raum glaubwürdig mitgeteilt werden kann.</p> <p TEIform="p" type="TM">So scheint in <hi TEIform="hi" rend="italic">Una vita </hi>die Omnipräsenz der Introspektivanalyse in erster Linie von der Absicht bestimmt zu sein, den Komplikationen des Seelenlebens möglichst nah zu bleiben und sie zugleich möglichst umstandslos zu registrieren und verständlich zu machen. Jedenfalls tritt die prononciert traditionelle Allwissenheit des Erzählers dann am auffälligsten hervor, wenn es darum geht, die Simultaneität gegensätzlicher Regungen oder die Rationalisierungen eines in Illusionen befangenen Bewußtseins aufzuzeigen. Gerade in solchen Situationen urteilt der Erzähler jeweils betont kategorisch, beispielsweise in einem Moment, der Alfonso Nitti erneut neben Julien Sorel rückt<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="13" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Zur Verbindung von „folie“ und „calcul“ im Verhalten Juliens vgl. etwa das Kapitel II 31 <hi TEIform="hi" rend="italic">Lui faire peur </hi>(Stendhal: <hi TEIform="hi" rend="italic">Le Rouge et le Noir</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>ed. H. Martineau, Paris 1960, 424f.).</p> </note> </hi>:</p> <p TEIform="p" type="citation">Eppure se anche agí in quell’esaltazione morbosa che per giornate intere lo faceva vivere in un sogno continuato, pure ebbe una freddezza di calcolo da persona che vuole sapendolo. (<hi TEIform="hi" rend="italic">Op.om.II</hi>, 293)</p> <p TEIform="p" type="TO">Oder in jener besonders schwierigen Lage, als Alfonso sich nicht darüber klar wird, weshalb er trotz des Zorns der Familie Maller an seinem Arbeitsplatz festzuhalten wünscht:</p> <p TEIform="p" type="citation">Era quell’odio e quel disprezzo che gli dispiacevano, non il timore delle persecuzioni che gliene sarebbero derivate. Un’altra volta ancora non fu sincero con se stesso e non <pb TEIform="pb" n="136"/>giunse ad essere perfettamente conscio della vera ragione per cui non abbandonava l’impiego. Non si disse che l’unica sua speranza era di poter attenuare quell’odio e farsi stimare da chi lo disprezzava, ma voleva convincersi che rimaneva da Maller perché ancora non sapeva se quell’odio si sarebbe manifestato e di più se realmente sussistesse. Forse una sua tacita rinunzia, come voleva farla, poteva bastare per accontentare tutti. (<hi TEIform="hi" rend="italic">Op.om.II</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"> </hi>373f.)</p> <p TEIform="p" type="TO">Vor allem in dem letztzitierten Passus demonstriert der Erzähler ein Tiefenwissen, wie es sonst nur Gott oder dem Autor des klassischen realistischen Romans zukommt. Er hat erkannt, was die „vera ragione“ für das Verhalten des Protagonisten ist, und auf dieser Erkenntnis des ,wahren Grundes‘ beharrt er um so nachdrücklicher, als sie von der Romanfigur selbst nicht geteilt wird. Das heißt: Die Allwissenheit des Autors tritt dort noch einmal kompakt hervor, wo das Bewußtsein der Romanfigur sich in Widersprüchen und Illusionen zu verlieren droht, die als solche nur durch die Implikation einer „vera ragione“ manifest zu machen sind. Auktorial introspektives Erzählen und dessen spezifisches Thema, die Negativität eines ‚falschen‘ Bewußtseins („Un’altra volta ancora non fu sincero con se stesso e non giunse ad essere perfettamente conscio [...] Ma voleva convincersi“), stehen demnach in einem wenn nicht zwingend notwendigen, so doch engen Zusammenhang.</p> <p TEIform="p" type="TM">Um die Widersprüche und Illusionen eines äußerst beweglichen, aber zugleich labilen und uneindeutigen Bewußtseins geht es bekanntlich auch in <hi TEIform="hi" rend="italic">Senilità</hi>. Dabei ist wichtig zu bemerken, daß die Einschätzung von Emilio Brentanis Perzeptionen während der gesamten Erzählung zwischen den Polen Luzidität und Selbsttäuschung schwankt, wie ja auch noch die moderne Svevo-Kritik abwechselnd von Emilios „chiaroveggenza“ und „autoinganno“ zu sprechen pflegt<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="14" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN"> Vgl. z. B. S. Maxia: „II primo Svevo“, in <hi TEIform="hi" rend="italic">Il</hi> <hi TEIform="hi" rend="italic">caso Svevo</hi>, a cura di G. Petronio, Palermo 1976, 83–99, hier 97 („autoinganno“) und 99 („chiaroveggenza“).</p> </note> </hi>. Zum einen prägt den Protagonisten sein extrem reflexiver Habitus, seine „antica abitudine di ripiegarsi su se stesso e analizzarsi“, wie es einmal heißt (<hi TEIform="hi" rend="italic">Op.om.II</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"> </hi>578); zum anderen wird dieses „ripiegarsi su se stesso e analizzarsi“, so scharfsichtig es im einzelnen ausfallen mag, vom Erzähler doch auch häufig korrigiert oder zumindest relativiert, meistens indem es als Symptom eines „abito letterario“ (<hi TEIform="hi" rend="italic">Op.om.II</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"> </hi>578) oder einer „mente di letterato ozioso“ (<hi TEIform="hi" rend="italic">Op.om.II</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"> </hi>594) verstanden und explizit abgewertet wird.</p> <p TEIform="p" type="TM">Der reflexive Habitus, die Neigung zur Literarisierung der Wirklichkeit, das Defizit im Handeln, welches aus einem Übermaß an Analyse erwächst, sind nun Züge, die Emilio Brentani mit Alfonso Nitti verbinden und demnach ebenfalls dem Svevoschen Prototyp des „inetto“ zuordnen<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="15" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Daß der Begriff „senilità“ bei Svevo mit dem Begriff „inettitudine“ überhaupt weitgehend synonym sei, behauptet – mit guten Gründen – H. G. Funke, ,,Das Thema der ‚Senilità‘ im Romanwerk Italo Svevos“, <hi TEIform="hi" rend="italic">Italienische Studien 2 </hi>(1979), 91–107, bes. 105.</p> </note> </hi>. Es ist das <pb TEIform="pb" n="137"/>eine Gestalt, die im übrigen bei aller Eigentümlichkeit Svevo und der Triestiner Jahrhundertwende natürlich nicht allein gehört, sondern typologisch dem Helden oder Anti-Helden des französischen „roman d’analyse“ nahesteht, in vielem an Flauberts Frédéric Moreau erinnert und weithin dem Bild des bindungslosen, selbstbezogenen und handlungsunfähigen Intellektuellen entspricht, das Paul Bourgets seinerzeit vielgelesene <hi TEIform="hi" rend="italic">Essais de psychologie contemporaine </hi>gezeichnet und denunziert hatten<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="16" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Vgl. zu diesem Bild meinen Aufsatz „Bourget oder die Gefahren der Psychologie, des Historismus und der Literatur“, <hi TEIform="hi" rend="italic">Lendemains </hi>30 (1983), 36–45. Bezeichnend ist hier auch die Rolle, welche Renans <hi TEIform="hi" rend="italic">Histoire des origines du Christianisme </hi>noch in <hi TEIform="hi" rend="italic">La Coscienza di Zeno </hi>– einem an literarhistorischen Referenzen sonst ja nicht sehr reichen Roman – spielt (vgl. I. Svevo: <hi TEIform="hi" rend="italic">La Coscienza di Zeno</hi>, pref. E. Montale, Milano 1976 [= I Corvi dall’Oglio 191], 57, 59 und 196); denn Renan bildete für Bourget bekanntlich den Prototyp eines jede religiöse und moralische Bindung ‚zersetzenden‘ „dilettantisme“.</p> </note> </hi>. In den charakteristischen Zügen der ,inettitudine‘ wird Emilio Brentani sogar noch schärfer profiliert als Alfonso Nitti; denn ihm steht mit seinem Freund, dem Bildhauer Stefano Balli, eine Gestalt zur Seite, die unter manchen Gesichtspunkten überdeutlich das typologische Gegenprinzip verkörpert. Wo Emilio gehemmt, unsicher und bedenklich vor Aktionen zurückschreckt, repräsentiert Balli die zielstrebige Tatkraft, der es auch nicht an Intelligenz und einer gewissen Güte mangelt<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="17" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Vgl. dazu die begründete Apologie dieser Gestalt in der Studie von G. Borghello: <hi TEIform="hi" rend="italic">La coscienza borghese</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>a.a.O. 130–136, bes. 136.</p> </note> </hi>: für Emilios Schwester Amalia, die ihn verzweifelt liebt, bedeutet Balli „la virtù e la forza“ (<hi TEIform="hi" rend="italic">Op.om.II</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"> </hi>476), und Emilio selbst fühlt sich durch Ballis ,Superiorität‘, die ihm die eigene „inerzia“ bewußt macht, oft wie zerquetscht (<hi TEIform="hi" rend="italic">Op.om.II</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"> </hi>470).</p> <p TEIform="p" type="TM">Derart kommt es in <hi TEIform="hi" rend="italic">Senilità </hi>zu einer sonst bei Svevo nicht häufigen Figur direkter charakterologischer Opposition: was es heißt, ein „inetto“ zu sein, wird hier expliziert durch den Kontrast mit dem Gegentypus, der weithin als jener ,uomo superiore‘ agiert, den Emilio nur gelegentlich (und kaum erfolgreich) zu imitieren wagt. Soweit es bei diesem Kontrast um die Profilierung des „inetto“ und seiner speziellen Defekte geht, würde nun erzähltechnisch naheliegen, das Oppositionsverhältnis im wesentlichen aus der Perspektive des primär thematisierten Typus zu verfolgen, das heißt: Emilios Wahrnehmung von Stefano Balli zu beleuchten und dagegen Ballis Bewußtsein opak zu lassen. Je undurchdringlicher Balli für den Leser bliebe, um so besser könnte er das Bild des ,uomo superiore‘ abgeben, an welchem der Protagonist das gan<pb TEIform="pb" n="138"/>ze Ausmaß seiner „inerzia“ erfährt. Eine solche Technik der Gegenüberstellung würde sich übrigens auch deshalb anbieten, weil sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts schon zum Repertoire der literarischen Tradition zählte: man denke etwa an die konsistent vom Protagonisten her perspektivierte Darstellung der Flaubertschen Gegensatzpaare Emma Bovary-Homais oder Frédéric-Deslauriers.</p> <p TEIform="p" type="TM">Eben die naheliegende Technik einer solchen Perspektivierung aus dem Blickwinkel Emilios wird jedoch von Svevo ganz und gar nicht befolgt. Dabei ist es nicht allein das sechste Kapitel, das aus dem Rahmen fällt, indem es Balli für eine Weile die Protagonistenrolle überläßt. In ihr spürt der ,uomo superiore‘ als eine Art Privatdetektiv Angiolina nach, wobei der Vielbeneidete nun seinerseits vom Neid – ausgerechnet auf den „ombrellaio di via Barriera“ – ergriffen wird (<hi TEIform="hi" rend="italic">Op.om.II</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"> </hi>485). Beinahe noch krasser verstößt das fünfte Kapitel gegen die Dominanz von Emilios Perspektive. Es handelt sich um jenes Kapitel, das die nach der „cena dei vitelli“ eintretende Spannung im Verhältnis zwischen Emilio und Stefano sowie die Entwicklung von Amalias Liebe schildert: was die Geschichte Amalias angeht, markiert es gewissermaßen den Höhepunkt ihrer Lebenskurve, der nur noch im Hochzeitstraum des nachfolgenden Kapitels („In viaggio di nozze tutto è permesso“, <hi TEIform="hi" rend="italic">Op.om.II</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"> </hi>493) einen kurzen Moment weiterer Steigerung erfährt.</p> <p TEIform="p" type="TM">Im Mittelpunkt des fünften Kapitels steht also die Entfaltung einer komplexen und vielfach gebrochenen Beziehung zwischen drei Menschen, aus deren Verstrickung die wesentlichen dramatischen Momente des Romans (Emilios Schuld und Amalias Untergang) hervorgehen sollen. Der Zentralität des Kapitels im Handlungsverlauf und der Komplexität der hier aufkommenden Gefühlsverwirrung entspricht es wohl, wenn die Verhältnisse sowohl erzählt als auch sehr prononciert erklärend besprochen werden. Dabei erfaßt die Analyse, die sich bald der einen, bald der anderen Gestalt zuwendet, neben Emilio und Amalia bemerkenswert eingehend auch die Empfindungen Stefano Ballis. Sobald Ballis Reaktionen zum direkten Thema des Erzählers werden, ereignet sich indes ein eigentümlicher Wandel in ihrem Status. Sie negieren zwar nicht das Bild freundlicher Lebenstüchtigkeit, das Ballis typologische Funktion gegenüber Emilios „inettitudine“ ausmacht; doch nehmen sie diesem Bild allen Glanz von Authentizität, der ihm ursprünglich anhaftete, als es noch durch den sentimentalischen Blick des „inetto“ und nicht vom wissenden Autor wahrgenommen wurde.</p> <p TEIform="p" type="TM">Manifest wird der Authentizitätsverlust vor allem in der Enthüllung, daß Ballis gütige Überlegenheit eben von den Blicken der anderen abhängig ist und sich erst durch deren Bewunderung stimuliert in Szene setzt. So zeigt der <pb TEIform="pb" n="139"/>auktoriale Bericht, was an Selbstgefälligkeit in die Rolle des hilfreichen Trösters eingeht („egli era venuto [...] compiacendosi di quella parte di confortatore“, <hi TEIform="hi" rend="italic">Op.om.II</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"> </hi>473) und welchen Genuß das Gefühl der eigenen Güte nach sich zieht, aus der die soziale Geltung eines „uomo superiore“ entspringt: „Gustava il ricordo della propria bontà, e pensò di aver avuto torto d’evitare per tanto tempo quel luogo ove si sentiva più che mai uomo superiore“ (S. 473; ähnlich S. 481f.: „Intanto il Balli centellinava il caffè, sdraiato nel vecchio seggiolone, in un grande benessere, ricordando che in quell’ora egli aveva avuta la mala abitudine di discutere con gli artisti al caffè. Come si stava meglio là, fra quelle persone miti che lo ammiravano e amavano!“)</p> <p TEIform="p" type="TM">Vielleicht noch frappanter wirkt die moralistisch psychologisierende Einschränkung, welche die Entschlossenheit des Handelns an sich betrifft. Als Emilio seinem tatkräftigen Freund den Vorwurf macht, sich bei der „cena dei vitelli“ auf seine Kosten amüsiert und ihn damit in eine peinliche Lage gebracht zu haben, wird die Reaktion Ballis in einer Weise vermittelt, die für Svevos Erzählverfahren insgesamt sehr charakteristisch ist. Zunächst erfolgt ein Bericht, bei dem die (wohl mehr) personale oder (wohl weniger) auktoriale Perspektive nicht ganz eindeutig erscheint: „L’altro fu stupito del risentimento manifestatosi evidentemente a lui più che per altro perché quelle parole erano fuori di proposito, in presenza di Amalia. Se ne sorprese“ (<hi TEIform="hi" rend="italic">Op.om.II</hi>, 474). Daß der Leser hier mehr zur Annahme einer personalen Perspektive neigt, hängt damit zusammen, daß die Darstellung nach dem zweideutigen „Se ne sorprese“ (Sachverhalt oder Attitüde?) zum strikt personalen style indirect libre nach Art Flauberts übergeht: „Egli non aveva fatto nulla che avesse potuto offendere Emilio; le sue intenzioni, anzi erano state tali che avrebbbe [sic] creduto di meritare un inno di ringraziamento“ (ebda.). Das ist offenkundig die erlebte Rede Ballis, deren Wahrheitsgehalt in der Schwebe bleiben muß und jedenfalls vom Erzähler nicht garantiert werden kann. Um so überraschender wirkt dann aber der unmittelbar anschließende Wechsel zu einer auktorialen Aussage, die uns die gerade noch undeutlichen Vorgänge im Inneren des Redenden erschließt: „Per reagire meglio all’attacco perdette subito la coscienza del proprio torto e si sentí puro di ogni macchia“ (ebda.). Dabei ist nicht nur der jähe und – wenn man so will – kunstwidrige Wechsel der Vermittlungsform bezeichnend. Gleichfalls beachten sollte man den Moment, an dem er eintritt: es ist eben jener Augenblick, in dem der Erzähler eine Art Demystifikation vornimmt. Angesprochen wird hier nämlich, was die Voraussetzung von Ballis kraftvollem Agieren bzw. Reagieren bildet. Um – wie es heißt – ‚besser auf den Angriff zu reagieren‘, büßt Balli plötzlich das Bewußtsein ein, Unrecht getan zu haben: es entsteht das Paradoxon eines gewissermaßen zielgerichteten <pb TEIform="pb" n="140"/>Verlustes („per reagire [...] perdette“),das – psychoanalytisch gesprochen – den exemplarischen Fall einer Verdrängung ergibt. Demnach meint dieser Einschub auktorialer Enthüllung: Je entschlossener (und erfolgreicher) jemand wie Balli zu handeln versteht, um so robuster muß er auch mit seiner „coscienza“ umspringen und sie im geeigneten Moment beseitigen können. Wo sich einerseits die (von Emilio ersehnte) Fülle energischer Aktion breitmacht, hat sie offenbar andererseits eine Reduktion des Bewußtseins und Verdrängung von Erfahrungen zur Prämisse.</p> <p TEIform="p" type="TM">"/>So sind für den häufigen Wechsel personaler Perspektiven und die nicht weniger häufigen Eingriffe auktorialer Feststellungen bei Svevo verschiedene Funktionen anzuführen. Evident ist zunächst die Absicht, eine Darstellungsform zu finden, welche der Kontiguität oder gar Simultaneität gegensätzlicher Emotionen begrifflich gerecht wird und zumal die Verwirrung wiedergibt, die sie in der Interaktion auslösen. Schließlich wird in Svevos Romanen ja eine seelische Welt vorausgesetzt, in der Montaignes Geständnis (oder auch Anspruch) ,Je n’ay rien à dire de moy, entierement, simplement, et solidement, sans confusion et sans meslange, ny en un mot“<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="18" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Vgl. Montaigne: <hi TEIform="hi" rend="italic">Essais</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>hrsg. v. A. Thibaudet, Paris 1961, 371 (II1).</p> </note> </hi> gleichsam universelle Geltung gewonnen hat. So geht der Blick des Erzählers – ohne Rücksicht auf die Folgerichtigkeit narrativer Techniken – ruhelos vom einen zum anderen Bewußtsein und erinnert dabei an die ähnlich inkonsistente Eindringlichkeit, mit der Stendhal einst den Bewußtseinskampf der Liebe zwischen Julien Sorel und Mathilde de la Mole registriert hatte. Was damals das Privileg unzeitgemäßer Ausnahmeexistenzen blieb, wird bei Svevo jetzt sozusagen demokratisiert und von den Ausnahmeexistenzen auf die alltäglichsten und unscheinbarsten bürgerlichen Lebensformen übertragen.</p> <p TEIform="p" type="TM">Dazu kommt bei Svevo – wie wir gesehen haben – indes noch ein spezifischer Enthüllungsimpetus, der vom Phänomen der Illusion schlechthin fasziniert ist. Der Enthüllungsimpetus bringt es mit sich, daß das erzählerisch-analytische Interesse nicht durch die seelische Labilität des „inetto“ völlig ausgelastet wird, sondern gelegentlich auf die Eitelkeit und Unselbständigkeit des Lebenstüchtigen übergreift. Sobald der lebenstüchtige ,uomo superiore‘ jedoch in das unbeschränkte Gesichtsfeld des Erzählers gerät, ist es um den Anschein seiner Authentizität geschehen. Als letzte Kontrollinstanz verrät die auktoriale Introspektivanalyse, daß Authentizität immer nur in der Vorstellung der Anderen und niemals substantiell wirklich existiert<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="19" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Angesichts dieser Erkenntnis verwundert der geradezu inflationäre Gebrauch, den fast die gesamte Svevo-Kritik vom Begriff der ‚Authentizität‘ als idealer Norm des Verhaltens und Empfindens macht, ohne das damit postulierte ‚Reich der Eigentlichkeit‘ jemals genauer zu definieren. Vgl. dagegen Roland Galles treffende Bemerkungen über den – genaugenommen – metaphysischen „Optimismus“, der allen solchen Distinktionen von Authentizität und „mauvaise foi“ immanent ist („Wissenschaft und Kunsterfahrung – Zum Verhältnis von Romanform und Psychoanalyse in Svevos ‚La Coscienza di Zeno‘“, in: U. Schulz-Buschhaus – H. Meter [Hrsg.], <hi TEIform="hi" rend="italic">Aspekte des Erzählens in der modernen italienischen Literatur</hi>, Tübingen 1983, 125–141, hier 133).</p> </note> </hi>. Was Balli an<pb TEIform="pb" n="141"/>geht, ist sie etwa unverkennbar das Produkt von Amalias Begehren. Aus Amalias Perspektive gesehen, heißt es: „Il Balli era la virtù e la forza“ (<hi TEIform="hi" rend="italic">Op.om.II</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"> </hi>476), oder direkt über Amalia: „Ella<hi TEIform="hi" rend="italic"/>ammirò la felicità del Balli e amò in lui la forza e la serenità“ (S. 478), während der Erzählerbericht umgekehrt festhält, wie sehr Ballis Kraft seinerseits auf die ergebene Bewunderung Amalias angewiesen bleibt. Wenn der auktoriale Kommentar die Stimmigkeit personaler Perspektiven fortlaufend durchbricht, geschieht das bei Svevo also, um kontinuierlich zu demontieren, was als eine „costruzione artificiale“ (S. 481) essentiell den Illusionen der Romanfiguren entstammt. Weil der Erzähler sich mit einer Welt konfrontiert sieht, in der – symbolisch – noch die Erscheinungen der Atmosphäre auf „erronea illusione“ (S. 479) beruhen, wird er nicht müde, den täuschenden und getäuschten Wahrnehmungen seiner Gestalten – unbekümmert um alle „pregiudizi dell’arte“ (S. 477) – beständig ins Wort zu fallen, und schließlich ist es eben die Fülle solcher auktorialen Korrekturen und Differenzierungen, welche die Überdeutlichkeit ihrer einzelnen Einsichten – aufs Ganze gesehen – paradoxerweise wie in einem Nebel von Indifferenz verschwimmen läßt.</p> <p TEIform="p" type="TM">Eine verwirrende Wirkung hat das Nebeneinander personaler und auktorialer Erzählperspektiven aber vor allem für die Art und Weise, in der sich dem Leser der Gegensatz zwischen Emilio Brentani und Stefano Balli mitteilt. Einerseits sind die Ereignisse ja derart arrangiert, daß an der grundsätzlichen Absicht einer Opposition von ,inetto‘ und ,uomo superiore‘ kein Zweifel bestehen kann: der Typus, den die Gewohnheit der Selbstbeobachtung und eine ,,abbondanza d’immagini“ (S. 503) im zielgerichteten Handeln paralysieren, trifft hier auf seinen Gegentypus, der zugunsten des Handelns das Bewußtsein reduziert. Andererseits wird der charakterologische Kontrast jedoch in einem gewissen Sinn unterminiert, indem die beiden Kontrastfiguren der prinzipiell gleichen erzähltechnischen Verfahrensweise anheimfallen, für die das Innenleben des Tatmenschen ebensowenig ein Arkanum bleibt wie jenes des tatenarmen Literaten. Einer prinzipiell identischen Perspektivik unterworfen, kommen sich die Freunde bei aller typologischen Gegensätzlichkeit im romanes<pb TEIform="pb" n="142"/>ken Status nahe und werden solcherart im Grad der narrativen Aufmerksamkeit, die sie erregen, prononciert vergleichbar.</p> <p TEIform="p" type="TM">Vor diesem Hintergrund der Vergleichbarkeit, den die Erzähl<hi TEIform="hi" rend="italic">technik </hi>garantiert, erweist sich indessen nur um so eklatanter die Privilegierung, welche Emilio Brentani in den Erzähl<hi TEIform="hi" rend="italic">anteilen</hi> erfährt. Gerade weil uns Ballis Bewußtsein grundsätzlich nicht anders erschlossen wird als das des Protagonisten, tritt bei den entsprechenden Episoden zumal des fünften und sechsten Kapitels im Verhältnis zu Emilio Brentani die relative Armut seiner Motive zutage. Was immer man von der Tatkraft und den Eitelkeiten des ,uomo superiore‘ ansonsten halten mag: eine erzählungsgenerierende Potenz scheint ihnen für Svevo bloß in geringem Maß innegewohnt zu haben. Dagegen ist es eben die Lebensschwäche und mit ihr die Bewußtseinsfülle des ,inetto‘, die jenen neuen Typus der Erzählung stiftet, bei dem die Labilität der seelischen Lagen eine Abundanz innerer Ereignisse hervorruft, welche die Unscheinbarkeit des äußeren Lebens geradezu als Voraussetzung hat<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="20" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Demnach partizipiert auch Svevos <hi TEIform="hi" rend="italic">Senilità </hi>an der eigentümlichen „Faszination durch das Syndrom der Nervosität“ als einer literarischen Produktivkraft, in der U. Link-Heer wiederholt eine wesentliche Komponente der Ästhetik des Fin-de-Siècle identifiziert hat. Vgl. z. B. ,,‚Le mal a marché trop vite‘ – Fortschritts- und Dekadenzbewußtsein im Spiegel des Nervositäts-Syndroms“, in <hi TEIform="hi" rend="italic">Fortschrittsglaube und Dekadenzbewußtsein im Europa des 19. Jahrhunderts</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>hrsg. W. Drost, Heidelberg 1986, 45–67, bes. 56ff., und ,,‚Malgré ce formidable obstacle de santé contraire...‘ – Schreiben und Kranksein bei Proust“, in <hi TEIform="hi" rend="italic">Aspekte der Literatur des fin-de-siècle in der Romania</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>hrsg. A. Corbineau-Hoffmann – A. Gier, Tübingen 1983, 179–200.</p> </note> </hi>.</p> <p TEIform="p" type="TM">So verrät die Erzählstruktur, daß schon in Svevos frühen Romanen das Phänomen der ,inettitudine‘ nicht einfach nur den Gegenstand von Kritik bildet. Gewiß fehlt es ihm gegenüber nicht an kritischer Distanzierung auf dem Niveau gelegentlich explizit formulierter Urteile, und es ist sicher durchaus berechtigt, wenn eine Studie über den „Primo Svevo“ einmal befindet: „Per Emilio, ,letterato ozioso‘ [...], non c’è alcuna pietà“, oder noch drastischer: „non c’è pietà per il suo onanismo intellettuale“<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="21" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">S. Maxia: <hi TEIform="hi" rend="italic">a.a.O. </hi>96.</p> </note> </hi>. Solche ,Mitleidlosigkeit‘, die sich insbesondere in manchen auktorialen Kommentaren zu Emilio Brentanis Selbsttäuschungen manifestiert, wird jedoch implizit immer wieder aufgehoben durch die Insistenz der narrativen Zuwendung. Für sie ist charakteristisch, daß sie eben in Emilios „inerzia“ eine unerschöpfliche und in moralischen Begriffen kaum faßbare Vielfalt des Geschehens entdeckt, während sie in der ,superiorità‘ des Gegentypus, der ihr ebenso offen steht, wenig mehr auszumachen weiß als die monotone Selbstgefälligkeit des „consolatore“, der <pb TEIform="pb" n="143"/>im Blick seiner Schutzbefohlenen unablässig nach den Beweisen der eigenen Güte sucht.</p> <p TEIform="p" type="TM">Deshalb verfehlt das Acharnement, mit dem ein Teil der Kritik über Emilio Brentani herzufallen pflegt, die tiefere Realität des Textes auf eine ähnliche Weise wie der – ebenso problematische – Zorn, den die Kritik immer schon an Flauberts ,inetto‘ Frédéric Moreau ausgelassen hat<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="22" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Vgl. dazu als ein Beispiel von besonderer Unerbittlichkeit D. Oehler: „Der Tourist – Zu Struktur und Bedeutung der Idylle von Fontainebleau in der <hi TEIform="hi" rend="italic">Education sentimentale</hi>“,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>in <hi TEIform="hi" rend="italic">Erzählforschung – Ein Symposion</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>hrsg. E. Lämmert, Stuttgart 1982, 490–505, wo Frédéric als „klassischer Mitläufer aus dem schwankenden Kleinbürgertum“ erscheint, dessen „Inauthentizität“, „meskinen Egoismus“ und „verhunztes Leben“ der Aufsatz mit emphatischer Verachtung straft.</p> </note> </hi>. So mag man beispielsweise Franco Petroni wohl zustimmen, wenn er zu Recht betont, daß die Perspektive Emilios nicht mit dem überlegenen Gesichtspunkt des Autors koinzidiert; doch bedeutet es meines Erachtens eine robuste Vereinfachung, aus dem Sachverhalt dieser evidenten Distanz für Emilio zu folgern: „[...] I rapporti affettivi che egli stabilisce con le persone – la sorella, l’amico, l’amante – seguono i binari del più squallido conformismo”<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="23" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">F. Petroni: <hi TEIform="hi" rend="italic">L’inconscio e le strutture formali – Saggi su Italo Svevo</hi>, Padova 1979, 46.</p> </note> </hi>. Ginge es bei Emilios Beziehungen und deren Komplikationen, den sich überstürzenden Folgen von Illusionierung und Selbstanalyse, allein um ,elendsten Konformismus‘, bliebe unverständlich, was den Erzähler im Vergleich zu Stefano Balli gerade an die ruhelosen Seelenbewegungen seines Protagonisten fesselt.</p> <p TEIform="p" type="TM">Im gleichen Sinn verfehlt scheint mir Petronis nicht weniger resolutes Urteil: „[...] La malattia sociale, e di riflesso psicologica, di cui soffrono Emilio, Amalia, Stefano, è la mancanza di certezza“<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="24" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN"> <hi TEIform="hi" rend="italic">Ebda.</hi> </p> </note> </hi>. Bei ihm überrascht zunächst, daß der moderne Kritiker, in dessen Stellungnahmen manches vage marxistisch klingt, die Gestalten des Romans mit demselben strafenden Begriff („mancanza di certezza“) schlägt, mit dem einst der ultrakonservative Paul Bourget den uneindeutigen „esprit d’analyse“ und „dilettantisme“ seiner Zeitgenossen beklagte, um für die Rückkehr zu den alten Ordnungen dann zuvörderst einen „sens de la certitude rétabli“ zu postulieren<hi TEIform="hi" rend="superscript"> <note TEIform="note" anchored="yes" n="25" place="unspecified"> <p TEIform="p" type="FN">Vgl. P. Bourget: <hi TEIform="hi" rend="italic">Essais de psychologie contemporaine</hi>,<hi TEIform="hi" rend="italic"/>Bd. 2, Paris 1919, 50.</p> </note> </hi>. Vor allem aber übersieht das Urteil, daß der Sachverhalt „mancanza di certezza“ (ob das auch eine „malattia“ ist, bleibe dahingestellt) für Emilio Brentani und Stefano Balli ja in sehr unterschiedlichem Grade gilt. Auf jeden Fall ist er in der psychischen Monotonie des ,uomo superiore‘ lediglich in Ansätzen auszumachen, während er bei dem ,inetto‘ jene seelische Beweglichkeit hervorruft, die ihrerseits <pb TEIform="pb" n="144"/>wieder die Erzählung generiert. Offensichtlich bildet der Typus des bilder- und gedankenreich reflektierenden ‚inetto‘ schon in <hi TEIform="hi" rend="italic">Senilità</hi> <hi TEIform="hi" rend="bold-italic"/>nicht etwas schlechthin Kritikwürdiges, sondern ein Phänomen, von dem zumindest feststeht, daß es anders als die relative Gesundheit der ‚superiorità‘ verdient, mit einer Mischung aus Distanz und Empathie minutiös erzählt zu werden.</p> <p TEIform="p" type="TO"/> </div> </body> </text> </TEI.2>