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Quelle: Spielräume des auktorialen Diskurses, Sammelband der Beiträge zum Projekt „Der auktoriale Diskurs in vergleichender Sicht“ an den Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin/Zentrum für Literaturforschung in den Jahren 1997–2000, hgg. K. Städtke/R. Kray, Berlin, Akademie Verlag, 2003 (PH)

„Ein Autor wie Gott, unsichtbar und allmächtig“

Über Formen diskursiver Autorität und Kontingenz

Die Betrachtungen, die ich hier präsentieren möchte, haben in einem höheren Maß, als es mir sonst angemessen scheint, essayistischen Charakter. Das heißt: Sie verfolgen keinen systematischen Anspruch, zum einen, weil ich nicht jenen Überblick über mein Thema erlangen kann, der einen solchen Anspruch begründen würde; zum anderen, weil die historischen Fragmente, die mir zugänglich sind, kaum zu einem geordneten Tableau, erst recht nicht zu einer konsistenten Narration zusammentreten wollen. Ich begnüge mich deshalb mit der Nennung einiger beispielhafter Momente, welche zu Vermutungen und Hypothesen Anlaß geben, die in eventuellen Einzeluntersuchen zu präzisieren und zu vertiefen wären.
Das Thema meiner Betrachtungen ist die Varietät auktorialer Einstellungen zu fiktionalen Erzählungen, seien es Epen, Romane, Novellen oder andere Genera. Es handelt sich also um eine im Ausgangspunkt erzähltheoretische Fragestellung, deren eigentliche Erkenntnisinteressen jedoch eher auf gattungsgeschichtliche und mentalitätengeschichtliche Entwicklungen oder Typologien gerichtet sind. Dabei soll als Leitlinie eine idealtypische Unterscheidung dienen. Sie reklamiert auf der einen Seite den Typus einer Autorenfigur, die über eine Autorität verfügt, die sich nicht einschränken und nicht einmal befragen lassen möchte. Auf der anderen Seite existiert ein Typus von Autorenfigur, bei dem die Kontingenz des Erzählens und der Erzählinhalte nicht nur eingestanden, sondern bewußt ausgespielt wird.
Um diese idealtypische Unterscheidung näher zu erläutern, bietet sich die Skizze eines narratologischen Falles an, den ich für extrem halte. Gemeint ist der Fall Flauberts. Er wirkt nicht zuletzt deshalb aufschlußreich, weil Flaubert den Extremismus seines auktorialen Autoritätsanspruchs nicht nur in seinen erzählerischen Verfahrensweisen dokumentiert, sondern auch in den expliziten poetologischen Erörterungen seines Briefwechsels kommentiert hat. Unter den letzteren sind vor allem jene verständlicherweise oft zitierten Passus bemerkenswert, welche das Wirken des Autors mit dem Wirken Gottes vergleichen. Dieser Vergleich war für Flauberts auktoriales Bewußtsein offenbar so wichtig, daß er ihn auch über den Abstand vieler Jahre hinweg mehrfach geäußert hat. Ich führe eine Trias von Belegen an, die wahrscheinlich nicht erschöpfend ist, aber Flauberts zentrale Intentionen hinlänglich klar zum Ausdruck bringt. Am 9. Dezember 1852 schreibt Flaubert an Louise Colet in einem Brief, der überhaupt zu seinen poetologisch bedeutsamsten Stellungnahmen zählt:
L’auteur, dans son œuvre, doit être comme Dieu dans l’univers, présent partout, et visible nulle part. L’art étant une seconde nature, le créateur de cette nature-là doit agir par des procédés analogues: que l’on sente dans tous les atomes, a tous les aspects, une impassibilité cachée et infinie. L’effet, pour le spectateur, doit être une espèce d' ébahissement. (Flaubert 1980,204.)
Vierzehn Jahre später wiederholt er die Wendung variierend in einem Brief vom 20. August 1866 an Amélie Bosquet: „Un romancier, selon moi, n’a pas le droit de dire son avis sur les choses de ce monde. – Il doit, dans sa création, imiter Dieu dans la sienne, c’est-à-dire faire et se taire“ (Flaubert 1991, 517).
Den höchsten Grad von Explizitheit erreicht der Gedanke vielleicht in einem Brief vom 18. März 1857, der an Mlle Leroyer de Chantepie gerichtet ist und im Rückblick von Madame Bovary handelt:
Madame Bovary n’a rien de vrai. C’est une histoire totalement inventée; je n’y ai rien mis ni de mes sentiments ni de mon existence. L’illusion (s’il y en a une) vient au contraire de l’impersonnalité de l’œuvre. C’est un de mes principes, qu’il ne faut pas s'écrire. L’artiste doit être dans son œuvre comme Dieu dans la création, invisible et tout-puissant; qu’on le sente partout, mais qu’on ne le voie pas. (Flaubert 1980, 691.)
Über jeden dieser Passus wäre im einzelnen sehr viel zu sagen, zumal, wenn man gewissenhaft die jeweilige Kontextualisierung der Stellen in Betracht ziehen würde. Da es mir jetzt um weitere historische und typologische Relationen geht, nehme ich von einer näheren Interpretation der Briefe Abstand und beschränke mich auf wenige Aspekte, die mir eben literarhistorisch und gattungstypologisch besonders bedeutsam erscheinen. Unter ihnen ist zunächst auf der Ebene des Vergleichssignifikanten die Eigentümlichkeit der Gottesvorstellung hervorzuheben, welche von Flaubert aufgerufen wird. Sie akzentuiert die Unsichtbarkeit Gottes, um gerade von ihr die Privilegien der Allgegenwärtigkeit und der Allmacht abzuleiten. Offensichtlich handelt es sich um ein Konzept göttlicher Allmacht, das in der Tradition nominalistischer Vorstellungen steht und wesentlich von der jansenistisch-augustinischen Idee eines ‚deus absconditus‘ geprägt ist, eines Gottes also, dessen Machtvollkommenheit um so weniger einzuschränken ist, je weniger von ihm – etwa nach scholastischer Manier – sichtbar, begreifbar oder definierbar wird.
Dazu kommt eine weitere Besonderheit des Vergleichs, welche mit dem jansenistisch-augustinischen Charakter des Gotteskonzepts, das er impliziert, eng zusammenhängt. Ich meine das prinzipielle Paradoxon, das darin besteht, daß die Idee von Allmacht sich hier aufs innigste mit dem Anschein von Ohnmacht, ja Absenz verschränkt. Das heißt: Der Autor wird in Flauberts Sicht allmächtig und allgegenwärtig eben durch den Verzicht auf eine unmittelbare Präsenz und Machtausübung gleichsam ersten Grades. Dies paradoxale Verhältnis kommt bei jedem der zitierten Passus deutlich zum Ausdruck. Im Brief an Mlle Leroyer de Chantepie betont Flaubert den Konnex zwischen auktorialer Allmacht und „impersonnalité“. Der Künstler gewinnt quasi göttliche Autorität, indem er nicht sich selbst schreibt, das heißt: nichts von den eigenen Gefühlen und der eigenen Existenz in sein Werk investiert („je n’y ai rien mis ni de mes sentiments ni de mon existence“). Im Brief an Amélie Bosquet spricht Flaubert dem Romanautor Göttlichkeit unter der Prämisse zu, daß er auf ein primäres auktoriales Recht verzichtet: das Recht, seine persönliche Meinung über die Welt und ihre Zustände mitzuteilen („Un romancier [...] n’a pas le droit de dire son avis sur les choses de ce monde“). Am eklatantesten tritt das Paradoxon in dem großen Brief an Louise Colet zutage. Dort ist von Uncle Tom’s Cabin die Rede, einem Roman, der Louise Colets philanthropischen Impulsen ausnehmend gefallen mußte, während er Flaubert eben wegen der manifest moralisierenden auktorialen Tiraden im gleichen Maße mißfiel. So spielt Flaubert gegen Harriet Beecher-Stowes auktoriale Partizipation am Romangeschehen Victor Hugos Zurückhaltung in Le dernier Jour d’un condamné aus (die nur durch das Stellung nehmende Vorwort getrübt wurde) und mehr noch Shakespeares Umgang mit dem Thema der ‚usure‘ in The Merchant of Venice, wobei er dann, das angesprochene Paradoxon extrem pointierend, bemerkt: „Mais la forme dramatique a cela de bon, elle annule l’auteur“ (Flaubert 1980, 204). Oder mit anderen Worten gesagt: In dem Maße, in dem der Autor – wie etwa im Drama – auf einer ersten Ebene ‚annulliert‘ wird, erreicht er auf einer zweiten Ebene jene Allmacht und Omnipräsenz, die offenbar keiner Kontingenz mehr unterliegt.
In einem engeren literarhistorischen Zusammenhang betrachtet, ist bei der zuletzt angeführten Briefstelle nun noch etwas anderes bedeutsam. Mit dem Ausdruck des Widerwillens gegen die „réflexions de l’auteur“, die ihn in der Cabane de l’Oncle Tom irritiert hätten, verbindet Flaubert nämlich auch eine Kritik an der Erzählweise Balzacs, jener Erzählweise also, die gemeinhin zu Recht als Inbegriff eines Erzählens angesehen wird, das durch die Autorität einer souverän allwissenden Autorenfigur verbürgt ist. Natürlich ist bekannt (und auch für jeden aufmerksamen Leser nach kurzer Lektüre manifest), daß Flaubert sich von Balzac, mit dem er viele Interessen, Themen und Motive teilt, in mancher Hinsicht dezidiert abzuheben versucht (wie etwa Proust sich dann später wieder ebenso entschieden von den Flaubertschen Verfahrensweisen abwendet). Nicht ganz unumstritten bleibt dagegen, welche Zielvorstellungen es sind, die Flauberts Distinktionswillen gegenüber Balzac gelenkt haben. Zur Präzisierung seiner Absichten wirkt es jetzt erhellend, wenn Flaubert im Kontext seiner Kritik an der moralisch räsonnierenden Autorin von Uncle Tom’s Cabin (und der Würdigung dramatischer Form, die den Autor annulliere) schreibt: „Balzac n’a pas échappé à ce défaut, il est légitimiste, catholique,aristocrate“ (ebd.). Wie das Umfeld dieses Satzes deutlich macht, will Flaubert damit keineswegs sagen, daß er das Auktorialitätsprinzip, das Balzacs Erzählen bestimmt, grundsätzlich negiert, das heißt: insofern negiert, als es ein Prinzip auktorialer Autorität darstellt. Vielmehr meint die Kritik, daß sogar Balzac dem Fehler eines Räsonnierens anheimgefallen sei, welches die ‚Göttlichkeit‘ seiner auktorialen Autorität einschränke. Denn Balzac kann sein Erzählwerk deshalb nicht allmächtig und allgegenwärtig dominieren, weil er sich nicht als ,deus absconditus‘ über oder besser: hinter dem Text zurückhält, sondern durch die aufdringliche Partialität seiner Meinungen und Ansichten den Text gewissermaßen degradiert. Balzacs Texte verlieren an Autorität, da aus ihnen – wie Flaubert findet – kein unergründlich verborgener göttlicher Ratschluß spricht. Statt dessen sieht Flaubert in der primären Machtanmaßung des räsonnierenden Autors die höchst prekäre Instanz von Meinungsäußerungen, die nicht ,Dieu dans l’univers‘, sondern ein vorurteilsbeladener Legitimist, Katholik und Aristokrat bekundet. Demnach kann man Flauberts Prinzip einer primären Invisibilisierung und Annullierung des Autors durchaus als eine Methode zur letzten Steigerung auktorialer Autorität verstehen. Was bei Balzac noch unvollkommen bleibt, da der Autor in der Comédie humaine allzu unvermittelt seine Machtvollkommenheit beansprucht, wird von Flaubert gewissermaßen vervollkommnet, indem der Autor seine nunmehr göttliche Macht erst auf einer zweiten Ebene spüren läßt, welche ihn in der Unzugänglichkeit seiner „impersonnalité“ (so gegenüber Mlle Leroyer) und seiner „impassibilité“ (so gegenüber Louise Colet) zeigt, nicht in der kommunikativen Nähe seiner irdischen – vielleicht à la Balzac legitimistischen, katholischen, aristokratischen – Meinungen und Parteinahmen.
Daß es hier wie in Flauberts gesamtem Erzählprojekt um eine letzte Steigerung auktorialer Autorität geht, verrät im übrigen auch die Bezugnahme auf Platon oder jedenfalls auf platonisches Gedankengut, die im Brief an Mlle Leroyer auf den Vergleich des Autors mit einem ,deus absconditus‘ folgt. Flaubert spricht dabei vom Stil und von der Form als dem Schönen, das nichts anderes als der Glanz der Wahrheit sei: „le Beau indéfinissable résultant de la conception même et qui est la splendeur du Vrai, comme disait Platon“ (Flaubert 1980, 691). Wenn der Autor sich bei Flaubert als Vertreter oder – geschichtsphilosophisch gesehen – als Nachfolger Gottes geriert, so kann er das tun, weil er sich wie einst Gott als Quelle der Wahrheit betrachtet. Unter den Bedingungen der Moderne heißt das, daß auch der Erzähler sich mit der Wissenschaft im Bunde weiß. Tatsächlich häufen sich in Flauberts Briefwechsel die Stellen, an denen er für das Erzählwerk, das einen gottgleich unergründlichen Autor manifestiert, zugleich die tiefere Wahrheitsgarantie der Wissenschaftlichkeit verlangt. So auch im Brief an Mlle Leroyer, wo es nach dem Postulat, man müsse den Gott-Autor überall spüren, dürfe ihn aber nirgendwo sehen, heißt: „Et puis, l’Art doit s’élever au-dessus des affections personnelles et des susceptibilités nerveuses! Il est temps de lui donner, par une méthode impitoyable, la précision des sciences physiques“ (ebd.). Eine solche Wissenschaftsemphase scheint der abgründigen Wissenschaftsskepsis zu widersprechen, die Flauberts Spätwerk Bouvard et Pécuchet durchzieht. [1] Wenn wir berücksichtigen, daß die ersten Pläne zu Bouvard et Pécuchet in Flauberts Biographie sehr weit, bis in die Zeit der ersten Entwürfe zu Madame Bovary, zurückreichen, wird jedoch klar, daß beide Haltungen wohl stets zu verschieden akzentuierter Interdependenz koexistiert haben, und man gewinnt den Eindruck, daß eben der emphatische Anspruch an die Wissenschaft als Wahrheitsgarantie immer auch für die Radikalität der Skepsis verantwortlich war, welche von der unvermeidlichen Enttäuschung solcher Ansprüche hervorgerufen wurde. Auf jeden Fall läßt sich festhalten, daß die Verfolgung des Prinzips einer möglichst unanfechtbaren auktorialen Autorität auch bei Flaubert – wie könnte es anders sein? – auf das neue Prestige der „sciences physiques“ und ihrer „méthode impitoyable“ rekurriert. Und damit steht auch der Autor der Madame Bovary und der Education sentimentale in einer epistemologischen Filiation, welche Balzacs Berufung auf Biologie und Soziologie mit Zolas Orientierung an der ‚médicine expérimentale‘ und der Vererbungslehre verbindet. Freilich unterscheidet sich Flaubert sowohl vom älteren wie vom jüngeren Romancier nicht nur durch die resolute Zuspitzung des Prinzips auktorialer Autorität, sondern gleichfalls durch die besondere Art seiner Wissenschaftsnähe. Die Flaubertsche Wissenschaftsnähe meint nämlich weniger als die Balzacs oder erst recht die Zolas Benutzung einer bestimmten Wissenschaft, als vielmehr den Anspruch von Wissenschaftsanalogie: eben die „précision“ der „sciences physiques“ als eine allgemeine und umfassende Norm auch der literarischen Formulierung, nicht die Übernahme bestimmter Wissenschaftssätze und Wissenschaftsdogmen, wie das speziell die Sache des geradezu religiös wissenschaftsgläubigen Zola war.
Nun ist bei Flauberts ultimativer Steigerung des Effekts auktorialer Autorität, welche sich paradoxerweise auf die Unsichtbarmachung von Autoren- und Erzählerfigur stützt, freilich in Betracht zu ziehen, daß sie nicht allein aus einer Flaubertschen Intuition erwächst, sondern daß sie ältere und einigermaßen fest etablierte semiotische (möglicherweise sogar anthropologische) Konventionen voraussetzt. Prämisse des Erzählverfahrens, das Flaubert gleichsam radikalisiert und mit untergründig theologischer Bedeutung versieht, bildet die aristotelische Überzeugung, daß der epische Dichter ‚möglichst wenig in eigener Person reden‘ soll (vgl. Poetik, Kap.24): In dieser Hinsicht sei – so schon Aristoteles selbst – eben Homer im Gegensatz zu anderen Dichtern vorbildlich gewesen. Diese Überzeugung von der objektivierenden und nicht subjektivierenden Perspektive des epischen Erzählers hat sich dann seit der Renaissance verstärkt und bestimmt in beträchtlichem Ausmaß die Idee, die man sich von einem Epos hohen Stils macht, das sich bewußt an den klassischen Modellen Homers und Vergils orientiert, also von einem Epos nach Art von Torquato Tassos Gerusalemme liberata. Dementsprechend spielt die Frage nach der Verborgenheit oder der unmittelbaren Sichtbarkeit einer auktorialen Figur eine gewisse Rolle in den Auseinandersetzungen, die in Italien am Ende des 16. Jahrhunderts über die diesbezüglichen) ‚Regelverletzungen‘ in Ariosts Orlando furioso und überhaupt über den Primat zwischen Tasso und Ariost geführt wurden. Aus diesen Auseinandersetzungen möchte ich hier nur eine Stimme anführen, welche die aristotelische Forderung nach der Verborgenheit des Autors fortschreibt, um sie gegen Ariosts Subjektivierung der Erzählinstanz zu wenden. Die Stimme gehört einem sonst nicht weiter bedeutenden Poetologen namens Nicolò degli Oddi, der in einer 1587 veröffentlichten Schrift [2] konstatiert:
[...] quanto meno il Poeta parla in persona sua propria, & quanto più s’asconde, tanto più è Poeta; onde in confermatione di questo disse il divino Platone, che dove il Poeta non si cela, & asconde la sua Poesia, e narratione, è senza imitatione. & Aristotele nella sua Poetica afferma, che il Poeta la sua narratione ò vera ò finta, che ella sia, tutta sotto altrui nome dee trattare; e la moralità del Furioso sono tutte in persona del Poeta. (Zit. nach: Hempfer 1982, 153, Anm. 52.)
Selbstverständlich läßt sich der Nukleus dieser Formulierungen auf die Mimesis-Problematik zurückführen, wie Aristoteles sie im 24. Abschnitt der Poetik behandelt. Durch die Amplifikation der aristotelischen Passage und durch eine gewisse Emphatisierung des Dichter-Begriffs wird das alte Argument jedoch in eine Richtung gewendet, welche spezifischer auf den Charakter epischer Objektivität und die mit ihr verbundene Stilhöhe hinaus will. Der Cinquecentist meint: ‚Je weniger der Dichter in eigener Person spricht und je mehr er sich verbirgt, um so mehr ist er Dichter‘; das heißt: um so mehr kann sein Werk an objektiver Autorität gewinnen. Zur Erlangung solcher Autorität spielt im übrigen auch das nicht allein topische Element der Invocatio eine wichtige Rolle. Indem der Dichter im Exordium oder an anderen heiklen Stellen seiner Erzählung um göttliche Inspiration bittet, schränkt er gewissermaßen die – prinzipiell unvermeidliche – subjektive Trübung allgemeingültiger Wahrheit ein. Man könnte sagen, daß die göttliche Inspiration in der vormodernen Gattung des Epos eine ähnliche Bedeutung besitzt wie im Roman des 19. Jahrhunderts die Wissenschaft: Sie verschafft die Garantie nichtwortwörtlicher, aber tieferer Wahrheit und verleiht dem Autor eine Autorität, welche er durch weitere Einmischungen eines deklarierten eigenen Erzählwillens allenfalls trüben könnte.
Unter diesen Gesichtspunkten ist insbesondere Tassos Gerusalemme liberata um Mustergültigkeit bemüht, eine Mustergültigkeit, welche in diesem Fall sowohl poetologisch-klassizistisch wie religiös-dogmatisch motiviert erscheint. Tatsächlich hält sich die auktoriale Instanz in diesem Epos hohen Stils weitgehend verborgen, das heißt: Der Erzähler spricht nach dem aristotelischen Postulat selten in ,eigener Person‘ und läßt vielmehr zur Kommentierung des Geschehens die epischen Protagonisten sprechen, während das in ,eigener Person‘ Vorgetragene sich möglichst auf den récit, die narratio im engeren Sinn, beschränkt. Gleichzeitig umfaßt der Exordialapparat der Gerusalemme nach der Propositio jedoch eine durchaus ausladende Invocatio sowie eine ebenfalls auf zwei Oktavstanzen gedehnte Dedicatio; Strophen, in denen die Erzählerfigur sich doppelt legitimiert, zunächst gegenüber einer ,Muse‘, die angerufen wird, als sei sie die Jungfrau Maria, dann gegenüber dem fürstlichen Mäzen, Alfonso d’Este, der durch das Vorbild der epischen Handlung gewissermaßen zu einem weiteren, modernen Kreuzzug zur Befreiung Jerusalems inzitiert werden soll (vgl. Tasso 1957, 1–5). Bemerkenswert erscheint an Tassos Formulierungen der klassischen Exordialtopoi vor allem zweierlei. Zum einen werden beide Topoi dadurch miteinander verbunden, daß sie gleichermaßen als rhetorisches Material für religiös-christliche Argumente dienen: Die ,Muse‘ weilt nicht mehr lorbeerbekränzt auf einem heidnischen Parnaß, sondern von Sternen gekrönt unter den Engels-Chören, wo sie die Wahrheit von Geschichte und Moralphilosophie verbürgt. Der schützende Mäzen verdient die ihm erteilte Huldigung nicht nur, weil er das sonst schutzlose Ich des Dichters (,me peregrino errante‘) fördert, sondern weil er als Held eines künftigen ,gerechten Krieges‘, der ein weiteres Mal um die Befreiung der heiligen Stätten geführt werden mag, in hohem Maße qualifiziert erscheint. Zum anderen insistiert der Erzähler mit besonderem Nachdruck auf dem Wahrheitsgehalt seiner Erzählung. Dabei bedient er sich einer Argumentationsfigur, welche Wahrheit und Historizität der Erzählung stets am besten zu garantieren weiß. Gemeint ist die explizite Entschuldigung für ein erzählerisches Vorgehen, das – wie es heißt – nicht in allem der ,Wahrheit‘ folgt, sondern das ‚ver‘ (vgl. Tasso 1957, Canto I/2, 7) in mancher Hinsicht mit ‚fregi‘, literarischem Schmuck, versieht. Indem die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Fiktion nicht eine solche zwischen Geschichte und literarischem Text bleibt, sondern nachdrücklich in den literarischen Text selbst hineingetragen wird, erhält wenigstens der Kern des Textes einen Wahrheitsanspruch, der die üblichen Grenzen des Fiktionalen transzendiert.
Signifikant verschieden ist die Lage dagegen in Ariosts Orlando furioso, also jenem Epos oder vielmehr ‚romanzo‘, von dem Tassos Gerusalemme sich nicht zuletzt durch die Behauptung einer gesteigerten auktorialen Autorität abheben möchte. Der Furioso beginnt wie die Liberata mit einer Propositio, einer Propositio freilich, die von Anfang an die Multiplizität ineinander verschlungener Handlungen einräumt, wo sich in der Liberata die Einheit einer Handlung ankündigt, welche Himmel und Hölle gegeneinander in Stellung bringt. Dagegen kann man im Exordium des Furioso nicht eigentlich eine Invocatio ausmachen. Demnach fehlt bei Ariost die Berufung auf eine höhere Instanz, die als Garantie epischer oder romanesker Wahrheit anzusehen wäre. Statt dessen werden in der zweiten Strophe, in der man an sich die Invocatio erwarten sollte, andere Dinge hervorgehoben:
Dir d’Oriando in un medesmo tratto
cosa non detta in prosa mai né in rima:
che per amor venne in furore e matto,
d’uom che sì saggio era stimato prima;
se da colei che tal quasi m’ha fatto,
che’l poco ingegno ad or mi lima,
me ne sarà però tanto concesso,
che mi basti a finir quanto ho promesso.
(Ariosto 1961,5.)
Der Erzähler setzt zunächst die Propositio fort, indem er verspricht, über Orlando (Roland) Dinge zu Gehör zu bringen, die bislang weder in Prosa noch in Versform bekanntgeworden waren: die Neuigkeit nämlich, daß der im mittelalterlichen Heldenlied einst keusche Roland nicht nur in Liebesleidenschaft entbrannt sei, sondern daß ihn solche Liebesleidenschaft auch um den Verstand gebracht und verrückt („matto“) gemacht habe. Was hier im Vordergrund steht, ist folglich nicht – wie später bei Tasso – die autoritative Wahrheit der Geschichte, welche mittels Invocatio durch eine größere Autorität, als es die des Dichters ist, garantiert würde. Wichtiger als die Wahrheit soll offenbar die Neuigkeit der Geschichte erscheinen, für welche nicht so sehr die Musen, die Engels-Chöre oder ein Gott, als vielmehr der Autor selber einsteht. Der Erzähler selbst setzt sich in Szene, um mit den Reizen des Neuen zu locken, und es mag bezeichnend sein, daß die Formel, die er dabei verwendet, auch weniger aus der epischen Tradition, sondern eher aus der von vornherein subjektiveren Lyrik stammt: näherhin aus der berühmten Ode des Horaz Odi profanum uolgus et arceo (Carmina III/1), in deren Propositio das lyrische Ich (allerdings als „Musarum sacerdos“) nach Aufmerksamkeit für „carmina non prius/ audita“) verlangt. Sobald der Autor sich als Garant des Neuen derart in den Vordergrund schiebt, nimmt mit der auktorialen Verfügungsgewalt über die erzählte Geschichte indessen auch deren Kontingenz zu. Wenn die letzthinnige Wahrheit des Erzählten weder von Gott noch von der Historie noch von irgendeiner Wissenschaft, sondern allein vem Ingenium des Autors verbürgt wird, dann muß die Gestalt der Erzählung – eben in Abhängigkeit vom Willen und von den Fähigkeiten des Autors – als etwas Willkürliches und genaugenommen Zufälliges erscheinen. In der Tat weist der Erzähler auch sofort auf die Kontingenz seiner Autorschaft hin. Nachdem er Orlandos unerhörtes Geschick, die Liebesleidenschaft und den daraus folgenden Wahnsinn, angedeutet hat, verrät er, sich nun erst recht in den Vordergrund drängend, daß ihm das gleiche Geschick wie seinem Helden widerfahren ist. Auch ihn selbst hat die Liebe erfaßt, weshalb er sein Erzählprogramm mit einer Kautele versehen muß. Nur wenn die Geliebte (jeder Kommentar versichert, sie hieße Alessandra Benucci), die ihn beinahe ebenso ‚verrückt‘ gemacht habe wie Orlando, bereit sei, ihm einen Rest von Verstand zu lassen, könne es ihm gelingen, die Geschichte von Orlandos Wahnsinn vernünftig zu Ende zu führen. So tritt der Erzähler, ja der Autor, von Anfang an hervor, um sich quasi als Herr über die erzählte Geschichte zu präsentieren, freilich als ein eher schwacher Herr, der in der eigenen lebensweltlichen Geschichte Kontingenzen ausgeliefert ist, welche die zu erzählende Geschichte in Suspens halten und eventuell sogar vereiteln können. Gattungstypologisch betrachtet könnte man sagen, daß der Autor seine Erzählerfigur in die Situation einer Elegie versetzt und sie darüber hinaus jeweils in den räsonnierenden Proömien der einzelnen Gesänge – auch als die Figur eines horazischen Satirikers modelliert. Damit wird der Autor für den Leser direkter gegenwärtig als bei Tasso (oder erst recht bei Flaubert, Zola oder Henry James), zugleich sichtbarer in seiner Macht und reduzierter in seiner Autorität.
Der Vergleich zwischen den verschiedenen auktorialen Manieren der Gerusalemme liberata, welche ihre auktoriale Instanz weithin verborgen läßt, und dem Orlando furioso, der seine auktoriale Instanz breit präsentiert, bezeichnet nun ein Verhältnis, das mehr als einen Einzelfall charakterisiert. Es impliziert vielmehr die Annahme einer gewissen Regelmäßigkeit, welche sich wenigstens während der longue dunrée einer klassisch-humanistischen Gattungsordnung, also etwa zwischen Renaissance und Romantik, verhältnismäßig stabil erhält. Nach dieser Regelmäßigkeitsannahme sind die idealtypischen Haltungen auktorialer Autorität und auktorialer Kontingenz derart verteilt, daß die erstere Epen hohen Stils kennzeichnet sowie Romane, die solcher Epik im Stilanspruch nachfolgen, während die zweite Epen und Romane prägt, welche in puncto Stilhöhe einen geringeren Anspruch stellen und wesentlich oder zumindest partiell komisch-satirisch gestimmt sind. Ein solcher Stilunterschied besteht ja exemplarisch zwischen Ariosts in der Grundstimmung heiterem, mitunter komischem ‚romanzo‘ und Tassos ernstem, oft von vehementem Pathos erfülltem ‚poema eroico‘. Wie die unterschiedlichen Spielarten bald kontingenter und bald autoritativer Auktorialität hier ‚romanzo‘ und ‚poema eroico‘ trennen, wirken sie auch anderweitig als ein zentrales Kriterium, nach dem sich das – wenn man so will – klassische Gattungssystem in Genera des Sublimen und Genera des Heiteren aufteilen läßt. Dabei ist wichtig, festzuhalten, daß diese semiotische Regelmäßigkeit auf einer Ebene wirkt, welche tiefer liegt als die expliziten epistemischen oder moralischen Prinzipien, denen ein narrativer Text Ausdruck verleiht. Gewiß können bestimmte epistemische oder moralische Orientierungen eine solche tiefere semiotische Regularität in der Periode klassisch-humanistischer Literatur bedeutungsvoll modifizieren; doch haben sie die Regularität stets als Prämisse und eventuellen Widerstand in Rechnung zu stellen.
Von besonderem Interesse erscheint in diesem Zusammenhang der Idealtyp einer deklarierten auktorialen Kontingenz, bei dem der Autor eine scharf konturierte Erzählerfigur hervortreten läßt, die über sich und das Erzählte sowie nicht zuletzt die Art des Erzählens, die so oder auch anders sein könnte, zu räsonnieren pflegt. Je mehr Raum eine solche Erzählerfigur beansprucht und je freier sie mit der Erzählmaterie umspringt, um so schwächer wird tendenziell die Autorität, die man dem erzählten Stoff selbst zubilligen mag. Das heißt: Die Selbstthematisiaung des Erzählers droht immer schon jene ‚illusion référentielle‘ zu zerstören, deren bewußte Durchkreuzung bekanntlich zu den wesentlichen Programmpunkten des Nouveau roman wie aller Avantgarde von Roman- bzw. Textproduktion gehört. Statt der Vermittlung einer ‚illusion référentielle‘ soll in solchen Romanen die Autoreflexivität des Textes dominieren, der etwa – nach dem vielzitierten Wort Jean Ricardous – nicht mehr den ‚récit d’une aventure‘, sondern die selbstbezügliche ‚aventure d’un récit‘ ergibt. Die Auroreflexivität des Textes gilt nicht zu Unrecht als ein essentiell modernes (in Nordamerika als ein essentiell ‚postmodernes‘) poetologisches Prinzip, das die Kontingenz der textuelIen Fügung offen eingesteht und dadurch vom Anspruch, auktorial und autoritativ Wahrheit zu vermitteln, Abstand nimmt. Was bei diesem Selbstkonzept der literarischen Moderne bzw. Postmoderne meist verdrängt wird, ist indessen der Umstand, daß gerade die Autoreflexivität des Textes eine lange Vorgeschichte kennt, die weit hinter die Moderne zurückgeht.
Konstituiert wird diese Vorgeschichte eben von dem latent auroreflexiven Habitus auktorialer Kontingenz, der nicht nur in einzelnen immer wieder angeführten Texten – wie etwa Laurence Sternes Tristram Shandy – manifest wird. Er prägt vielmehr mit überraschender Kontinuität eine breite Tradition des komischen oder wenigstens heiteren Erzählens, das in Henry Fieldings Tom Jones „prosai-comi-epic writing“ heißt (Fielding 1749; 1955, 173). Und bezeichnenderweise thematisiert Fielding, wenn er schon im ersten Kapitel des Tom Jones von „the cookery of an author“ spricht (ebd., 34), die Verfahren seiner Schreibweise kaum :weniger autoreflexiv, als Sterne das tut. Besonders scharf ausgeprägt erscheint die Autoreflexivität des komischen Erzählens in der Literatur des Dix-Septième, also dort, wo die Gattungskonventionen eine besonders verpflichtende Macht gewonnen haben. Wann immer eine Erzählung hier komische Wirkungen erzielen will, läßt sie eine Erzählerfigur hervortreten und die Kontingenz ihres Erzählens unterstreichen. Dazu möchte ich nur zwei Beispiele nennen. Das erste bildet Scarrons Roman comique (1651). Er beginnt mit einer Zeitangabe, welche dem Leser gewissermaßen zur Auswahl zunächst in mythologisch-periphrastischer Manier und daraur – „plus humainement et plus intelligiblement“ – in schlichten Ziffern präsentiert wird. Am Ende des ersten Kapitels mischt der Autor sich gleichsam unter seine Gestalten: Der Protagonist ist zur Ruhe gekommen; seine Pferde erhalten Futter, „et, cependant que ses bêtes mangèrent, l’auteur se reposa quelque temps et se mit à songer ce qu’il dirait dans le second chapitre“ (Scarron 1651; 1955, 5). Wie der Autor, der in einem Kapitel noch nicht weiß, was er im nächsten sagen soll, an einer anderen Stelle über die Mißlichkeiten des Schauspielerberufs räsoniert, bricht er die Erörterung unversehens ab, da er meint, sich Argumente für andere Stellen seines Buchs aufsparen zu müssen, damit der poetologischen Forderung nach diversitas Genüge getan werde: „Il y a bien d’autres choses à dire sur ce sujet; mais il faut les ménager, et les placer en divers endroits de mon livre pour diversifier“ (ebd., 25). Erscheint hier ein Erzähler, der in seiner Narration souverän Regie führt, so gibt es wieder andere (und häufigere) Stellen, an denen der Erzähler gesteht, keine rechte Kontrolle über seine Narration zu besitzen. Sollte der Leser etwa Mühe haben, sich auszumalen, was kommen wird, dann ginge es ihm nicht anders als dem Erzähler selbst, der seiner Erzählung sozusagen die Zügel schießen läßt:
[...] si, par ce qu’il [le le lecteur bénévole] a déjà vu, il a de la peine à se douter de ce qu’il verra, peut-être que j’en suis logé là aussi bien que lui, qu’un chapitre attire l’autre et que je fais dans mon livre comme ceux qui mettent la bride sur le col de leurs chevaux et les laissent aller sur leur bonne foi. (Ebd., 51.)
Demnach tendiert die Attitüde auktorialer Kontingenz, wie sie im unernsten Erzählen niedrigen Stils üblich ist, nicht allein zur Betonung textueller Autoreflexivität, sondern gleichfalls bereits zu einer Art Autogeneration, einer immanenten Produktivität des Textes, welche Jahrhunderte später ja ebenfalls unter den Prinzipien einer avantgardistischen Poetik figurieren wird. [3]
Der zweite Roman, den ich in diesem Zusammenhang erwähnen möchte, ist Furetières Roman bourgeois mit dem Untertitel Ouvrage comique (1666). In ihm setzt sich der wohl unberechenbarste und willkürlichste Erzähler in Szene, den ich vor jenem des Tristram Shandy in einem Roman oder Epos betitelten Erzählwerk kenne. Dabei besteht das Hauptmerkmal seiner Kapricen darin, daß er beständig auf narrative Alternativen hinweist, also kontinuierlich in Erinnerung hält, daß alle seine Erzählschritte letztlich arbiträr bleiben, weil sie entweder der puren Imitation gehorchen oder umgekehrt die Imitation des Üblichen zu vermeiden suchen. Derart lautet die Propositio des Romans: „Je chante les amours et les advantures de plusieurs bourgeois de Paris“, was unangemessen episch klingt und deshalb sogleich den Kommentar nach sich zieht: „et ce qui est de plus merveilleux, c’est que je les chante, et si je ne sçay pas la musique“. Daß der Erzähler singt, wird darauf als Befolgung einer bloßen Konvention erklärt und kompromittiert:
Mais puisqu’un roman n’est rien qu’une poésie en prose, je croirois mal débuter si je ne suivois l’exemple de mes maistres, et si je faisois un autre exorde: car, depuis que feu Virgile a chanté Aenée et ses armes, et que le Tasse, de poëtique memoire, a distingué son ouvrage par les chants, leurs successeurs, qui n’estoient pas meilleurs musiciens que moy, ont tous repeté la mesme chanson, et ont commencé d’entonner sur la mesme notte. (Furetière 1666; o. J., 5f.)
Wenn der Erzähler oder Sänger sich bei der Propositio an das Vorbild der Meister hält, so kündigt er ihnen im weiteren häufiger die Gefolgschaft, indem er die gültigen Konventionen wohl referiert, sie aber im eigenen Erzählakt bewußt ausläßt. Beispielsweise verzichtet er auf eine Invocatio („je ne feray point d’abord une invocation des Muses, comme font tous les poëtes au commencement de leurs ouvrages, ce qu’ils tiennent si necessaire, qu’ils n’osent entreprendre le moindre poëme sans leur faire une priere, qui n’est guere souvent exaucée“); er verzichtet auf die aus der Odyssee, der Aeneis oder den Aithiopika bekannte sogenannte epische Umstellung („Je ne veux point faire aussi de fictions poëtiques, ny écorcher l’anguille par la queue, c’est à dire commencer mon histoire par la fin, comme font tous les messieurs, qui croyent avoir bien r’affiné pour trouver le merveilleux et le surprenant quand ils font de cette sorte le recit de quelque advanture“); er verzichtet auf eine epische Beschreibung des ersten Romanschauplatzes, jenes „quartier [...] de la ville [...] qui est le plus bourgeois, qu’on appelle communément la place Maubert“ („Un autre autheur moins sincere, et qui voudroit paroistre éloquent, ne manquerait jamais de faire icy une description magnifique de cette place“). (Ebd., 6f.) Dabei ist das letztgenannte Beispiel insofern aufschlußreich, als es zu einem komischen narrativen Paradoxon führt. Zwar versichert Furetières Erzähler, nach ‚sincérité‘ und nicht nach ‚éloquence‘ zu streben, weshalb er im Gegensatz zu anderen Autoren die „description magnifique de cette place“ übergeht. Das hindert ihn jedoch nicht, eine solche „description magnifique“ tatsächlich in ausladender Länge zu liefern, indem er über zwei Seiten hinweg vorführt, was ein hypothetischer ‚anderer Autor‘ hier an seiner Stelle schreiben würde; und damit findet die Digression, die explizit vermieden werden soll, dann doch realiter, das heißt: in der textuellen Realität, durchaus statt: „Un autre autheur [...] commenceroit son éloge par l’origine de son nom; il diroit qu’elle a esté annoblie par ce fameux docteur Albert le Grand, qui y tenoit son écolle [...]“ usw. (ebd., 7).
So erscheint in diesem ‚ouvrage comique‘ kein Ereignis im Status einer tieferen Notwendigkeit; vielmehr bleibt alles letzten Endes abhängig von romanesken Übereinkünften, welche es teils zu respektieren und teils, was öfter der Fall ist, zu konterkarieren gilt. Negiert wird eine romaneske Konvention etwa, wenn sich einmal ein überraschender Zufall ereignet, wie er für Romanhandlungen konstitutiv ist. Eine der bürgerlichen Heroinen, Lucrèce, tritt, um eine Schwangerschaft vor der Öffentlichkeit zu verbergen, in ein Kloster ein, woraufhin der Erzähler mitteilt: „Le hazard voulut que ce fut dans le mesme couvent où on avoit mis en pension Javotte.“ Indessen beschränkt sich der Erzähler erneut darauf, den Zufall als romaneskes Konstitutionsprinzip zu nennen, ohne ihn aber für die eigene Erzählung auszuwerten; denn „je ne crois pas neantmoins que ce hazard serve de rien à l’histoire, ny fasse aucun bel evenement dans la suite“. Solche Zufälle seien in anderen Romanen nämlich eine „maudite coustume“, die allenfalls dazu gut wäre, dem Autor eine zusätzliche Ortsbeschreibung zu ersparen, oder – wie es halbernst heißt – dazu dienen könnte, für etwas Zusammenhang („quelque liaison et connexité“) in einem Werk zu sorgen, das sonst völlig inkohärent bliebe („qui sans cela seroit souvent fort disloqué“). (Ebd., 201.) Umgekehrt wird die romaneske Konvention ironisch anerkannt, wenn das erste Buch des Romans vorschriftsmäßig mit einer Eheschließung endet, deren Folgen der Erzähler nicht weiter nachgehen möchte; denn: „S’ils vescurent bien ou mal ensemble, vous le pourrez voir quelque jour, si la mode vient d’écrire la vie des femmes mariées« (ebd., 207). Über das Leben nach der Eheschließung verlautet also nichts, weil die Existenz der verheirateten Frau wohl in ein Fabliau oder eine ‚Nouvelle‘ nach Art Boccaccios, nicht aber in die Konvention des Romans paßt. Immerhin wirkt das Bewußtsein solcher Konventionalität derart akut, daß zugleich mit ihrer Geltung auch ihre Kontingenz angedeutet wird, als ein bloß historisch begrenztes Phänomen, eine ‚Mode‘, die in Zukunft durch andere ‚Moden‘ ersetzt werden kann: beispielsweise, indem die ‚verheiratete Frau‘ bei Balzac oder Flaubert dann tatsächlich zur ernsthaften, ja tragischen Romanheldin aufsteigt.
Bei diesem Phänomen, das fast zwei Jahrhunderte nach Furetières Roman bourgeois die europäische und vor allem die französische Erzählliteratur bewegen wird, ist indessen in Betracht zu ziehen, daß in diesen Romanen die Gestalt der ‚verheirateten Frau‘ zur Protagonistin in einem sehr prägnanten Sinn auch wirklich ‚aufsteigt‘. Damit meine ich, daß sie nicht nur mit ihren Problemen und Konflikten zur (erzählerischen) Sprache kommt, sondern daß sie gleichzeitig von einem Roman- oder vielmehr Auktorialitätstypus in den Bereich eines anderen wechselt. Wenn sie als Romanheldin in Balzacs La Muse du département oder erst recht in Flauberts Madame Bovary erscheint, tritt sie nämlich nicht mehr im Rahmen eines komischen Romans auf, der sein verfremdendes Spiel mit den Erscheinungsformen auktorialer Kontingenz treibt. Den neuen Rahmen bildet dagegen ein Romantypus, der insofern in der Nachfolge des klassischen Epos steht, als er sich dessen Ernst und Autorität anzueignen sucht. So versucht Balzac, den Eindruck auktorialer Autorität zu erzeugen, indem er zur Beglaubigung seiner Erzählungen praktisch den gesamten Bestand des Wissens, ja der Wissenschaft seiner Zeit heranzieht. Flaubert dagegen steigert seine Autorität, indem er seine Auktorialität – ein Stilisierungsprinzip der klassischen Epik radikal zuspitzend – unsichtbar macht. Oder um den Sachverhalt etwas anders zu formulieren: indem er auf einer ersten Ebene die Manifestationen seiner Auktorialitär tilgt, damit die aus der verborgenen Auktorialität entspringende quasi-göttliche Autorität des Werkes den Leser auf einer zweiten Ebene dann um so machtvoller überwältigen kann; „l’effet, pour le spectateur, doit être une espèce d’ébahissement“, wie es im zitierten Brief vom 9. Dez. 1852 heißt, in dem der Autor Flaubert sich wohl zum ersten Mal nachdrücklich zum „Deus absconditus“ erklärt (Flaubert 1980, 204).
Als ,deus absconditus‘ von unsichtbarer und daher unangreifbarer Autorität befindet Flaubert sich demnach in einem denkbar weiten Abstand von jenen Offenlegungen auktorialer Kontingenz, wie sie traditionell im komischen Roman oder im heiteren Epos der klassischen Literaturepoche an der Tagesordnung, ja poetologisch geboten waren. Gleichzeitig bewahrt er – vielen anderslautenden Ansichten zum Trotz – jedoch auch eine deutliche Distanz zur Poetik des in emphatischem Sinne modernen bzw. avantgardistischen Romans, der ja – ähnlich wie einst die epischen oder romanesken ,ouvrages comiques‘ – größten Wert auf die Durchkreuzung einer konsistenten Illusionsbildung, auf Autoreflexivität und Autoproduktivität des Textes legt. Man sollte also meinen, daß Flauberts radikale Vertiefung einer Romanpoetik auktorialer Autorität literarhistorisch nicht unbedingt folgenreich gewirkt hätte, so imposant sie in den eigenen Texten auch erscheinen mag. Wenn man die neuere Romangeschichte, die man an sich von einer wachsenden Neigung zu Manifestationen auktorialer Kontingenz bestimmt sehen möchte, näher betrachtet, zeigt sich jedoch – gegen den Trend einer solchen geistesgeschichtlichen Vermutung –, daß auch Flauberts Ambitionen und Verfahrensweisen durchaus Nachfolger gefunden haben, und zwar keineswegs nur bemühte Epigonen, sondern Autoren, die Flauberts Ringen um ,impersonnalité‘ und ,impassibilité‘, also um die Absolutheit auktorialer Autorität, noch zu vervollkommnen wußten bzw. wissen.
Unter ihnen möchte ich, um das Bild der Poetik des modernen Romans ein wenig zu differenzieren, zum Abschluß exempli causa zwei Namen nennen. Die Rolle des ersten Autors dürfte in dieser Hinsicht allgemein bekannt sein und deshalb keines näheren Kommentars bedürfen: Es handelt sich um Henry James, der die Flaubertsche Poetik auktorialer Unsichtbarkeit vor allem dadurch ausbaute, daß er mit strengerer Konsequenz als Flaubert die Spielregeln einer strikt personalen Erzählsituation zu befolgen versuchte (was – nebenbei gesagt – außer der Bewältigung selbstgestellter Schwierigkeiten auch die Erzeugung beträchtlicher Spannungseffekte zur Folge hatte). Der andere Autor, den ich in der Flaubertschen Traditionslinie erwähnen möchte, ist Mario Vargas Llosa, ein Autor, dessen Flaubert-Nähe bereits von der zu Recht vielgelesenen und vielgerühmten Studie über Madame Bovary, La orgía perpetua, dokumentiert wird (vgl. Vargas Llosa 1975, über die „técnicas de la objetividad“ dort bes. 260ff).
Vargas Llosa hat Flauberts Ehrgeiz, absolute auktoriale Autorität zu erlangen, durch eine vielleicht noch konsequentere Invisibilisierung jeglicher auktorialen Instanz in seinen Romanen verfolgt, am virtuosesten vielleicht in seinem umfangreichsten Roman Conversación en la Catedral, in dem die Handlung sich ganz überwiegend in Gestalt von ineinander montierten, in verschiedenen Situationen stattfindenden Gesprächen entwickelt. [4] Daß er dabei zumindest im Punkte des Verzichts auf auktoriale Vermittlungen die Flaubertsche Poetik vor Augen hat, wird auch in rezenten poetologischen Stellungnahmen immer wieder unterstrichen. Ich greife unter vielen ähnlichen Äußerungen aktualitätshalber einige Sätze aus den 1997 publizierten Cartas a un joven novelista heraus, bei denen die Affinität zu den einleitend zitierten Passagen aus Flauberts Korrespondenz unerverkennbar erscheint. Den zentralen Wert bildet hier, was Vargas Llosa als die ,Überzeugungskraft‘ („poder persuasivo“, „poder de persuasión“) eines Romans bezeichnet, so, wenn er auf die Romanstruktur („la estructura de la novela“) zu sprechen kommt und – wohl unbeabsichtigt Flauberts Begriff eines „ébahissement“ zitierend – „esa artesanía“ rühmt, „que sostiene como un todo armónico y viviente las ficciones que nos deslumbran y cuyo poder persuasivo es tan grande que nos parecen soberanas: autogeneradas y autosuficientes“ (Vargas Llosa 1997, 51; Herv. U. S.-B.). Auf den ersten Blick mag die Rede von den „ficciones [...] autogeneradas“ an das Tel Quel-Prinzip einer ‚autogénération du texte‘ erinnern; doch ist etwas ganz anderes gemeint, nämlich der Eindruck, daß solche Erzählwerke insofern ‚souverän‘, das heißt absolut wirkten, als sie keine Spuren ihres Entstehens, also ihres Autors, erkennen ließen. Auf keinen Fall möchte Vargas Llosa durch die Wendung von den „ficciones autogeneradas y autosuficientes“ dem avantgardistischen Postulat einer autoreflexiven Auflösung der „illusion référentielle“ beipflichten; denn was er „poder de persuasión“ nennt, beruht ja gerade – wie er nicht müde wird, gegen die moderne französische Poetik des Nouveau Roman zu wiederholen – auf der Fähigkeit zur Illusionierung: Jeder Roman sei eine Lüge, die sich erfolgreich als Wahrheit ausgibt, „una creación cuyo poder de persuasión depende exclusivamente del empleo eficaz, por parte del novelista, de unas técnicas de ilusionismo y prestidigitación semejantes a las de los magos de los circos o teatros“ (ebd., 29). Und wie Vargas Llosa an einer anderen Stelle den „poder de persuasión“ direkt thematisiert, greift er schließlich auch Flauberts Konzept der Unsichtbarkeit des demiurgischen Autors auf, das jetzt zur Unsichtbarkeit jeglicher romanesken Technik, das heißt: aller auktorialen Spuren oder Kontingenzen, verallgemeinert wird:
Ése es el gran triunfo de la técnica novelesca: alcanzar la invisibilidad, ser tan eficaz en la construcción de la historia a la que ha dotado de color, dramatismo, sutileza, belleza, sugestión, que ya ningún lector se percate siquiera de su existencia, pues, ganado por el hechizo de aquella artesanía, no tiene la sensación de estar leyendo, sino viviendo una ficción que, por un rato al menos, ha conseguido, en lo que a ese lector concierne, suplantar a la vida. (Ebd., 102; Herv. U. S.-B.)
* Ariosto, Ludovico (1961): Opere, hg. v. Adriano Seroni, Milano.
* Fielding, Henry (1749; 1955): The History of Tom Jones a Foundling, hg. v. Alan Pryce- Jones, London/Glasgow.
* Flaubert, Gustave (1980): Correspondance II, 1851–1858, hg. v. Jean Bruneau, Paris.
* Flaubert, Gustave (1991): Correspondance III, 1859–1868, hg. v. Jean Bruneau, Paris.
* Furetière, Antoine (1666; o.J.): Le Roman bourgeois. Ouvrage comique, hg. v. François Tulou, Paris.
* Hempfer, Klaus W. (1976): Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis. Tel Quel und die Konstitution eines Nouveau Nouveau Roman, München.
* Hempfer, Klaus W. (1982): Die potentielle Auroreflexivität des narrativen Diskurses und Ariosts „Orlando Furioso“, in: Erzählforschung. Ein Symposion, hg. v. Eberhard Lämmert, Stuttgart, 130–156.
* Oviedo, José Miguel (1982): Mario Vargas Llosa. La invención de una realidad, Barcelona.
* Roloff, Volker/ Wentzlaff-Eggebert, Harald, Hg. (1992): Der hispanoamerikanische Roman, Bd. 2, Darmstadt.
* Scarron, Paul (1651; 1955): Le Roman comique, hg. v. Émile Magne, Paris.
* Tasso, Torquato (1957): La Gerusalemme liberata, hg. v. Fredi Chiapelli, Firenze.
* Vargas Llosa, Mario (1975): La orgía perpetua. Flaubert y „Madame Bovary“, Madrid. * Vargas Llosa, Mario (1997): Cartas a un joven novelista, Barcelona.
1 Vgl. dazu meine Interpretation dieses Romans in: Ulrich Schulz-Buschhaus, Flaubert – Die Rhetorik des Schweigens und die Poetik des Zitats, Münster 1995, 105–119; sowie: Statt eines Nachworts, in: ebd., 133–141.
2 Es handelt sich um die Stellungnahme Dialogo di Don Nicolò degli Oddi in difesa di Camillo Pellegrino. Contra gli Accademici della Crusca (Venezia 1587), hier zit. nach: Hempfer 1982.
3 Vgl. zum Prinzip der ‚auto-génération du texte‘, wie es vor allem die Tel Quel-Gruppe entwickelt hat, die mit guten Gründen kritische Darstellung von Hempfer 1976, 108ff. u. passim.
4 Vgl. zu diesem Roman meine Interpretation in: Roloff/Wentzlaff-Eggebert 1992, 146–156; sowie Oviedo 21982, 206–266.
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