Als ein konstitutives Phänomen moderner Romanentwicklung gilt seit
langem der Übergang von einem Erzählen, in dem der Erzähler allwissend über das
Innenleben der Figuren verfügt, zu stärker eingeschränkten und personal
perspektivierten Erzählsituationen. Wesentliche Stationen auf diesem Weg, der
etwa von Franz K. Stanzel idealtypisch beschrieben worden ist
, sind vor allem die Romane Flauberts und Henry James’. Besonders an
Vgl. dazu Die typischen Erzählsituationen
im Roman,Wien-Stuttgart 1955, sowie
das Resümee in Theorie des Erzählens,Göttingen3 1985, 242.
Eine detaillierte Darstellung dieses Prozesses liefert
U. Dethloff: Das Romanwerk Gustave Flauberts,
München 1976, bes. 104–183.
Problematischer wirkt in diesem Zusammenhang die Position
Marcel Prousts, in dessen Recherche ein
‚auktoriales‘ Balzacsches Erzählmodell die „règle ‚flaubertienne‘“
bekanntlich immer wieder durchbricht; vgl. dazu G. Genette: Figures III,Paris
1972, 188, 263ff. und passim.
Zu den kompositorischen Folgelasten, welche die Bestimmung
Maisies zur „central intelligence“ des Romans nach sich zieht, vgl.
Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction,Chicago-London9 1970, 47ff.
Senilità – ein Roman, der 1898
nur wenig später als What Maisie knew erschien – auf dem
Parcours der Personalisierung des auktorialen Erzählens eine wichtige Rolle
spielt: nicht umsonst wird er in seiner Gesamtanlage ja auch gerne mit der Education sentimentale verglichen, wo Frédéric Moreaus
oft gerügte ‚Passivität‘ offenbar an Emilio Brentanis ‚inettitudine‘ erinnert
. Modern und wegweisend sei an diesem Roman, wie man meint, eben der
Verzicht auf erzählerische Allwissenheit und die Einführung eines Erzählers, der
,sich allein dem Bewußtsein seines Protagonisten widmet‘, dessen ‚Perspektive
(abgesehen vom sechsten Kapitel) nie verläßt‘ und von dem Innenleben der übrigen
Gestalten nur soviel preisgibt, wie Emilio – als ein intelligenter, aber nicht
außergewöhnlich scharfsichtiger Beobachter – erraten kann.
Vgl. E. Saccone: IlPoeta travestito
– Otto scritti su Svevo, Pisa 1977,
133–200 („Un’Educazione Sentimentale?“).
Diese Communis Opinio, die ich hier in der Form referiere, wie sie in
der ansonsten überaus suggestiven Interpretation von Eduardo Saccone
erscheint
, macht zunächst zwei Bemerkungen nötig. Zum einen belegt sie, daß die
Abwendung vom auktorial allwissenden Erzählen und die Ausbildung einer
personalen Erzählperspektivik tatsächlich weithin als das hauptsächliche
Konstituens der narrativen Moderne angesehen werden. Als Erkennungszeichen
modernen Erzählens par excellence ist der Point-of-View-Technik indes ein
außerordentliches Prestige zugefallen, das jeden Text, der an dieser Technik
teilhat, auszeichnen und erhöhen muß. Das Verfahren strenger perspektivischer
Konsistenz auch Svevo zuzuschreiben, dient demnach – wie ich in einer zweiten
Bemerkung hinzufügen möchte – durchaus der wohlgemeinten literaturkritischen
Erhöhung seines Werkes. Wie sich stets aufs neue herausstellt,
Vgl. ebda. 184ff. Prononcierter noch
äußert sich diesbezüglich Mario Lavagetto (L’Impiegato Schmitz e altri saggi su Svevo, Torino2 1986,
68): „Al protagonista viene firmata una delega in bianco […]; non
c’è informazione, accadimento, notizia, fatto, episodio, filo d’erba
o sollevarsi di brezza che non passi attraverso la coscienza di
Emilio o di Alfonso. Tutti gli altri personaggi – ed è la prova più
sicura della ‚prospettiva ristretta‘ – sono visti da fuori […]; solo
il protagonista è visto da dentro“. Von Lavagetto wird die
Erzählperspektive der frühen Romane Svevos als „focalisation interne
fixe“(G. Genette) im übrigen auch explizit mit den konsequenten
Techniken gleichgesetzt, welche Henry James in The
Ambassadors und What Maisie knew
entwickelt hat (vgl. ebda. 68f.).
In diesem Sinne läßt Lavagetto den Autor der Coscienza di Zeno sogar an dem notorischen
Kampf teilnehmen, den die rezentere Moderne – nach der Poetik
Barthes’ oder Ricardous – gegen die ,illusion référentielle‘ führt
(vgl. ebda. 106). Andererseits vertritt gerade Lavagetto die These,
daß Zenos ‚Beichte‘ zu einem nicht geringen Teil aus ,Lügen‘
besteht: „La parola di Zeno deve essere per sua natura sospetta,
deve avere un doppio fondo, costituito di volta in volta dalla
verità o dalla menzogna che tenderanno a sovrapporsi e a integrarsi,
ma senza confondersi“ (ebda. 89). Wie aber soll sich Zeno als ein
„vecchio bugiardo“ (ebda. 213) erweisen, wenn er gleichzeitig auf
keine – wie auch immer fiktive – Realitätsnorm referiert und
folglich weder falsifiziert noch verifiziert werden kann?
Doppelt verführerisch drängt die Interpretationsstrategie des Nach-Vorne-Lesens sich natürlich dann auf, wenn der Autor im Rahmen einer monographischen Studie betrachtet wird. Sobald er isoliert vor dem Hintergrund dessen erscheint, was als hegemonialer Zug der jeweiligen Modernisierung gilt, endet die Lektüre fast immer mit einer resoluten Promotion an die Spitze des Fortschritts. Eben dieser Mechanismus, der tief in der (inzwischen selbst traditional gewordenen) neuzeitlichen Mentalität des Progredierens verankert ist, scheint nun auch bei der verbreiteten Anpassung Svevos an die Poetik eines narrativen Perspektivismus à la Flaubert oder Henry James mitzuspielen. Betrachtet man seine frühen Romane speziell unter dem Aspekt ihres erzählerischen Point of View, ergibt sich nämlich, daß sie gerade von der Flaubertschen Tendenz zur Personalisierung beträchtlich abweichen, und zwar in einer Haltung, die etwas irritierend Widerspenstiges und Eigenwilliges besitzt.
Dabei muß vorausgeschickt werden, daß der Befund einer erzählerischen
Konzentration auf die Perspektive eines Protagonisten selbstverständlich nicht
allein durch das Wahrnehmungsschema der Svevo-Interpreten begründet ist. Der
Sachverhalt entspricht dem Wahrnehmungsschema ja insofern, als bei Svevo
tatsächlich eine bemerkenswerte Privilegierung der Bewußtseinsvorgänge einer
einzigen Romangestalt vorliegt, wobei dieser Sachverhalt vielleicht am
eklatantesten in Una vita sichtbar wird, da er hier im
spannungsreichen Widerspruch zu den partiell naturalistischen Intentionen des
Romans hervortritt
. Es handelt sich offenkundig um eine Affinität Svevos zur franzö
Zu Elementen eines Panoramas verschiedener sozialer
Klassen, das der Roman nach naturalistischen und veristischen
Vorbildern zu entwerfen versucht, vgl. G. Borghello: La coscienza borghese – Saggio sulla narrativa di
Svevo,Roma 1977, 40–57.
Diese Nähe, die eine genauere Untersuchung verdienen würde,
hat die Kritik bisher sonderbarerweise noch kaum in Betracht gezogen
(vgl. etwa den knappen Hinweis von N. Jonard: Italo Svevo et la crise de la bourgeoisie européenne,Paris 1969, 77).
Für den Roman Una vita braucht diese
Feststellung kaum erörtert zu werden; denn hier ist der vorherrschende Modus
erzählerischer Vermittlung eindeutig die traditionelle Introspektivanalyse sowie
der ihr entsprechende, im allgemeinen knapp resümierende Gedankenbericht. Damit
schließt Svevo nicht nur, wie häufig zu Recht betont wurde, thematisch, sondern
gleichfalls erzähltechnisch an das Vorbild von Stendhals Le
Rouge et le Noir an
. In dessen Sinn werden Handlungen und Verhaltensweisen, deren Zeugen wir
sind, jeweils prompt mit einem Motiv versehen, das im allgemeinen in der Form
eines scharf umrissenen und selten näher differenzierten Begriffs auftritt.
Dafür ein Beispiel aus dem 12. Kapitel, das Alfonso im Gespräch mit Annetta beim
Verfassen des gemeinsamen Romans zeigt
Vgl. dazu D. Schlumbohm: „Svevo und Stendhal – Zur
Interpretation von Una vita“, R]b 20 (1969), 91–112. Im Gegensatz zu vielen
Vorläufern sieht Schlumbohm bei diesem „zu einem Gemeinplatz
geworden(en)“ Vergleich (ebda. 93) auch deutlich die
erzähltechnische Verwandtschaft der beiden Autoren
(vgl. ebda. lll).
Alle Zitate aus Una vita und Senilità sind der folgenden Ausgabe
entnommen: I. Svevo: Opera omnia II,Mailand 1969.
Improvvisamente Alfonso divenne ciarliero. Ciarlava per il
bisogno di parlare, e parlò del romanzo e della sua ammirazione per le idee di
Annetta perché d’altro non poteva. Quando si grida è indifferente quale parola
si vesta del grido, lo sfogo si trova nell’emissione di voce. Alfonso nel fiume
delle proprie parole si calmava e se tacque fu proprio per calcolo e con isforzo
al pensare che se non lasciava parlare Annetta nulla da lei avrebbe potuto
apprendere. Per ultimo e con una freddezza di calcolo che immediatamente lo
portò allo scopo, descrisse con parola animata la sua vita di ogni giorno
concludendo che di un anno intero le ore liete da lui vissute sommavano a pochi
giorni quantunque contasse fra quelle tutte le ore passate in casa Maller. (Op.om.II, 255f.)
Wie intrikat die Beziehung zwischen Alfonso und Annetta im Moment
dieses Berichts auch immer sein mag, so läßt der Erzähler doch keinerlei Unsi
Derart wird Alfonsos Erleben nach Maßgabe der Begriffe, die dem
Erzähler zur Verfügung stehen, durchaus transparent, und verwunderlich wirkt
einzig die Unmittelbarkeit des Übergangs zwischen den Stimmungen des
Enthusiasmus und der kalkulierenden Kälte. Dabei wollen wir außer acht lassen,
daß – literarhistorisch gesehen – auch solche Unmittelbarkeit jäher
Stimmungsbrüche nur wenig Verwunderliches hat, da sie von Julien Sorel ja
bereits vorgelebt worden war
. Werkimmanent betrachtet, ist die Kontiguität des Gegensätzlichen indessen
erstaunlich, und offenbar benötigt das Erstaunliche die Verläßlichkeit eines
auktorialen Berichts, damit es auf knappstem Raum glaubwürdig mitgeteilt werden
kann.
Vgl. dazu meine Interpretation von Stendhals Le Rouge et le Noir („Der Bürger als
unzeitgemäßer Held“) in P. Brockmeier – H. H. Wetzel (Hrsg.), Französische Literatur in
Einzeldarstellungen,Bd. 2: Von Stendhal bis Zola,Stuttgart 1982, 8–19, bes. 18f.
So scheint in Una vita die Omnipräsenz der
Introspektivanalyse in erster Linie von der Absicht bestimmt zu sein, den
Komplikationen des Seelenlebens möglichst nah zu bleiben und sie zugleich
möglichst umstandslos zu registrieren und verständlich zu machen. Jedenfalls
tritt die prononciert traditionelle Allwissenheit des Erzählers dann am
auffälligsten hervor, wenn es darum geht, die Simultaneität gegensätzlicher
Regungen oder die Rationalisierungen eines in Illusionen befangenen Bewußtseins
aufzuzeigen. Gerade in solchen Situationen urteilt der Erzähler jeweils betont
kategorisch, beispielsweise in einem Moment, der Alfonso Nitti erneut neben
Julien Sorel rückt
:
Zur Verbindung von „folie“ und „calcul“ im Verhalten
Juliens vgl. etwa das Kapitel II 31 Lui faire peur
(Stendhal: Le Rouge et le Noir,ed. H. Martineau, Paris 1960, 424f.).
Eppure se anche agí in quell’esaltazione morbosa che per giornate
intere lo faceva vivere in un sogno continuato, pure ebbe una freddezza di
calcolo da persona che vuole sapendolo. (Op.om.II, 293)
Oder in jener besonders schwierigen Lage, als Alfonso sich nicht darüber klar wird, weshalb er trotz des Zorns der Familie Maller an seinem Arbeitsplatz festzuhalten wünscht:
Era quell’odio e quel disprezzo che gli dispiacevano, non il
timore delle persecuzioni che gliene sarebbero derivate. Un’altra volta ancora
non fu sincero con se stesso e non Op.om.II, 373f.)
Vor allem in dem letztzitierten Passus demonstriert der Erzähler ein Tiefenwissen, wie es sonst nur Gott oder dem Autor des klassischen realistischen Romans zukommt. Er hat erkannt, was die „vera ragione“ für das Verhalten des Protagonisten ist, und auf dieser Erkenntnis des ,wahren Grundes‘ beharrt er um so nachdrücklicher, als sie von der Romanfigur selbst nicht geteilt wird. Das heißt: Die Allwissenheit des Autors tritt dort noch einmal kompakt hervor, wo das Bewußtsein der Romanfigur sich in Widersprüchen und Illusionen zu verlieren droht, die als solche nur durch die Implikation einer „vera ragione“ manifest zu machen sind. Auktorial introspektives Erzählen und dessen spezifisches Thema, die Negativität eines ‚falschen‘ Bewußtseins („Un’altra volta ancora non fu sincero con se stesso e non giunse ad essere perfettamente conscio [...] Ma voleva convincersi“), stehen demnach in einem wenn nicht zwingend notwendigen, so doch engen Zusammenhang.
Um die Widersprüche und Illusionen eines äußerst beweglichen, aber
zugleich labilen und uneindeutigen Bewußtseins geht es bekanntlich auch in Senilità. Dabei ist wichtig zu bemerken, daß die
Einschätzung von Emilio Brentanis Perzeptionen während der gesamten Erzählung
zwischen den Polen Luzidität und Selbsttäuschung schwankt, wie ja auch noch die
moderne Svevo-Kritik abwechselnd von Emilios „chiaroveggenza“ und „autoinganno“
zu sprechen pflegt
. Zum einen prägt den Protagonisten sein extrem reflexiver Habitus, seine
„antica abitudine di ripiegarsi su se stesso e analizzarsi“, wie es einmal heißt
(
Vgl. z. B. S. Maxia: „II primo Svevo“, in Il
caso Svevo, a cura di G. Petronio, Palermo
1976, 83–99, hier 97 („autoinganno“) und 99 („chiaroveggenza“).
Der reflexive Habitus, die Neigung zur Literarisierung der
Wirklichkeit, das Defizit im Handeln, welches aus einem Übermaß an Analyse
erwächst, sind nun Züge, die Emilio Brentani mit Alfonso Nitti verbinden und
demnach ebenfalls dem Svevoschen Prototyp des „inetto“ zuordnen
. Es ist das
Daß der Begriff „senilità“ bei Svevo mit dem Begriff
„inettitudine“ überhaupt weitgehend synonym sei, behauptet – mit
guten Gründen – H. G. Funke, ,,Das Thema der ‚Senilità‘ im Romanwerk
Italo Svevos“, Italienische Studien 2 (1979),
91–107, bes. 105.
Vgl. zu diesem Bild meinen Aufsatz „Bourget oder die
Gefahren der Psychologie, des Historismus und der Literatur“, Lendemains 30 (1983), 36–45. Bezeichnend ist
hier auch die Rolle, welche Renans Histoire des
origines du Christianisme noch in La
Coscienza di Zeno – einem an literarhistorischen Referenzen
sonst ja nicht sehr reichen Roman – spielt (vgl. I. Svevo: La Coscienza di Zeno, pref. E. Montale,
Milano 1976 [= I Corvi dall’Oglio 191], 57, 59 und 196); denn Renan
bildete für Bourget bekanntlich den Prototyp eines jede religiöse
und moralische Bindung ‚zersetzenden‘ „dilettantisme“.
Vgl. dazu die begründete Apologie dieser Gestalt in der
Studie von G. Borghello: La coscienza
borghese,a.a.O. 130–136, bes.
136.
Derart kommt es in Senilità zu einer sonst bei
Svevo nicht häufigen Figur direkter charakterologischer Opposition: was es
heißt, ein „inetto“ zu sein, wird hier expliziert durch den Kontrast mit dem
Gegentypus, der weithin als jener ,uomo superiore‘ agiert, den Emilio nur
gelegentlich (und kaum erfolgreich) zu imitieren wagt. Soweit es bei diesem
Kontrast um die Profilierung des „inetto“ und seiner speziellen Defekte geht,
würde nun erzähltechnisch naheliegen, das Oppositionsverhältnis im wesentlichen
aus der Perspektive des primär thematisierten Typus zu verfolgen, das heißt:
Emilios Wahrnehmung von Stefano Balli zu beleuchten und dagegen Ballis
Bewußtsein opak zu lassen. Je undurchdringlicher Balli für den Leser bliebe, um
so besser könnte er das Bild des ,uomo superiore‘ abgeben, an welchem der
Protagonist das gan
Eben die naheliegende Technik einer solchen Perspektivierung aus dem
Blickwinkel Emilios wird jedoch von Svevo ganz und gar nicht befolgt. Dabei ist
es nicht allein das sechste Kapitel, das aus dem Rahmen fällt, indem es Balli
für eine Weile die Protagonistenrolle überläßt. In ihr spürt der ,uomo
superiore‘ als eine Art Privatdetektiv Angiolina nach, wobei der Vielbeneidete
nun seinerseits vom Neid – ausgerechnet auf den „ombrellaio di via Barriera“ –
ergriffen wird (Op.om.II, 485).
Beinahe noch krasser verstößt das fünfte Kapitel gegen die Dominanz von Emilios
Perspektive. Es handelt sich um jenes Kapitel, das die nach der „cena dei
vitelli“ eintretende Spannung im Verhältnis zwischen Emilio und Stefano sowie
die Entwicklung von Amalias Liebe schildert: was die Geschichte Amalias angeht,
markiert es gewissermaßen den Höhepunkt ihrer Lebenskurve, der nur noch im
Hochzeitstraum des nachfolgenden Kapitels („In viaggio di nozze tutto è
permesso“, Op.om.II, 493) einen
kurzen Moment weiterer Steigerung erfährt.
Im Mittelpunkt des fünften Kapitels steht also die Entfaltung einer komplexen und vielfach gebrochenen Beziehung zwischen drei Menschen, aus deren Verstrickung die wesentlichen dramatischen Momente des Romans (Emilios Schuld und Amalias Untergang) hervorgehen sollen. Der Zentralität des Kapitels im Handlungsverlauf und der Komplexität der hier aufkommenden Gefühlsverwirrung entspricht es wohl, wenn die Verhältnisse sowohl erzählt als auch sehr prononciert erklärend besprochen werden. Dabei erfaßt die Analyse, die sich bald der einen, bald der anderen Gestalt zuwendet, neben Emilio und Amalia bemerkenswert eingehend auch die Empfindungen Stefano Ballis. Sobald Ballis Reaktionen zum direkten Thema des Erzählers werden, ereignet sich indes ein eigentümlicher Wandel in ihrem Status. Sie negieren zwar nicht das Bild freundlicher Lebenstüchtigkeit, das Ballis typologische Funktion gegenüber Emilios „inettitudine“ ausmacht; doch nehmen sie diesem Bild allen Glanz von Authentizität, der ihm ursprünglich anhaftete, als es noch durch den sentimentalischen Blick des „inetto“ und nicht vom wissenden Autor wahrgenommen wurde.
Manifest wird der Authentizitätsverlust vor allem in der Enthüllung,
daß Ballis gütige Überlegenheit eben von den Blicken der anderen abhängig ist
und sich erst durch deren Bewunderung stimuliert in Szene setzt. So zeigt der
Op.om.II, 473) und welchen Genuß das Gefühl der eigenen Güte nach sich zieht, aus
der die soziale Geltung eines „uomo superiore“ entspringt: „Gustava il ricordo
della propria bontà, e pensò di aver avuto torto d’evitare per tanto tempo quel
luogo ove si sentiva più che mai uomo superiore“ (S. 473; ähnlich S. 481f.:
„Intanto il Balli centellinava il caffè, sdraiato nel vecchio seggiolone, in un
grande benessere, ricordando che in quell’ora egli aveva avuta la mala abitudine
di discutere con gli artisti al caffè. Come si stava meglio là, fra quelle
persone miti che lo ammiravano e amavano!“)
Vielleicht noch frappanter wirkt die moralistisch psychologisierende
Einschränkung, welche die Entschlossenheit des Handelns an sich betrifft. Als
Emilio seinem tatkräftigen Freund den Vorwurf macht, sich bei der „cena dei
vitelli“ auf seine Kosten amüsiert und ihn damit in eine peinliche Lage gebracht
zu haben, wird die Reaktion Ballis in einer Weise vermittelt, die für Svevos
Erzählverfahren insgesamt sehr charakteristisch ist. Zunächst erfolgt ein
Bericht, bei dem die (wohl mehr) personale oder (wohl weniger) auktoriale
Perspektive nicht ganz eindeutig erscheint: „L’altro fu stupito del risentimento
manifestatosi evidentemente a lui più che per altro perché quelle parole erano
fuori di proposito, in presenza di Amalia. Se ne sorprese“ (Op.om.II, 474). Daß der Leser hier mehr zur Annahme einer personalen
Perspektive neigt, hängt damit zusammen, daß die Darstellung nach dem
zweideutigen „Se ne sorprese“ (Sachverhalt oder Attitüde?) zum strikt personalen
style indirect libre nach Art Flauberts übergeht: „Egli non aveva fatto nulla
che avesse potuto offendere Emilio; le sue intenzioni, anzi erano state tali che
avrebbbe [sic] creduto di meritare un inno di ringraziamento“ (ebda.). Das ist
offenkundig die erlebte Rede Ballis, deren Wahrheitsgehalt in der Schwebe
bleiben muß und jedenfalls vom Erzähler nicht garantiert werden kann. Um so
überraschender wirkt dann aber der unmittelbar anschließende Wechsel zu einer
auktorialen Aussage, die uns die gerade noch undeutlichen Vorgänge im Inneren
des Redenden erschließt: „Per reagire meglio all’attacco perdette subito la
coscienza del proprio torto e si sentí puro di ogni macchia“ (ebda.). Dabei ist
nicht nur der jähe und – wenn man so will – kunstwidrige Wechsel der
Vermittlungsform bezeichnend. Gleichfalls beachten sollte man den Moment, an dem
er eintritt: es ist eben jener Augenblick, in dem der Erzähler eine Art
Demystifikation vornimmt. Angesprochen wird hier nämlich, was die Voraussetzung
von Ballis kraftvollem Agieren bzw. Reagieren bildet. Um – wie es heißt –
‚besser auf den Angriff zu reagieren‘, büßt Balli plötzlich das Bewußtsein ein,
Unrecht getan zu haben: es entsteht das Paradoxon eines gewissermaßen
zielgerichteten
"/>So sind für den häufigen Wechsel personaler Perspektiven und die
nicht weniger häufigen Eingriffe auktorialer Feststellungen bei Svevo
verschiedene Funktionen anzuführen. Evident ist zunächst die Absicht, eine
Darstellungsform zu finden, welche der Kontiguität oder gar Simultaneität
gegensätzlicher Emotionen begrifflich gerecht wird und zumal die Verwirrung
wiedergibt, die sie in der Interaktion auslösen. Schließlich wird in Svevos
Romanen ja eine seelische Welt vorausgesetzt, in der Montaignes Geständnis (oder
auch Anspruch) ,Je n’ay rien à dire de moy, entierement, simplement, et
solidement, sans confusion et sans meslange, ny en un mot“
gleichsam universelle Geltung gewonnen hat. So geht der Blick des
Erzählers – ohne Rücksicht auf die Folgerichtigkeit narrativer Techniken –
ruhelos vom einen zum anderen Bewußtsein und erinnert dabei an die ähnlich
inkonsistente Eindringlichkeit, mit der Stendhal einst den Bewußtseinskampf der
Liebe zwischen Julien Sorel und Mathilde de la Mole registriert hatte. Was
damals das Privileg unzeitgemäßer Ausnahmeexistenzen blieb, wird bei Svevo jetzt
sozusagen demokratisiert und von den Ausnahmeexistenzen auf die alltäglichsten
und unscheinbarsten bürgerlichen Lebensformen übertragen.
Vgl. Montaigne: Essais,hrsg. v. A. Thibaudet, Paris 1961, 371
(II1).
Dazu kommt bei Svevo – wie wir gesehen haben – indes noch ein
spezifischer Enthüllungsimpetus, der vom Phänomen der Illusion schlechthin
fasziniert ist. Der Enthüllungsimpetus bringt es mit sich, daß das
erzählerisch-analytische Interesse nicht durch die seelische Labilität des
„inetto“ völlig ausgelastet wird, sondern gelegentlich auf die Eitelkeit und
Unselbständigkeit des Lebenstüchtigen übergreift. Sobald der lebenstüchtige
,uomo superiore‘ jedoch in das unbeschränkte Gesichtsfeld des Erzählers gerät,
ist es um den Anschein seiner Authentizität geschehen. Als letzte
Kontrollinstanz verrät die auktoriale Introspektivanalyse, daß Authentizität
immer nur in der Vorstellung der Anderen und niemals substantiell wirklich
existiert
. Was Balli an
Angesichts dieser Erkenntnis verwundert der geradezu
inflationäre Gebrauch, den fast die gesamte Svevo-Kritik vom Begriff
der ‚Authentizität‘ als idealer Norm des Verhaltens und Empfindens
macht, ohne das damit postulierte ‚Reich der Eigentlichkeit‘ jemals
genauer zu definieren. Vgl. dagegen Roland Galles treffende
Bemerkungen über den – genaugenommen – metaphysischen „Optimismus“,
der allen solchen Distinktionen von Authentizität und „mauvaise foi“
immanent ist („Wissenschaft und Kunsterfahrung – Zum Verhältnis von
Romanform und Psychoanalyse in Svevos ‚La Coscienza di Zeno‘“, in:
U. Schulz-Buschhaus – H. Meter [Hrsg.], Aspekte
des Erzählens in der modernen italienischen Literatur,
Tübingen 1983, 125–141, hier 133).
Eine verwirrende Wirkung hat das Nebeneinander personaler und
auktorialer Erzählperspektiven aber vor allem für die Art und Weise, in der sich
dem Leser der Gegensatz zwischen Emilio Brentani und Stefano Balli mitteilt.
Einerseits sind die Ereignisse ja derart arrangiert, daß an der grundsätzlichen
Absicht einer Opposition von ,inetto‘ und ,uomo superiore‘ kein Zweifel bestehen
kann: der Typus, den die Gewohnheit der Selbstbeobachtung und eine ,,abbondanza
d’immagini“ (S. 503) im zielgerichteten Handeln paralysieren, trifft hier auf
seinen Gegentypus, der zugunsten des Handelns das Bewußtsein reduziert.
Andererseits wird der charakterologische Kontrast jedoch in einem gewissen Sinn
unterminiert, indem die beiden Kontrastfiguren der prinzipiell gleichen
erzähltechnischen Verfahrensweise anheimfallen, für die das Innenleben des
Tatmenschen ebensowenig ein Arkanum bleibt wie jenes des tatenarmen Literaten.
Einer prinzipiell identischen Perspektivik unterworfen, kommen sich die Freunde
bei aller typologischen Gegensätzlichkeit im romanes
Vor diesem Hintergrund der Vergleichbarkeit, den die Erzähltechnik garantiert, erweist sich indessen nur um so
eklatanter die Privilegierung, welche Emilio Brentani in den Erzählanteilen erfährt. Gerade weil uns Ballis Bewußtsein
grundsätzlich nicht anders erschlossen wird als das des Protagonisten, tritt bei
den entsprechenden Episoden zumal des fünften und sechsten Kapitels im
Verhältnis zu Emilio Brentani die relative Armut seiner Motive zutage. Was immer
man von der Tatkraft und den Eitelkeiten des ,uomo superiore‘ ansonsten halten
mag: eine erzählungsgenerierende Potenz scheint ihnen für Svevo bloß in geringem
Maß innegewohnt zu haben. Dagegen ist es eben die Lebensschwäche und mit ihr die
Bewußtseinsfülle des ,inetto‘, die jenen neuen Typus der Erzählung stiftet, bei
dem die Labilität der seelischen Lagen eine Abundanz innerer Ereignisse
hervorruft, welche die Unscheinbarkeit des äußeren Lebens geradezu als
Voraussetzung hat
.
Demnach partizipiert auch Svevos Senilità
an der eigentümlichen „Faszination durch das Syndrom der
Nervosität“ als einer literarischen Produktivkraft, in der
U. Link-Heer wiederholt eine wesentliche Komponente der Ästhetik des
Fin-de-Siècle identifiziert hat. Vgl. z. B. ,,‚Le mal a marché trop
vite‘ – Fortschritts- und Dekadenzbewußtsein im Spiegel des
Nervositäts-Syndroms“, in Fortschrittsglaube und
Dekadenzbewußtsein im Europa des 19. Jahrhunderts,hrsg. W. Drost, Heidelberg 1986, 45–67, bes.
56ff., und ,,‚Malgré ce formidable obstacle de santé contraire...‘ –
Schreiben und Kranksein bei Proust“, in Aspekte
der Literatur des fin-de-siècle in der Romania,hrsg. A. Corbineau-Hoffmann – A. Gier,
Tübingen 1983, 179–200.
So verrät die Erzählstruktur, daß schon in Svevos frühen Romanen das
Phänomen der ,inettitudine‘ nicht einfach nur den Gegenstand von Kritik bildet.
Gewiß fehlt es ihm gegenüber nicht an kritischer Distanzierung auf dem Niveau
gelegentlich explizit formulierter Urteile, und es ist sicher durchaus
berechtigt, wenn eine Studie über den „Primo Svevo“ einmal befindet: „Per
Emilio, ,letterato ozioso‘ [...], non c’è alcuna pietà“, oder noch drastischer:
„non c’è pietà per il suo onanismo intellettuale“
. Solche ,Mitleidlosigkeit‘, die sich insbesondere in manchen auktorialen
Kommentaren zu Emilio Brentanis Selbsttäuschungen manifestiert, wird jedoch
implizit immer wieder aufgehoben durch die Insistenz der narrativen Zuwendung.
Für sie ist charakteristisch, daß sie eben in Emilios „inerzia“ eine
unerschöpfliche und in moralischen Begriffen kaum faßbare Vielfalt des
Geschehens entdeckt, während sie in der ,superiorità‘ des Gegentypus, der ihr
ebenso offen steht, wenig mehr auszumachen weiß als die monotone
Selbstgefälligkeit des „consolatore“, der
S. Maxia: a.a.O. 96.
Deshalb verfehlt das Acharnement, mit dem ein Teil der Kritik über
Emilio Brentani herzufallen pflegt, die tiefere Realität des Textes auf eine
ähnliche Weise wie der – ebenso problematische – Zorn, den die Kritik immer
schon an Flauberts ,inetto‘ Frédéric Moreau ausgelassen hat
. So mag man beispielsweise Franco Petroni wohl zustimmen, wenn er zu Recht
betont, daß die Perspektive Emilios nicht mit dem überlegenen Gesichtspunkt des
Autors koinzidiert; doch bedeutet es meines Erachtens eine robuste
Vereinfachung, aus dem Sachverhalt dieser evidenten Distanz für Emilio zu
folgern: „[...] I rapporti affettivi che egli stabilisce con le persone – la
sorella, l’amico, l’amante – seguono i binari del più squallido conformismo”
Vgl. dazu als ein Beispiel von besonderer Unerbittlichkeit
D. Oehler: „Der Tourist – Zu Struktur und Bedeutung der Idylle von
Fontainebleau in der Education
sentimentale“,in Erzählforschung – Ein Symposion,hrsg. E. Lämmert, Stuttgart 1982, 490–505, wo Frédéric als
„klassischer Mitläufer aus dem schwankenden Kleinbürgertum“
erscheint, dessen „Inauthentizität“, „meskinen Egoismus“ und
„verhunztes Leben“ der Aufsatz mit emphatischer Verachtung
straft.
F. Petroni: L’inconscio e le strutture
formali – Saggi su Italo Svevo, Padova 1979, 46.
Im gleichen Sinn verfehlt scheint mir Petronis nicht weniger resolutes
Urteil: „[...] La malattia sociale, e di riflesso psicologica, di cui soffrono
Emilio, Amalia, Stefano, è la mancanza di certezza“
. Bei ihm überrascht zunächst, daß der moderne Kritiker, in dessen
Stellungnahmen manches vage marxistisch klingt, die Gestalten des Romans mit
demselben strafenden Begriff („mancanza di certezza“) schlägt, mit dem einst der
ultrakonservative Paul Bourget den uneindeutigen „esprit d’analyse“ und
„dilettantisme“ seiner Zeitgenossen beklagte, um für die Rückkehr zu den alten
Ordnungen dann zuvörderst einen „sens de la certitude rétabli“ zu postulieren
Ebda.
Vgl. P. Bourget: Essais de psychologie
contemporaine,Bd. 2, Paris 1919,
50.