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Quelle: Franösische Literatur in Einzeldarstellungen, hgg. P. Brockmeier/H. H. Wetzel, Stuttgart, Metzler, 1982, Bd 2: Von Stendhal bis Zola, S. 7–71.

Stendhal, Balzac, Flaubert

Die großen Romanciers des französischen Realismus gehören in einem besonders eminenten Maß der Weltliteratur an, und über keine anderen Autoren (vielleicht abgesehen von Machiavelli, Cervantes, Shakespeare oder Goethe) dürfte wohl ähnlich intensiv, vielfältig und widersprüchlich geforscht wie nachgedacht worden sein. Dies Interesse hängt zusammen mit der paradigmatischen Funktion, welche die durch ihr Werk entwickelten Formen der Wirklichkeitsauffassung und -darstellung für eine „longue durée“ bürgerlicher Literatur angenommen haben. So pflegt das Beispiel der Stendhal, Balzac, Flaubert noch heute den immer neu bestätigten, interpretierten oder kontestierten Ausgangspunkt jeglicher Diskussion abzugeben, die sich Fortschritt und Sinn von Literatur in den gegenwärtigen Gesellschaften zum Thema macht.
Über die „drei Klassiker des französischen Romans“ (Hugo Friedrich) zu schreiben, ist daher eine ebenso dankbare wie riskante Aufgabe. Es fehlt nicht am Stoff, weder was Umfang und Verschiedenartigkeit der Werke noch was den von Literaturhistorikern und -kritikern erarbeiteten Reichtum an Faktenmaterial und Interpretationsaspekten angeht. Zugleich wächst aber auch die Gefahr ärgerlich ermüdender Wiederholungen, deren „vis dormitiva“ gerade Autoren, welche zu „Klassikern“ kanonisiert wurden, eher schadet als nützt und das allgemein verbreitete Interesse für sie schließlich abzustumpfen droht, statt es durch die Bemühung um weniger vertraute Perspektiven wachzuhalten. Es können dann Situationen entstehen, in denen ein Übermaß der Fortüne manchen Autoren zum Keim des Unglücks wird, weil sie –umhegt von Kommentaren, Interpretationen oder Einführungen – allzu bekannt, normal und gegenwärtig erscheinen. Vollendet hätte sich das paradoxe Unglück der Fortüne, wenn die Klassiker des Realismus dem modernen Bewußtsein nicht mehr als Herausforderung gegenüberzutreten vermöchten, sondern ihm als dumpfe Affirmation von „Aktualität“ gewissermaßen einverleibt wären.
Um die Romanciers des 19. Jahrhunderts zumindest nicht auf diese (vermeidbare) Weise zu beschädigen, sollen die nachfolgenden Interpretationen vor allem zwei naheliegenden Versuchungen widerstehen. Sie sollen keine Einführung bilden, und sie sollen sich vor der bequemen Aktualisierung ihres Gegenstands hüten. Dabei möchte ich besonderen Wert auf die letztgenannte Intention legen. Eben weil das Werk der französischen Realisten wesentliche Momente einer literarisch-sozialen „longue durée“ spiegelt, in deren fortgeschrittenem Verlauf wir selber noch befangen sind, kommt es darauf an, seinen genauen historischen Ort in Distanz zu dem unsrigen auszumessen; denn gäbe es diese Distanz nicht, besäße die Lektüre von Stendhal, Balzac, Flaubert nur einen geringen Erkenntniswert. Das heißt: wir versuchen, die formale und ideologische Problematik ihrer Romane aktuellen Problematiken nicht anzugleichen, sondern sie – von deren Standpunkt aus – different zu machen. Erst durch solche Differenz wird eine historisch-soziologisch interessierte Literaturwissenschaft zeigen können, in weicher Art die realistischen Romane jeweils verschiedene Phasen der Geschichte des Bürgertums erfassen und ausdrücken.
Was neben dem Erkenntnisinteresse Methode und Darstellung betrifft, so ist mir gleichfalls wichtig zu betonen, daß meine Interpretationen nicht den panoramatischen Charakter anstreben, den man von einer Einführung erwarten dürfte. Kritische Schriften mit einführender Absicht liegen zu unserem Thema in beträchtlicher Zahl vor [1] , weshalb ein weiterer Beitrag gleicher Art zur Zeit kaum sinnvoll wäre. Stattdessen soll die Aufmerksamkeit zunächst auf symptomatische Details und Einzelaspekte gelenkt werden, welche weniger durch einen unmittelbaren Zusammenhang als vielmehr durch die Identität einer bestimmten Fragehaltung verbunden sind. Diese Fragehaltung wendet sich, ausgehend von ganz heterogenen Phänomenen, der besonderen Verfassung des bürgerlichen Lebens zu, wie es einerseits vom realistischen Roman entdeckt und zur Gestalt erhoben wird und wie es andererseits in seinem Wandel die Wandlungen der ihm entsprechenden Kunstform auch wieder prägt. Vielleicht gelingt dadurch der Einblick in ein eigentümliches Spannungsverhältnis, das Literatur- und Kunstgeschichte nie zuvor in vergleichbarer Form gekannt haben: die Entwicklung einer Gattung, deren außerordentliche Kraft zur sozialen Erkenntnis sich wohl in erster Linie dem Umstand verdankt, daß sie fundamentale Affinitäten zu ihrer gesellschaftlichen Basis mit ebenso nachdrücklichen, im Einzelfall freilich jeweils anders begründeten Widerständen verbindet.
Was Stendhals Le Rouge et le Noir für die Geschichte des neueren Romans bedeutet, ist in der prägnantesten und bis heute eigentlich nicht überholten Weise von Erich Auerbach dargelegt worden. Nach der Besprechung eines kürzeren Abschnitts aus dem vierten Kapitel des zweiten Bandes („L’Hôtel de la Mole“) heißt es in Auerbachs Hauptwerk: „Zeitgeschichtliche politische und soziale Bedingungen sind auf eine so genaue und reale Weise in die Handlung verwoben, wie dies in keinem früheren Roman, ja in keinem literarischen Kunstwerk überhaupt der Fall war, es sei denn in solchen, die als ausgesprochen politisch-satirische Schriften auftraten; daß man die tragisch gefaßte Existenz eines Menschen niederen sozialen Ranges, wie hier die Julien Sorels, so konsequent und grundsätzlich in die konkreteste Zeitgeschichte einbaut und aus derselben entwickelt, das ist ein ganz neues und überaus bedeutendes Phänomen“. [2] Und an einer anderen Stelle: „Insofern die moderne ernste Realistik den Menschen nicht anders darstellen kann als eingebettet in eine konkrete, ständig sich entwickelnde politisch-gesellschaftlich-ökonomische Gesamtwirklichkeit – wie es jetzt in jedem beliebigen Roman oder Film geschieht –, ist Stendhal ihr Begründer“. [3]
Tatsächlich unterscheidet sich Le Rouge et le Noir aufs deutlichste von allen vorhergegangenen Romanen, die anhand eines einzelnen Lebenslaufes das Charakteristische verschiedener Stände und Milieus aufzuzeigen suchten. Es waren dies vor allem die diversen Spielarten des pikaresken Romans, welche vom Lazarillo de Tormes in abgestufter Sublimierung der ursprünglich rohen Abenteuerlichkeit bis zu Lesages Gil Blas de Santillane,Marivaux’ Paysan parvenu oder Fieldings Tom Jones reichten. Die Geschichte Julien Sorels wird ihnen gegenüber abgehoben nicht nur durch den tragischen Ernst, der dem Thema des gesellschaftlichen Aufstiegs hier ein neuartiges Gewicht verleiht, sondern auch durch die Konsequenz, mit der die verschiedenen sozialen Welten, die Julien durchläuft, untereinander verknüpft werden. Ihre Folge entspricht natürlich dem Aufstiegsschema; doch bleiben die überwundenen Stationen für den Helden stets untergründig wirksam und präsent, so daß die Erzählung in zyklischer Figur aus den Höhen des Faubourg St. Germain am Ende wieder in die Provinz von Besançon und ‚Verrières‘ zurückführen kann. Zwischen den sozialen Welten und der Erfahrung des Romanhelden erwächst damit eine tiefere Beziehung, als sie der älteren Literatur geläufig war. Sie bewirkt, daß die Totalität eines gesellschaftlichen Systems oder Zustands in die Erlebnis- und Auffassungsweise eines Individuums selbst eingreift, nicht bloß an seinem Erleben und Auffassen vorbeizieht, um durch diese Medien dem Leser anschaulich vermittelt zu werden. Was immer Julien an noch unvertrauter sozialer Realität wahrnimmt, erfährt er kraft einer Perzeption, die stets von den Gesichtspunkten der bis dahin vertrauten Realität geprägt ist. Gewiß wird seine Wahrnehmung auf einer grundsätzlichen Ebene durch die heroischen Ideale bestimmt, welche er sich aus der Napoleon- und RousseauLektüre angeeignet hat, und diese Ideale wirken auch konstant über jeden Stationswechsel hinweg. Im einzelnen jedoch wandeln sich Juliens Erfahrungen und Reaktionen nach der Konstellation des jeweiligen gesellschaftlichen Übergangs. Die Provinzaristokratie im Hause Rênal sieht er mit dem Ressentiment des Kleinbürgersohns, während zum Ekel vor der Provinzbourgeoisie des Hauses Valenod bereits die durch das Rênalsche Milieu erweiterte Perspektive beiträgt. Provinzaristokratie und Priesterseminar bilden dann den Erwartungshorizont, über dem sich die kühle hocharistokratische Welt des Hôtel de la Mole aufbaut, und eben die bei allem Heroismus kalt erscheinende Energie Mathildes ist es, die für Julien zum Schluß wiederum die herzlichere, selbstlosere Liebe Mme de Rênals begehrenswert macht.
Indessen stellt die prägende Macht, die das Soziale in Le Rouge et le Noir über das individuelle Bewußtsein antritt, nicht das einzig Neuartige an dem Roman dar. Wichtiger ist wohl noch der von Auerbach am nachdrücklichsten unterstrichene Umstand, daß das Soziale immer historisch spezifiziert wird, ein Umstand, den explizit schon der Untertitel des Romans Chronique du XIXe siècle (oder in einer Variante des Verlegers: Chronique de 1830)hervorhebt. In dieser Spezifikation bleibt Julien nicht einfach der Kleinbürgersohn; vielmehr erscheint er von Anfang an als der Bürger, der unter dem Einfluß der Revolution und der napoleonischen Kriege das Ziel einer heroischen, auf Machtübernahme ausgerichteten Existenz verfolgt.
Ähnlich ist auch Mathilde de la Mole mehr als eine Tochter der Hocharistokratie an und für sich. Entscheidend für ihre Träume und ihre Leidenschaft wirkt vielmehr die Situation angsterfüllter Selbstfesselung, die sich die verschreckte Aristokratie während der Restaurationszeit auferlegt hat und in der die Sehnsucht nach dem „imprévu“ des alten aristokratischen Heroismus doppelt angestachelt wird. So tritt die Zeitgeschichte nicht bloß durch allerlei Randepisoden [4] (etwa die des „Roi à Verrières“, Bd. 1, Kap. 18, oder die der „Note secrète“, Bd. 2, Kap. 21) in den Roman, als habe Stendhal mit ihm eine Art aktualisierter „Waverley Novel“ schreiben wollen; sondern von der Zeitgeschichte werden die Formen des sozialen Lebens und über sie die Empfindungen der Protagonisten selber erfaßt. Selbstverständlich gilt diese Gebundenheit des Empfindens an die Zeit auch für alle anderen Gestalten neben Mathilde und Julien. Nur fällt sie bei den beiden Romanhelden, die Hugo Friedrich nicht zu Unrecht als „Ausnahmemenschen“ bezeichnet [5] , am schwersten ins Gewicht; denn ihr Beispiel zeigt, daß in einem epochalen Wandel des anthropologischen Verständnisses nun auch der hochfliegendste, extravaganteste Individualismus nicht mehr außerhalb von Gesellschaft und Geschichte zu denken ist, es sei denn, der Autor erstrebt jenseits dieses Rahmens einen bewußten Wirklichkeitsverzicht.
Die zentrale Rolle, die Le Rouge et le Noir am Beginn der Periode des realistischen Romans spielt, kann also kaum angezweifelt werden. Zum erstenmal erscheint hier die Wirklichkeit bis in die feinsten seelischen Regungen hinein von konkret erörterten sozialgeschichtlichen Kräften beeinflußt, wenn auch noch nicht umfassend bestimmt, und zum erstenmal widerfährt hier einem einzelnen Menschen der Unterschicht die Dignität eines ernsthaft tragischen Geschicks. Trotzdem ist Le Rouge et le Noir,genauer betrachtet, noch nicht in dem Sinn ein bürgerlicher Roman, in dem wir etwa Balzacs César Birotteau,Flauberts Madame Bovary,Goncourts Renée Mauperin,Zolas Pot-Bouille oder Au Bonheur des Dames als bürgerliche Romane einzuordnen pflegen. In allen diesen späteren Werken werden wir in eine Realität eingeführt, die – gleichgültig ob affirmiert oder kritisiert, verklärt oder verhöhnt – für die Wirklichkeit des bürgerlichen Alltags zu gelten hat, dessen Normalität wenigstens den Hintergrund der berichteten Ereignisse abgibt. Von einer solchen alltäglichen Normalität kann bei Le Rouge et le Noir jedoch nur mit Einschränkungen die Rede sein. Einmal vollzieht sich die Romanhandlung ja weithin außerhalb der Bourgeoisie in zwei aristokratischen Haushalten, deren Lebensstil in vielem freilich durchaus verbürgerlicht erscheint. Zum anderen ist es die Gestalt Julien Sorels selbst, die mit ihren Ambitionen, Interessen und Motiven dem Idealtyp des späteren realistischen Romans zumindest partiell widerspricht und einige Besonderheiten beansprucht, welche auf ältere literar- wie sozialhistorische Schichten verweisen.
Sie treten am klarsten hervor, wenn man beginnt, die Geschichte Julien Sorels in Assoziation an die Geschichten der Lucien de Rubempré, Frédéric Moreau (bzw. besser Charles Deslauriers), George Duroy oder Octave Mouret unter dem Thema des sozialen Aufstiegs zu lesen. Bei solcher Lektüre müßte Julien vor der thematischen Entwicklung, die einen breiten Bereich der nachfolgenden Erzählliteratur prägt, gewissermaßen den Archetyp des Parvenü darstellen, und so ist er mit seinem „roturier-Ehrgeiz“ auch in der Tat von vielen Kritikern verstanden worden. [6]
Indessen macht der Text hier Schwierigkeiten; denn an manchen Stellen ist nicht zu übersehen, daß sich Stendhal um eine explizite Abwehr des Verdachts bemüht, er habe in Julien den typischen Emporkömmling zum Romanhelden ausersehen. Einen Parvenü präsentieren im Grunde nur wenige Episoden: nach den ersten Erfolgen im Hôtel de la Mole durchfährt Juliens Raisonnement einmal ein hypothetisches „si je veux parvenir“ (S. 279) [7] , und ein andermal heißt es über seinen „commencement d’amour“ (S. 317): „Cet amour n’était fondé que sur la rare beauté de Mathilde, ou plutôt sur ses façons de reine et sa toilette admirable. En cela Julien était encore un parvenu.“ Nun läßt das zweite Beispiel schon eine bezeichnende Einschränkung erkennen, die sich bestätigt, wenn Stendhal ansonsten häufiger ‚echte‘ Emporkömmlinge erwähnt, um sie von Julien, der eben kein eigentlicher Parvenü sein soll, abzugrenzen: so wird der Abbé Pirard an einer Stelle (S. 253) als „véritable parvenu“ im Kontrast zu Julien charakterisiert, während später Mme de Fervaques mit ihrer „vanité“ oder „fierté de parvenue“ (S. 415,422) noch ausdrücklicher diese Kontrastfunktion übernimmt. Dabei ist der gesellschaftliche Typus, den Julien vertritt, bereits frühzeitig durch die Zurückweisung eines sozusagen gewerbebürgerlichen Assoziationsangebots umrissen worden. Mit Fouqués Offerte, einem „moyen ignoble d’arriver à l’aisance“ (S. 78), hat er den „gesicherten Wohlstand“ der Bourgeoisie verschmäht und sich stattdessen für „alle heroischen Träume seiner Jugend“ (S. 74f.) entschieden. Ebensowenig paßt zum Bild des Emporkömmlings die Weltvergessenheit, die ihn während des Stadiums der heftigsten Leidenschaft für Mathilde gerade in dem Moment überfällt, als ihm die wenngleich vage Aussicht auf ein Bistum eröffnet wird. Dies Desinteresse eben dort, wo die kühnsten Karriereträume realisierbar scheinen, wird zwischen dem 25. und 27. Kapitel des zweiten Bandes mehrfach hervorgehoben, und auch hier erhält Julien im 38. Kapitel mit dem Abbé de Frilair eine ‚niedrige‘, d. h. parvenühafte Kontrastfigur, der die Begegnung mit Mathilde vor allem folgendes bedeutet:
Me voici tout d’un coup en relation intime avec une amie de la célèbre maréchale de Fervaques, nièce toute-puissante de monseigneur l’évêque de***, par qui l’on est évêque en France. Ce que je regardais comme reculé dans l’avenir se présente a l’improviste. Ceci peut me conduire au but de tous mes vœux.
Ähnliche Gegenüberstellungen, die den Helden des Romans von ‚echten‘ Parvenüs unterscheiden sollen, ließen sich mühelos vervielfältigen. Sie entsprechen dem Nachdruck, mit dem Stendhal prinzipiell versucht, Julien nicht bloß im romantechnischen Sinn als Protagonisten, sondern bei allen ironischen Kautelen durchaus emphatisch und wortwörtlich als Helden zu kennzeichnen. Jedenfalls ist es die Heldenrolle, die Juliens Bewußtsein und Lebensplan in merkliche Distanz zu denen späterer Emporkömmlinge versetzt: sein primärer Ehrgeiz richtet sich, beeinflußt durch Napoleon und Rousseau, auf ein ,heroisches Leben‘, dagegen auf die gesellschaftliche Karriere nur insoweit, als sie der „vie héroïque“ zur Voraussetzung dienen kann oder sie bei völliger Unrealisierbarkeit ersetzen muß. So strebt Julien gewiß auch in der Restaurationsgesellschaft nach oben; doch ist festzuhalten, daß er zugleich immer über diese Gesellschaft hinaus strebt. Manifest wird das insbesondere an der Obsession des „Devoir“, einer zum Individualheroismus sublimierten Standesehre, die ihn vom Eintritt ins Haus Rênal bis zum Ende im Kerker nie recht losläßt. Sie wirkt zunächst als wesentlicher Impuls bei der ,erobernden‘ Verführung Mme de Rênals, und nicht zufällig häufen sich während der Eroberungsepisode Wendungen wie „Un homme comme moi se doit de réparer cet échec“ (S. 82) oder „Je me dois à moi-même d’être son amant“ (S. 79). Als Juliens Selbstbewußtsein nach der Verhaftung weniger aus Todesfurcht denn aus endlich dominierender Leidenschaft zusammenzubrechen droht, klammert er sich erneut an die Erinnerung seines „Devoir“:
Je suis isolé ici dans ce cachot; mais je n’ai pas vécu isoli sur la terre; j’avais la puissante idée du devoir. Le devoir que je m’étais prescrit, à tort ou à raison [...] a été comme le trane d’un arbre solide auquel je m’appuyais pendant l’orage; je vacilais, j’étais agité. Après taut je n’étais qu’un homme [...] Mais je n’étais pas emporté. (S. 500)
Wenn solcher Individualheroismus an einer Stelle bis zum einverständigen Corneille-Zitat („Mais il n’est qu’un honneur“, S. 333) geht, offenbart sich überhaupt die zwiespältige soziale Konstitution von Stendhals Protagonisten. Genaugenommen ist Julien Sorel nämlich nicht nur untypisch als Emporkömmling, er ist auch und stärker noch untypisch als Bürger. Sicher macht ihn objektiv zum Kleinbürger seine Herkunft aus der Unterschicht; doch sind seine Motivationen, Ambitionen und Ideale kaum oder lediglich auf höchst problematische Art dem Bürgertum zuzurechnen. Sollen die Werte des Heroismus und der Repräsentation, von „Devoir“ und „Honneur“, für den Bürger einstehen, dann ausschließlich – im Sinn etwa der Interpretationen Heinz Schlaffers – für den (historisch eng begrenzten) Sonderfall des ,Bürgers als Helden‘. In diese Kategorie gehört Julien Sorel durch eine Unbotmäßigkeit, die sich anti-höfisch jedem „plaire“ verweigert (vgl. S. 189), durch das Pathos des Genies, durch die unerhörte Schärfe des selbstreflexiven Bewußtseins. Von der Arbeit und vom Geld, den Zentren realen bürgerlichen Lebens, weiß er dagegen so gut wie nichts, und stattdessen bleibt sein Bewußtsein in aller Schärfe ausgefüllt durch die „vorbürgerlichen, aristokratischen Ideale Tat, Liebe, Ehre“. [8]
Die Problematik der Gestalt wie des gesamten Romans erwächst folglich aus dem eigentümlichen Verhältnis, daß der einzelne, noch von den Spuren einer revolutionären Epoche geprägte Bürger sich selbst bestimmt kraft der Identifikation nicht mit den bürgerlichen, sondern mit den aristokratischen Normen. Auf dieser Paradoxie beruht die hauptsächliche Kraft der Stendhalschen Gesellschafts- oder (spezieller) Restaurationskritik, auch ihr ,unzeitgemäßer‘ Charakter im Nietzscheschen Sinn: Während die aristokratischen Normen beim Provinzadel und beim Hochadel verfallen oder verdrängt sind, überleben sie in der Tatkraft des heroischen Bürgers, der sie nicht allein bewahrt, sondern ihnen aus seiner Einsamkeit und Deklassiertheit noch einen neuen, düsteren Glanz verleiht. Deutlich wird diese insgeheim aristokratische Rolle Juliens in verschiedenen Episoden, am explizitesten natürlich beim Auftritt des Helden vor der etablierten liberalen Bourgeoisie des Hauses Valenod, sozusagen den „Homais“ des Romans. Als Mme Valenod bei der Vorstellung ihrer Kinder „das ganze mütterliche Pathos entfaltet“ (S. 139) und danach die Unterhaltung mit den genauen Preisangaben des ausgeschenkten Weins würzt, als schließlich M. Valenod gegenüber den Bedürftigen und Häftlingen, aus deren Verpflegung er Profit zieht, seine Autorität demonstriert, fühlt sich Julien selbst als Aristokrat („Il se trouvait tout aristocrate en ce moment“, S. 142). Wie er hier von den Exponenten der Bourgeoisie, denen das Romanende die zukünftige Macht anweist, abgehoben wird, distingiert er sich auf Dauer auch von M. de Rênal; denn eben Rênal verkörpert ja als verbürgerlichter Bannerträger der „opinion publique“, was nach Stendhal die infamste Maxime des „XIXe siècle“ ausmacht: das „Malheur à qui se distingue!“ (vgl. S. 148). So erhält die Einzigartigkeit des Romanhelden gerade in bezug auf Rênal im letzten Kapitel des ersten Bandes eine symbolische Verstärkung. Auf der einen Seite besteht Julien gewissermaßen zur Nobilitierung seiner ersten Lebensphase mit Mme de Rênal ein heroisch-galantes Abenteuer, dessen Verlauf zumal in den Details der Abenteuerlichkeit derart ausführlich berichtet wird, als wolle Stendhal dadurch die entsprechende Tradition von Brantôme bis Louvet de Couvray resümieren; auf der anderen Seite erledigt der betrogene aristokratische Ehemann ausgerechnet in dem Moment, in dem ihn der Abenteurer niedriger Herkunft verdrängt, seine prononciert bürgerlichen Geschäfte: „M. de Rênal ne sortit pas ce matin-là; il montait et descendait sans cesse dans la maison, occupé à faire des marchés avec des paysans, auxquels il vendait sa récolte de pommes de terre“. (S. 223)
In Julien Sorel wird die Gesellschaft der Restaurationszeit also weniger mit dem „Kalkül bürgerlichen Aufstiegs“ (P. Bürger) als mit der Provokation heroischen Lebens konfrontiert, das unzeitgemäß, wie es ist, die Zeit insgesamt kritisiert und blamiert. Dem widersprechen auch nicht die partiellen Anpassungen, denen sich Julien in seiner vielbesprochenen „Hypocrisie“ unterwirft. Mit solcher „Hypocrisie“ spielt er zeitweilig die Nebenrolle des Tartuffe, während seine Hauptrolle doch immer die Napoleons bleibt. Dabei besagt die Duplizität des Rollenverständnisses im Grunde nur, daß in der Moderne auch das heroische Leben des Kalküls bedarf, eine Idee, die später Baudelaire teuer sein wird und die vor allem auf Machiavelli zurückgeht. Die gelegentlichen Erwähnungen von Juliens „machiavélisme“ sind daher wohl ebenso wenig als zufällig zu verstehen wie das symbolische Geschenk der Werke des Tacitus, durch welches er im Priesterseminar ausgezeichnet wird. Julien entwickelt sich nämlich im gleichen Sinn zum Heuchler, in dem auch Machiavellis Fürst ein „gran simulatore e dissimulatore“ zu sein hatte. Das heißt: seine stets provisorische Anpassung entspringt nicht defensiver Ängstlichkeit, sondern strebt nach aktiver Selbstbehauptung („preservazione“) in Momenten, in denen die Kalkulationen individueller Politik und die Prinzipien des allgemeinen Verhaltens divergieren. In solchen Momenten war die „virtù“ des Fürsten gezwungen gewesen, die Verletzung von Werten wie „liberalitas“, „pietas“ oder „fides“ zu ‚überfärben‘, und nicht anders operiert Juliens „virtu“, die bei ihrem energischen Kampf gegen die „fortuna“ um so mehr auf Dissimulation angewiesen ist, als die Epoche ohnehin jeden Ansatz zum heroischen Leben schlechthin unterdrückt und verfolgt.
Wie sehr Juliens Auftreten Heroismus und deshalb ‚Verschiedenheit‘ bedeutet, zeigt nichts besser als die Reaktion Mathildes de la Mole. In Mathilde findet der Held zwar nicht die Garantin tiefsten Liebesglücks, wohl aber die eigentliche Partnerin seines verzweifelten Heldentums. Als solche wird sie gegenüber Mme de Rênal von der Gesamtanlage des Romans in gewisser Weise privilegiert. Erzähltechnisch kommt das zum Ausdruck durch die Häufigkeit und Intensität der Introspektivanalysen, welche dem Leser Mathildes Empfindungen so ausgiebig erschließen wie sonst nur die Juliens. Wenn wir in Le Rouge et le Noir den gesellschaftlichen Zustand der Restaurationszeit betrachten, wird unser Blick demnach gleichsam gedoppelt: wir sehen einmal durch das Bewußtsein Juliens, zum anderen durch das Bewußtsein Mathildes, und in beiden Fällen handelt es sich bei allen Unterschieden von Geschlecht, Herkunft und Status um Gedankenwelten, die der sozialen Welt, in der sie sich bewegen, schroff opponieren.
Dabei wird im Falle Mathildes der Widerstand gegen die Epoche, ihren Geist und ihre Lebensformen, womöglich noch schärfer formuliert als aus der Perspektive Juliens. Für Julien hat die Ablehnung des Jahrhunderts neben den subjektiven ja auch objektive Gründe in der gedrückten Enge seines gesellschaftlichen Ausgangspunkts. Mathilde befindet sich dagegen in einer privilegierten Position, in der es ihr –‚systemimmanent‘ gesehen – an nichts fehlt, was die Umgebung für erstrebenswert hält: sie ist von hoher Geburt, reich, schön und erfährt – natürlich nach den Maßgaben gesellschaftlicher „Bienséance“ – auch die gehörige erotische Zuwendung zahlreicher Verehrer. Trotzdem neigt sie, Julien hier durchaus ähnlich, zur nostalgischen Verklärung des Empire, das sie – wie einmal im Gespräch mit ihrer Cousine – gegen die vom „Ennui“ erfüllte Gegenwart auszuspielen pflegt:
Être dans une véritable bataille, une bataille de Napolèon, où l’on tuait dix mille soldats, cela prouve du courage. S’exposer au danger élève l’âme et la sauve de l’ennui où mes pauvres adorateurs semblent plongés; et il est contagieux, cet ennui. Lequel d’entre eux a l’idée de faire quelque chose d’extraordinaire? (S. 308)
Ein weiteres Mal belegt diese Napoleon-Nostalgie, wieviel an aristokratischer Idealität auch in Juliens republikanisches Engagement eingegangen ist. Bei Mathilde bildet sie nämlich bloß die moderne Variante einer Vorstellung von Heroismus, welche die ihr eigentlich adäquate Realität im noch ungezügelten, vor-absolutistischen Adelsleben des 16. Jahrhunderts sucht. Wie Julien von der Erinnerung an den plebejischen Kaiser, ist Mathilde vom Kult ihres Vorfahren Boniface de la Mole besessen. Dieser Boniface de la Mole, eine nicht fiktive, sondern historische Gestalt, stellt neben Napoleon die zweite, fast schon exzessiv symbolbefrachtete Figur dar, in der die Bedeutungslinien des Romans – außerhalb der aktuellen Handlung – zusammenlaufen. Seine Hinrichtung auf der Place de Grève am 30. April 1574, deren Jahrestag Mathilde mit Andacht feiert, präfiguriert bis hin zu den melodramatischen Einzelheiten das Ende Juliens, der damit des nobelsten Geschicks teilhaftig wird, welches für Mathilde vorstellbar ist. Denn „Je ne vois que la condamnation à mort qui distingue un homme, pensa Mathilde: c’est la seule chose qui ne s’achète pas“ (S. 285). Solcherart bestimmt Boniface de la Mole ihre Träume als Verschwörer, als Liebhaber der Königin, schließlich als Opfer des Henkers, und in allen diesen Zügen wird er zum Gegenbild moderner unheroischer Existenz wie zum Vorbild jener berschwenglichen [sic!] Lust auf Taten und Liebe, die Mathilde mit Hilfe Juliens in überspannter Anstrengung aus dem 16. ins 19. Jahrhundert zu übertragen trachtet.
Dementsprechend nimmt der Vergleich zwischen 16. und 19. Jahrhundert den breitesten Raum der vielen Monologe ein, welche uns Mathildes Gedankenwelt offenbaren; er ist ihre „idée fixe“, und fast möchte man sagen: unter dem Aspekt der sozial- und epochenkritischen Romanintention auch ihre wesentliche „raison d’être“. Um die Tendenzen dieses Vergleichs genauer zu charakterisieren, zitiere ich einige Ausschnitte eines – wie mir scheint – besonders typischen Selbstgesprächs:
Hélas! se disait Mathilde, c’était à la cour de Henri III que l’on trouvait des hommes grands par le caractère comme par la naissance! Ah! si Julien avait servi à Jarnac ou à Moncontour, je n’aurais plus de doute. En ces temps de vigueur et de force, les Français n’étaient pas des poupées. [...] Leur vie n’était pas emprisonnée comme une momie d’Egypte, sous une enveloppe toujours commune à tous, toujours la même. […] La vie d’un homme était une suite de hasards. Maintenant la civilisation a chassé le hasard, plus d’imprévu. S’il paraît dans les idées, il n’est pas assez d’épigrammes pour lui; s’il paraît dans les événements, aucune lâcheté n’est au-dessus de notre peur. Quelque folie que nous fasse faire la peur, elle est excusée. Siècle dégénéré et ennuyeux! [...] Ah! dans les temps héroïques de la France, au siècle de Boniface de La Mole, Julien eût été le chef d’escadron, et mon frère, le jeune prêtre, aux mœurs convenables, avec la sagesse dans les yeux et la raison à la bouche. (S. 327)
Bemerkenswert wirkt hier wie in den Passagen ähnlicher Thematik, daß Mathilde 16. und 19. Jahrhundert im Sinn einer Stilisierung trennt, welche inhaltlich weithin dem Verdikt entspricht, das einst Montesquieu über die Aristokratie gefällt hatte: „On n’y juge pas les actions comme bonnes, mais comme belles, comme justes, mais comme grandes, comme raisonnables, mais comme extraordinaires.“ [9] Die Wertung dieser Oppositionen hat sich freilich umgekehrt, und was von Montesquieu aus der Aufklärungsperspektive zurückgewiesen wurde, ist bei Mathilde nun wieder kritische Instanz. Ihr gelten die Werte der Schönheit, Größe und Außerordentlichkeit als die essentiellen, deren Glanz aus weiter historischer Ferne strahlt und sich in der Moderne nur während der napoleonischen Epoche noch einmal erneuerte. Das Gute, Rechte und Vernünftige, das der Aufklärer befördern wollte, scheint dagegen jede Attraktion verloren zu haben: Mathilde sieht in ihm bloß ein monotones Gleichmaß, welches Abenteuer wie Lust verbietet und das Leben mumienhaft erstarren läßt.
Mit großem psychologischen und soziologischen Scharfsinn schildern das 11. und 12. Kapitel des zweiten Bandes, wie Mathildes „Innamoramento“ sich deshalb an dem stolzen Versuch entzündet, der Erstarrung im Immergleichen zu entrinnen. Sie wählt in geheimer Identifikation mit der Königin Marguerite de Navarre Julien als Liebhaber, weil sie seinem Charakter das „imprévu“ zuschreibt, das der Zeit ins gesamt abgeht; mehr noch aber, weil ihr die Affäre eben wegen Juliens niedriger Herkunft ein Höchstmaß an Gefahr und heroischer Bewährung verspricht. So überlegt sie:
Si, avec sa pauvreté, Julien était noble, mon amour ne serait qu’une sottise vulgaire, une mésalliance plate; je n’en voudrais pas; il n’aurait point ce qui caractérise les grandes passions: l’immensité de la difficulté à vaincre et la noire incertitude de l’événement. (S. 311)
Daraus folgt, daß sich die Liebe zwischen Mathilde und Julien, dem vor-absotutistisch hocharistokratischen und dem napoleonisch plebejischen Heroismus, auf beiden Seiten als bewußte Kontestation der sozialen Ordnung entwickelt. Während dieser Aspekt von Protest bei Julien evident ist, kann man an Mathildes Reflexionen, in denen die Betrachtung des 19. Jahrhunderts einen allgemeineren Charakter erhält, deutlicher die unaufgelöste Ambivalenz der Revolte ablesen. Was sie hervorruft, ist –wie immer wieder versichert wird – der „ennui“, den die starre Gleichförmigkeit des modernen Lebens bewirkt. Diese Gleichförmigkeit erklärt sich im Bewußtsein Mathildes als Produkt einer „civilisation“, die „hasard“ und „imprévu“ verjagt habe. Nun besitzt aber der Begriff „civilisation“ um 1830 noch andere Bedeutungsnuancen als heute. Er bezeichnet in unserem Kontext vor allem die höfische Verfeinerung des Lebens im Sinne einer zunehmenden „politesse mondaine“. So gesehen, wendet sich Mathildes Revolte in erster Linie gegen alles, was am 19. Jahrhundert die Formen von Hof und Salon bewahrt hat, das heißt: gegen eine Gleichförmigkeit, die der Restaurationszeit spezifisch ist. Auf diese speziell die zwanziger Jahre treffende Richtung des Protestes verweisen zahlreiche Schlüsselwörter: danach entsteht die Langeweile für Mathilde durch die „politesse“, wie sie in den „salons de l’aristocratie“ üblich ist, durch den Kult des „convenable“ und des „goût“ sowie durch die jegliche Spontaneität erstickende „peur du ridicule“. Es sind das jene Verhaltensnormen, gegen die auch Julien Sturm läuft und gegen die Stendhal selber das prononciert bürgerlich-republikanische Pamphlet Racine et Shakespeare geschrieben hat.
Indessen meint „civilisation“ der Sache nach zugleich schon die zweckrationale Organisation von Leben und Gesellschaft, wie sie langfristig aus der aufklärerischen Forderung nach dem „bon“, „juste“ und „raisonnable“ erwachsen muß. Bedenkt man das Pathos, mit dem Mathilde angesichts des „ennui“ der Moderne auf „hasard“ und „imprévu“, „grandeur“ und „audace“ beharrt, stellt sich heraus, daß ihr Protest in der Grundtendenz nicht allein die Restaurationszeit angeht. Er weitet sich vielmehr aus zum Affront gegen das bürgerliche Zeitalter überhaupt, also auch gegen Kräfte, die der Restauration in manchen Aspekten konträr sind. Identisch werden sie jedoch im „Malheur à qui se distingue“, das einmal die Gleichförmigkeit des höfisch-aristokratischen Salons, ein andermal die Gleichförmigkeit der demokratischen „opinion publique“ erzwingt. So ist zu verstehen, daß Mathilde und mit ihr Stendhal denselben Traum vom „imprévu“ verfolgen wie später Baudelaire, Flaubert oder die Goncourt. Er wird zwar noch von der Restaurationsaristokratie provoziert, doch seine Äußerungen nehmen sich aus, als hätten Mathilde-Stendhal in ihr bereits die fortgeschrittene Bourgeoisie, im Faubourg St. Germain gewissermaßen New York oder Yonville-L’Abbaye, vorweggenommen.
Die ideologische Position Stendhals, über deren Labilität viel geschrieben worden ist [10] , gibt demnach trotz aller Widersprüchlichkeiten eine bestimmte Lage wieder. Wir erkennen sie als die Haltung des republikanisch gesonnenen Bürgers, der im Kampf mit der Restauration und dem, was sie an deformierter höfisch-aristokratischer Kultur perpetuiert, Ideale eines heroischen Individualismus belebt, welcher nach Ursprung und Tendenz radikal unbürgerlich bleibt und deshalb auch die Bourgeoisie angreifen muß, sobald sie sich als Herrschaft und System positiv etabliert hat. Diese Position ist beispielsweise nicht unähnlich der Vittorio Alfieris, dessen Tragödien ein anti-absolutistisches Freiheitspathos durchwirkt, das in seinem überschwenglichen Heroismus gleichfalls von keiner bürgerlichen Ordnung befriedigt werden kann. Wenn ich die Beschreibung ihrer Konturen bisher vielleicht unproportional akzentuiert habe, dann vorallem deswegen, weil sie sich überaus energisch im Roman selbst manifestiert und weil die Manifestation von Stendhals ideologischem Standpunkt eben das ausmacht, was an Le Rouge et le Noir dem Gattungstyp des realistischen Romans partiell widerspricht. In der Tat spiegelt Le Rouge et le Noir –unbekümmert um seine berühmte „Miroir“-Allegorie – keineswegs objektiv oder auch nur auf Objektivität abzielend gesellschaftliche Realität; vielmehr mischt sich in die Darstellung der zeitgeschichtlichen Wirklichkeit auf eine Art, die bei kaum einem späteren Roman vorBourget oder Proust wiederholt wird, das kritische Räsonnement über die zeitgeschichtliche Wirklichkeit. Ein solches Räsonnement fehlt bei Flaubert, Maupassant oder in Zolas Rougon-Macquart,da die Restriktionen entwickelter realistischer Romantechnik neben Erzählung, Dialog und Beschreibung keinen Raum mehr für explizite ideologische Kommentierung zulassen. Bei Balzac fehlt Vergleichbares, da das Räsonnement sich selten die Epoche als ganze vornimmt, sondern unter oft inkonsistent wechselnden Perspektiven (und meist in scharfsinnigster Weise) Teilaspekte der gesellschaftlichen Realität erörtert. Stendhal hingegen hat mit Le Rouge et le Noir einen Roman verfaßt, dessen Intention mehr bezweckt als punktuelle Sozialkritik, die ja stets ein prinzipielles Einverständnis mit der geschichtlichen Bewegung voraussetzt. Gegenüber der geschichtlichen Bewegung, welche für ihn trotz aller Kraft nichts historistisch Überwältigendes besitzt, zeigt er in mancher Hinsicht noch die Unbefangenheit des Aufklärers, der die Epochen – Einst und Jetzt, Anciens und Modernes, Monarchie und Republik – gern in ihrer Totalität kontrastiert, als seien sie letztlich doch auszutauschen oder zumindest global gestaltbar, und so ist auch das eigentliche Ziel des Stendhalschen Räsonnements weniger die detaillierte (etwa Balzacsche) Gesellschafts- als die umfassende Epochenkritik nach aufklärerischem Argumentationsmuster.
Unter dem Aspekt dieses Argumentationsmusters läßt sich nun plausibel erklären, weshalb Stendhal dem Typus des realistischen Romans gerade in der Wahl seiner Protagonisten nur mit beträchtlichen Einschränkungen entspricht. In bezug auf ihre Umgebung sind sowohl Mathilde als auch Julien „Ausnahmemenschen“, gleichsam Exoten, da sie sich ja an pointiert unzeitgemäßen Heroismus-Idealen orientieren. Als solche Exoten indes erfüllen sie eine Funktion, die typologisch durchaus noch der von Montesquieus Persern in Paris verwandt bleibt. Das heißt: ihr historischer Exotismus dient dazu, die Normalität des zeitgenössischen Lebens vor dem Hintergrund von Empire und vor-absolutistischer Aristokratie in toto zu thematisieren, zu verfremden und endlich zu degradieren. Daß eine ähnlich totale epochenkritische Wirkung von keinem anderen Roman des 19. Jahrhundert erstrebt wird, liegt wohl am zunehmenden Respekt vorder Allmacht des irreversiblen geschichtlichen Prozesses, der individuelle Ausnahmen nicht mehr erlaubt, so daß später in vergleichbaren Fällen – am frappantesten sicher in Flauberts Madame Bovary – auch die Träger von Revolte und Kritik selber degradiert werden müssen.
Gleichzeitig erleichtert die exzeptionelle Qualität seiner Helden dem Romanautor, die zeitgeschichtliche Materie in jene ernsthafte Gestalt zu fassen, die ihr nach allen Regeln literarischer Überlieferung verwehrt war. Dabei zeigt sich die tragische Höhe der Ereignisse, welche auch alle Epochenkritik über den Rang von Satire hinaushebt, nicht allein am Ende des Romans, wo zum Beispiel Mme de Rênal durch die Bedingungslosigkeit ihrer Liebe wie zu einer Racine-Figur verklärt wird. Sie prägt gleichermaßen die Liebesgeschichte, die im zweiten Band zwischen Julien und Mathilde entsteht und beide sozusagen zu Figuren einer Corneilleschen Tragödie stilisiert. In ihr sind für die Verwicklungen, die eine überstürzte Folge von psychischen Situationswechseln und Peripetien herbeiführen, zuvörderst natürlich die kommunikativen Schwierigkeiten verantwortlich, welche auf den sozialen Abstand der Liebenden zurückgehen. Indessen bildet der soziale Abstand – wie wir gesehen haben – andererseits die Voraussetzung dafür, daß es zwischen Julien und Mathilde überhaupt zur erotischen Kommunikation kommt, da jeder in der Standesdistanz des anderen einen äußersten Anlaß zum Heroismus und zur großen „amourpassion“ erblickt. So folgt die Liebe dann Gesetzen, die eine doppelte Komplikation der Gefühle bewirken; denn was die Liebe auslöst, steht ihr immer zugleich im Wege.
Dabei gibt es wohl keinen Zweifel daran, daß der Erzähler Stendhal, obgleich er diese Passion zum Schluß bei Julien vor der reineren, spontaneren und nicht mehr vom Bewußtsein forcierten Liebe zu Mme de Rênal verlöschen läßt, eben die Irritationen der Leidenschaft, des Willens und der Macht im Verhältnis zu Mathilde mit der tieferen Faszination berichtet. Sie sind von den Literaturkritikern selten ausführlich nachgezeichnet worden und sollen auch hier keine detaillierte Deutung erhalten, weil sie auf die weitere Entwicklung des realistischen Romans nur geringe Wirkung ausgeübt haben. Eher offenbart sich in ihnen am stärksten die weitgehende Fremdheit Stendhals gegenüber dem 19. Jahrhundert, gegenüber seiner Sentimentalität wie gegenüber seiner normierenden Auflösung individueller Willensaktivität. Was ihn dagegen über lange Kapitel an die dramatische Beziehung Juliens und Mathildes fesselt, ist die gebannte Beobachtung der Liebe als eines Machtkampfes. Sie entdeckt etwa im 30. und 31. Kapitel des zweiten Bandes, den Momenten höchster Spannung, das eigentümliche Phänomen eines Duells, bei dem der Liebende gerade seiner Liebe wegen Selbstbeherrschung und Kaltblütigkeit zu demonstrieren hat, um dadurch die Geliebte zur Manifestation ihrer Liebe zu zwingen. Zur Schilderung dieses Duells wechselt der Erzähler häufig die Perspektive, zeigt – gleichgültig gegenüber der Entwicklung narrativer Konsistenz – Aktionen wie Reaktionen bald des einen, bald des anderen Duellanten, damit verdeutlicht wird, wie sehr in seinen Helden Empfindung und Reflexion, Liebeswahn und Liebespolitik zusammenwirken, ja aufeinander angewiesen sind.
Mit der größten Insistenz werden diese Zusammenhänge für Juliens Bewußtsein hervorgehoben. Da heißt es beispielsweise: „Ivre d’amour et de volupté, il prit sur lui de ne pas lui parler“ (S. 424), während im nächsten Satz der – kaum ironische –Kommentar erfolgt: „C’est, selon moi, l’un des plus beaux traits de son caractère; un être capable d’un tel effort sur lui-même peut aller loin, si fata sinant. Oder wenig später – Mathilde hat Julien gerade angeboten, sich nach London entführen zu lassen – lesen wir die folgende Passage:
(Ah! qu’elle m’aime huit jours, huit jours seulement, se disait tout bas Julien, et j’en mourrai de bonheur. Que m’importe l’avenir, que m’importe la vie? et ce bonheur divin peut commencer en cet instant si je veux, il ne dépend que de moi!)
Mathilde le vit pensif.
- Je suis donc tout à fait indigne de vous, dit-elle en lui prenant la main.
Julien l’embrassa, mais à l’instant la main de fer du devoir saisit son cœur. Si elle voit combien je l’adore, je la perds. Et, avant de quitter ses bras, il avait repris toute la dignité qui eonvient à un homme. (S. 426)
Ein solches Hin und Her von kalkulierter Leidenschaft und leidenschaftlichem Kalkül, als welches die Dialektik der Liebe und der Selbstbehauptung an dieser Stelle erscheint, war entschieden nicht nach dem Geschmack des bürgerlichen Jahrhunderts, entsprach auch weder seinen neuen Interessen noch seiner neuen Erkenntnis, welche die Capricen des Subjekts in den biologischen, psychologischen und soziologischen Gesetzen und Normen aufhob. Stattdessen scheint Stendhals Faszination durch den Willen zur Macht, der in der Liebe wirkt, einerseits auf die Epoche der Maximen La Rochefoucaulds zurückzugreifen, andererseits auf die amourösen Erfahrungen Marcels oder Swanns in der Recherche du temps perdu vorauszuweisen. Wie unbehaglich und teils unbegreiflich sie sich für Anschauungen ausnahm, die im engeren Sinn bürgerlich zu nennen wären, belegt nichts besser als die StendhalLektüre Emile Zolas. In einem Aufsatz der Romanciers Naturalistes hat Zola seiner Abneigung gegen den Autor, dessen Gestalten eher „intellektuelle Spekulationen“ als „lebendige Schöpfungen“ seien, recht prononcierten Ausdruck verliehen. [11] Wenn er dabei auf die „amours de Julien avec Mlle de la Mole“, die „schwächere Hälfte“ von Le Rouge et le Noir,zu sprechen kommt, entlädt sich die Abneigung gegen den Autor geradezu in direkten Aggressionen gegen die Romanfiguren: „Je ne connais pas d’amours plus laborieuses, moins simples et moins sincères. Les deux amants sont parfaitement insupportables, avec leur continuel souci de couper les cheveux en quatre“ (S. 102f.). Das heißt: Mathilde und Julien treten als „curiosités cérébrales“ nicht für das Typische und sozial wie wissenschaftlich Normgerechte ein, sondern begeben sich ins „Abenteuerliche“ und „Singuläre“, „dans l’aventure et dans la singularité“ (S. 101). Damit ist – so dubios die moralischen Überzeugungen, die hinter solchen Urteilen stehen, auch immer wirken mögen – etwas durchaus Zutreffendes erfaßt: trotz (oder wegen) seines Widerwillens hat Zola richtig bemerkt, daß bei Stendhal die Individuen zwar erstmals nachhaltig durch ihren umfassend vergegenwärtigten gesellschaftlichen und historischen Kontext geprägt werden, daß diese Prägung in ihnen aber gleichzeitig einen nur um so stärkeren Selbstbehauptungswillen gegen die Zeit und gegen die Gesellschaft provozieren kann. So sind Mathilde und Julien in der Tat zugleich Repräsentanten und Egotisten, in manchem schon typische Gestalten des realistischen Romans, in vielem anderen noch singuläre Helden nach Art der klassischen Tragödie – und vielleicht erklärt sich das anhaltende oder erneute Interesse, das sie beim gegenwärtigen Leser wecken, auch aus dem Umstand, daß er durch sie teilhat an den hier einzigartig konjungierten und potenzierten Erkenntnissen bei der Genera und beider Epochen.
Der heroisch stilisierte Individualismus, den Stendhal mit Mathilde de la Mole und Julien Sorel, aber auch mit Lucien Leuwen oder den Helden der Chartreuse de Parme,gegen die Normierungen des 19. Jahrhunderts ausspielt, muß verhindern, daß die Sinnzentren bürgerlicher Existenz – Berufsarbeit und Familienleben – in seinem Werk jemals primäre Bedeutung gewinnen. Das gleiche gilt für die machtvollste Wissenschaft und die umwälzendste Praxis der Bourgeoisie: das Ökonomische bleibt bei Stendhal trotz aller antiaristokratischen Provokationen von Racine et Shakespeare letztendlich noch auf eine Funktion beschränkt, die zwar den Hintergrund des Romans gestaltet, jedoch der eigentlichen Handlung gegenüber marginal wirkt. Es manifestiert sich – unterschiedlich konnotiert – in Gestalten wie Fouqué, Valenod oder M. de Rênal, während es für die Protagonisten hinter dem zentralen Bezirk des Politischen und des Psychologisch-Erotischen weithin zurücktritt.
Dies Verhältnis wird aufs energischste umgekehrt durch das Werk Balzacs. In ihm ereignet sich nicht nur eine außerordentliche Ausweitung des Blicks auf bis dahin kaum entdeckte oder gar literaturwürdig erachtete Gegenstandsbereiche, sondern eine wohl grundsätzliche Verschiebung der epistemologischen Relevanz. Dabei ist bemerkenswert, daß diese Verschiebung nicht erst von den allseits bekannten großen Romanen der späten dreißiger und der vierziger Jahre hervorgebracht wird. Sie läßt sich vielmehr bereits in früheren Arbeiten und selbst dann beobachten, wenn wir es mit Beiträgen zu tun haben, welche einen eher okkasionell-journalistischen Charakter besitzen. An einem solchen Beitrag, dem 1830 in fünf Folgen in der Zeitschrift La Mode veröffentlichten Traité de la vie élégante,soll sie auch zunächst umrissen werden. Das erscheint um so reizvoller, als das Thema des „eleganten Lebens“ auf den ersten Blick ja keineswegs als ein spezifisch bürgerliches gelten kann. Ursprünglich entstammt es einer ausgesprochen ökonomiefernen aristokratischen Tradition, und so darf nicht verwundern, daß die moderne Literaturkritik den Traktat vom eleganten Leben vorzugsweise in die ‚dekadente‘ Wiederbelebung dieser Tradition eingeordnet hat und ihn gerne neben spätere Essays über das Dandytum – Barbeys Du Dandysme et de George Brummell oder Baudelaires Le Peintre de la vie moderne – stellt. [12] Wie wenig diese Einordnung indessen dem besonderen geschichtlichen Ort und Novum-Charakter des Textes gerecht wird, mag die folgende Interpretation zeigen, aus welcher zugleich zu entnehmen ist, um wieviel radikaler als bei Stendhal die aristokratischen Lebens- und Denkformen hier verbürgerlicht, d. h. einem wesentlich neuen System des Wissens und des Handelns unterworfen und einverleibt werden.
2.1. Verglichen mit den späteren Aufsätzen über das Dandytum fällt an Balzacs Traktat als erstes auf, daß er kaum expliziten Oppositionscharakter besitzt. Es geht ihm nicht um eine einzelne Gestalt, die dann mehr und mehr in die Rolle des Outsiders gerät, sondern um eine ganze Lebenssphäre, welche offensichtlich noch als durchaus kompaktes Milieu existiert – wir haben zu bedenken, daß ja der größte Teil, zumindest aber die Idee des Traktats aus den letzten Monaten der Restaurationszeit stammt. [13] Für diese Lebenssphäre soll halb ernst, halb ironisch ein „Code“ festgelegt werden, mit deutlicher parodistischer Anspielung auf Saint-Simon und in Fortsetzung zahlreicher ähnlicher „Codes“, die Balzac bereits während der zwanziger Jahre publiziert hatte. [14] Demgemäß steht am Anfang – wie es sich gehört – die Definition dessen, was der Autor, beraten durch die vorgeschützte Autorität des Erzdandys George Brummell, kodifizieren möchte. Dabei bedient er sich zweier Oppositionen: der eher sekundären Opposition zwischen „vie élégante“ und dem Sonderfall einer „vie d’artiste“ sowie der grundlegenden Opposition zwischen „vie élégante“ und „vie occupée“. Um die Bedeutung dieser zweiten Unterscheidung recht zu verstehen, muß man berücksichtigen, daß Balzac den Begriff der „vie occupée“ oder „occupation“ noch ganz im Sinne des Ancien Régime verwendet. Er meint für ihn das von Arbeit geregelte Leben, und der „homme occupé“ ist der „homme habitué au travail“, der – so Balzac – das „elegante Leben nicht begreifen kann“ (S. 39). Folglich hat die „vie élégante“ als wesentliche Prämisse den Ausschluß der Arbeit.
Nun kommt einer solchen Bestimmung, oberflächlich betrachtet, gewiß nichts Überraschendes zu. Sie entspricht der säkularen Überlieferung aristokratischer Identität, nach welcher Herrschaft, Krieg und Liebe – wenn man so will, Ariosts „arme“ und „amori“ – allein der Noblesse vorbehalten bleiben, während die Arbeit (und übrigens gleichfalls die bloß funktionale Sexualität) zur Standeskompetenz der Bourgeoisie (wie natürlich auch der Bauern, Handwerker usw.) gehörte. [15] So identifizierte sich der „honnête homme“ als idealer Repräsentant höfischer Gesellschaft im 17. Jahrhundert durch seinen Gegensatz zum „homme de métier“, dem auf eine bestimmte Tätigkeit spezialisierten Berufsbürger. Nur der „homme de métier“ arbeitete, indem er eine mehr oder weniger eng umschriebene Funktion ausübte; der „honnête homme“ dagegen agierte in den verschiedenen Divertissements, Beschäftigungen, Künsten und Wissenschaften als Liebhaber.
Bemerkenswert ist bei Balzac freilich der Nachdruck, mit dem er das elegante und das durch Arbeit geregelte Leben kontrastiert. Wenn früher im 16. und 17. Jahrhundert etwa von Castiglione, Gracián oder dem Chevalier de Méré die aristokratische Hofexistenz behandelt wurde, spielte dieser Kontrast keine Rolle: die Exklusion der Arbeit aus dem Ideal eines standesgemäßen Lebens verstand sich von selbst und brauchte nicht eigens hervorgehoben zu werden. Im Falle Balzacs sieht die historische Situation jedoch anders aus; denn durch das offene oder verborgene Wirken der Aufklärung und der bürgerlichen Revolution sind die kulturellen Selbstverständlichkeiten – ungeachtet aller Restaurationsversuche – tiefgreifend verändert worden. Die Aufklärung hatte nicht nur die gesellschaftliche Notwendigkeit der „vie occupée“ unterstrichen; sie hatte ihr darüber hinaus propagandistisch eine eigene Lust zugeschrieben. „Nur der arbeitende Mensch (l’homme occupé) ist ein glücklicher Mensch“, hieß es bei Helvétius, der ja auch die Aristokraten an die Arbeit, wenigstens an den Handel, bringen wollte [16] , und ein halbes Jahrhundert später erhielten Arbeit und Produktion ihr höchstes Pathos dann in den Schriften Saint-Simons, wo die Industrie erstmals mit revolutionärem Anspruch in das Zentrum des sozialen Systems gerückt wurde.
Angesichts solcher Umwertung der Werte war es also kein Leichtes, jedenfalls kein Selbstverständliches mehr, die „vie élégante“ zu feiern und zugleich die „vie occupée“ zu stigmatisieren. Eben das aber tut Balzac in den Prolegomena seines Traktats und er tut es unverkennbar in bezug auf die saint-simonistische Doktrin. Nun ist Balzacs Abhängigkeit von Saint-Simon, gerade was den Traité de la vie élégante betrifft, schon hinlänglich betont worden; doch kommt dabei die Ambivalenz seiner Haltung nicht immer ganz deutlich zum Vorschein. [17] Was Balzac übernimmt, ist nämlich vor allem das Bewußtsein des ungeheuer angewachsenen Stellenwerts, den die „vie occupée“ im gesellschaftlichen Gefüge seiner Epoche innehat; wenn er ihre Bedeutung ästhetisch-moralisch wertet, stellt er Saint-Simon dagegen mit Aplomb auf den Kopf.
Das heißt: Balzac propagiert – nicht frei von Zynismus – die längst der einstigen ,Unschuld‘ entkleideten aristokratischen Werte, ohne darüber aber die bürgerliche Realität, denen sie an sich kraß widersprechen, in ihrer Andersartigkeit zu verdrängen. Aus diesem offengehaltenen Widerspruch entspringt die Aggressivität, die noch jeden modernen Leser des Traktats verblüfft hat. In einer „traurigen Autopsie des sozialen Organismus“ (S. 38) werden die Formen der „vie occupée“, welche die Hofliteratur aussparte, systematisch gemustert, um dann jedoch – gegen Saint-Simons Feier von Arbeit und Produktion – radikal degradiert zu werden. Das Hauptmotiv solcher Degradation ist die Verdinglichung, über die (auf freilich undifferenzierte Weise) Balzacs Zynismus mehr weiß als Saint-Simons revolutionäre Emphase. Durch die Arbeit, so heißt es im Blick auf das Weltbild klassischer Literatur, verliert der Mensch sein Schicksal und wird zum bloßen Instrument der Produktion (vgl. S. 34), oder mit einer Wendung, welche bereits das spezifisch Neuartige der Industriearbeit anspricht: „Semblables aux machines à vapeur, les hommes enrégimentés par le travail se produisent tous sous la même forme et n’ont rien d’individuel“ (S. 35). Verdinglichung, die sich hier durch die leitmotivisch insistierende Maschinenmetaphorik ausdrückt (die Arbeitenden werden, je nach Funktion, als „Winden“, „Dampfmaschinen“ oder „wunderbar perfektionierte Apparate“ gesehen), bedeutet also vorzüglich Entindividualisierung der in die Arbeitsbataillone Eingezogenen: „L’homme-instrument est une sorte de zéro social, dont le plus grand nombre possible ne composera jamais une somme s’il n’est précédé par quelques chiffres“. (S. 35)
Immerhin gibt es eine Stufenleiter, die aus den Niederungen der Nullen allmählich zum eleganten Leben der „Müßigen“ führt. Auf ihr verfeinern sich die Getriebe des „homme-instrument“ gemäß verschiedenen Berufstypen, welche indessen in keinem Fall die essentiell menschliche, allein der „vie élégante“ vorbehaltene Freiheit erlauben. Dabei nehmen den untersten Grad etwa „Bauer“, „Maurer“ oder „Soldat“ ein; eine Stufe höher befinden sich der „Kleinhändler“, der „Unteroffizier“ oder der „Redaktionsangestellte“ (S. 36), und relativ am höchsten stehen „der Arzt, der Priester, der Advokat, der Notar“ usw., die schon im Ancien Régime als die wesentlichen „gens de métier“ galten. Bei ihnen sind aus den „Winden“ die „wunderbar perfektionierten Apparate“ geworden; doch so vollkommen sie auch konstruiert sein mögen, bleiben sie – an Pflicht und Routine von „Agenda“ gebunden – jeglicher Selbstbestimmung fern. (S. 37)
Erst wo mit der Bindung an spezialisierte Berufsfunktionen die „vie occupée“ endet, beginnt in Selbstbestimmung das freie Leben, das einerseits als tätige „vie d’artiste“, andererseits als eher untätige „vie élégante“ verwirklicht werden kann. Die letztere erhebt sich sozusagen auf einer vierten Stufe über den klassischen Métiers: „Le haut fonctionnaire, le prélat, le général, le grand propriétaire, le ministre, le valet“ (man beachte das Zeugma, das durch den Kommentar „Le valet est une espèce de bagage essentiel à la vie élégante“ erläutert wird!) „et les princes sont dans la catégorie des oisifs et appartiennent à la vie élégante“ (S. 38). Damit ist Balzac nach dem präliminaren Ausschluß arbeitender „Vulgarität“ beim eigentlichen Thema seines Traktats angekommen, und es geht nun darum zu beschreiben, was über die Grundvoraussetzung hinaus die spezielle Eleganz der „vie élégante“ ausmachen soll.
2.2. Durch dies Thema tritt Balzac indessen in eine umfangreiche Überlieferung aristokratischer Literatur ein, welche zwar kaum jemals die Voraussetzungen, wohl aber ausgiebig die Manieren gesellschaftlicher Eleganz traktiert hatte. Um zu zeigen, wie die Tradition solcher Traktate in der Anpassung an eine neue geschichtliche Lage verwandelt wird, müssen wir deshalb etwas weiter ausholen und uns zunächst auf den Begriff von Eleganz besinnen, welcher der höfischen Gesellschaft eh und je geläufig war. Er ist vielleicht am eindrucksvollsten in einem berühmten Abschnitt von Baldesar Castigliones Libro del Cortegiano festgehalten. Dort wird beim Entwurf des idealen Hofmanns wiederholt als dessen größte Tugend die „grazia“, d. h. die Anmut, genannt: sie soll allen seinen Handlungen, Bewegungen, Gesten und Kleidern beständig aufgeprägt sein, eine unerläßliche „Würze aller Dinge, ohne welche die anderen Eigenschaften und guten Qualitäten nur geringen Wert haben“. Befragt, worin die „grazia“ denn nun genau bestünde, erklärt der Graf Lodovico da Canossa, dem im ersten Buch das meiste der Lehre obliegt, folgendes [18] :
Ma avendo io già piú volte pensato meco onde nasca questa grazia, lassando quegli che dalle stelle l’hanno, trovo una regula universalissima, la qual mi par valer circa questo in tutte le cose umane che si facciano o dicano più che alcuna altra: e ciò è fuggir quanto più si po, e come un asperissimo e pericoloso scoglio, la affettazione; e, per dir forse una nova parola, usar in ogni cosa una certa sprezzatura, che nasconda l’arte, e dimostri, ciòche si fa e dice, venir fatto senza fatica e quasi senza pensarvi. Da questo credo io che derivi assai la grazia: perchè delle cose rare e ben fatte ognun sa la difficultà, onde in esse la facilità genera grandissima maraviglia; e per lo contrario, il sforzare, e, come si dice, tirar per i capegli, dà summa disgrazia, e fa estimar poco ogni cosa, per grande ch’ella si sia. Però si po dir quella esser vera arte, che non appare esser arte; nè più in altro si ha da poner studio, che nel nasconderla: perchè se è scoperta, leva in tutto il credito, e fa l’uomo poco estimato.
(Nachdem ich oftmals darüber nachgedacht habe, wie man zu dieser Anmut gelangt, – lassen wir einmal diejenigen beiseite, die sie von den Sternen haben – bin ich auf eine universale Regel gestoßen, welche mir diesbezüglich bei allen Taten und Reden mehr als jede andere zu gelten scheint: und zwar die Maxime, als schlimmste und gefährlichste Klippe so weit wie möglich die Affektation zu meiden und – um vielleicht einen neuen Begriff zu gebrauchen – in jeglicher Angelegenheit eine gewisse Lässigkeit an den Tag zu legen, welche die Absicht verbirgt und den Eindruck erweckt, was man tut und sagt, geschähe ohne Mühe und fast ohne bewußte Überlegung. Daraus entsteht, glaube ich, in hohem Maße die Anmut: denn jedermann kennt ja die Schwierigkeit der außerordentlichen und wohlgeratenen Unternehmungen, weshalb die Leichtigkeit in ihnen größtes Staunen hervorruft, während umgekehrt das Forcieren und – wie man sagt – das an den Haaren Herbeiziehen höchst schwerfällig wirkt und jede Tat, sei sie auch noch so groß, gering einschätzen läßt. Deshalb kann man sagen, nur das sei wahre Kunst, was nicht als Kunst erscheint, und auf nichts anderes habe man achtzugeben als darauf, sie zu verbergen: denn wenn sie einmal entdeckt ist, verliert man in allem das Prestige und wird wenig geachtet. – Übersetzung U. S.-B.)
Anmut und Eleganz, welche dem Hofmann den obersten Wert darstellen, verlangen demnach als wichtigste Verhaltensmaxime die Vermeidung der „affettazione“. Wie die vielfachen Erklärungen des zitierten Textabschnitts angeben, ist „affettazione“ aber in erster Linie das Sichtbarwerden von Anstrengung, „arte“ im Sinne der „fatica“ und des „sforzare“. Folglich kommt es darauf an, bei allem, was man unternimmt, die Anstrengung zu überspielen und eine gewollte Lässigkeit zu zeigen. Dabei besitzt die Demonstration von „sprezzatura“ neben dem ästhetischen auch noch einen strategischen Sinn. Sie gibt dem, der über sie verfügt, nicht nur anmutige Eleganz, sondern gleichfalls das Prestige unendlicher Begabung; denn wer ohne Anstrengung agiert, erlaubt dem Beobachter ja keinen Einblick in die Grenzen seiner Fähigkeit [19] :
Questa virtù adunque contraria alla affettazione, la qual noi per ora chiamiamo sprezzatura, oltra che ella sia il vero fonte donde deriva la grazia, porta ancor seco un altro ornamento, il quale accompagnando qualsivoglia azione umana per minima che ella sia, non solamente subito scopre il saper di chi la fa, ma spesso lo fa estimar molto maggior di quelle che è in effetto; perchè nelli animi delli circustanti imprime opinione, che chi così facilmente fa bene sappia molto piú di quelle che fa, e se in quello che fa ponesse studio e fatica, potesse farlo molto meglio.
(Diese der Affektation entgegengesetzte Qualität, die wir einstweilen ‚sprezzatura‘ nennen wollen, ist nun nicht bloß der Quell, aus dem die Anmut entspringt. Sie bringt auch einen anderen Vorzug mit sich, der einerseits, indem er selbst die kleinste Handlung begleitet, sofort das Können des Handelnden verrät, es andererseits oft sogar viel größer erscheinen läßt, als es in Wirklichkeit ist; denn bei den Umstehenden ruft die ‚sprezzatura‘ die Meinung hervor, wer mit solcher Leichtigkeit Gutes zustande brächte, könne viel mehr, als er eigentlich täte, und wenn er sich nur Mühe gäbe, müsse es ihm noch viel besser gelingen. – Übersetzung U. S.-B.)
Ich habe die beiden Stellen aus dem Cortegiano deshalb so ausführlich zitiert, weil sie Überzeugungen zusammenfassen, welche für eine „langue durée“ europäischer Gesellschaftsgeschichte konstant blieben. So finden sie sich auch außerhalb des Hoflebens der italienischen Renaissance allerorten wieder. Ein interessantes Beispiel dafür ist Baltasar Graciáns Schrift vom Héroe. In ihr wird Castigliones Prinzip der „sprezzatura“ paradoxer- oder vielmehr konsequenterweise zum Ziel konzentrierter Willensanstrengung pointiert und im Sinne unseres zweiten Cortegiano-Zitats als zentrales Mittel des höfischen Prestigekampfes empfohlen. Dazu lese man insbesondere den ersten „Primor“, der schon an seinem Beginn die strategische Funktion der Verbergung von Mühe und Begabungsgrenzen unterstreicht [20] :
Gran treta es ostentarse al conocimiento, pero no a la comprehensión; cebar la expectación, pero nun ca desengañarla del todo; prometa más lo mucho, y la mejor acción deje siempre esperanzas de mayores.
Escuse a todos el varón culto sondarle el fondo a su caudal, si quiere que le veneren todos.
(Großes Geschick verrät, wer sich der Aufmerksamkeit zeigt, nicht aber dem Verständnis, wer die Erwartung weckt, sie jedoch nie völlig erfüllt; das Viele verspreche mehr, und die beste Aktion lasse stets noch Hoffnung auf größere.
Der kluge Mann erlaubt niemandem, den Grund seiner Begabung auszuloten, wenn er will,daß alle ihn verehren. – Übersetzung U. S.-B.)
Außerdem den 17. „Primor“, betitelt „Jeder Vorzug ohne Affektation“. Er macht desillusionierend deutlich, daß das Überspielen der Anstrengung immer nur durch eine zweite und größere Anstrengung zu erreichen ist, daß es also, um die Kunst zu verbergen, erneut der gleichsam potenzierten Kunst bedarf [21] :
Afectó Tiberio el disimular, pero no supo disimular el disimular. Consiste el mayor primor de un arte en desmentirlo; y el mayor artificio, en encubrirle con otro mayor.
(Tiberius war bei der Verstellung affektiert; und es gelang ihm nicht, das Verstellen zu verstellen. Der höchste Grad einer Kunst besteht darin, sie zu leugnen, und der größte Kunstgriff ist, ihn mit einem anderen, größeren zu überdecken. – Übersetzung U. S.-B.)
In Frankreich wird die „sprezzatura“ (freilich ohne Graciáns konzeptistische Zuspitzung) vom Chevalier de Méré in seinem Discours des Agrémens rezipiert. Sie erscheint bei ihm als Ideal des unforcierten „Naturel“: „Ce qu’on doit corriger de la pluspart des Maistres, c’est quelque chose de trop concerté qui sent l’art et l’étude. Il faut faire en sorte que cela paroisse naturei“. [22] Dieser Schein ,natürlicher‘ Mühelosigkeit ist für alle Handlungen wichtiger als ihr effektives Resultat, da das eine zu den „artisans de profession“ gehört, während das andere die „gens du monde“ auszeichnet:
Les gens du monde sont quelquefois obligez de se mêler de tout, et mesme de ce qu’ils sçavent le moins. Quand cela leur arrive ils ne s’y doivent pas conduire comme les artisans de profession, qui n’ont guere pour but que de finir leur ouvrage. Car un galant homme doit moins songer à se perfectionner dans les choses qu’i! entreprend, qu’à s’en acquitter en galant homme. [23]
Nur den berufsmäßigen Spezialisten kommt es vorrangig auf das Produkt und damit auf das Was ihres Tuns an; die Leute von Welt haben dagegen in erster Linie das Wie zu beachten, welches die Leichtigkeit eines „air aisé“ verraten muß:
Cet air aisé qui vient de l’heureuse naissance et d’une excellente habitude est necessaire aux Agrémens, de sorte que celuy qui se mesle d’une chose, quoy qu’elle soit tres-difficile, s’y doit pourtant prendre d’une maniere si dégagée qu’on en vienne à s’imaginer qu’elle ne luy couste rien. [24]
In diesem Sinn sollen sich die „gens du monde“ hervortun, wo immer es schicklich ist; doch darf auch die größte Vorzüglichkeit nicht die angestrengte Absicht der Ostentation erkennen lassen; „car les choses qui viennent d’elles-mesmes quand on s’en acquitte bien, ont toute une autre grace que celles qui semblent recherchées“. [25]
Bei Balzacs Beschreibung der Eleganz ist nun bemerkenswert, daß sie das aus einer anderen Gesellschaftsformation stammende Argument der „sprezzatura“ an entscheidenden Stellen wiederaufnimmt. Natürlich hat mit dem „sprezzatura“-Gebot überhaupt die Stigmatisierung von Arbeit zu tun, da unter höfisch-aristokratischem Blickwinkel Arbeit ja nichts anderes ist als regelmäßige, zur Gewohnheit gewordene Anstrengung. So negiert Balzac Arbeit nicht nur systematisch als Bestandteil, sondern auch historisch als individuelle Voraussetzung des eleganten Lebens:
Pour être fashionable, il faut jouir du repos sans avoir passé par le travail; autrement, gagner un quaterne, être fils de millionnaire, prince, sinécuriste ou cumulard. (S. 39)
Damit es elegant wirkt, müssen aus dem Bild, das man vor seiner Umwelt erstellt, sogar die Spuren vergangener Arbeit und Anstrengung getilgt werden. Wie es einst hieß, es sei das Höchste der Kunst, die Kunst zu verbergen, formuliert Balzac jetzt als Maxime (S. 73): „L’effet le plus essentiel de l’élégance est de cacher les moyens.“
Das ist in der Tat eine unverkennbare, wenn auch wohl nicht textlich unmittelbare Anknüpfung an Castigliones „sprezzatura che nasconda l’arte“ oder an Graciáns Sentenz „Consiste el mayor primor de un arte en desmentirlo; y el mayor artificio, en encubrirle con otro mayor“. Indessen ergibt sich bei aller formalen Analogie eine bedeutsame inhaltliche Differenz zwischen den Maximen. Wo die vorbürgerlichen Autoren von „Kunst“ (arte, art, étude, fatica) sprachen, setzt Balzac die „moyens“ ein. Nun ließe sich der Begriff „moyens“ zunächst gewiß auch als ein allgemeinerer Oberbegriff verstehen, welcher Kunst, Studium und Mühe zusammenfaßt; doch zeigt der Fortgang der Argumentation, daß Balzac grundsätzlich anderes meint (S. 73):
Tout ce qui révèle une économie est inélégant.
En effet l’économie est un moyen. Elle est le nerf d’une bonne administration, mais elle ressemble à l’huile qui donne de la souplesse et de la douceur aux roues d’une machine: il ne faut ni la voir ni la sentir.
Das heißt: auch in bürgerlicher Gesellschaft beruht die Eleganz nach wie vor auf einem Akt des Verbergens. Das aber, was verborgen werden soll, ein Bereich zugleich von höchster Peinlichkeit und höchster Relevanz, wird auf bezeichnende Weise verschieden definiert. Vorbürgerlich war es die faktisch durchaus notwendige Anstrengung des Geistes und des Körpers, welche unsichtbar bleiben mußte; bürgerlich sind es die ökonomischen Mittel, die gleich einem „Maschinenöl“ in stiller Diskretion zu wirken haben. Damit hat Balzac die aristokratische Formel einerseits bewahrt; andererseits ist ihr Inhalt durch die Neuformulierung des „Pudendum“ signifikant verändert worden. Es hat gewissermaßen ein Umbruch der Relevanz stattgefunden: von der aktiven, individuellen Bemühung, die vorbürgerlich obgleich verdrängt – immerhin in den Blick kam, zum objektiven Moment der finanziellen Ressource, welche erst das Bürgertum akkumuliert und erkennt.
Mit solcher Variation führt Balzac die alte Eleganzvorstellung auch in ihren anderen Bestandteilen fort, wobei er eine oft überraschende Treue zu den überlieferten Begriffen beweist. Der „air aisé“ ist ihm so wichtig wie Méré; allein resultiert er nicht mehr aus einer „glücklichen Abstammung“ und „vorzüglichen Gewohnheit“. Vielmehr wandelt sich der „air aisé“ als bloßer Schein in die fester gegründete „aisance“ (S. 74): „De l’accord entre la vie extérieure et la fortune, résulte l’aisance“. Ist kraft eines Vermögens die Basis dieser „aisance“ vorhanden, fällt es leicht, Castigliones „grazia“ zu verwirklichen und nach Mérés Empfehlungen im „Lebensund Verhaltensstil natürlich und zwanglos“ zu sein (ebd.): „L’observation religieuse de ce principe permet seule à un homme de déployer, jusque dans ses moindres actes, une liberté sans laquelle la grâce ne saurait exister“. Die hier angesprochene „liberté“ und „aisance“ manifestiert sich in der Devise „semper paratus“ des Wohlhabenden, dessen ökonomische Mittel so unbegrenzt anmuten müssen wie früher die Fähigkeiten des Héroe. „Ständig bereit“ machen sollen sie ihn etwa zum Empfang, der nur für den Berufstätigen etwas Außergewöhnliches darstellt (S. 75):
Pour l’homme de la vie occupée,les réceptions sont des solennités: il a ses sacres périodiques pour lesquels il fait ses déballages, vide ses armoires, et décapuchonne ses bronzes; mais l’homme de la vie élégante sait recevoir à toute heure, sans se laisser surprendre.
So erlauben ihre Mittel – „Haus, Bediente, Wagen, Luxus“ – den „Experten“ der „vie élégante“, das „Vorurteil des Sonntags“ zu ignorieren, und da sie gegen materiellen Schaden gewappnet sind, brauchen sie ihren Besitz nicht sparsam zu schonen, sondern können ihn – generös gegenüber sich und den anderen – mit „disinvoltura“ genießen (S. 74):
Également soumis aux charges de la fortune comme à ses bénéfices, ils ne paraissent jamais contrariés d’un dommage; car, chez eux, tout se répare avec de l’argent, ou se résout par le plus ou moins de peine que prennent leurs gens.
Demnach sind in Balzacs Traktat die höfischen Ideale von „disinvoltura“, „facilità“ und „sprezzatura“ nicht weniger dicht versammelt als in Castigliones Libro del Cortegiano. Neben den bereits zitierten Passagen wären dazu etwa noch die folgenden „Dogmen“ der Affektationsvermeidung zu erwähnen:
La vie élégante étant un habile développement de l’amour-propre, tout ce qui révèle trop fortement la vanité y produit un pléonasme. (S. 78)
oder:
L’élégance travaillée est à la véritable élégance ce qu’est une perruque à des cheveux. (S. 84)
Das Neue und Epochenspezifische an ihnen ist aber, daß sie nunmehr beständig auf die Sphäre der Ökonomie bezogen werden und sich auch nur in diesem Bereich realisieren lassen. Sie haben zur Voraussetzung ein quasi unausschöpfliches Eigentum, welches dank seiner Unausschöpflichkeit eben das Peinliche, sozusagen die „affettazione“, des Eigentums überspielen kann (S. 79): „Un homme de bonnecompagnie ne se croit plus le maïtre de toutes les choses qui, chez lui, doivent être mises à la disposition des autres“. Es ist in Balzacs Sicht, damit elegantes Leben entsteht, folglich eine wiederum potenzierte Ökonomie vonnöten, um die primäre Ökonomie der „moyens“ zu verbergen, ähnlich wie bei Gracián die Aufgabe potenzierter Kunst darin bestand, die Konzentrationsleistung elementarer Kunst unsichtbar zu machen.
So kehrt Balzac anläßlich eines aristokratischen Themas, dessen moralisch-ästhetische Valeurs er weithin bejaht und perpetuieren möchte, bürgerliche Realität in einem doppelten Sinn hervor. Er registriert einmal, wie wir einleitend unterstrichen haben, die breite Normalität der „vie occupée“, und er erkennt zum anderen an, daß auch das verführerisch Anomale der „vie élégante“ an eine ökonomische Basisgebunden und allein durch die Potenzierung von Ökonomie in „Grazie“ zu entfalten ist. Damit sind die vorbürgerlichen Werte des eleganten Lebens zwar in die Welt der Bourgeoisie transferiert, zugleich aber dem Primat der Ökonomie unterworfen, welcher für die Verfassung und Sehweise dieser Welt konstitutive Bedeutung annimmt. Ein solcher Primat der Ökonomie, wie er schon hier Balzacs Perspektive bestimmt, war den Theoretikern höfischer „Politesse mondaine“ selbstverständlich fremd; doch tritt er auch bei den späteren (wenn man so will: rearistokratisierten) Betrachtern des Dandytums – Barbey d’Aurevilly, Baudelaire, Huysmans, Proust, D’Annunzio oder Valle-Inclán [26] – aus dem expliziten Vordergrund der Schriften wieder ins Hintergründige zurück, von dem sie eher unbewußt Zeugnis ablegen. Bereits für den frühen Balzac gilt der Primat der Ökonomie jedoch nicht bloß als objektives Motiv, sondern als subjektiv erfaßte Methode, die er – man möchte sagen: entlarvend – selbst gegen Phänomene ins Spiel bringt, die ihr auf den ersten Blick zuwiderlaufen.
2.3. Der Befund, den wir im systematischen Teil des Traktats an der Verwandlung eines aristokratischen Topos gewonnen haben, bestätigt sich auf frappante Weise in seinem historischen Teil. Er nimmt vor allem das zweite Kapitel „Du sentiment de la vie élégante“ ein. Nach Barbéris hebt sich dies Kapitel als nachträglicher Einschub von dem Rest der Schrift ab [27] , und es ist daher möglich, daß manches Argument für eine großbürgerliche Vereinigung der Oberschicht hier auch von aktuellen politischen Zweckmäßigkeiten diktiert wurde. Immerhin erstaunt, selbst wenn man einen gewissen Opportunismus in Rechnung stellt, der Nachdruck, mit dem Balzac die überlieferten Distinktionen von gesellschaftlichem Stand und politischer Position für zweitrangig erklärt und ihnen einen neuen und allgemeineren Widerspruch überordnet. Als Stand nämlich – so befindet Balzac – hat der Adel den Rang, der ihm im Ancien Régime zukam, verloren:
Aujourd’hui les nobles de 1804 ou de l’an MCXX ne représentent plus rien. La Révolution n’était qu’une croisade contre les privilèges, et sa mission n’a pas été, tout-à-fait, vaine. (S. 48)
Das bedeutet allerdings kaum, daß durch die Nivellierung des Adels Gleichheit eingetreten wäre; vielmehr hat sich die nach Balzac notwendige Ungleichheit der Vermögen – die wesentliche Prämisse eines eleganten Lebens – in schärferer Form erneuert:
N’avons-nous pas, en échange d’une féodalité risible et déchue, la triple aristocratie de l’argent, du pouvoir et du talent, qui, toute légitime qu’elle soit, n’ en jette pas moins sur la masse un poids immense, en lui imposant le patriciat de la banque, le ministérialisme, et la balistique des journaux ou de la tribune, marchepieds des gens de talent? (S. 48)
Deshalb gehen Aristokratie und Bourgeoisie zunehmend ineinander über (vgl.
S. 49), und statt des alten, politisch konzipierten Unterschieds der Stände bleibt ein einziger, ökonomisch begründeter Unterschied der Klassen zurück:
Aussi, en octobre 1830, il existe encore deux espèces d’hommes: les riches et les pauvres, les gens en voiture et les gens à pied, ceux qui ont payé le droit d’être oisifs et ceux qui tentent de l’acquérir. (S. 48f.)
Dieser Gegensatz nimmt alle früheren Gegensätze generalisiert in sich auf, so daß vor ihm der konstitutionelle Anspruch, politische Gleichheit zu stiften, zur Lüge wird:
Ainsi, tout en consacrant, par son retour à la monarchie constitutionnelle, une mensongére égalité politique, la France n’a jamais que généralisé le mal; car nous sommes une démocratie de riches. (S. 48)
Von der Warte einer solchen Demokratie der Reichen gesehen, hat es dann den Anschein, als reduziere sich die gesamte Weltgeschichte auf eine Auseinandersetzung zwischen „riches“ und „pauvres“ und als liefe jede Staatsform auf ein Schutzbündnis der Reichen gegen die Armen, auf ein Schutzbündnis also im Klassenkampf, hinaus:
Depuis que les sociétés existent un gouvernement a donc toujours été nécessairement un contrat d’assurance conclu entre les riches contre les pauvres. (S. 42)
Mit dem Begriff Klassenkampf habe ich angedeutet, was mir an dieser Stelle überraschend evident erscheint: die antizipatorische Nähe der Perspektive Balzacs zum Marxschen Geschichtsverständnis. Gewiß sind beide durch eine Reihe nicht unbeträchtlicher Faktoren geschieden: in Bildungsvoraussetzungen, wissenschaftlichen bzw. schriftstellerischen Disziplinen und zumal Wirkungsabsichten ergeben sich einschneidende Differenzen. Zweifellos gemeinsam ist ihnen aber ein epochenspezifisches epistemologisches Prinzip, das in der Ökonomie den Grund des gesellschaftlichen Lebens sowie den hauptsächlichen Schlüssel zur Erkenntnis seiner Phänomene sieht. Diese Gemeinsamkeit sorgt auch für die verblüffenden, doch unverkennbaren Analogien zwischen dem Geschichtsverständnis, wie es das zweite Kapitel des Traité de la vie élégante offenbart, und den Analysen, die Marx einer späteren Revolution in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte widmet. Beobachtet Balzac eine Auflösung der Standesdistinktionen etwa von Aristokratie und Bourgeoisie und die Herausbildung eines einzigen, aufs Ökonomische reduzierten Klassengegensatzes, bewegt sich die Marxsche Interpretation in genau die gleiche Richtung. Immer wieder werden in ihr die politischen Gegensätze zwischen Legitimisten und Orleanisten, Royalisten und Republikanern als „oberflächlicher Schein“ durchbrochen und durch „wirkliche“, d. h. eben ökonomische, Gegensätze substituiert. So tritt hinter den Legitimisten das „Grundeigentum“, hinter den Orleanisten das „Kapital“ hervor, und in der Verbindung von Grundeigentum und Kapital verfechten die „koalisierten Royalisten“ nicht mehr abgestorbene aristokratische, sondern reale bürgerliche Interessen.
Sie verrichten ihr wirkliches Geschäft als Partei der Ordnung,d. h. unter einem gesellschaftlichen,nicht unter einem politischen Titel, als Vertreter der bürgerlichen Weltordnung, nicht als Ritter fahrender Prinzessinnen, als Bourgeoisklasse gegenüber anderen Klassen, nicht als Royalisten gegenüber den Republikanern. [28]
Erwartet Balzac die Verschmelzung der Aristokraten und Bourgeois in einer „démocratie de riches“, befördert nach Marx die „parlamentarische Republik“ einen ähnlichen Prozeß:
Die wirkliche Fusion der Restauration und der Julimonarchie war die parlamentarische Republik, worin orleanistische und legitimistische Farben ausgelöscht wurden und die Bourgeois-Arten in dem Bourgeois schlechtweg, in der Bourgeois-Gattung verschwanden. [29]
Sicher liegen zwischen solchen Analogien bei Marx auch zahllose historische Detailanalysen, die ihm, seiner besonderen Intention und der geschichtlichen Lage des Jahres 1852 ganz eigentümlich sind. Sie lassen die Identität der auf eine „longue durée“ bezogenen Tendenzanalysen jedoch nur um so deutlicher werden. In ihr sowie der ihr zugrundeliegenden Macht einer ökonomischen Episteme, wie sie das Bürgertum gegen die Aristokratie durchsetzte, besteht die Nähe der oft für wahlverwandt erklärten Autoren, und – um das gegen vielfache Verzerrungen sofort hinzuzufügen in ihr besteht sie allein. In der moralisch-politischen Wertung dessen, was die ökonomische Sicht an Erkenntnis eingebracht hat, bleiben Marx und Balzac, der sozialistische Revolutionär und der aristokratisierende kapitalistische Reaktionär, nämlich unversöhnbar gegensätzlich. Wo Balzac die Fusion von Aristokratie und Bourgeoisie konstatiert, begrüßt er sie auch; denn „an der Spitze des Volkes werden beide es auf einen Weg der Zivilisation und des Lichts führen“ (S. 49). Immerhin klingt das noch herablassend volksfreundlich; doch verkehrt sich die Herablassung andernorts in Antipathie, ja Verachtung, wenn es beispielsweise heißt:
Pour le moment, au risque d’être accusé d’aristocratie, nous dirons franchement qu’un homme placé au dernier rang de la société ne doit pas plus demander compte à Dieu de sa destinée qu’une huître de la sienne. (S. 42)
Angesichts solcher und ähnlicher Passagen wirken jene Balzac-Interpretationen, welche von Georg Lukács bis Pierre Barbéris ihrem Helden – der Vorbildlichkeit wegen – eine geheime Parteinahme oder wenigstens Sympathie für den Fortschritt sozialer Gerechtigkeit zuzuschreiben suchen, überaus gezwungen und ein wenig erbaulich. Bezeichnend ist dagegen, daß Balzac den skandalösen, rechtfertigenden Vergleich zwischen dem Nicht-Privilegierten und der Auster im gleichen Abschnitt vorträgt, in dem er – ebenfalls durchaus beifällig – feststellt, jede Staatsform sei stets noch ein Schutzbündnis der Reichen gegen die Armen gewesen. Auf ähnliche Weise kommen prämarxistische Erkenntnis und reaktionäre Moral zusammen, wenn der zu entfremdender Arbeit Verurteilte zynisch als „homme-instrument“ bezeichnet wird, wenn zur Charakterisierung der „vie occupée“ die Formulierung von einer „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ („exploitation de l’homme, par l’homme“) fällt (vgl. S. 50), oder wenn in einem späteren Roman Benassis, der „Médecin de campagne“, die „politische Notwendigkeit“ von Religion – wiederum mit beifälligem Ton – verkündet, weil nur die Religion „dem Armen gänzliche Resignation befiehlt“. [30] Keine dieser Passagen verrät irgendeinen Ansatz zu fortschrittlicher Parteinahme, und doch ist ihre historisch-materialistische Prägnanz nicht zu übersehen. Vielleicht, so wollen wir einmal vermuten, kommt – unter dem Druck gemeinsamer Episteme – die Prägnanz ihrer Erkenntnis Marx sogar um so näher, je krasser ihm der Wille ihrer Moral widerspricht.
So frühzeitig Balzacs Schriften selbst bei aristokratisch-mondänen Themen eine speziell bürgerliche Perspektive erkennen lassen, so schwer hat sich der Autor der Comédie humaine getan, einen Roman mit speziell bürgerlichem Gegenstand zu verfassen. Ein solcher Roman war Stendhals Le Rouge et le Noir – wie wir gesehen haben – ja eben nicht gewesen, da sein Held von Ambitionen getrieben wurde, welche in sozialgeschichtlich älteren Vorstellungen gründeten und überdies das gesamte unheroisch-prosaische Jahrhundert bloßstellen sollten. Balzac dagegen ist mit César Birotteau eine Erzählung gelungen, in der die alltägliche Normalität der Bourgeoisie wohl erstmals ernsthaft in den narrativen Vordergrund tritt – gelungen freilich nur unter außerordentlichen Mühen, die der Autor sich selber abverlangen mußte und bis heute jedem auch noch so gutwilligen Leser abverlangt hat. Bekanntlich zog sich die Entstehungszeit des Romans von 1833 bis 1837 über fünf Jahre hin, und Balzac scheint auf seine Vollendung ebenso viel Wert gelegt zu haben, wie er sie andererseits immer wieder aufzuschieben und hinauszuzögern trachtete. [31] Offenbar brachte die Thematik besondere schriftstellerische Schwierigkeiten mit sich, deren mühsame Überwindung objektiv Zeit, subjektiv ein gesteigertes Selbstbewußtsein in bezug auf die Neuartigkeit des Unternehmens erforderte. Wenn wir diese Schwierigkeiten im folgenden an der Gebrochenheit des vollendeten Textes zu skizzieren versuchen, hoffen wir deshalb Einsicht zu gewinnen in die Darstellungsprobleme, denen ein französischer Romancier noch während der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts begegnete, sobald er gewissermaßen die innerste Zone bürgerlichen Lebens zum Romanthema erhob.
Kein Zweifel, daß jener Bereich von Familie und Beruf, in dem der Bürger seine wesentlichen, identitätsstiftenden Leistungen vollbringt, im César Birotteau ganz andere Relevanz erhält als bei Stendhal! Das zeigt sich bereits an dem vom herkömmlichen Roman oder gar Epos nicht eben privilegierten Status des Familienvaters, den der Held der Geschichte hier hingebungsvoll bekleidet. Bezeichnenderweise beginnt sie, wie zuvor kaum je ein Roman begonnen hat, mit einer nächtlichen Eheszene. In ihr wirft Constances Alptraum den Schatten drohenden geschäftlichen Unheils, und zugleich erregt Césars momentane Abwesenheit die Angstvision möglicher Brüche in der Familienharmonie, unterschwellige Befürchtungen, die sich dann, als das geschäftliche Unheil eingetreten ist, zum Glück und Heil des Haushalts gerade nicht bewahrheiten. Wenn uns die Szene als erste Romanfigur Constance Birotteau prä- sentiert, hat sie ihren Auftritt im übrigen unter dem Titel „die Frau von M. César Birotteau“ (S. 35) [32] , und am Ende eines längeren Abschnitts der Exposition werden die Hauptgestalten durch den Begriff „ménage“ zusammengefaßt: „Voici quel fut le sort de ce ménage constamment heureux par les sentiments, agité seulement par les anxiétés commerciales“. (S. 69)
Tatsächlich kennzeichnet die Familie Birotteau eine – zumindest in der Literatur – selten anzutreffende affektive Geschlossenheit, die häufig als standes- und schichtspezifisch ausgewiesen wird. César hat – wie er selbst versichert – nie jemanden anders als seine Frau geliebt (S. 98), was der Erzähler zu bestätigen und – im Blick auf den „ménage“ – zu ergänzen weiß (S. 92):
Dans ce cœur brillait un seul amour, la lumière et la force de sa vie; car son désir d’élévation, le peu de connaissances qu’il avait acquises, tout venait de son affection pour sa femme et pour sa fille.
Dem entspricht es, daß der gleiche diabolische Bankier und Spekulant Ferdinand du Tillet, der ihn finanziell ruiniert und um seine Geschäftsehre bringen will, ihm einst, als er Césars Angestellter war, auch schon erfolglos seine Frau zu verführen suchte: Hier ergibt sich die einzige melodramatische Verwicklung des Romans, bei der die Herkunft du Tillets, des amoralischen frühkapitalistischen Abenteurers, auf charakteristische Weise unbürgerlich erscheinen muß; denn als ein „sozialer Mischling“ hatte du Tillet „seinen Geist von einem libertinistischen Grandseigneur, seine Gemeinheit von einer verführten Bäuerin“ (S. 83). [33] Dafür duldet die „bürgerliche Liebe“ auch nicht den leisesten Anflug von Libertinage, und der rekapitulierende Bericht von Césars Verbindung zu Constance setzt mit folgenden Feststellungen ein (S. 64):
Depuis la trahison d’Ursule, César était resté sage, autant par crainte des dangers que l’on court à Paris en amour que par suite de ses travaux. Quand les passions sont sans aliment, elles se changent en besoin; le mariage devient alors, pour les gens de la classe moyenne, une idée fixe; car i1s n’ont que cette manière de conquérir et de s’approprier une femme.
So ist auch die Sittlichkeit der Mittelschicht auf ein geschärftes ökonomisches Bewußtsein gegründet – ein Sachverhalt, der gleichfalls durch die auffällige Rationalität der normativ vorbildlichen, erzählerisch indessen ziemlich marginalen Liaison zwischen Césarine Birotteau und Césars Schützling Anselme Popinot unterstrichen wird. In sie tritt auf Seiten Césarines bei aller Lauterkeit ein heimliches Kalkül ein, das von Popinots leichten körperlichen Deformationen die Erwartung besonderer ehelicher Gefügigkeit ableitet, was als typisches Beispiel für die „Arithmetik der bürgerlichen Gefühle“ gelten soll (vgl. S. 162), und am Ende verbindet sich das Einverständnis zu ihrer Heirat aufs engste mit Birotteaus kommerzieller Rehabilitation: Ist diese nicht zuletzt dank der überragenden geschäftlichen Leistungen des präsumptiven Schwiegersohns vollzogen, steht der Eheschließung kein Hindernis mehr im Weg, so daß die Geschichte (trotz Césars Schlaganfall und Tod) insgesamt glücklich in einem familiär funktionalen, „vernünftig“ kalkulierten Hochzeitsball an demselben Ort enden kann, wo zuvor das Unglück der Familie durch einen ausgesprochen nicht-funktionalen, auf bloße kostspielige Repräsentation bedachten Festball eingeleitet worden war.
Bleibt Birotteau im gleichwohl bewußt hervorgehobenen Bereich des Familienlebens von Komplikationen verschont, gilt das nicht für die zentrale Sphäre des Berufsund Geschäftslebens, in welcher der ansonsten harmonisch geeinte „ménage“ – wie gesagt – den „anxiétés commerciales“ zum Opfer fällt. Aus diesen Ängsten entsteht die eigentliche Geschichte des Romans, die also in krassem Gegensatz zur europäischen Literaturtradition nicht das von der aristokratisch regierenden, kriegführenden und liebenden Oberschicht gesetzte „menschliche“ Allgemeine zum Gegenstand hat, sondern das professionell Besondere. Was hier Probleme, Konflikte und Ereignisse ausmacht, ist der nur teilweise erfolgreiche Versuch des Kleinhändlers, den Gesetzen und Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung zu folgen, aus dem „détail“ der Parfümerie zur großangelegten Fabrikation eines Haaröls (der „Huile Céphalique“) überzugehen und sich gleichzeitig in der Spekulation um Boden und Bauten zu versuchen. [34] Dabei stellt es wohl eine absichtsvolle ideologisch-soziale Wertung dar, wenn Balzac allein dem industriekapitalistischen Projekt der Haarölherstellung gewisse Erfolge erlaubt, welche dann Anselme Popinots erstaunliche Karriere bis ins Handelsministerium einleiten, während er die finanzkapitalistischen Unternehmungen kläglich scheitern läßt, da Birotteau mit ihnen über Ferdinand du Tillet an die Keller und Nucingen gerät, jene Vertreter der Hochfinanz, deren Intelligenz, Kälte und Bosheit Césars bescheidene Kräfte nicht gewachsen sind.
Wenn nun aber das Berufs- und Geschäftsleben in der Form von Industrieproduktion und Spekulation zum Hauptmotiv einer Romanhandlung wird, ist der Erzähler zugleich aufs heikelste mit der neuartigen „Unansehnlichkeit“ speziell kapitalistischer Verkehrsformen konfrontiert, einer Unansehnlichkeit, die – wie Volker Klotz in scharfsichtigen Analysen gezeigt hat – durch das ganze 19. Jahrhundert von der forcierten Leibhaftigkeit und Anschaulichkeit des Abenteuerromans (in freilich abstraktem literarischen Widerspruch) kompensiert wird. [35] Dementsprechend präsentiert sich César Birotteau in der Tat als die vielleicht „unansehnlichste“ Erzählung, die von Balzac und überhaupt während der ersten Hälfte des Jahrhunderts geschrieben wurde, und das durchaus mit Notwendigkeit: denn von den Vorgängen, welche die Handlung bewegen, der Zirkulation des Geldes und der Wertpapiere, der Produktion und Distribution der Ware „Huile Céphalique“, schließlich der erneuten Akkumulation von Kapital zur Schuldentilgung, ist ja nichts anschaulich zu machen und gewinnt überdies auch kaum etwas wirklichen Ereignischarakter. Statt einschneidender, unmittelbar wirksamer Peripetien ergeben sich langwierige Prozesse, die zudem meistens hinter den Kulissen ablaufen.
So ist César Birotteau unter allen größeren Balzacschen Romanen nicht nur der handlungs-, sondern wohl auch der szenenärmste: Es gibt in ihm lediglich einige häusliche Gespräche zwischen den Ehegatten, dem geschäftserfahrenen Onkel Pillerault und dem tüchtigen künftigen Schwiegersohn sowie als eher karge dramatische Höhepunkte im 10., 11. und 12. Kapitel die Serie der Bittgänge und das Antichambrieren bei Bankiers und Geldleihern. Ansonsten überwiegen raffende Zusammenfassungen, die nach Balzacs bewährtem Verfahren etwa im zweiten Kapitel rück- schauend die „Antécédents de César Birotteau“ resümieren, mit ähnlicher Raffung zum Schluß aber auch die lange Periode geduldig stiller Arbeit schildern, in welcher die Familie zwischen 1819 und 1823 ihre Schulden wettmacht. Zu solchen Resümees gesellen sich die ihnen erzähltechnisch verwandten Porträts, welche hier klarer noch als in anderen Romanen zum – vorwiegend paradigmatisch bedeutsamen – Eigenwert tendieren, denen kein proportionaler syntagmatischer Handlungsanteil mehr entspricht; denn immer wieder lassen detaillierte Personenschilderungen wie die Claparons oder Molineux’ auf höchst relevante Rollen dieser Personen im Ereignisverlauf schließen, die ihnen vom Fortgang der Handlung dann jedoch kaum zuerkannt werden.
Ebenfalls eine überdurchschnittliche Breite besitzen im César Birotteau die essayistischen bzw. traktathaften Erörterungen allgemeingültigen Anspruchs. Sie dürfen auf keinen Fall als Exkurse betrachtet werden, da sie von der Haupthandlung eben nicht wegführen, sondern sie jeweils selber konstituieren, wenn die Vorgänge wegen ihrer langwierigen Prozeßhaftigkeit und der aus ihrem berufsmäßig spezialistischen Charakter resultierenden Kommentarbedürftigkeit nur noch essayistisch-traktathaft darstellbar sind. Solche Einschübe erweisen sich unumgänglich in Momenten, in denen Kapitalien oder Institutionen selbständig zu agieren beginnen, beispielsweise bei der Durchführung der Grundstücksspekulation oder beim Ablauf des Konkursverfahrens, das bezeichnenderweise dem wesentlich expositorisch geprägten Kapitel „Histoire générale des faillites“ vorbehalten bleibt. In diesen expositorischen Abschnitten wird der narrative Romantext aufgesprengt wie kaum jemals vorher oder nachher, und es kommt gegenüber einer unansehnlichen Wirklichkeit zu abrupten Häufungen ebenso unansehnlicher Textfragmente [36] : im César Birotteau wären hier vor allem die bei den umfangreichen Reklametexte zu nennen, welche als Exempla einer „littérature utile“, wie sie das „Zeitalter der Wissenschaft“ produziert, durchaus nicht ganz unernst in die zur Wirklichkeitserfassung allein nicht mehr ausreichende Erzählung eingelagert werden (vgl. S. 72ff und S. 192ff).
So deutlich sich die Unansehnlichkeit der bürgerlich-kapitalistischen Realität in den Unansehnlichkeiten des sonderbar zerbröckelten Romantextes widerspiegelt, so angestrengt ist Balzac andererseits indessen noch bemüht, dem Familien-, Berufs- und Geschäftsleben, das er für den Roman entdeckt, eine gewisse epische Dignität zuzusprechen. Zur Wahrung dieser Dignität soll vor allem die Verklärung Birotteaus zum „Märtyrer der kommerziellen Redlichkeit“ („martyr de la probité commerciale“) dienen, welche im zweiten Teil des Romans erfolgt. [37] Daß sie etwas Gezwungenes hat, ist von der Kritik, zumal von Andre Wurmser, häufig bemerkt worden [38] ; denn der deklarierte Märtyrer der „probité commerciale“, dessen Heiligkeit in nichts anderem besteht als in der gewissenhaften Tilgung seiner Konkursschulden, macht im ersten Teil bedenkenlos mit bei jeder profitversprechenden Transaktion und empfindet nicht die geringsten Skrupel, eine Masse gutgläubiger Kunden durch die offenkundig irreführende Reklame für sein Haaröl zu übertölpeln: daß es objektiv wirkungslos bleibt, hat ihm die an sich verehrte Autorität der Wissenschaft in Gestalt des Chemikers Vauquelin ja nachdrücklich kundgetan.
Dabei bildet die Märtyrerkrone, die dem Protagonisten spät zuteil wird, nur ein Element der Episierung eines sonst prononciert un-epischen Geschehens. Bereits im ersten Romanteil unterstützen es weitere Mittel der Dignitätssteigerung und Illustration, welche die Kluft zwischen episch-romanesker Tradition und modern-bürgerlichem Sujet überwinden sollen. Diese Mittel bestehen jedoch auffälligerweise weniger in einer Verwandlung von Gestalten und Geschehen, die sich den Konzepten eines poetisierenden Realismus annäherte, als vielmehr in deren Vergleichung. So werden z. B. die Gestalten nicht heroisiert, sondern durch Anspielungen und Hinweise lediglich neben Heroen der Geschichte gestellt. „Ich heiße doch nicht ohne Grund César“, sagt Birotteau am Anfang des Romans zu seiner angesichts der vielfältigen Projekte sorgenvollen Frau (S. 49); ein andermal richtet er sich auf „wie ein Held des Plutarch“ (S. 110) oder reicht Popinot die Hand in einer Haltung ähnlich jener, „welche Ludwig XIV wohl einnahm, als er den Maréchal de Villars bei der Rückkehr von Denain empfing“ (S. 171). Am häufigsten kommt der Vergleich mit Napoleon vor. Er betrifft sowohl den „illustren“ Handelsvertreter Gaudissart, der einmal ein spärliches Trinkgeld durch eine Gestik begleitet, die „Napoleons, seines Idols, würdig war“ (S. 190), als auch Birotteau selbst, wenn er sich bei Umbauarbeiten verhält „wie der Kaiser Napoleon während der Restauration des Schlosses in Compiègne“. (S. 205)
Neben einzelnen Romanfiguren ergreift solche allusive Episierung gleichfalls die Figuren der in sich selber unansehnlichen Geschehensabläufe. Hier ist vor allem die Einleitung des Konkurrenzkampfes zwischen der „Huile Céphalique“ und der noch marktbeherrschenden „Huile de Macassar“, übrigens einem historisch beglaubigten Produkt, hervorzuheben. Man kann in ihm einen scharf erfaßten Beleg für die Unerbittlichkeit sehen, mit welcher im Kapitalismus um Marktanteile gefochten wird [39] ; doch wirkt gewiß nicht weniger relevant die erzählerische Möglichkeit, dem Geschehen zumindest an einer Stelle den Anschein epischer Kämpfe und Duelle zu verleihen. Wenn schon die Gestalten selbst nicht mehr sichtbar streiten, sollen das im Konkurrenzkampf immerhin ihre Fabrikate tun, damit von „combat“, „duel“, „gloire“ und „poésie“ wenigstens noch geredet werden kann und damit man den künftigen Unternehmer nach dem Großeinkauf der Nüsse etwa folgendermaßen erblickt (S. 140f.):
Le parfumeur, perdu dans ses combinaisons, méditait en allant le long de la rue Saint-Honoré sur son duel avec l’Huile de Macassar,il raisonnait ses étiquettes, la forme de ses bouteilles, calculait la contexture du bouchon, la couleur des affiches. Et l’on dit qu’il n’y a pas de poésie dans le commerce!
Auf den Mittelpunkt aller Episierungsaspekte verweist im übrigen mit seinen Begriffen von „grandeur“ und „décadence“ schon der vollständige, ungewöhnlich lange Titel des Romans: Histoire de la grandeur et de la décadence de César Birotteau, marchand parfumeur, adjoint au maire du deuxième arrondissement de Paris, chevalier de la légion d’honneur, etc. Er ist offensichtlich parodistisch abgeleitet von Montesquieus Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence und wohl auch von Edward Gibbons History of the Decline and Fall of the Roman Empire. Dabei kontrastiert in ihm die gleichsam welthistorische Attitüde des Schemas „Histoire de la grandeur et de la décadence“ mit der vereinzelten Besonderheit des bürgerlichen Subjekts, dessen zunächst geringe Relevanz noch durch den Umstand unterstrichen wird, daß der Titel nach dem repräsentativen Anspruch einer „Histoire“ schließlich in der Beliebigkeit eines „etcetera“ ausläuft. Im Romantext greift ihn Balzac noch einmal kommentierend auf, um die Lebensbahn seines Handelsmannes explizit den Lebensbahnen der Nationen, Dynastien und Imperien anzunähern. Die private Geschichte César Birotteaus kann nämlich nach Ansicht des Autors die Funktionen der „Historia magistra vitae“ („L’Histoire, en redisant les causes de la grandeur et de la décadence de tout ce qui fut ici-bas, pourrait avertir l’homme du moment où il doit arrêter le jeu de toutes ses facultés“) ebenso erfüllen wie die politische Historie, so daß sie in der Tiefgründigkeit ihrer Lehre und der Würde ihrer Tragik nicht hinter den Geschichten Trojas oder des napoleonischen Reiches zurückzustehen braucht (S. 93):
Troie et Napoléon ne sont que des poèmes. Puisse cette histoire être le poème des vicissitudes bourgeoises auxquelles nulle voix n’a songé, tant elles semblent dénuées de grandeur, tandis qu’elles sont au même titre immenses: il ne s’agit pas d’un seul homme ici, mais de tout un peuple de douleurs.
An diesem Punkt erklärt der Romancier vielleicht am nachdrücklichsten die Neuartigkeit wie die Gefährdetheit seines Unternehmens. Die Neuartigkeit besteht – wie gesagt – im Entschluß, die Peripetien einer speziell bürgerlichen Karriere zu betrachten, Phänomene also, derer bislang noch „keine Stimme gedacht hat“. Schwierigkeiten und Risiken liegen dagegen in der Unansehnlichkeit von Ereignissen, deren „Immensität“ durch epische Vergleiche erst noch behauptet werden muß; denn auf den ersten Blick, vor dem Bewußtsein literarischer und sozialer Tradition, „scheinen sie bar jeglicher Größe“. Wenn folglich das traditionell Unansehnliche, ja Komische mit einer resoluten Wendung zum „poème“ deklariert wird, setzt es sich der Gefahr des Heroisch-Komischen aus. Gerade durch die forcierte Mühe der Episierung wird die neue Materie ständig vom Rückfall in ein obsoletes Genre bedroht, das im Kontrast von „hoher“ Sprache und „niedriger“ Realität Epos und Bourgeoisie immer schon unter dem Signum der Lächerlichkeit zusammengebracht hatte.
In der Tat bleibt die Drohung des Heroisch-Komischen – einer Gattung, die im klassischen Literatursystem das konventionelle Register für Balzacs Sujet abgegeben hätte – vor allem während des ersten Romanteils stets präsent. Sie zeigt sich insbesondere in den eigentlich narrativen Partien, wenn es darum geht, die familial-professionellen Tätigkeiten des Protagonisten weniger zu traktieren als zu erzählen. Das beste Beispiel für den Sog, den dies Register auf die Erzählung ausübt, bildet der bereits erwähnte Auftakt zum Konkurrenzkampf zwischen den beiden Haarölen. In ihm wird die Konkurrenz derart zu einer Serie epischer Kampfhandlungen stilisiert, daß aus dem Gegensatz von anschaulich traditionsgesättigter Sprache und unanschaulich traditionsarmer Sache eine entschieden lächerliche Wirkung erwächst. Zumal das Gespräch zwischen César und seinem Kommis Anselme Popinot stellt eben die Anonymität der Konkurrenz als höchst individuelles, geradezu auf körperlicher Kraft beruhendes Duell dar. Es ist die Rede von einem „combat long, dangereux“, und Popinot wird gefragt: „Te sens-tu le courage de lutter avec plus fort que toi, dete battre corps à corps?“ (S. 110), oder mit pathetischem Wiederholungseffekt: „Voyons, Popinot, te sens-tu de force à tuer Macassar?“ (S. 111). Die Aufgabe scheint fürwahr keine geringe zu sein; denn „l’ennemi est fort, bien campé, redoutable“, und es steht für César fest: „L’Huile de Macassar sedéfendra!“ (S. 111). Wo die Industrie- und Handelskonkurrenz solchermaßen personalisiert wird, kann man den Konkurrenten schließlich sogar eine kriegerisch heldenhafte Gestik zuschreiben: bei der Kampfansage sehen wir César „se dressant en pied comme un héros de Plutarque“; von seinem Angestellten heißt es: „– Je la [l’Huile de Macassar] coulerai, s’écria Popinot l’œil en feu“, oder: „Anselme se mit comme un soldat au port d’armes devant un maréchal de France“. (S. 111)
Daß der Heroismus dieser Gesten leicht ins Komische verfällt, liegt nun auch daran, daß der Erzähler selbst sich des unheroischen Charakters, der ihrem Anlaß eignet, durchaus bewußt zeigt. Bezeichnenderweise berichtet er Césars private Karriere im Kommerz nicht ohne ihr zuvor eine politisch-heroische Alternative vorgehalten zu haben. Es ist eine Alternative, die César erfahren hat, als er an der royalistischen Konspiration gegen die Convention teilnahm. Dabei wurde er im Gefecht auf den Stufen von Saint-Roch frühzeitig verwundet (später lohnt ihm die Restauration diese Verwundung mit dem Kreuz der Ehrenlegion), was ihn alsbald zum Rückzug aus dem gefahrvollen Bereich des Politischen ins ruhigere Geschäftsleben bewogen hat. So dauerten die wirklich epischen Ambitionen des Geschäftsmanns nur einen Augenblick; er empfand nur einen „éclair de courage militaire“, welcher ihn zur paradoxen Gestalt des „kriegerischen ersten Angestellten“, des „belliqueux premier commis à la Reine des Roses“werden ließ. Nach der blitzartigen Anwandlung von Kriegsmut folgt eine rasche Besinnung auf die Standesnorm, und die verlangt mit der Übernahme der Parfümerie zugleich die Exklusion politischer Taten, so daß sich das Bürgerliche hier als jenes Anti-Heroische und Anti-Epische instituiert, welches zum Heroischen und Epischen im Grunde bloß die Beziehung eines komischen Kontrastes erlaubt (S. 63):
Pendant le mois que dura sa convalescence, il fit de solides réflexions sur l’alliance ridicule de la politique et de la parfumerie. S’il resta royaliste, i! résolut d’être purement et simplement un parfumeur royaliste, sans jamais plus se compromettre, et s’adonna corps et âme à sa partie.
Durch solche heroisch-komischen Untertöne wird an der Konspirationsepisode der Abstand des Romans zu einem Werk wie Stendhals Le Rouge et le Noir deutlich, dem gegenüber er fast wie eine vollkommene Umkehrung wirkt. Ist Julien Sorel vom Heroismus besessen und erscheint ihm das Bürgerlich-Geschäftliche in Gestalt des Jugendfreunds Fouqué lediglich als flüchtige Versuchung, so geht César Birotteau ganz im Bürgerlich-Geschäftlichen auf, für das nun der „éclair de courage militaire“ nur einen äußerst peripheren Moment darstellt, den man kaum noch recht Versuchung nennen mag. Dementsprechend hat sich auch die Perspektive des Erzählers in Anbetracht seines Protagonisten bei César Birotteau auf nachhaltigere Art gespalten als bei Le Rouge et le Noir. Aus ihrer offen deklarierten Uneinheitlichkeit entstehen sowohl die heroisch-komischen Tendenzen der Schilderung wie zugleich andererseits die manifesten Anstrengungen, solchen Tendenzen tragisch-pathetisch gegenzusteuern. Letztlich hat das mit der durchgängig ambivalenten Haltung zu tun, welche Balzac zum Thema des bürgerlichen Lebens insgesamt einnimmt.
Dabei bezeichne ich das bürgerliche Leben nicht ohne Absicht als Thema. Es ist für den Erzähler Balzac ein Thema insofern, als er sich ihm trotz oder wegen des Willens zur Illustrierung fern und auf Distanz hält. Solche Distanz betrifft nicht den bürgerlichen Primat der Ökonomie, den er sich angeeignet und zur Perspektive gemacht hat wie kaum ein anderer Erzähler des 19. Jahrhunderts. Sie bezieht sich vielmehr auf die Bourgeoisie als kulturelle Formation, auf ihre Umgangsformen, Redeweisen und ästhetischen Vorstellungen. In ihnen ist er bemüht, das Bürgertum nicht nur zum Thema, sondern nachgerade zum Exotikum zu machen, dessen Normen einem offenbar aristokratischen oder wenigstens großbürgerlich aristokratisierenden Publikum wie Kuriositäten mitgeteilt werden müssen.
So kommt es, daß César eingangs lange Zeit als ein Verwandter von Henry Monniers Joseph Prudhomme oder gewissermaßen als der gutmütigere Onkel von Flauberts Homais auftritt. [40] In dieser Rolle werden ihm Eigenheiten als schichtspezifisch zugeschrieben, die für eine breite literarische Tradition zunächst des französischen Realismus, dann des Fin de Siècle konstant bleiben. Unter ihnen erscheint als wesentlicher Defekt die Unselbständigkeit im Kulturellen, welche dem Bürger keine ästhetische Individuation gestattet. Er ist mit César Birotteau „un homme pratique“ (S. 77f.), also zuständig allein für eine spezialisierte Praxis und ausgeschlossen vom Reich des Wissens, der Ideen und der Kunst. Folglich hat er sich eine Sprache geschaffen, die aus „Gemeinplätzen“ besteht („un langage farci de lieux communs“, (S. 76), und ausführlich werden die „Idées reçues“ registriert, welche seine „connaissances en langue française, en art dramatique, en politique, en littérature, en science“ (S. 78) bilden. Dabei erhält – wie später auch bei Homais [41] – eine besondere Bedeutung das Bild von den Extravaganzen der Künstlerexistenz: „Les écrivains, les artistes mouraient à l’hôpital par suite de leurs originalités; ils étaient d’ailleurs tous athées, il fallait bien se garder de les recevoir chez soi“ (ebd.). Dem widerspricht nicht der gutgläubige Respekt vor den Klassikern, die bewundert, wenngleich nicht gelesen werden: „Il épousa forcément le langage, les erreurs, les opinions du bourgeois de Paris qui admire Molière, Voltaire et Rousseau sur parole, qui achète leurs œuvres sans les lire“ (ebd.). Bezeichnenderweise bekommt César zur Feier der Ehrenlegion von seiner Tochter eine Bibliothek geschenkt, deren Inhalt den klassischen Literaturkanon des Bürgertums repräsentieren soll:
Bossuet, Racine, Voltaire, Jean-Jacques Rousseau, Montesquieu, Molière, Buffon, Fénelon, Delille, Bernardin de Saint-Pierre, La Fontaine, Corneille, Pascal, La Harpe, enfin cette bibliothèque vulgaire qui se trouve partout et que son père ne lirait jamais. (S. 206)
Daß in diesem Kanon der Autor des Art poétique fehlt, muß ein Versehen sein; denn ansonsten liefert er ja Césars Lieblingswendung, die bei den Gesprächen über das Haaröl in kurzem Abstand wiederholt wird: „Les anciens sont les anciens, je suis de l’avis de Boileau“. (S. 154, vgl. auch S. 150)
Was solcherart unter ästhetisch-kulturellem Aspekt dem „ridicule“ anheimfällt, wird indessen – obwohl mit Mühen – gerettet, sobald es unter einen moralischen Gesichtspunkt tritt. Eben dort, wo er seinen zweifelhaften Helden intellektuell am stärksten kompromittiert, beeilt sich der Erzähler doch hinzuzufügen (S. 79):
Néanmoins, César ne pouvait jamais être entièrement sot ni bête: la probité, la bonté jetaient sur les actes de sa vie un reflet qui les rendaient respectables, car une belle action fait accepter toutes les ignorances.
Auf ähnliche Weise drückt sich dieser Zwiespalt aus, wenn César im Hinblick auf seine Frau einmal mit der folgenden Charakteristik versehen wird (S. 79f.):
Ainsi un homme pusillanime, médiocre, sans instruction, sans idées, sans connaissances, sans caractère, et qui ne devait point réussir sur la place la plus glissante du monde, arriva, par son esprit de conduite, par le sentiment du juste, par la bonté d’une âme vraiment chrétienne, par amour pour la seule femme qu’il eûtpossédée, à passer pour un homme remarquable, courageux et plein de résolution.
Hier fällt besonders auf, daß bei der Schilderung des als typisch intendierten bürgerlichen Protagonisten die degradierenden Tendenzen eigentlich vorherrschen, während zu ihrer Neutralisierung lediglich die unansehnlichsten und gegenüber der epischen Tradition blassesten Tugenden eingesetzt werden. Daraus ergibt sich ein eigentümliches perspektivisches Verhältnis zwischen den szenischen und den resümierenden Erzählpartien. In den ersteren, wo die Bourgeoisie sichtbar agiert, pflegt die Perspektive der Moquerie zu überwiegen. Die Perspektive ernster Anteilnahme ist dagegen gezwungen, sich im wesentlichen der besprechenden Zwischenstücke zu bemächtigen, um in ihnen all das zu feiern, was erzählerisch nicht (oder noch nicht) illustrierbar war, da es bei aller moralischen Anerkennung ästhetisch-kulturell degradiert blieb.
Aus diesem Verhältnis ist wohl auch die vielleicht irritierendste Episode des Romans zu erklären: der Ball im 7. Kapitel zum Abschluß der Sequenz „César à son apogée“. Diese Episode stellt einen der wenigen Momente dar, in denen sich der Gang der Ereignisse zur Szene verdichtet. Sie soll bürgerliches Leben vorführen, und da sie es als ein ästhetisch-kulturelles Phänomen zeigen muß, hat die Schilderung hier einen prononciert abwertenden Effekt. In der Tat erscheint uns der Ball als eine Groteske, bei der sich gegenüber den aristokratisch-großbürgerlichen Normen von gesellschaftlicher Eleganz schlechthin alles als defizitär erweist. Die Frauen der „bourgeoisie de la rue Saint-Denis“ mißfallen wegen ihrer „schweren, steifen Toiletten“, die durch den Kontrast vereinzelter Vertreterinnen der mondänen Welt nur um so gemeiner wirken (vgl. S. 216). In ihrer festlichen Kleidung und ihrer naiv überschäumenden Freude lassen sie erkennen, daß der Ball für sie die Ausnahme des Sonntags bedeutet, auf den bald erneut die lange Regel der Arbeitstage folgen wird (vgl. S. 218, 223). Bei M. und Mme Matifat, dem Drogistenehepaar, das den bürgerlichen Stil „admirablement“ repräsentiert, frappiert einerseits die grobe Vertraulichkeit des Umgangs miteinander, andererseits wiederum der phrasenhafte Sprachgebrauch, der dem Drogisten zu eigen ist (S. 217):
Gros et court, harnaché de besicles, maintenant le col de sa chemise à la hauteur du cervelet, il se faisait remarquer par sa voix de basse-taille et par la richesse de son vocabulaire. Jamais il ne disait Corneille, mais le sublime Corneille! Racine était le doux Racine. Voltaire! oh! Voltaire, le second dans tous les genres, plus d’esprit que de génie, mais néanmoins homme de génie!
Nun kann der Erzähler die Ballszene aber nicht, wie es seinen gesellschaftlichen Neigungen entsprechen würde, im Status der Groteske belassen. Schließlich handelt es sich um den „apogée“, den Höhepunkt in der Lebenskurve seines Protagonisten. Dieser Höhepunkt ist zugleich Wendepunkt, an dem sich drohend die finanziellen Katastrophen des zweiten Romanteils ankündigen, so daß ihm – syntagmatisch gesehen – ein beträchtliches pathetisches Gewicht zukommt. Um dem gerecht zu werden, ist der Erzähler zu einer Gegensteuerung verpflichtet, welche den Eindruck der Groteske wenigstens partiell neutralisiert. Sie äußert sich in den Partien des Kommentars, die zum Grundton ästhetisch-kultureller Herablassung Nebentöne eines angestrengten moralischen Zuspruchs gesellen, wobei sich beide Perspektiven mitunter fast unauflöslich ineinander verwirren. Das ist z. B. der Fall bei der folgenden Charakterisierung der Bourgeoisie der rue Saint-Denis,
cette bourgeoisie jalouse de tout, et néanmoins bonne, serviable, dévouée, sensible, compatissante, souscrivant pour les enfants du général Foy, pour les Grecs dont les pirateries lui sont inconnues, pour le Champ d’ Asile au moment où il n’existe plus, dupe de ses vertus et bafouée pour ses défauts par une société qui ne la vaut pas, car elle a du cœur précisément parce qu’elle ignore les convenances; cette vertueuse bourgeoisie qui élève des filles candides rompues au travail, pleines de qualités que le contact des classes supérieures diminue aussitôt qu’elle les y lance, ces filles sans esprit parmi lesquelles le bonhomme Chrysale aurait pris sa femme; enfin, une bourgeoisie admirablement représentée par les Matifat, les droguistes de la rue des Lombards, dont la maison fournissait la Reine des Roses depuis soixante ans. (S. 216f.)
Die Verwirrung der Perspektiven zeigt sich in dieser Passage am krassen Bruch zwischen der aristokratisch-mondänen Auffassung, welche die arbeitsamen Töchter des Bürgertums „filles sans esprit“ nennt oder sie als ideale Ehefrauen Molières Pantoffelhelden Chrysale zuweist, und einer bürgerlich-moralischen Auffassung, welche in jähen Ausfällen die bessere Gesellschaft („des classes supérieures“, „une société qui ne la vaut pas“) attackiert, aus deren Normen die Erzählung sonst doch die wesentlichen Punkte ihres Wertsystems gewinnt.
Zu solchen anti-mondänen Attacken, welche die Würde César Birotteaus und seiner Welt gegen den Geist der Erzählung selbst zu verteidigen haben, tritt indessen noch eine weitere Vorkehrung, die das Gewicht der Episode bewahren soll. Sie wirkt ähnlich unvermittelt wie der forcierte moralische Zuspruch und verdeutlicht gerade aufgrund ihrer Unvermitteltheit die strukturelle Problematik der gesamten Romankomposition. Es handelt sich um den Exkurs über das Finale von Beethovens 5. Symphonie, mit dem die Schilderung des Balls und überhaupt der erste Teil des Romans abschließen. Dieser Exkurs ist in ebenso hymnischem Ton gehalten, wie das Kapitel zuvor durch mokante Ironie geprägt war. Er beschreibt die Wirkung des Finales auf den kunstempfänglichen Hörer als Eröffnung einer Vision, bei der sich goldene Türen wie die des Florentiner Baptisteriums auftun, um täuschende Durchblicke in ein irdisches Paradies freizugeben. An ihrem Anfang und an ihrem Ende wird die scheinbare Abschweifung in allegorischer Funktion auf das aktuelle Romangeschehen bezogen. Wie das Finale der Symphonie den Musikliebhaber beeindruckt, heißt es, so wirkte der Glanz des Balls auf das Gemüt der Eheleute Birotteau. Zunächst:
[...] les poètes dont le cœur palpite alors comprendront que le bal de Birotteau produisait dans sa vie l’effet que produit sur leurs âmes ce fécond motif, auquel la symphonie en ut doit pent-être sa suprématie sur ses brillantessœurs. (S. 224)
Und dann:
L’histoire psychique du point le plus brillant de ce beau finale est celle des émotions prodiguées par cette fête à Constance et à César. Collinet avait composé de son galoubet le finale de leur symphonie commerciale. (S. 225)
Zweifellos ist das ein tollkühner metaphorischer Sprung, wenn aus dem gerade noch belächelten handelsbürgerlichen Fest die „symphonie commerciale“ wird. Doch hatte der Erzähler, genaugenommen, kaum eine andere Wahl, um seinen – in der paradigmatischen Dimension – nachhaltig ridikülisierten Gestalten jenes Pathos zu verleihen, welches die syntagmatische Dimension des Handlungsablaufs unabweisbar verlangte. Nachdem die Birotteaus in der Innerlichkeit ihrer Ideen und Gefühle ironisch deklassiert worden waren, konnten ihre Empfindungen erneute Würde nur gewinnen, indem man sie in die der Künstler („poètes“) gleichsam amplifizierend übersetzte. Solche Übersetzung vom Bürgerlichen ins Künstlerische erscheint hier als die Ultima ratio des Erzählers, der sein neuartiges Erzählprojekt mit verzweifelter Volte aus dem heroisch-komischen Genre befreien möchte, auf das er sich – den eigenen aristokratisierenden Neigungen und der literarischen Tradition gemäß – schon allzu bereitwillig eingelassen hatte. Wie vieles bei Balzac zerschlägt sie jeden Ansatz zu durchgebildeter erzählerischer Geschlossenheit und fördert jene Brüchigkeit der Perspektiven, welche neben der Brüchigkeit des Stils zugleich Stigma und Garantie des Balzacschen Realismus ausmacht.
Wenn man den charakteristischen Tendenzen ihrer Weltsicht folgt, lassen sich die Romanwerke der großen französischen Realisten wohl jeweils in einem prägnanten Sinn auf drei bestimmte Abschnitte im politisch-sozialen Fortschritt des 19. Jahrhunderts beziehen: die Restauration, die Juli-Monarchie und das Second Empire. An dieser Folge heben sie insbesondere die zunehmende Verfestigung der bürgerlichen Gesellschaft hervor. Solange das Bürgertum während der Restaurationszeit noch in überwiegender Opposition zur politischen Macht verharrte, konnte es bei Stendhal heroische Züge gewinnen. Während der Epoche Louis-Philippes eigneten sich die Schriften Balzacs im ökonomischen Wissen und Handeln den Grundwert bourgeoiser Existenz an und erschlossen – wenngleich mit äußerster Anstrengung – die berufsbürgerliche Normalität als neuartiges Romansujet. Gegenüber solchen Interessen, welche den einstmals dritten Stand zunächst heroisierten und dann in seinem Alltag entdeckten, erscheint Flaubert aufs prononcierteste als der Romancier des Zweiten Kaiserreiches, d. h. einer Phase, in der sich die Normen der berufsbürgerlich arbeitsteiligen Gesellschaft endgültig durchgesetzt haben. Etabliert, sind sie nicht mehr zu entdecken und zu erschließen, sondern werden als drückende Last erfahren, deren Totalitätsanspruch keinerlei Diskussion oder distanziert-spöttisches Räsonnieren duldet. Statt einer besonderen Realität, in die der Leser eingeführt würde, bilden sie bei Flaubert ein geschlossenes System, das den Leser alternativenlos umgibt; nicht mehr eine Sphäre eigentümlichen Lebens, sondern eine insgeheim zwanghafte Ordnung, die wirkt, als müsse in ihr jegliches Leben erstarren.
Am stärksten vermittelt diesen Eindruck vielleicht Madame Bovary,der Roman mit dem bezeichnenden Untertitel Mœurs de Province und nicht zufällig Flauberts eklatantester Skandalerfolg. Er ist nicht eigentlich, wie es Jean Rousset nach einer berühmten Flaubertschen Formel sah, ein „Buch über Nichts“ [42] , wohl aber ein Buch über die Vernichtung, und zwar in doppeltem Sinn. Einmal kann es mit Benjamin F. Bart heißen: „Madame Bovary is a tale of destruction“, wenn gedacht wird an Emmas und Charles „Zerstörung durch Yonville“. [43] Zum anderen vernichtet die Erzählung in ihrer Protagonistin auch etwas Allgemeineres, nämlich die Erwartung von Liebe und Abenteuer, wie sie vor allem die vorbürgerliche Literaturtradition in Europa genährt hatte. Derart betrachtet, stellt sich Madame Bovary gewissermaßen als der Don Quijote des 19. Jahrhunderts dar, und mit Recht hat Harry Levin das entsprechende Kapitel in The Gates of Horn „The Female Quixote“ überschrieben. [44] In der Tat sind die beiden Romane verwandt: nicht allein durch den abstrakten Kontrast von literarischem Traum und prosaischer Wirklichkeit, sondern ebenfalls durch den Umstand, daß sie in den Illusionen ihrer Protagonisten jeweils die Auffassungen, Ideen und Bedürfnisse der nach ihrem Wahrnehmungsstand zerfallenen, historisch abgelaufenen Gesellschaftsformationen falsifizieren. Negierte Cervantes das ritterliche Abenteuer der Feudalgesellschaft, so tilgt Flaubert das Liebesabenteuer des Ancien Régime und seiner Hofgesellschaft, deren scheinhafte Kontinuität in mannigfachen Fiktionen der bürgerlichen Epoche ebenso tröstlich wie täuschend fortdauerte.
Verglichen mit dem Don Quijote,dem sie ideologisch und formal nahekommt, offenbart die Madame Bovary indessen auch, was an ihr der älteren Erzählung gegenüber unvergleichbar bleibt. Das Unvergleichbare besteht – wie eine Synopse der Romanschlüsse zeigt – im Verzicht auf irgendeinen Ansatz zur Versöhnung. Während Don Quijote am Ende von seinem Wahn abläßt und eine zweite, tiefere Identität als Alonso Quijano el Bueno findet, stirbt Emma Bovary, geschüttelt von einem „rire atroce, frénétique, désespéré“, in heilloser Verzweiflung (vgl. S. 332f.). [45] Dabei macht uns Don Quijotes glückliches Sterben bewußt, daß die neue Zeit bei Cervantes schließlich auch im Bewußtsein des Protagonisten Recht behält. Er ist zeitweilig durch die Romane der alten Zeit fehlgeleitet worden; doch erkennt er noch vor dem Tode seinen Irrtum und bekennt sich geläutert zur Wahrheit und Wirklichkeit der Gegenwart. Anders bei Flaubert, der aus der Falsifikation des Alten keineswegs die Affirmation des Neuen erwachsen läßt: Indem die Bovarys untergehen, neigt sich der Triumph in schneidender Dissonanz den Homais zu [46] , welche die neue Zeit zwar in der Praxis erfolgreich repräsentieren, sie aber moralisch-ästhetisch dergestalt entwerten, daß zum Schluß das falsifizierende Prinzip mit einer Wendung, die aller avantgardistischen Literatur vorausgeht, radikal degradiert noch hinter das Falzifizierte zurückfällt.
4.1. Um die vielfältig irritierende Wirkung des Romans, der solcherart jede Andeutung von Ausgleich und Trost meidet, genauer zu begründen, setzt die folgende Interpretation an bei der scheinbaren Nebenfigur, deren falsche Apotheose in der Erzählung das letzte Wort hat (S. 356):
Depuis la mort de Bovary, trais médecins se sont succédé à Yonville sans pouvoir y réussir, tant M. Homais les atout de suite battus en brèche. Il fait une dientèle d’enfer; l’autorité le ménage et l’opinion publique le pratège. Il vient de recevoir la craix d’honneur.
Offenkundig bleibt hier nach der Bovaryschen Katastrophe (Emmas Selbstmord, Charles Tod, Berthes Proletarisierung) eine Gestalt zurück, welche Gegenwart und Zukunft beherrscht. Darauf weist schon der jähe Tempuswechsel vor dem letzten Abschnitt hin, von dem Berthes Arbeit in der „filature de coton“ ebenso betroffen wird wie Homais’ Auszeichnung. Beides erscheint durch das nachdrücklich hervorgehobene Präsens kontrapunktisch aufeinander bezogen: während die eine ihre Arbeitskraft zu Markte tragen muß, wird der andere gefördert von Kundschaft, Presse und Regierung und verwandelt sich in den Favoriten, ja das Symbol der „öffentlichen Meinung“.
Wer aber ist nun dieser Homais, der – die „opinion publique“ personifizierend mit der neuen Zeit über die Bovarys triumphiert und ihren Verfall zu seinem Aufstieg nutzt? Was das Charakterliche angeht, hat die Kritik an dem Triumphator des Romans im allgemeinen kein gutes Haar gelassen. Für sie bildet der Apotheker von Yonville zumeist die Karikatur des lächerlichen, dumm-bornierten und teilweise bösartigen Spießbürgers. [47] Damit hat sie auch – wenigstens partiell – kaum Unrecht; denn in der Tat verwendet der Erzähler beträchtliche Mühe, um die Gestalt, die er äußerlich mit Erfolgen überhäuft, im eigentlichen Wesen ridikül, ja widerwärtig zu zeichnen. Zu diesem Zweck wird eine ganze Reihe konnotativer Mittel eingesetzt, welche dem Leser keinen anderen als einen depretiativen Blick auf Homais erlauben. So erhält der Apotheker nirgendwo das Privileg von Introspektivanalysen, wie sie Emma Bovary ja reichlich zuteil werden [48] , und er bleibt für den Leser deshalb völlig opak, eine objektiv distanziert vorgeführte Figur, die keinerlei spontane Anteilnahme identifikatorischer Phantasie erweckt. Außerdem kompromittieren Homais die Rollen, zu denen er von der Personenkonstellation und der Handlung des Romans verpflichtet wird: die Kopplung an den tatsächlich dumpf beschränkten Pfarrer Bournisien sowie unverkennbare Stilisierungen nach dem Muster der traditionellen Satirentypen des „importun“ und des „pédant“. Nach dem einen Muster hindert er beispielsweise durch unablässiges Schwadronieren Léon daran, rechtzeitig zum Rendezvous mit Emma zu gelangen (vgl. S. 285ff.), und überhaupt zeitigt seine Beflissenheit – wie Claude Digeon bemerkt hat – meistens üble Folgen: „Avec son àpropos coutumier, M. Homais saura conseiller l’opération du pied-bot à Charles, le théâtre à Emma et lui signaler où se trouve l’arsenic; il se rend indispensable“. [49] Erst recht entfaltet der Apotheker nach dem anderen Muster eine alles überflutende Geschwätzigkeit, die imponierend seine fachwissenschaftliche Kompetenz unter Beweis stellen soll, wenn etwa chemisch-kulinarische Ratschläge betreffs „la manipulation des ragoûts et l’hygiène des assaisonnements“ vonnöten sind: „il parlait arome, osmazôme, suc et gélatine d’une façon à éblouir“. (S. 100)
Gleichwohl erweist sich Homais als eine ernstzunehmende und im Grunde durchaus respektable Gestalt, sobald man einmal provisorisch versucht, der Macht von Flauberts Konnotationen zu entgehen und gegen die geheimen Beeinflussungen des Erzählers festzustellen, was eigentlich über Homais’ „life and opinions“ strikt denotiert wird. Dabei ergibt sich, daß dem Erzähler hier ein“ Tour de Force“ gelungen ist, wie ihn zuvor keine andere Dichtung in satirischer Absicht jemals erreicht hat. Es handelt sich um die Schaffung einer Figur, deren Profil zwar einerseits abstoßend lächerlich wirkt, in diese Lächerlichkeit aber andererseits alles hineinzieht, was die Epoche für wert und teuer hält. Sie verfremdet ins Widerwärtige nicht einen Komplex, der schon von vornherein als abwegig gelten kann, sondern ein Ensemble weithin hochgeachteter positiver Normen. Das heißt: in Homais, dem Herrn über Gegenwart und Zukunft, wird zum grotesken Spießbürger umgewertet, wer der Sache nach noch selbstverständlich beansprucht, den Part des tatkräftig fortschrittlichen Modellbürgers zu spielen. [50]
Ein solcher Modellbürger ist der Apotheker nämlich, wenn man allein die Summe der auf ihn bezogenen Denotate in Betracht zieht. Sie weisen ihn zuvörderst aus als einen aufgeklärt liberalen Anhänger von Wissenschaft und Fortschritt, der gegen den unaufgeklärten, engstirnig am Alten hängenden Pfarrer Bournisien entschieden die neue Zeit vertritt. So rät er der Wirtin des Goldenen Löwen zum Kauf eines modernen Billardtisches nach seiner Hauptmaxime „Il faut marcher avec son siècle“ (S. 76), einem Leitsatz, der in den Entwürfen noch durch die Wendung „Suivre le progrès!“ (N. V.,S. 244) [51] verstärkt wurde. Für die Bereitschaft, Wissenschaft und Fortschritt nicht nur mit beifälligen Worten, sondern auch erzieherischen Taten zu unterstützen, sprechen der Kampf gegen den Alkoholismus und zugunsten der Entwicklung des Bauernstandes („mille reformes sont indispensables, accomplissonsles“, S. 158), die Verteidigung von Literatur und Theater, sofern sie der Didaxis dienen und daher eine gesellschaftliche Relevanz besitzen (S. 223f.), schließlich selbst die Sorge um eine Heilung des Blinden. Diesem ernsthaften Engagement für permanente Erziehung und Besserung widerspricht auch kaum die unerbittliche Verfolgung, die Homais gegen den Blinden anzettelt, nachdem seine Heilungsbemühungen gescheitert sind. Gewiß spielt bei ihr die egoistische Angst vor dem Verlust des ärztlichen Renommees und folglich des beruflichen Status eine bedeutende Rolle; doch geht es zugleich um etwas Allgemeineres, nämlich das Skandalon des nicht zu Erziehenden und nicht zu Bessernden, das für den Aufklärungsoptimisten, der sich als „libre-échangiste, Saint-Simonien, phalanstérien“ dem „problème social“ und der „moralisation des classes pauvres“ widmet (N. V.,S. 636), die Negation allen Sinns darstellt und daher unbedingt vernichtet werden muß.
4.2. Immerhin ist zu Homais’ pädagogischen Bestrebungen anzumerken, daß sie im Grunde keineswegs spießig oder dogmatisch geartet sind. So wird eine gewisse Toleranz ja z. B. durch die Namensgebung der Kinder manifestiert, unter denen trotz des antiklerikalen Engagements – neben Napoleon, Franklin und Irma, die Ruhm, Freiheit und „vielleicht eine Konzession an die Romantik“ ausdrücken, auch Athalie erscheint: als „hommage au plus immortel chef-d’œuvre de la scène française“. Natürlich ist hier Ironie, besonders in dem absurden Superlativ „au plus immortel chef-d’œuvre“, unverkennbar; doch zeugt die Sache an sich zweifellos von der geistigen Liberalität des Apothekers;
car ses convictions philosophiques n’empêchaient pas ses admirations artistiques, le penseur chez lui n’étouffait point l’homme sensible; il savait établir des différences, faire la part de l’imagination et celle du fanatisme. De cette tragédie, par exemple, il blâmait les idées, mais il admirait le style; il maudissait la conception, mais il applaudissait a tous les détails, et s’exaspérait contre les personnages, en s’enthousiasmant de leurs discours. (S. 92)
Was will man mehr, zumal wenn zu solch liberalem Geist noch ein vorbildlich nüchterner Verstand tritt, der die neuen Ideale von Wissenschaft und Fortschritt beständig auf die Realität bezieht und in Lebenspraxis überführt? Wie schon Albert Thibaudet vermerkt hat, besitzt der Apotheker, „homo faber“ par excellence, eine „qualité exceptionnelle et admirable: le sens pratique“. [52] Dieser Sinn fürs Praktische äußert sich allenthalben, bei der Hygiene von Ernährung und Kindererziehung, bei der Publikation eines Memorandums zur Cidre-Produktion, bei mannigfachen Plädoyers für eine Förderung der Industrie und nicht zuletzt – man erinnere sich an den Schluß von Voltaires Candide – beim Anbau des eigenen Gartens. Über ihn liest man in den Entwürfen: „Homais avait un fort beau jardin fruitier et méprisait les fleuristes“ (N. V.,S. 255), oder:
Dans ce jardin de l’apothicaire [...] rien ne poussait qui ne fût utile pour la pharmacie. [...] La bourrache, le houblon, la guimauve et l’angélique […] s’étalaient dans les plates-bandes et envahissaient un peu les carrés de légumes, la partie potagére et domestique, comme dans l’âme du pharmacien les idées scientifiques trop à l’étroit débordaient d’elles-mêmes sur les choses du ménage et y restaient enlacés. (N. V.,S. 308)
Signifikant erscheint hier vor allem der nachdrückliche Hinweis auf die Verbindung von Haus und – wissenschaftlich fundiertem – Beruf. Diese Verbindung bezeichnet eine historisch bestimmte Lebensform, die durch Homais idealtypisch vertreten wird. Trotz der Homo-Anspielung seines Namens ist er eben nicht der Mensch schlechthin, sondern – sehr viel spezieller – der Berufsbürger, wobei es seinen tieferen Sinn hat, daß die Vorstellung „M. Homais“ von Anfang an untrennbar mit der Vorstellung „le pharmacien“ oder „l’apothicaire“ verknüpft bleibt. Bedeutsam wirkt vor allem die erste Präsentation: „Mais ce qui attire le plus les yeux, c’est, en face de l’auberge du Lion d’or,la pharmacie de M. Homais!“ (S. 74). Zunächst wird die Apotheke gezeigt und erst im darauf folgenden Satz als Schattenriß der Apotheker, bevor nach näherer Betrachtung einer mit Reklameschriften überzogenen Hausfassade die Blicke der Leser auf das Zentrum des Ladenschilds gelenkt werden: „Et l’enseigne, qui tient toute la largeur de la boutique, porte en lettres d’or: Homais, pharmacien“. (S.74)
Dies „Homais, pharmacien“ergibt gewissermaßen die Grundformel der Gestalt. In ihr sind die lächerlichen Aspekte enthalten, welche den Apotheker mittels der „déformation professionnelle“ seiner fachmännischen, terminologiedurchsetzten Redeweise offenkundig zum Pedanten degradieren, andererseits aber auch die ernsten gesellschaftlichen Normen, die er exemplarisch verwirklicht, um sie dadurch auf einer höheren Ebene – schmerzlich zu kompromittieren. Unter ihnen werden mit besonderer Insistenz zwei Zentralwerte hervorgehoben, denen die Lebensform des Berufsbürgers ihre wesentliche Prägung verdankt: das Prinzip der Ökonomie und das der Familie.
Ökonomie prägt Homais sowohl im schlichten Sinn von Sparsamkeit als auch im Sinn eines umfassenderen, alle Gesellschaftsbereiche regulierenden Axioms. Hinweise auf die Sparsamkeit des Apothekers finden sich allerorten, obwohl gegenüber den Brouillons in der Endfassung noch viel gestrichen wurde, um ihm nicht allzusehr das Gehabe einer Vaudeville-Figur zu verpassen (die ersten großen Vaudevilles von Labiche, Un chapeau de paille d’Italie oder La chasse aux corbeaux,hatten um diese Zeit ja bereits Popularität gewonnen). Als Berthes Patenonkel überreicht er Geschenke, die ausnahmslos dem eigenen Unternehmen entstammen (vgl. S. 92), bei einem Almosen an den blinden Bettler läßt er sich auf einen Sou zwei Liards herausgeben (vgl. S. 306), und natürlich äußert er gegen das aufwendige Begräbnis, das Charles in der Naivität seiner Liebe für Emma verlangt, Bedenken finanzieller Art: „Ce velours me paraït une superfétation. La dépense, d’ailleurs [...]“. (S. 335)
Durch sein Wachen über Ausgaben und Einnahmen wird Homais sozusagen zum buchhalterischen Gewissen des Romans, vor dem etwa die „im Golde watenden“ Opernsänger nicht bestehen können (vgl. S. 225). Dabei ist bemerkenswert, daß er das ökonomische Ideal seiner Lebenspraxis keineswegs mehr als Pudendum auffaßt und nie zu verbergen sucht; vielmehr gilt ihm der Begriff Ökonomie als gleichsam magische Formel, die weit über den pekuniären Bereich hinaus Anwendung findet, zum Beispiel auch auf die geheiligte Sphäre der Hygiene übertragen werden kann. Wenn Studenten aus der Provinz im Quartier Latin gefährlichen Krankheiten zum Opfer fallen, geschieht das laut Homais „à cause du changement de régime [...] et de la perturbation qui en résulte dans l’économie générale“ (Förderlich wäre dagegen die „cuisine bourgeoise: c’est plus sain!“, S. 125). An einer anderen Stelle tritt der Apotheker als Spezialist für technologische Neuerungen auf den Plan: „il connaissait [...] toutes les inventions nouvelles de caléfacteurs économiques“ (S. 100). Klingt das im Text verhältnismäßig beiläufig, so sind die Entwürfe durch eine dreifache Wiederholung wiederum schärfer akzentuiert: „il connaissait toutes les inventions nouvelles de caléfacteurs économiques, fourneaux économiques, bûches économiques“ (N. V., S. 277). Ökonomie muß also in der Technik wie in der Medizin wirken; doch am bedeutendsten ist sie wohl als politisches Prinzip, das zu einer universellen Verteilung der Arbeit führt und alles ausschaltet, was an der dadurch garantierten Produktivität keinen Anteil hat. Deshalb zeigt sich Homais skandalisiert von der Bettelei des Blinden:
Je ne comprends pas que l’autorité tolère encore de si coupables industries! On devrait enfermer ces malheureux que l’on forcerait à quelque travail! (S. 305)
Und die Nouvelle Version fährt fort:
Et d’ailleurs l’argent ne manque pas, on en gaspille assez! N’en prodigue-t-on point tous les jours à un clergé fainéant pour fanatiser nos campagnes, et à des brillants états-majors pour parader sur nos places publiques! Mais que voulez-vous, continua-t-il en se tournant vers M. Bizet, de Quincampoix, nous avons encore tant de réformes à obtenir! (N. V.,S. 579f.)
Ergänzt wird der Normenkomplex der Ökonomie durch den der Familie. Interessanterweise ist das von der Kritik selten notiert worden; offenbar galt es als selbstverständlich und rechtfertigte daher keine weitere Hervorhebung. Indessen hat Flaubert alles daran gesetzt, dem Apotheker eben als Familienvater eine symbolische Repräsentanz zu verleihen und die Familie Homais als Familie an sich erscheinen zu lassen: ein Bemühen, das sich nicht zuletzt dadurch offenbart, daß von den diesbezüglichen Hinweisen der Brouillons im vollendeten Roman nur wenig fallengelassen wurde. Großes Gewicht kommt vor allem den Akzentuierungen bei Homais’ ersten und letzten Auftritten zu. Als er in den Roman eingeführt wird, unterstreicht er in einer Art antiklerikalem Glaubensbekenntnis „nos devoirs de citoyen et de père de famille“ (S. 79). Zum Schluß ist er „le plus heureux des pères, le plus fortuné des hommes“, was für den unglücklichen Charles Bovary wie folgt aussieht:
En face de lui s’étalait, florissante et hilare, la familie du pharmacien, que tout au monde contribuait à satisfaire. Napoléon l’aidait au laboratoire, Athalie lui brodait un bonnet grec, Irma découpait des rondelles de papier pour couvrir les confitures, et Franklin récitait tout d’une haleine la table de Pythagore. (S. 353)
Dabei entsteht das Glück des Familienvaters gewiß nicht zufällig, sondern als Folge einer Aufmerksamkeit, die konstant den Kindern zugewandt ist. Beim Besuch des Doktor Larivière führt er sie allesamt zur Untersuchung vor (vgl. S. 329), worauf ihm in den Entwürfen halb ironische Anerkennung zuteil wird: „M. Larivière félicita le pharmacien d’une aussi belle famille“ (N. V.,S. 609). Häufig werden Beispiele väterlicher Fürsorge erwähnt, welche überwacht, daß „die Messer nicht geschärft und die Fußböden nicht gewachst“ sind (vgl. S. 119). Besondere Sorge gilt der erotischen Unversehrtheit des Nachwuchses. So fürchtet Homais in den Klerikern unter anderem auch eine Gefahr für die Töchter (vgl. S. 79), und ein Zornesausbruch erfolgt, als dem Gehilfen Justin einmal ein Buch, betitelt L’amour conjugal,aus der Tasche fällt: „Tu n’as donc pas réfléchi qu’il pouvait, ce livre infâme, tomber entre les mains de mes enfants, mettre l’étincelle dans leur cerveau, ternir la pureté d’Athalie, corrompre Napoléon!“ (S. 255)
Trotz aller Sorgfalt hat Homais’ Erziehungsstil aber kaum sonderlich autoritäre Züge. Zwar kommt es bei einer Gelegenheit, als die Kinder den Bildteil des Buches L’amour conjugal studieren wollen, zu einem Musterfall von Befehl und gehorsamer Befolgung (S. 255):
– Sortez! fit-il impérieusement.
Et ils sortirent.
Den Entwürfen ist jedoch zu entnehmen, daß solcher Kommandoton die Ausnahme, nicht die Regel darstellt; denn wir lesen dort in Übereinstimmung mit vielen anderen Indizien (N. .,S. 505):
– Sortez! fit-il impérieusement. Sortez donc!
Et effrayés pour la première fois de leur vie, par cette colère, inusitée, ils décampèrent.
Die Kinder werden offenbar nicht gegängelt, sondern bewegen sich zugleich unabhängig und behütet im Zentrum einer Familienidylle, die allein schon durch die wiederholte Nennung des Kollektivs „les petits Homais“ (S. 88 u. 221) oder „tous les Homais, grands et petits“ (S. 252) als geschlossene Einheit gezeigt wird. Dem widerspricht auch nicht der kurzfristige Ausbruch des Apothekers nach Rouen, in dessen Verlauf er tafelt wie Arons „Mangeur du XIX siècle“, „unmoralische Theorien über die Frauen“ äußert und eine flüchtige Bohème-Attitüde annimmt (vgl. S. 285f.). Gleich einem Karneval dient diese Evasion nur der Ordnung und stärkt Homais für den alsbald wieder aufgenommenen Ernst des vorbildlichen berufsbürgerlichen Lebens.
4.3. Welche Funktion besitzt nun der fortschrittliche Berufsbürger, der solcherart –zugleich affirmierend und ridikülisierend – für lebenspraktische Reformen sowie für die Prinzipien von Ökonomie und Familie einsteht, im Ganzen des Romans und seiner Figurenkonstellation? Wie mir scheint, ist sie meist allzu einseitig interpretiert worden, indem man Homais ausschließlich in eine – sicher evidente – oppositionelle Beziehung zu seinem ideologischen Gegenspieler Bournisien versetzte. In dieser Opposition zum Pfarrer verficht der Apotheker bekanntlich in erster Linie Wissenschaft und Fortschritt, um damit die Religion und andere Überreste des Ancien Régime zu untergraben. Trägt das einerseits angesichts der argumentativen Schwäche seines Gegners zu einer gewissen positiven Profilierung bei, zieht es Homais andererseits aber auch herab; denn es kann ja kein Zweifel bestehen, daß der Erzähler die Opposition letztlich in eine Äquivalenz verwandelt und die Kontrahenten dadurch gleichermaßen von sich wegstößt. Diese Distanzierung geschieht explizit in der berühmten Szene der Totenwache, welche die beiden (dank eines der schönsten Flaubert-Sätze) aus dem Gegeneinander in ein ebenso tröstliches wie blamables Nebeneinander bringt: „Alors M. Bournisien aspergeait la chambre d’eau bénite et Homais jetait un peu de chlore par terre“ (S. 340). Beide schlafen ein, und nach gemeinsamem Essen und Trinken verkündet der Priester: „Nous finirons par nous entendre!“ (S. 341)
So sind Homais und Bournisien für die Kritik am Ende ein unzertrennliches Paar, das unter die gleiche karikatural-satirische Perspektive gehalten wird. Nach René Girard zerstört Flaubert in ihm die „essence même de l’idéologie bourgeoise“, nämlich Religion und Wissenschaft (wobei zu fragen wäre, was an Religion speziell bürgerlich sein soll) [53] , und Mario Vargas Llosa spricht von einem „tandem Homais-Bournisien“, „expresiones simetricas y equivalentes del sectarismo ideologico y del conformismo espiritual. [54] Allerdings kann kaum übersehen werden, daß diese Symmetrie oder Identität nicht vollkommen ist. In der Quantität ihrer Romananteile sind Homais und Bournisien jedenfalls weit weniger ebenmäßig bedacht worden als etwa ihr italienisches Brüderpaar Don Franco und Don Giammaria in Vergas I Malavoglia. Während Homais im Roman einen großen und sozusagen eigenen Raum einnimmt, bleiben Bournisien nur wenige und überdies zumeist unselbständige, Homais komplettierende Auftritte vorbehalten. Als Motiv solcher Asymmetrie vermutet Claude Digeon ein unterschiedlich intensives Interesse des Autors an seinem „Tandem“, von dem allein Homais partielle Gemeinsamkeiten mit Flaubertschen Überzeugungen aufweisen soll:
On ne doit pas s’étonner que Flaubert traite inégalement le euré et le pharmacien. Son mépris de Bournisien l’inspire peu, et mal, parce que le personnage lui demeure étranger. Tout au contraire il partage certaines des convictions qu’il prête à Homais et du coup cette création parodique excite sa verve. [55]
Diese Erklärung ist sicher nicht ganz unrichtig, doch läßt sie das entscheidende Moment in Homais’ Doppelfunktion unerwähnt. Der Apotheker befindet sich nämlich nicht bloß in Opposition zu Bournisien, sondern auch – was insgesamt viel wichtiger ist – zu Emma Bovary. Diese zweite, von der Flaubert-Kritik selten ausreichend beachtete Opposition gelangt nicht zu einer schließlichen Äquivalenz [56] , sondern bleibt unversöhnt und erfaßt über das Ideologische hinaus mit scharfem Kontrast Art und Glück des Lebens selbst. In ihr tritt Erfolg gegen Mißerfolg, Gelingen gegen Verfehlen, Normerfüllung gegen Normverletzung. Beides aber, Erfüllung wie Verletzung, wird durch die Antithese auf das gleiche Kriterium der bürgerlichen Grundwerte Ökonomie und Familie bezogen. Das heißt: während Homais diesen Normen optimal genügt, werden sie von Emma Bovary durch Verschwendung nicht weniger als durch Ehebruch skandalös mißachtet, und aus solcher Mißachtung erwächst die Kette jener „fatalité“, welche im Gegensatz zum Gedeihen der Homais den Untergang der Bovarys herbeiführt. Dabei ist häufig einleuchtend nachgezeichnet worden, wie sich Emmas (und auch Charles’) Verhängnis in einer zweifachen Verstrickung von Liebe und Finanzen vollzieht. [57] Indessen läßt sich am symbolisch signifikanten Detail noch näher belegen, auf welch enge Weise die Transgressionen der Romanheldin antithetisch mit der Musterhaftigkeit und Prosperität des Apothekers verknüpft sind.
Was den Komplex Ökonomie betrifft, kann zum Beispiel kein Zufall sein, daß Homais in eben dem Kapitel von den „großen Künstlern“, die sich durch eine „existence dévergondée“ finanziell ruinieren, redet, in dem die Geldsorgen der Bovarys manifest werden und Lheureux’ Nachstellungen einsetzen (S. 225 und 216f. [Kap. II 14]). Zur direkten Gegenüberstellung kommt es dann im dritten Teil des Romans, als der Apotheker dem blinden Bettler nach vielen Umständen einen Sou überläßt und darauf zwei Liards zurückverlangt. Bei dieser Szene heben sich sowohl seine Sparsamkeit als auch sein pädagogisch-medizinischer Reformeifer von Emmas bedenkenloser, Eleganz prätendierender „prodigalité“ ab:
Emma, prise de dégoût, lui [à l’aveugle, U. S.-B.] envoya, par-dessus l’épaule, une pièce de cinq francs. C’était toute sa fortune. Il lui semblait beau de la jeter ainsi. (S. 306)
Solche unmittelbaren Kontrastierungen werden im Bereich Familie vervielfältigt. Die Einheit der Gruppe „Tous les Homais, grands et petits“ wirkt auf Emma wie ein beständiger Vorwurf, der an eigene Versäumnisse erinnert. Dafür seien nur zwei Beispiele angegeben. Als Emma durch ein Zusammentreffen mit Monsieur Binet, dem Percepteur, in größte Verlegenheit gerät und eine jähe Enthüllung ihrer Liaison zu Rodolphe befürchten muß, erscheint Mme Homais, um angesichts von Emmas schuldbewußtem Schrecken Sicherheit und Ordnung ihrer Familienidylle auszubreiten (S. 172):
L’apothicaire commençait à tailler de la cire, quand Mme Homais parut avec Irma dans ses bras, Napoléon à ses cotes et Athalie qui la suivait. Elle alla s’asseoir sur le banc de velours contre la fenêtre, et le gamin s’accroupit sur un tabouret, tandis que sa sœur aînée rôdait autour de la boîte à jujube, près de son petit papa.
Eine ähnliche Funktion hat die Erwähnung der Vorsichtsmaßnahmen, mit denen das Ehepaar Homais, „ces bons parents“, seine Kinder vor Unfällen bewahrt. Sie erfolgt im Anschluß an die Szene, in der Emma, gequält von der Liebe zu Léon und der vergeblichen Konsultation des Priesters, ihre Tochter zurückstößt und damit bewirkt, daß sich das Kind beim Fall die Wange verletzt (vgl. S. 118f.). In diesem Zusammenhang ist auch wichtig zu vermerken, daß Emma nicht so sehr von Homais allein irritiert wird, sondern – wie eine Ergänzung im Entwurf klarmacht – eben von der Familie Homais: „Puis elle se dégagea de la famille Homais qui l’accablait“ (N. V.,S. 462), die ihr also „auf die Nerven geht“, gleich der eigenen „médiocrité domestique“ oder der „Häßlichkeit“ von Tochter Berthe.
Durch die pointierte Konfrontation mit Homais beziehungsweise den von ihm repräsentierten Werten wird folglich unterstrichen, daß Emma die Norm der bürgerlichen Lebenspraxis überhaupt verfehlt. Statt sich deren Erfordernissen erfolgreich anzupassen, hängt sie – und das ist ihre ebenso nostalgische wie eventuell utopische Romantik – dem nach, was einmal die vorbürgerliche Norm aristokratischer Hofgesellschaft war. Eine hohe, abenteuerliche Liebe sucht sie, die „tendresse matrimoniale“ verschmähend, im Ehebruch (vgl. S. 111), und an der Stelle einer Haushaltsmoral, welche die Bilanz von Ausgaben und Einnahmen beachtet, folgt sie instinktiv dem „Statusverbrauchsethos des höfischen Adels“ [58] , das, wiewohl von den Verhältnissen längst überholt und daher nicht mehr praktikabel, immer noch ein ästhetisches Prestige behauptet. Als Emma dem blinden Bettler reichlich oder – genauer gesagt – ihr ganzes verbliebenes Vermögen spendet, tut sie das – weil „es ihr schön erschien“ – wegen der repräsentativen Eleganz der Geste.
Solche realitätsferne Neigung zu den Normen einer verflossenen Epoche, welche die Protagonistin und ihre Familie ins Unglück stürzt, wird erst durch den Kontrast zur realitäts- und gegenwartsgerechten Normalität des Apothekers ganz manifest. Angedeutet ist sie jedoch bereits früher beim Bericht über Emmas Lektüre-, Erziehungs- und erste Eheerfahrungen, zu einer Zeit, als Homais den Schauplatz der Erzählung noch nicht betreten hat. Dabei erschließen uns diese Hinweise nicht nur die sinnlich-phantastischen Träume des jungen Mädchens im allgemeinen, sondern sie geben ihnen auch einen besonderen sozialgeschichtlichen Inhalt, der die Welt des Ancien Régime und speziell des Hofes umfaßt. Diese Welt ist derart stilisiert, daß sie vor unseren Augen in erster Linie als eine Domäne romanesker Liebesabenteuer ersteht. So mag es seine Bedeutung haben, wenn die kleine Emma Paul et Virginie liest; nicht weniger wichtig ist indessen im nächsten Abschnitt die scheinbar marginale Mitteilung, daß sie als Dreizehnjährige auf dem bemalten Geschirr eines Wirtshauses die Geschichte von Mademoiselle de la Vallière, der Mätresse Ludwigs XIV., kennenlernt: „Les explications légendaires, coupées ça et là par l’égratignure des couteaux, glorifiaient toutes la religion, les délicatesses du cœur et les pompes de la Cour“ (S. 36). [59] In der Klosterschule findet bald darauf die Begegnung mit einer „vieille fille“ aus verarmtem Adel statt. Sie versteht, die Schülerinnen mit „galanten Liedern des vergangenen Jahrhunderts“ zu fesseln, und leiht Romane aus, denen es weder an Abenteuer noch an Liebe fehlt (S. 38):
Ce n’étaient qu’amours, amants, amantes, dames persécutées s’évanouissant dans des pavillons solitaires, postillons qu’on tue à tous les relais, chevaux qu’on crève à toutes les pages, forêts sombres, troubles du cœur, serments, sanglots, larmes et baisers, nacelles au clair de lune, rossignols dans les bosquets, messieurs braves comme des lions, doux comme des agneaux, vertueux comme on ne l’est pas, toujours bien mis, et qui pleurent comme des urnes.
Zu ihnen gesellen sich später die Werke Walter Scotts, aus denen Sehnsüchte nach einer Existenz „dans quelque vieux manoir“ erwachsen („comme ces châtelaines au long corsage, qui [...] passaient leurs jours, le coude sur la pierre et le menton dans la main, à regarder venir du fond de la campagne un cavalier à plume blanche qui galope sur un cheval noir“) oder auch „vénérations enthousiastes à l’endroit des femmes illustres ou infortunées“ (ebd.). Abgerundet wird das Bild eines romantisch perpetuierten Ancien Régime durch die Keepsakes, deren noble Autoren die Schülerinnen nächtens im Schlafraum faszinieren: „Maniant délicatement leurs belles reliures de satin, Emma fixait ses regards éblouis sur le nom des auteurs inconnus qui avaient signé, le plus souvent, comtes ou vicomtes, au bas de leurs pièces“. (S. 39)
Den „comtes ou vicomtes“, von denen Emma hier noch träumt, begegnet sie dann leibhaftig während der Ballepisode auf dem Schloß La Vaubyessard (I 8). Diese Episode stellt für die Romanheldin einen der großen Wendepunkte ihres Lebens dar; denn – wie am Ende des Kapitels ausdrücklich festgehalten wird – „son voyage à la Vaubyessard avait fait un trou dans sa vie, à la manière de ces grandes crevasses qu’un orage, en une seule nuit, creuse quelquefois dans les montagnes“ (S. 58). Ein vertiefter Riß durchzieht von nun an Emmas Verhältnis zu Charles, dem Arzt, den die direkte Konfrontation mit der mondänen Gesellschaft unwiederbringlich deklassiert. Das wird deutlich schon beim Eintritt ins Schloß, wenn das Ritual der Begrüßung –obgleich nur aufs allerdiskreteste – die Statusunterschiede offenbart: „Le Marquis s’avança, et, offrant son bras à la femme du médecin, l’introduisit dans le vestibule“ (S. 48). Wie sehr Emma selbst an der Deklassierung mitwirkt, zeigt die Umkleideszene vor dem Tanz (S. 51):
Le pantalon de Charles le serrait au ventre.
– Les sous-pieds vont me gêner pour danser, dit-il.
– Danser? reprit Emma.
– Oui!
– Mais tu as perdu la tête! on se moquerait de toi, reste à ta place. D’ailleurs, c’est plus
convenable pour un médecin, ajouta-t-elle.
Charles’ Antwort auf diese Zurechtweisung ist Schweigen („Charles se tut“), ein Schweigen übrigens, das dem mißachteten Landarzt gleich allen Schweigern (blamiert werden von Flaubert letztlich immer bloß die Redner) ein ergreifendes Pathos verleiht, welches zum Romanende hin beständig zunehmen wird. [60]
Noch tiefer geht der Riß für Emma freilich in einem anderen Sinn. Der Glanz von La Vaubyessard entfremdet ihr nicht nur den bescheidenen Ehemann, sondern überhaupt die Lebensform der berufsbürgerlichen Umgebung. Das heißt: einerseits lockt sie das bloße Prestige mondäner Gesellschaft, andererseits ist es aber auch der Inhalt einer wesentlich vergangenen Lebensform, der sie in seinem letzten Widerschein überwältigt. In diesem Abglanz nimmt Emma die Spuren höfischer Existenz wahr, für die Familie und Ökonomie peripher blieben angesichts des erotischen Abenteuers, das sich über die Beschränkungen der Bourgeoisie hinwegsetzte. Zu solchen Spuren werden ihr etwa der „porte-cigares“ des Vicomte, eine flüchtig erhaschte Szene, in der sich zwischen zwei Ballnachbarn mit Hilfe von Fächer und Hut eine amouröse Intrige anspinnt (vgl. S. 53f.), vor allem jedoch der alte Duc de Laverdière. Dessen Biographie scheint gleichsam ein Konzentrat all jener Züge zu präsentieren, die am Ancien Régime entschieden antibürgerlich waren:
C’était le beau-père du marquis, le vieux duc de Laverdière, l’ancien favori du comte d’Artois, dans le temps des parties de chasse au Vaudreuil, chez le marquis de Conflans, et qui avait été, disait-on, l’amant de la reine Marie-Antoinette entre MM. de Coigny et de Lauzun. Il avait mené une vie bruyante de débauches, pleine de duels, de paris, de femmes enlevées, avait dévoré sa fortune et effrayé toute sa famille. (S. 50)
Weil er „Frauen entführt, sein Vermögen durchgebracht und seine Familie terrorisiert hat“, kann sich Emma vom Anblick des Greises kaum losreißen, so ruiniert und hinfällig er auch aussehen mag:
sans cesse les yeux d’Emma revenaient d’eux-mêmes sur ce vieil homme à lèvres pendantes, comme sur quelque chose d’extraordinaire et d’auguste. Il avait vécu à la Cour et couché dans le lit des reines! (ebd.)
Demnach gerät Emma Bovary durch illusionäre Erfahrung und durch romaneske Lektüren nicht anders unter die Faszination der höfischen Existenz, wie einst Don Quijote dem Zauber der ritterlichen Existenz verfallen war. Die Analogie, die in den Entwürfen noch schärfer akzentuiert wird als im endgültigen Text, verstärkt sich mit dem Kapitel I 9, das auf die Ballepisode folgt. Nachdem die blendende Illusion aristokratischer Lebensweise vor der engen bürgerlichen Realität rasch wieder vergangen ist, muß Emma erneut Zuflucht beim Lesen suchen. [61] Dabei wird die ersehnte Region des Abenteuers von der zeitlichen Ferne des Ancien Régime auf die räumliche Ferne der Metropole übertragen. Aus der Lektüre von Modejournalen sowie vor allem von Romanen Sues und Balzacs entwickelt sich ein Traumbild der Pariser Gesellschaft, das – so die Entwürfe – „trois aspects“ bzw. „trois étages“ umfaßt (vgl. N. V.,S. 224f.). Zuoberst kommt die Welt der Hocharistokratie, „le monde des ambassadeurs et des diplomates“. Darunter steht „le monde des riches, celui des jolies femmes et des lions“, der immerhin auch noch als „aristocratie“ gilt und Beziehungen zum „monde chatoyant des gens de lettres et des actrices“ unterhält. Auf dieser Ebene liebt man es, sich zu duellieren, und macht – als Zeichen eines überlegenen Savoir-Vivre – mit Gleichmut Schulden: „les hommes, espèces de Jules César avant la dictature, faisaient des dettes“; sowie wenig später: „on y était prodigue, désintéressé, fantastique“. Ganz unten droht das Volk, wie es die Mystères de Paris darstellen:
le peuple déguenillé, hideux, qui couche sans chemise dans des paillasses, ramasse des ordures au coin des bornes, vend sa fille, tue sa femme, et n’a d’autre destination pittoresque que de figurer à la Cour d’ Assises et pour lequel on fait des quêtes.
Die entscheidende Deformation eines solchen Gesellschaftsbildes teilt der Autor im abschließenden Kommentar dann selber mit: „Pas question des bourgeois“; das heißt: für die aktuell bedeutsamste Klasse, das Berufsbürgertum, hat die Welt der Romane zwischen Aristokratie und Lumpenproletariat keinen Platz.
Wie im Don Quijote wird den Büchern, die Emma Bovary von der bürgerlichen Realität abhalten und ihren Wirklichkeitssinn verwirren, auch bei Flaubert eine Art Prozeß gemacht. „Donc, il fut résolu que I’on empêcherait Emma de lire des romans“, heißt es im 7. Kapitel des 2. Teils (S. 129). Was hier lakonisch als Beschluß von Schwiegermutter und Ehemann erscheint, erhält in der Nouvelle Version eine ausführliche Vorbereitung. Sie besteht in „de longues conférences au sujet d’Emma“, Konferenzen, die hinter verschlossenen Türen im Salon der Apotheke stattfinden und bezeichnenderweise in Homais ihren Hauptredner haben. Der Bezug zum 6. Kapitel des Don Quijote liegt auf der Hand, zumal die Mère Bovary und besonders der Apotheker auf das gleiche Ergebnis hinauswollen wie vormals Cura und Barbero. Nach Homais’ Plädoyer werden die „grands auteurs à la mode“ überführt, sowohl Physiologie wie Moral zu beschädigen; denn – so Charles’ Mutter – „ces livres [...] font voir l’existence en beau; puis quand on arrive à la réalité, on trouve du désenchantement“ (N. V.,S. 327). Verführt von literarischen Illusionen wird man zum Bel-Esprit und verlernt die spröden Tugenden des Bürgertums:
Pourtant il ne s’agit pas de faire sans cesse la mijaurée, le bel-esprit; [...] Il faut encore souffrir dans la vie; il faut accomplir ses devoirs! il faut gouverner sa maison. Il est plus facile de dépenser, je le sais! Mais c’est pitoyable, vraiment!
Deshalb ist es konsequent, wenn Homais und die alte Bovary gleichsam als Wächter über den Normen von Ökonomie und Familie die Romanliteratur verbannen und Emmas romantisch widerspenstiges Wesen zu korrigieren trachten. Gewiß hat die Ausschaltung der Romane – wie man bald bemerkt – ihre Schwierigkeiten,
mais la belle-mère s’en chargea et elle eut l’approbation de M. Homais, qui, bien que libéral, ne s’en déclarait pas moins pour l’ordre. Or il y avait dans les manières d’Emma, dans son langage, son regard, et jusque dans sa toilette même, quelque chose d’exceptionnel qui dérangeait leursidées. Ils y entrevoyaient vaguement un désordre supérieur, et le haïssant donc, ils le poursuivaient avec cet acharnement qui anime les gouvernements et les familles contre toute originalité. (N. V.,S. 327f.)
4.4. Nun bleibt zu fragen, welche Bedeutung die prononciert antithetische Gegenüberstellung von Emma und Homais, dem weiblichen Quijote und dem exemplarischen, doch zugleich unerbittlich ridikülisierten Berufsbürger, für den Sinn der Madame Bovary besitzt. Bekanntlich war sie ja nicht von Anfang an geplant. [62] In den ersten Szenarios spielt der Apotheker keine Rolle und wird lediglich en passant als Hauswirt Léons erwähnt (vgl. . V.,S. 4 und 9). Erst im Verlauf der Ausarbeitung gewinnt er an Statur, nimmt immer mehr Raum ein, von dem ihm in der Endfassung dann einige Partien wieder gestrichen werden, und zeigt sich zum Schluß als Triumphator über jene Welt, welche nach dem Untergang der Bovarys im Bewußtsein des Lesers zurückbleibt.
Dieses späte Wachstum der Figur, die Emma eher nachträglich entgegengesetzt worden ist, deutet an, daß ihr in der Gesamtkomposition des Romans gewissermaßen die Funktion einer Schutzmaßnahme zufällt. Um sie zu erkennen, müssen wir vor allem die negativen Konnotationen der Gestalt im Auge behalten: ihre Opakheit, die Stilisierung zum lästigen Pedanten, die Koppelung mit Bournisien. Durch diese negativen Konnotationen schrumpft der gleiche Homais, der triumphal die Normen des fortschrittlichen Bürgers denotiert, zum ebenso lächerlichen wie abstoßenden Anti-Helden zusammen und zieht so auch die Werte, die ihm eigentlich zur Illustration aufgegeben sind, in die kompromittierende Nichtigkeit seines Wesens hinein. Indem aber eben die Werte, welche die Romanheldin selbstzerstörerisch verletzt, in der Gestalt des Apothekers ins Groteske verfremdet erscheinen, wird dem Leser die Möglichkeit eingeschränkt, Emma Bovary vom sicheren Standpunkt dieser Normen aus zu beurteilen und zu richten. Das heißt: erst mit der Einführung des widerwärtig komischen Modellbürgers kann Flaubert eine bürgerlich-konformistische Lektüre seines Romans verhindern.
Daß er sie solcherart verhindern kann, will freilich nicht besagen, daß er sie auch verhindert hat. Gerade die Rezeption der Madame Bovary belegt in frappanter Weise, wie wenig die normenzersetzende Intention eines Autors beim Leserpublikum vermag, solange die attackierten oder zumindest angezweifelten Normen zur unentbehrlichen ideologischen Grundlage einer insgesamt zufriedenstellend funktionierenden Gesellschaftsformation gehören. So mußte bereits Flaubert selber die Hilfe der äußerst konformistischen Lektüre des Verteidigers Sénard in Anspruch nehmen, um den Roman überhaupt an die Öffentlichkeit zu bringen. Sénards Rede ist gleichsam der Archetyp einer Interpretation, die man mit Hippolyte Taine „Madame Bovary ou les suites de l’inconduite“ nennen könnte. [63] Nach ihr wäre das wesentliche Ziel des Autors „de mettre en garde les jeunes femmes contre l’oisiveté, la vaine curiosité, le danger des mauvaises lectures“. In diesem Sinn wird der Roman für Sénard zu einem „livre [...] éminemment moral et utile“, insofern als er gewissermaßen in den Dienst der Familien tritt, um sie vor den Konsequenzen einer falschen, weil „unökonomischen“ Erziehung zu warnen. Angeprangert würde kraft des abschreckenden Bovaryschen Exempels „une éducation donnée à une femme audessus de la condition dans laquelle elle est née, comme il arrive [...] trop souvent chez nous“ [64] :
M. Flaubert a voulu peindre la femme qui, au lieu de chercher à s’arranger dans la condition qui lui est donnée, avec sa situation, avec sa naissance; au lieu de chercher à se faire à la vie qui lui appartient, reste préoccupée de mille aspirations étrangères puisées dans une éducation trop élevée pour elle; qui, au lieu de s’accommoder des devoirs de sa position, d’être la femme tranquille du médecin de campagne avec lequel elle passe ses jours, au lieu de chercher le bonheur dans sa maison, dans son union, le cherche dans d’interminables rêvasseries [...].
Ergänzende Warnungen betreffen laut Sénard die Poesie sowie eine gewisse Sentimentalisierung und Verinnerlichung der Religion [65] :
Oui, il [Flaubert, U. S.-B.] a bien fait d’avertir, ainsi, les familles des dangers de l’exaltation chez les jeunes personnes qui s’en prennent aux petites pratiques, au lieu de s’atracher à une religion forte et sévère qui les soutiendrait au jour de la faiblesse.
Damit erhält der Roman als Aufklärungs- und Propagandaschrift für bescheidene, standesbewußte Erziehung eine bürgerlich lebenspraktische Bedeutung, der gerade Flauberts Apotheker sicher am heftigsten applaudiert hätte.
Fortgesetzt wird diese Linie akkommodierender Interpretation von Emile Zola, der bezeichnenderweise auch die „superbe plaidoirie de M. Sénard“ zu rühmen weiß. Wie Sénard sieht Zola Emma Bovary in erster Linie als Beispielsfigur eklatanten Versagens, da es ihr mangels adäquater Unterstützung nicht gelingt, die vorgeschriebene soziale Rolle zu erfüllen: „Elle est la femme déclassée, mécontente de son sort, gâtée par une sentimentalité vague, sortie de son rôle de mère et d’épouse“. [66] Ein Schatten solcher Deutung scheint noch in die Gegenwart zu fallen, wenn Claudine Gothot-Mersch Emmas „impuissance à accepter la vie telle qu’elle est“ beklagt. [67] Dabei wäre sie kaum zu widerlegen, gäbe es nicht Homais. Die wesentliche kompositionelle Aufgabe des Apothekers ist es indessen, eben Interpretationen dieser Art abzuwehren, indem er ihren Tenor parodistisch vorwegnimmt. Das heißt: Jede Wertung, die mißbilligend auf Emmas sentimentale Unzufriedenheit und ihr Zerwürfnis mit der Realität verweist, wird – auch ohne explizite eigene Absicht – durch die Figurenkonstellation des Romans dazu bestimmt, Homais’ Apotheose zu bestätigen und zu bekräftigen. Denn geht es darum, „mit seinem Geschick zufrieden zu sein“, „das Leben so zu akzeptieren, wie es ist“, kann er schlechterdings nicht übertroffen werden. Wo Emma Bovary in der bürgerlichen Existenz unter einem unglücklichen Bewußtsein leidet, ist Homais vomersten Auftritt an das Symbol von Zufriedenheit und glücklichem Realitätssinn, denen an der Normalität des Bürgertums wenigstens grundsätzlich kein Umstand zuwider läuft:
Sa figure n’exprimait rien que la satisfaction de soi-même, et il avait l’air aussi calme dans la vie que le chardonneret, suspendu au-dessus de sa tête, dans une cage d’osier.“ (S. 76)
Wollte man Madame Bovary zum eindeutig „Positiven“, Moralischen hin korrigieren, müßte man folglich vor allem die Gestalt des Apothekers beseitigen. Eine solche Korrektur hat wirklich achtzig Jahre später Alberto Moravia in seiner langen Erzählung La Provinciale unternommen, deren Anknüpfungspunkte an Flauberts nunmehr klassisch gewordenen Roman nicht zu übersehen sind. Wie Emma träumt die Provinzlerin Gemma (!) Foresi vom mondänen Leben der Hauptstadt, und eine zweifelhafte balkanische Abenteurerin, die ihr den Glanz aristokratischer Lebensweise vorgaukelt, versucht, sie in Ehebruch und Libertinage zu treiben. Anders als Emma aber gelangt Gemma nach heilsamer Krise zur Klärung ihrer Verhältnisse: sie entzieht sich dem Einfluß der Verführerin und wird von ihrem Ehemann, einem uneleganten, doch arbeitsamen jungen Wissenschaftler, in die bürgerliche Ordnung von Ehe und Familie zurückgeführt.
Das Grundmotiv der Erzählung ist hier ebenso mit Madame Bovary identisch wie die antithetische Konstellation der sozialen Kräfte: auf der einen Seite die nüchterne Realität des Bürgertums, auf der anderen Seite der „miraggio della capitale“ [68] und die Verlockung des Aristokratisch-Mondänen. Zwischen diesen Welten sind die moralischen Werte in der Antithese von (kosmopolitischer) Abenteurerin und (italienischem) Ehemann (die Erzählung wurde während des Faschismus publiziert!) jedoch unmißverständlich aufgeteilt: die aristokratisch-kosmopolitische Welt wird zur Sphäre des Betrugs, während die italienisch-bürgerliche Welt, die Welt der aktuell gültigen Normen, das gute Ende uneingeschränkt für sich behält. [69] Da sie durch keinen Homais kompromittiert wird, kann sie nicht nur siegen, sondern auch retten und integrieren. Ohne den Apotheker steht Gemmas Konversion zur makellos affirmierten Normalität nichts mehr im Wege.
Dagegen bietet die nichtige Welt, die Homais mit Orden schmückt, für eine Läuterung der verzweifelten Romantikerin keinerlei Ansatz. Sicherlich hat Flaubert vieles unternommen, um auch Emma Bovary zu entheroisieren und sie – gegenüber den Helden früherer Erzählungen, welche sich oft als unmittelbare Projektionen auktorialer Subjektivität darstellten – der Mittelmäßigkeit ihrer Umgebung anzunähern: besonders Uwe Dethloff hat darauf nachdrücklich hingewiesen. [70] Trotzdem ist sie romanintern nicht auf die Stufe der übrigen Gestalten zu stellen, nicht auf die ihres schlichten Ehemanns, noch weniger auf die ihrer geschwätzigen, egoistischen Liebhaber, am allerwenigsten auf die des zukunftsreichen Modellbürgers. Über sie alle wird Emma – wie die Entwürfe verraten – herausgehoben durch eine „höhere Unordnung“, „etwas Außerordentliches, das deren Ideen durcheinanderbrachte“, und immerhin erhält sie, als man ihr die Bücher verbieten will, jene „Originalität“ zugesprochen, welche „Regierungen und Familien“ zur Verfolgung provoziert (vgl. . V.,S. 327f.). Das sind bei aller bewußten Banalisierung der Protagonistin, gemessen an Homais’ Normalität, doch wieder fast Baudelairesche Töne dämonischheroischer Illustration, und es ist gewiß kein Zufall, wenn eben Baudelaire auf sie auch geantwortet hat: mit der Feststellung, bei dieser Geschichte besitze allein die dichter- und dandygleiche „femme adultére“ „toutes les grâces du héros“ [71] , folglich in einem Tenor, der die selbst heute unbeschwichtigte Subversivität des Romans so scharfsichtig ernstnimmt wie sonst wohl nur noch Sénards skandalisierter Kontrahent, der Staatsanwalt Pinard.
Erzielte die Madame Bovary immerhin den Erfolg des Skandals, hatten Flauberts Spätwerke seit dem Durchfall der Education sentimentale nur noch ein geringes Echo. Das gilt in besonderem Maße für das unvollendet gebliebene Buch Bouvard et Pécuchet [72] , dem Flaubert während der Dritten Republik die Hauptarbeit seiner letzten Lebensjahre widmete. Die gewöhnliche Leserreaktion war Enttäuschung und Befremden über ein Werk, in dem man vor allem die Obsession eines einzigen Themas, den Schrecken der sogenannten bürgerlichen ‚Dummheit‘, wahrzunehmen meinte: ein Thema, das hier – wie selbst qualifiziertere Leser empfanden – durch monomanische Wiederholungen derart ausgebeutet wurde, daß sich sogar bei wohlmeinender Lektüre Verdruß einstellen mußte. So notierte Edmond de Goncourt am 16. 3. 1881 in seinem Tagebuch: „Bouvard et Pécuchet:la singulière conception! Chercher laborieusement, pendant cinq, six ans, tout ce qu’il y a de bête dans les livres pour en faire le sien“. [73] Valéry fand das „Livre assez bête comme l’auteur l’était“ [74] ; Claudel sprach von „cette ineptie qu’on appelle Bouvard et Pécuchet [75] , und kaum weniger mißmutig urteilte André Gide, Bouvard et Pécuchet und L’éducation sentimentale zusammenfassend: „Etrange besoin de tout avilir. Epopée du dégoût“. [76]
Ähnlich irritiert und abweisend zeigte sich lange Zeit auch die professionelle Kritik. Für Victor Brombert beispielsweise erscheinen die „Schwächen und Grenzen“ des Romans „offenkundig“; die Charaktere seien mechanisch gestaltet, es gäbe keine rechte Entwicklung, und insgesamt tendiere der Roman allzusehr zur Demonstration: „The characters are treated mechanically, there is hardly any development, and the novel tends altogether to be too much of a demonstration“. [77] Einen regelrechten ‚Verriß‘ hat noch 1967 in seiner Flaubert-Monographie Benjamin F. Bart unternommen. Er wirft Bouvard et Pécuchet das Fehlen von klaren Gedanken („Unfortunately neither Flaubert’s habit of violent concern nor his wide reading necessarily made for sound thinking“), von Abwechslung („Forty pages into the book the whole system is so obvious that there is some question about the wisdom of reading further“) und – mit Ausnahme der Liebesepisode des 7. Kapitels („very funny“) – von unterhaltsamer Handlung vor („Bouilhet, dramatist that he was, might have barred Flaubert from writing so many of the preceding pages, which are blurred into dullness for lack of any relieving action“). Schließlich muß geradezu als Wohltat anmuten, daß Flauberts Tod dem verfehlten und, in Hinsicht auf das Publikum, rücksichtslosen Unterfangen ein vorzeitiges Ende bereitete: „It is as well that death put an end to matters before a publisher had to refuse the volume“. [78]
Nun verrät aber eben die Heftigkeit der Bartschen Kritik, die den Roman traktiert, als sei er gerade erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts geschrieben worden, daß Bouvard et Pécuchet – im Gegensatz zu vielen anderen kanonisierten Werken des bürgerlichen Realismus – nach wie vor geeignet ist, selbst akademische Lesererwartungen zu stören und in Verwirrung zu stürzen. Offensichtlich behauptet das Fragment gegenüber den berühmteren Romanen, welche ihm vorangingen, eine differentiale Qualität, die nur schwer rezipiert, d. h. auf beruhigende Begriffe gebracht, eingeordnet und entschärft werden konnte. Dem entspricht, durchaus bestätigend, das jähe und noch stetig zunehmende Interesse, das Bouvard et Pécuchet seit Raymond Queneaus berühmtem Vorwort [79] bei prononciert avantgardistischen Autoren und Kritikern hervorruft. Es zeigt an, daß der zunächst abseitig und sinnlos erscheinende Roman erst aus modernerer Erfahrung als ein Wendepunkt sichtbar wird, an dem ganz Neues beginnt, während alte Formen, Gewißheiten und Hoffnungen in einem schmerzlichen Bruch zu Ende gehen. Wie sich diese „rupture“ unter narrativen, stilistischen und ideologischen Aspekten manifestiert, soll mit der folgenden Interpretationsskizze erläutert werden. Ihr wesentliches Ziel ist also die Anregung, Flauberts Spätwerk in einer strukturgeschichtlichen Perspektive zu lesen, das heißt: nicht im Blick auf Biographie, Psychologie und Weitsicht seines Autors, sondern im Blick auf die gebrochene Relation zu seinen historischen Reihen.
5.1.Im Rahmen der Gattungsgeschichte des Romans betrachtet, vertieft Bouvard et Pécuchet eine Tendenz, welche – wenngleich weniger radikal – bereits den Erzählrhythmus von Flauberts früheren Romanen geprägt hatte. Diese Tendenz richtet sich auf die Zerfaserung und schließliche Auflösung der traditionell dramatisch angelegten Romanhandlung in eine quasi unendliche Folge kurzer und kürzester Episoden. Indem Flauberts Romane die Zahl ihrer Episoden zunehmend erhöhen und deren Erzählzeit zugleich zunehmend verkürzen, entziehen sie der einzelnen Situation und damit der Handlung überhaupt einen Teil jener dramenähnlichen Kohärenz, um die sich einst Balzac – pathetische Vordergrundszenen und essayistische Hintergrundpassagen in jeweils verschiedenen Proportionen mischend – mit größter Anstrengung selbst noch bei den widerspenstigsten Materien bemüht hatte. Eine solche Entdramatisierung der Handlung deutet sich in der Erzählweise von Madame Bovary erst an. Sie ist – für die Zeitgenossen schockierend – durchgeführt in der Education sentimentale,wo die Überfülle kontingenter Ereignisse, die häufig abseits der zentralen Handlungslinien im Sande verlaufen, die Monotonie und Zufallsbestimmtheit des Lebens nicht mehr nur beschwört, sondern durch den Stil der Narration selbst darstellt. [80] In Bouvard et Pécuchet wird die Entdramatisierung dann bis zum grotesken Exzeß getrieben. Gewiß sind dafür in erster Linie das Programm einer „Ideenkomik“ [81] sowie der enzyklopädische Charakter des Buches verantwortlich, doch legt die Stellung von Bouvard et Pécuchet als Endpunkt in Flauberts Gesamtwerk auch den Schluß nahe, daß die Entdramatisierung des Romans, wie sie im übrigen auf andere Art gleichfalls der späte Conte Un cœur simple vollzieht, einen allgemeineren Prozeß bezeichnet, der sich unabhängig von Ton und Anlage eines einzelnen Werkes durchsetzt.
Dem Schwund an dramatischer Handlung und dem Fehlen eines Zusammenhangs zwischen Intrige und „dénouement“, Phänomenen, die offenkundig auf die verschiedensten Formen des modernen Romans, gleichgültig ob radikal naturalistischer oder symbolistischer Herkunft, vorausweisen, korrespondiert in Bouvard et Pécuchet die Neigung zur Parodie literarischer Schemata, welche die „Erfindung“ selbständiger Handlung verdrängt und tendenziell ersetzt. Es ist, als weigere sich der Autor, weiter an der konventionellen Erzeugung von schönem oder auch nur bedeutendem Schein mitzuwirken, und als zöge er es vor, dort, wo gewisse Handlungsfiguren unerläßlich sind, statt eigener Fiktion eine Parodie von verfügbarem, in der Literaturtradition aufbewahrtem Material zu arrangieren. Deshalb kann es wohl kein Zufall sein, wenn sich die Kritik gerade durch Flauberts Spätwerk ständig an vergangene Literatur erinnert fühlt. Das beginnt mit der Odyssee als dem Archetyp einer ‚Irrfahrt durch das Meer des Wissens‘ – die Formulierung stammt von Queneau und soll gleichzeitig die antizipatorische Nähe zum Ulysses von James Joyce andeuten [82] –, setzt sich fort mit dem bei Flaubert omnipräsenten Don Quijote als einem Roman, der seinen ingeniös idealistischen Titelhelden unablässig an der Kontingenz empirischer Realität scheitern und dadurch eine späte, judiziöse Weisheit gewinnen läßt, sowie – nicht weniger evident – mit Goethes Faust,dessen Monolog auch das Ergebnis von Bouvard und Pécuchets Studium resümieren könnte und dessen Selbstmordversuch durch das Osterfest ähnlich verhindert wird wie Bouvards und Pécuchets Selbstmordversuch durch die Weihnachtsmesse. Die konsequenteste und bedeutsamste Anknüpfung bezieht sich indessen auf den Candide von Voltaire, ein Werk, dem ebenso wie dem Don Quijote im Hinblick auf Flauberts Erzählweise und Weltsicht der Rang eines zentralen, perspektivebildenden Modells zukommt. Aus dem Candide hat Flaubert für Bouvard et Pécuchet manche Einzelheiten übernommen, etwa Pécuchets Räsonnement „Cependant l’estomac est fait pour digérer, la jambe pour marcher, l’œil pour voir, bien qu’on ait des dyspepsies, des fractures et des cataractes. Pas d’arrangement sans but!“ (S. 302) [83] , das er von Pangloss gelernt haben dürfte, oder des gleichen Pécuchet venerisches Mißgeschick mit der Dienerin Mélie, bei dem er es offenbar versäumte, aus Pangloss’ identischem Mißgeschick mit der Dienerin Paquette die nötige Lehre zu ziehen.
Wichtiger als solche Einzelheiten erscheint jedoch die Ähnlichkeit im allgemeinen Gang der beiden Erzählungen, die in jeweils rasantem Tempo Abenteuer auf Abenteuer folgen lassen – einmal solche romanesker, ein andermal solche enzyklopädischer Natur – und durch den gleichermaßen katastrophalen Ausgang dieser Abenteuer das Dogma eines Optimismus zu vernichten suchen, welcher in den beiden Erzählungen freilich sehr verschieden formuliert und begründet wird. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Umstand, daß Flaubert durch die Reihenfolge von Bouvards und Pécuchets Aktivitäten dazu einlädt, das Buch gewissermaßen als die unmittelbare Fortsetzung des Candide zu lesen; denn wenn Voltaires Held seine Karriere mit der Bebauung des eigenen Gartens beschließt, so ist es eben der Gartenbau, der die Karriere von Flauberts Heldenpaar eröffnet. Auf die ideologischen Suggestionen, welche die Explizitheit dieser Anknüpfung enthält, werde ich unten näher eingehen; vorerst genügt es, sie als einen besonders charakteristischen Beleg für die parodistischen oder vielleicht auch nur parodischen Elemente des Buchs zu erwähnen. Darin treten an die Stelle der dramatisch strukturierten Handlung etwa des Balzacschen oder noch des gleichzeitigen Goncourtschen und Zolaschen Romans die parodierten Episoden früherer Romanformen, der Queste, des Abenteuerromans und des Bildungs- und Entwicklungsromans, welch letzterer hier in der Parodie – denkt man an den (allerdings nur beinahe) identischen Ausgangs- und Endpunkt der Geschichte im Kopieren – wie ein spiralförmiger Rückbildungs- und Rückentwicklungsroman anmutet. Es entsteht auf diese Weise das Buch eines Metaromans, der sich als Parodie und als Summe der Romane konstituiert, insgeheim verwandt schon den Kompositionen Adrian Leverkühns, welche als Parodie und als Summe aller musikalischen Kompositionen verstanden werden wollen.
5.2. Bezeichnet Bouvard et Pécuchet solcherart in der Gattungsgeschichte den Moment, an dem die ironische, verfremdende, auf jeden Fall sentimentalische Montage von vorgefundenem Formenmaterial die naive Geborgenheit in einer Form zersetzt, so bestätigt sich diese Position durch einen Blick auf die Stilgeschichte erzählender Prosa. Wie das Buch als Roman dazu tendiert, ein vorgefundenes Formenmaterial zu montieren, montiert es als Prosatext entschiedener noch ein vorgefundenes Sprachmaterial. Auch das gilt zu Recht als Charakteristikum bereits des früheren Flaubert, in Maßen für Madame Bovary – etwa die berühmte Szene der „Comices agricoles“ –, stärker für L’education sentimentale,wo die Phrasenhaftigkeit selbst intimer Rede beständig demonstriert und destruiert wird. [84] In Bouvard et Pécuchet nimmt der Primat des sprachlichen Materials, die Macht des schon Gesagten und Geschriebenen über das individuelle Bewußtsein, jedoch geradezu thematische Bedeutung an. Mit jeder Wissenschaft und jeder Kunst, der sich das faustische Paar bei seiner „recherche de l’absolu“ zuwendet, taucht jeweils eine neue Terminologie auf, welche nicht mehr nur die direkte, indirekte oder dargestellte Rede, sondern mehr als je zuvor auch die Sprache der Erzählung selber bestimmt. Das geschieht nicht immer so auffällig wie in der Episode der Geologenausrüstung, bei der die Erzählung Begriffe und Wendungen eines bestimmten Manuals in langen Zitationen wörtlich übernimmt [85] ; doch ist es als Tendenz überall zu beobachten.
Für die Romanfiguren hat ein solcher Primat der Terminologie und der vorgeformten Sprache zur Folge, daß sie außer ihrer Autonomie auch ihre noch bei Balzac oder den Goncourt unangezweifelte personale Identität weitgehend einbüßen. Statt als Personen werden sie über weite Strecken des Buches als Spielbälle sprachlicher und gedanklicher Impulse gezeigt, welche – ständig wechselnd – von außen auf sie einwirken. Dabei ist es keineswegs so, als würden allein die bei den Hauptfiguren, gewissermaßen als Opfer der Wissenschaft, von solcher Entpersönlichung betroffen. Sie erfaßt vielmehr ausnahmslos alle Figuren des Buchs, die stets nur in ihren mechanischen Reflexen auf verdinglichte psychologische, soziologische oder ideologische Abläufe sichtbar werden. Im Grad der Individuation stehen die Notabeln von Chavignolles, der Comte de Faverges, der Bürgermeister Foureau, der Arzt Vaucorbeil, der Notar Marescot oder der Abbé Jeufroy, sogar noch entschieden hinter Bouvard und Pécuchet zurück; denn werden diese als zunehmend unbürgerliche Dilettanten wenigstens durch wechselnde Instanzen bestimmt, so stellen jene – da in das System berufsbürgerlicher Arbeitsteilung fraglos integriert – in keinem Fall mehr dar als die Maske einer einzigen sozialen Funktion.
Der Verlust an Autonomie und personaler Identität, welcher das gesamte Figurenrepertoire betrifft, muß – wie leicht einzusehen ist – jeden Ansatz zu einer bedeutsamen, romanesk entwickelten Handlung unterbinden. Entpersönlichung der Figuren und Entdramatisierung der Handlung sind offensichtlich verschiedene Aspekte des gleichen Phänomens. Was trotzdem geschieht und gleichsam Trümmer von Romanhandlungen ergibt, wird mit einer Beharrlichkeit, die bis zur Manier geht, nicht als Aktion, sondern als Re-Aktion interpretiert: so folgt selbst Pécuchets „innamoramento“ in der Farce des 7. Kapitels imitativ dem Vorbild fremder Amouren. Die Figuren agieren nicht; sie reagieren auf Konventionen, auf nervliche Reize, auf Informationen oder auf den Zufall. Stilistisch drückt sich das darin aus, daß Flaubert seine Gestalten, wo es eben möglich scheint, zum Objekt statt zum Subjekt von Sätzen macht. Wenn Bouvard und Pécuchet Altertümer zu besitzen wünschen, aber kein Geld zu deren Erwerb haben, dann heißt es nicht etwa: Ils convoitaient quantité de choses, mais l’argent leur manquait, sondern: „Quantité de choses excitaient leurs convoitises [...] Le manque d’argent les retenait“ (S. 167). Durch die übergangslose Parallelstellung in Subjektposition („Quantité de choses [...] Le manque d’argent“) wird die Aktivität der Dinge hervorgehoben, zwischen deren Wirkung und Gegenwirkung Bouvard und Pécuchet oder vielmehr lediglich Bouvards und Pécuchets „Begehrlichkeiten“ hilflos hin- und herzappeln. Bezeichnend ist auch das Ende der mißglückten geologischen Expedition nach Fécamp und Etretat. Am Schluß dieser Episode, die besonders für Pécuchet schmerzlich ausläuft, da er sich, von Angst gequält und von der aufwendigen Ausrüstung behindert, in den Kreidefelsen verstiegen hat, stehen die lakonischen Sätze: „Une charrette les recueillit. Ils oublièrent Etretat“ (S. 153). Was hier allenfalls noch als Leistung eigener Aktivität gelten könnte, das Auffinden eines Karrens, der die Forscher zurück in die Zivilisation transportiert, wird durch die Form des Satzes in Passivität verwandelt. Als Tat rechnet die Syntax den beiden Exploratoren dagegen ironischerweise das Vergessen an, also die schlichte Wirkung der Zeit, gegen die jeglicher menschliche Wille vergebens ist.
Wenn die Romanfiguren immer weniger als Subjekte erzählender Sätze agieren und immer mehr zu deren Objekten degradiert werden, so nehmen die Subjektstelle häufig jene Konventionen, Affekte und Gesten ein, die früher den Personen als Bestandteil ihrer Identität unmittelbar anhingen. Sie werden sozusagen selbständig und treten aus den Figuren heraus, um ein (unter psychologischem Aspekt) mechanisches und (unter soziologischem Aspekt) konventionelles Eigenleben zu führen. In solchem Eigenleben wird etwa die Konvention selber zum Akteur des Geschehens, wenn Flaubert bei der Schilderung des großen Diners, das Bouvard und Pécuchet anläßlich der Vollendung ihrer Gartenarchitektur veranstalten, den folgenden Satz bildet: „Pendant tout le premier service, composé d’une barbue entre un vol-au-vent et des pigeons en compote, la conversation roula sur la manière de fabriquer le cidre“ (S. 105). Die Konvention des Gesprächs mit bürgerlich-praktischen Topoi („la manière de fabriquer le cidre“) scheint hier ebenso einer autonomen Bewegung überlassen zu sein wie andernorts die Affekte, die immer wieder in Wendungen wie „le même espoir leur était venu“ oder „une crainte leur venait“ verdinglicht werden. Selbst manche Gesten verselbständigen sich hart an der Grenze des sprachlich Möglichen. Als während der Empfangsszene die Gäste nach überstandenem Diner vor die Pfeifentür treten, wird ihre verblüffte Reaktion in den Satz gefaßt: „Des regards de stupéfaction s’échangèrent“ (S. 107). Am auffälligsten und wohl auch am bedeutsamsten erscheint diese Verselbständigung von Konvention, Affekt und Geste,wenn sie ein Verbum dicendi substantiviert, wenn es also beispielsweise nicht heißt: Pécuchet s’exclama, sondern: „Cette exclamation lui échappa“ (S. 52). Bei einer solchen Wendung ist es in der Tat nicht die bestimmte Romanfigur Pécuchet, die einen spontanen Ausruf vernehmen läßt, sondern es ist – man muß die Syntax hier ganz wörtlich nehmen – der fertige Ausruf, das Element einer vorgeprägten Phraseologie, welchem die Romanfigur Pécuchet gleichsam nur als Instrument dient. Der Stoßseufzer „Comme on serait bien à la campagne!“ gehört – wie die Syntax konnotiert – eben nicht dem seufzenden Pécuchet persönlich an, sondern zählt zu einem Vorrat sprachlicher Formeln, die durch zahllose Stadtbewohner ähnlicher Schicht und ähnlicher Bildung in ähnlichen Situationen identisch geäußert werden.
Natürlich sind diese Stilistica nicht allein als Hinweis auf den Autonomie- und Identitätsverlust der Romangestalten zu werten. Es wirkt in ihnen auch die ebenso spezifisch Flaubertsche Absicht beständiger stilistischer Variation und vor allem der Entschluß zum Register eines „comique d’idées“, das verlangt, alles Ideelle unablässig auf Materielles zurückzuführen oder an Materiellem scheitern zu lassen. Trotzdem: Gerade die Hauptfiguren, die der Autor anders als die Nebenfiguren immerhin von innen betrachtet, werden gegenüber ihren isolierten Regungen, Gewohnheiten und Lektüren so oft zu Objekten reduziert, daß es angemessen scheint, ihre Objektstellung in erster Linie als den Ausdruck einer Verdinglichung und Entfremdung zu verstehen, welche in der Gattung des Romans nie zuvor mit vergleichbarer Insistenz dargestellt wurde. Die mangelnde Identität der Romanfiguren, das Fehlen einer Rundung zu substantiellen Charakteren, zeigt derart durchaus mit Notwendigkeit Symptome einer verwandelten Realität an, nicht den Vitalitätsverfall eines Romanciers, dem etwa nach Meinung Bromberts oder Barts im Alter die Fähigkeit zur Schöpfung von sogenannten ‚lebendigen Menschen‘ abhanden gekommen wäre. Statt um erzählerische Impotenz handelt es sich um die radikalste Konsequenz einer analytischen Sicht, welche die Oberfläche des scheinbar Spontanen und Individuellen durchschaut, um darunter das Gesetzliche, Regelmäßige und für das humanistische Bewußtsein zunächst grotesk Monotone wahrzunehmen. Diese Sicht aber ist historisch alles andere als zufällig, sondern erwächst aus den gleichen Tendenzen der Szientifizierung, aus denen Bouvard und Pécuchet Freiheit und Sinn ihres Lebens zu gewinnen hoffen.
5.3. Damit sind wir beim dritten und wichtigsten Moment der Betrachtung angelangt: der Position des Buches in der Ideologiegeschichte des 19. Jahrhunderts. Die Bedeutung, die Flauberts Spätwerk in diesem Kontext innehat und die den formalen Merkmalen einer Entdramatisierung der Handlung, einer Entpersönlichung der Figuren und einer Montage von vorgefundenem Formen- und Sprachmaterial ihre inhaltliche Funktion mitteilt, ist meines Erachtens kaum hinlänglich zu interpretieren, wenn man sich nicht die deutlich signalisierte Anknüpfung des Buches an Voltaires Candide bewußt macht, eine Anknüpfung, die zwar gelegentlich erwähnt [86] , doch selten zur Interpretation befragt wird. Im Candide hatte ja die aufklärerische Absicht gewirkt, den metaphysischen Optimismus der alten religiösen, politischen und sozialen Ordnungen zu zerstören. Dazu hatte die Erzählung – auf philosophischer Ebene – die Leibniz-Wolffsche Theorie von der prästabilierten Harmonie in der besten aller möglichen Welten verspottet und – auf literarischer Ebene – das Heliodor-Schema des heroisch-galanten Romans, des repräsentativen Romans der höfischen Gesellschaft, durch Parodie ad absurdum geführt. Am Ende war an die Stelle des metaphysischen Optimismus, wenn auch nur in diskreten Andeutungen, ein anderer, gedämpfterer Optimismus getreten, der sein Vertrauen im bürgerlichen Geist auf den immanenten, lebenserfüllenden und lebensordnenden Sinn der Arbeit setzte.
Indem nun Bouvard und Pécuchet, nachdem sie aus dem Frondienst der Schreibstube entlassen sind, die Serie ihrer Arbeiten und Studien mit Ackerbau, Obstzucht und Gartenarchitektur an den gleichen Punkten beginnen, an dem Candide und seine Familie ihre Abenteuer in der Ordnung ruhiger Produktion beendeten, wird der irdisch-wissenschaftliche Optimismus der neuen Ära den gleichen Provokationen ausgesetzt wie bei Voltaire der metaphysische Optimismus der alten Epoche. Dabei ist ein Umstand zu beachten, der von den Interpreten allzuoft übersehen wird [87] , der Umstand nämlich, daß Bouvards und Pécuchets enzyklopädischer Lauf durch die Wissenschaften trotz seines fast identischen Ausgangs- und Endpunkts nicht einfach einen Kreislauf beschreibt, sondern auch und außerdem – sozusagen spiralförmig eine geradezu bildungsromanhafte Entwicklung enthält. Diese Entwicklung ist unter verschiedenen Aspekten zu beobachten. Sie zeigt sich einmal in dem epistemologischen Fortschritt, der von einer naiven, gesellschaftsunmittelbaren Praxis – eben der Praxis Candides – über theoretische Studien zunächst in den Naturwissenschaften, dann in den Geisteswissenschaften, in Literatur und Politik sowie über die reine Reflexion in Philosophie und Religion am Ende zu einer neuen reflektierten Praxis führt, welche sich der Gesellschaft gegenüber kritisch verhält. Dieser intellektuellen Entwicklung von der naiven Praxis über Theorie und Reflexion zur reflektierten Praxis entspricht eine soziale Entwicklung, die Bouvard und Pécuchet immer weiter an die Peripherie der Bürgerlichkeit treibt. Am Beginn des Romans sind die beiden noch in prononciert bürgerlichen Rollen zu sehen, zuallererst in der kleinbürgerlichen Rolle von Angestellten und darauf – nach der erlösenden Erbschaft – in der Rolle von Rentiers, die durch ihre ehrgeizigen industriellen Pläne auf die Übernahme großbürgerlicher Rollen hinarbeiten. [88] Als sie in ihren unternehmerischen Ambitionen gescheitert sind und zur Erklärung dieses Scheiterns die Wissenschaft der Chemie befragen, beginnen sie jedoch, sich allmählich aus dem Zentrum bürgerlicher Aktivität – der Gründung und Leitung industrieller Produktion – zu entfernen. Sie werden zu Naturwissenschaftlern, Geisteswissenschaftlern und Dichtern, entwickeln eine ständig wachsende kritische Empfindlichkeit und wandeln sich, bevor sie auf einer höheren Bewußtseinsstufe das Kopieren wieder aufnehmen, zu Intellektuellen, ,die als Pädagogen und Dozenten eine neue, in Ansätzen anti-bürgerliche Aufklärung zu betreiben versuchen, welche in einem der Entwürfe („Méthode. Plan général“ Ms gg 10, fº 48 r) mit dem Stichwort „Socialisme“ in Verbindung gebracht wird (vgl. S. 451). Im Zuge solcher subversiven Räsonnements mißachten und behindern sie die Funktionen der staatlichen Ordnung, indem sie beispielsweise einen Wilderer verteidigen [89] , und in der Dorfkneipe verkünden sie – immer kühner werdend – Ideen, die auf die Auflösung der Familie sowie die Beseitigung von Besitz- und Klassenschranken hinauslaufen.
Im gleichen Maß, in dem Bouvard und Pécuchet das Zentrum bürgerlicher Aktivität verlassen, verschlechtert sich ihre Kommunikation mit den Bürgern von Chavignolles. Das Verhältnis zu den Chavignollais bleibt verhältnismäßig ungestört während Bouvards und Pécuchets positiv bürgerlicher Phase, d. h. während ihrer unternehmerischen und naturwissenschaftlichen Tätigkeit. In dieser Phase sind sie noch distanzlos um eine Eingliederung in die gesellschaftliche Ordnung bemüht. Als Höhepunkt solcher Eingliederungsbemühungen, die auch später gelegentlich wiederholt werden, muß die Episode des Empfangs im zweiten Kapitel gelten; doch zeigen sich die Eingliederungsbemühungen gleichfalls an der Zutraulichkeit, mit der Bouvard und Pécuchet für ihre anfänglichen Studien die jeweils zuständigen örtlichen Autoritäten konsultieren. Wenn sie mit dem Ackerbau beginnen, wenden sie sich ratund hilfesuchend an den Comte de Faverges, den Großgrundbesitzer der Region; wenn sie Medizin studieren, besuchen sie den Arzt Vaucorbeil, und selbst der Pfarrer wird als Autorität betrachtet, als es um eine Einführung in die Geologie geht. Erst als sie die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften durch eigene Lektüre und Forschung vertiefen, als sie schließlich auf der Suche nach Sinn und Wahrheit über den Bereich der technisch orientierten Naturwissenschaften hinausgetrieben werden, erregen sie vielfachen Anstoß, den zumal die Aufzeichnungen der Skizzen und Szenarios noch unterstreichen (vgl. etwa S. 411 oder 452). Dabei entsteht der Skandal stets aus der Verletzung bestimmter Berufsinteressen, die den Dilettanten und Ergründern der Wahrheit um ihrer selbst willen fremd geworden sind. Am Ende empfindet man ihre Experimente als Gefahr für die Gesellschaft, und – wie es in einem der schönsten Sätze des Buches heißt – „leur manière de vivre – qui n’était pas celle des autres – déplaisait“ (S. 296). Im achten, neunten und zehnten Kapitel häufen sich Hinweise wie „Les discours de Bouvard et de Pécuchet alarmaient“, „ils devenaient incommodes“, „enfin sapaient les bases“. Nach der Verteidigung des Wilddiebs werden sie wegen Ordnungswidrigkeit zu einer Geldbuße verurteilt, und in den Fragmenten, die nicht mehr ausgeschrieben wurden, droht ihnen – freilich ohne Folgen – die Katastrophe der Verhaftung.
Die intellektuelle und soziale Entwicklung, welche die bei den Titelfiguren des Buches bei aller Entpersönlichung durchmachen, ist also beträchtlich. Sind sie am Anfang gewissermaßen ein doppelter Homais, so ähneln sie später, als ihre Intelligenz und ihre Leidensfähigkeit geschärft sind [90] , eher Homais’ Gegenbild Emma Bovary, und zum Schluß erscheinen sie als karikaturale Statthalter des Autors selbst, als Verfasser von Flauberts Album de la Marquise, Dictionnaire des idées reçues, Catalogue des idées chic und als Sprachrohr von Flauberts Idiosynkrasien:
Alors une faculté pitoyable se développa dans leur esprit, celle de voir la bêtise et de ne plus la tolérer.
Des choses insignifiantes les attristaient: les réclames des journaux, le profil d’un bourgeois, une sotte réflexion entendue par hasard.
En songeant à ce qu’on disait dans leur village, er qu’il y avait jusqu’aux antipodes d’autres Coulon, d’autres Marescot, d’autres Foureau, ils sentaient peser sur eux comrne 1a lourdeur de toute la terre.
Ils ne sortaient plus, ne recevaient personne. (S. 319)
Damit ist aus dem bürgerlichen Optimismus, welcher auf Wissenschaft und Fortschritt vertraut, aus dem Optimismus, der das Ende des Candide und den Anfang von Bouvard et Pécuchet bildet, eine beinahe trostlose Verzweiflung an der bürgerlichen Wissenschaft und am bürgerlichen Fortschritt geworden. Je ernster Bouvard und Pécuchet ihre „recherche de l’absolu“ verfolgen, um so heftiger kollidieren sie – das Ressentiment ihrer Umwelt erregend – mit den Gewohnheiten und Zwängen der arbeitsteilig organisierten Gesellschaft. Wo sie Freiheit suchen, entdecken sie durch die Wissenschaft immer neue Abhängigkeiten; wo sie Wahrheit suchen, finden sie durch die Wissenschaft nur Teilwahrheiten, die sich gegenseitig widersprechen oder wenigstens relativieren; wo sie einen Sinn suchen, lernen sie durch die Wissenschaft nur die universale Abwesenheit des Sinns kennen.
Bedeutsam und noch wenig beachtet ist bei dieser immer wieder ins Leere führenden Suche die Verknüpfung der einzelnen Etappen untereinander. Wie wir aus den Entwürfen wissen, lag in ihr eines der diffizilsten schriftstellerischen und gedanklichen Probleme des Buchs. Zu seiner Lösung hat Flaubert ein ganzes Repertoire verschiedener Übergangstypen entwickelt. Wenn man sie genauer analysiert, ergibt sich, daß der Wechsel von der einen zur anderen Beschäftigung zwar gewiß oft lediglich durch einen Zufall oder durch Überdruß am Alten und Lust auf etwas Neues motiviert wird, daß in vielen Fällen indessen auch der Schein einer sinnvollen Verknüpfung zwischen den Studien entsteht, oder besser gesagt: eine Verknüpfung, die von der unerloschenen Hoffnung auf sinnvolle Zusammenhänge zeugt. Diese Hoffnung kann pittoresk komisch ausgedrückt werden, wenn Bouvard und Pécuchet nach dem Scheitern der Revolution, das allen anderen Erfolglosigkeiten ja so etwas wie eine historische Verifikation gibt, die Liebe und nach dem Scheitern der Liebe die Gymnastik erproben. Zumeist wird sie jedoch durchaus ernsthaft dargestellt. Als die Konservenfabrikation mit einer Katastrophe endet, sucht man nach Erleuchtung durch die Chemie (S. 115: „- C’est que, peut-être, nous ne savons pas la chimie!“); als es mit der Anatomie nicht vorangeht, wird die Physiologie hinzugezogen (S. 122: „Ce qui leur manquait, c’était la physiologie“); als Schwierigkeiten bei der archäologischen Erforschung keltischer Altertümer entstehen, konsultiert man die Geschichte (S. 184: „S’ils ne savaient à quoi s’en tenir sur la céramique et sur le celticisme c’est qu’ils ignoraient l’histoire, particulièrement l’histoire de France“); als die Geschichtsschreibung zu nichts Vernünftigem führt, wird sie von der Psychologie und der Lektüre historischer Romane ergänzt (S. 200: „D’où ils conclurent que les faits extérieurs ne sont pas tout. Il faut les campléter par la psychologie. Sans l’imagination, l’Histoire est défectueuse“). Diese Beispiele sozusagen methodischer Übergänge lassen sich durch zahlreiche andere vermehren [91] , welche belegen, daß Bouvards und Pécuchets Hoffnung auf eine systematische Ordnung der Welt durch die Wissenschaft, d. h. die alte Hoffnung enzyklopädischer Aufklärung, fast bis zum Schluß der Erzählung bewahrt wird. Sie wird nur niemals befriedigt; denn zwar verweist jede Wissenschaft auf eine andere, die ihren Beschränkungen zu Hilfe kommt, doch werden mit jeder anderen Wissenschaft auch wieder neue Beschränkungen sichtbar, welche eine Kette ohne Ende ergeben, in der nirgends mehr ein Fixpunkt feststeht. Ohne einen solchen Fixpunkt, auf den sich sichere Maximen des Handelns gründen ließen, scheitern Bouvard und Pécuchet insbesondere dort, wo sie ihre aufgeklärten Studien in aufklärerische Lehre umzusetzen versuchen, bei der Erziehung der Waisenkinder Victor und Victorine sowie bei dem Volkshochschulprojekt eines „cours d’adultes“. Hier wird endgültig deutlich, daß das Buch nicht so sehr dem Hohn über den „défaut de méthode dans les sciences“ dient, nicht so sehr die „bêtise“ verspottet, welche darin besteht, Schlußfolgerungen ziehen zu wollen [92] , als daß es untergründige Trauer über eine Welt autonomer Wissenschaften ausdrückt, in welcher jeder Versuch des „conclure“ notwendigerweise zur „bêtise“ und zur „ineptie“ verkommen muß.
Für diese Interpretation spricht nicht nur die Struktur des Buches selbst, der allmähliche intellektuelle Fortschritt seiner beiden Protagonisten und ihr oft durchaus methodisches Verfahren des Wissenschaftswechsels, sondern gleichfalls der Umstand, daß Flaubert gerade im Jahr 1850, als er häufig ein Dictionnaire des idées reçues – eine frühe Form des Bouvard et Pécuchet-Planserwähnt, auch das Fehlen eines Fixpunktes, oder wie es in der Korrespondenz gewöhnlich heißt: einer „base fixe“, hervorhebt. Dabei wird die Absenz der „base fixe“ bald – wie in dem berühmten und immer wieder zitierten Brief an Louis Bouilhet vom 4. September 1850 – mit einer Art von forciertem Trotz, bald aber auch – wie am 19. September 1850 – mit unverkennbarem Schmerz kommentiert [93] :
Nous sommes venus, nous autres, trop tôt et trop tard. Nous aurons fait ce qu’il y a de plus difficile et de moins glorieux: la transition. Pour établir quelque chose de durable, il faut une base fixe. L’avenir nous tourmente et le passé nous retient. Voilà pourquoi le présent nous échappe.
Wenn Flaubert hier beklagt, daß das Fehlen einer festen Basis die Bildung von etwas Dauerhaftem verhindert, so gilt das exemplarisch für den Leidensweg Bouvards und Pécuchets, die aus dem Geist wissenschaftlicher Aufklärung etwas Dauerhaftes zu bilden trachten, aus dem gleichen Geist wissenschaftlicher Aufklärung jedoch unablässig die „base fixe“ in Frage stellen müssen, ohne welche die Bildung des Dauerhaften nicht zu denken ist. So handelt das Buch Bouvard et Pécuchet freilich ohne sie auf den Begriff zu bringen – vor allem über die ‚Dialektik der Aufklärung‘, d. h. über die Schwierigkeit, aus der wissenschaftlichen Analyse handlungsleitende Prinzipien, Wahrheit und Sinn zu gewinnen. Es ist dies Bewußtsein unaufhaltbarer, unabschließbarer Analyse, das einerseits den beiden Forschern jede Gewißheit versagt und andererseits die Gattung des Romans in ihren apriorischen Grundsätzen zersetzt: die Handlungen entdramatisiert, die Gestalten entpersönlicht, die physische, pychische [sic!], soziale und sprachliche Materie verselbständigt. Sobald Autonomie und Arbeitsteiligkeit der Wissenschaften mit schockhafter Intensität erfahren werden, reduzieren sich nämlich auch für den Erzähler die Möglichkeiten zur sinnstabilisierenden ,Konklusion‘. Deshalb wohl war als Ende des Romans ein Tableau geplant, das zeigt, wie die Ratlosigkeit der erneut kopierenden Rentiers letzten Endes selbstparodistisch einsteht für die Ratlosigkeit des ,realistisch‘ kopierenden Autors selber: „Finir sur la vue des deux bonshommes penchés sur leur pupitre, et copiant“ (S. 443). Indem Bouvard und Pécuchet auch noch das Gutachten des Arztes Vaucorbeil, das sie als „deux imbéciles inoffensifs“ qualifiziert und den Lesern mit dem Hinweis auf die „inoffensive“ Wirkungslosigkeit der Literatur so etwas wie eine implizite Ideologiekritik des Romans vermitteln soll, unerschütterlich ihrer Zitatensammlung einverleiben, bleibt als resignative Schlußformel nur die „égalité de tout, du bien et du mal, du Beau et du laid, de l’insignifiant et du caractéristique“ (ebd.). Sie gilt sowohl für die Welt- und Wissenschaftserfahrung Bouvards und Pécuchets als auch – bestätigt vom ähnlichen Ende der Tentation de saint Antoine – für das Ziel der Flaubertschen Romanpoetik, in der das konklusionslose, spiralförmig kreisende Erzählen sich gewissermaßen selbst zur Aporie wird. Konfrontiert mit den Konsequenzen und Grenzen der enzyklopädischen Aufklärung, wie sie ein Jahrhundert nach Voltaire – angesichts der weiteren Entmythologisierungen Claude Bernards oder Ernest Renans – vor das avancierteste Bewußtsein der Epoche treten, hat es aufgehört, die Wirklichkeit zu deuten, geschweige denn sie nach der einen oder anderen Hierarchie zu ordnen. Stattdessen ergibt sich in heroischer Askese das Projekt der nicht-vollendeten und gewiß auch nicht zu vollendenden „Copie“, wo es nun weniger darum geht, eine Realität gliedernd zu erfassen, als vielmehr, die ,Absurdität‘ ihrer unendlichen, unverbundenen Reflexe allein durch die distanzierende Wiederholung des Zitats zu bannen.
1 Unter ihnen sind – auch aus pragmatischen Gründen – hervorzuheben: H. Friedrich, Drei Klassiker des französischen Romans, Frankfurt a. M. 71973, sowie: K. Heitmann,Der französische Realismus von Stendhal bis Flaubert, Wiesbaden 1979. Beide Einführungen enthalten ausführliche Bibliographien.
2 E. Auerbach,Mimesis, Bern 21959, S. 425.
3 Ebd. S. 431.
4 Vgl. zu ihnen: C. Liprandi, Stendhal – Le „Bord de l’eau“ et la „Note Secrète“, Avignon 1949, und P. G. Castex,Réalités politiques dans „Le Rouge et le Noir“, in: Roman et société – Colloque 6 novembre 1971, Paris 1973, S. 29–41.
5 Vgl. H. Friedrich,Drei Klassiker, S. 56.
6 Vgl. ebd. S. 54f., sowie beispielsweise: K. H. Bender,Realität und Roman – Die französische Restaurationsgesellschaft in Stendhals „Le Rouge et le Noir“, in: ZFSL 85, 1975, S. 193–210.
7 Die Seitenangaben beziehen sich auf die leicht zugängliche Ausgabe: Stendhal, Le Rouge et le Noir, hrsg. v. H. Martineau,Paris 1960 (Classiques Garnier).
8 Vgl. H. Schlaffer,Der Bürger als Held, Frankfurt a. M. 1973, S. 11.
9 Vgl. dazu P. Barbéris,Aux sources du réalisme: aristocrates et bourgeois, Paris 1978, S. 107ff.
10 Vgl. dazu etwa P. Bürger,Aktualität und Geschichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1977, S. 105–159, bes. S. 131ff.
11 Vgl. E. Zola, Les Romanciers Naturalistes, Paris 1893, S. 122. Auf diese Ausgabe beziehen sich auch die folgenden Seitenangaben im Text.
12 Das tut z. B. R. Kempf in seiner Ausgabe: Balzac – Baudelaire – Barbey d’ Aurevilly, Sur le dandysme, Paris 1971 (Coll. 10/18), nach der wir im weiteren zitieren.
13 Zur Datierung vgl. P. Barbéris, Balzac et le mal du siècle, Paris 1970, S. 1321ff.
14 Vgl. zu ihnen B. Tolley,Les œuvres diverses de Balzac, in: Année Balzacienne 1963, S. 31–64.
15 Vgl. U. Schulz-Buschhaus, Formen aristokratischer und bürgerlicher Literatur, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31, 1979, S. 507–526, bes. S. 516ff.
16 Vgl. Helvétius, De l’homme, London 1776, Bd. 2, S. 242.
17 Vgl. dazu P. Barbéris,Balzac et le mal du siècle, S. 956ff., sowie die Einwände von B. Tolley, Balzac et la doctrine saint-simonienne, in: Année Balzacienne 1973, S. 159–167.
18 B.Castiglione,Il libro del cortegiano, hrsg. v. V. Cian,Firenze 41947, S. 63f.
19 Ebd. S. 68.
20 B. Gracián,Obras completas, hrsg. v. M. Batllori y C. Peralta,Madrid 1969, Bd. I,S. 244.
21 Ebd. S. 266.
22 Chevalier de Méré,Œuvres completes, hrsg. v. C.-H. Boudhors, Paris 1930, Bd. II, S. 14.
23 Ebd. S. 32.
24 Ebd.
25 Ebd. S. 45.
26 Vgl. zu ihnen besonders den Abschnitt „Der Aufstand der Dandies“ in: H. Hinterhäuser,Fin de Siècle, München 1977, S. 77–106; sowie R. Kempf,Dandies, Paris 1977; E. Carassus,Le Mythe du Dandy, Paris 1971, und S. François,Le Dandysme et Marcel Proust, Bruxelles 1956.
27 Vgl. P. Barbéris,Balzac et le mal du siècle, S. 1322f., Anm. 3.
28 K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Berlin 51972, S. 46.
29 Ebd. S. 92.
30 Vgl. H. de Balzac,Le médecin de campagne, hrsg. v. M. Allem, Paris 1956 (Classiques Garnier), S. 77 und S. 159.
31 Vgl. dazu die „Introduction“ von P. Laubriet zur Ausgabe des César Birotteau in den Classiques Garnier (Paris 1964), sowie P. Laubriet,L’élaboration des personnages dans ,César Birotteau‘, in: Année Balzacienne 1964, S. 251–270.
32 Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die Taschenbuchausgabe der „Collection Folio“: H. de Balzac,César Birotteau, Préface d’A. Wurmser,Edition établie et annotée par S. de Sacy,Paris 1975.
33 Zu den Wandlungen von du Tillets Herkunft bei der Ausarbeitung des Romans vgl.
P. Laubriet,L’élaboration, S. 257ff.
34 Vgl. dazu die informative Darstellung von J. Schramke,César Birotteau: das Schicksal und die Ökonomie, in: Lendemains 1, 1975, S. 82–100.
35 Vgl. V. Klotz,Abenteuer-Romane, München-Wien 1979, S. 22–25 und passim.
36 Vgl. U. Schulz-Buschhaus, Die Sprache der ,Comédie Humaine‘ und die Sprache in der ,Comédie Humaine‘, in: ZFSL 78,1978, S. 213–230, bes. S. 225ff.
37 Vgl. dazu Balzacs Brief an Hippolyte Castille (1846), zitiert nach J. Schramke, César Birotteau, S. 92: „J’ai conservé César Birotteau pendant six ans à l’état d’ébauche, en désespérant de pouvoir jamais intéresser qui que ce soit à la figure d’un bouriquier assez bête, assez médiocre, dont les infortunes sont vulgaires, symbolisant ce dont nous nous moquons beaucoup, le petit commerce parisien. Eh! bien, monsieur, dans un jour de bonheur, je me suis dit: ,Il faut le transfigurer, en en faisant l’image de la probité!‘ Et il m’a paru possible.“
38 Vgl. etwa A. Wurmser,La comédie inhumaine, Paris 1970, S. 116, sowie ders., Préface zu H. de Balzac, César Birotteau, S. 18–23.
39 Vgl. A. Wurmser,Préface, S. 19ff.
40 Zu den Ähnlichkeiten zwischen César Birotteau und Joseph Prudhomme vgl. A. Wurmser,La comédie inhumaine, S. 384f., sowie P. Laubriet,Introduction, S. LIX, und A.-M. Meininger, Balzac et Henry Monnier, in: Année Balzacienne 1966, S. 217–244, bes. S. 238f.
41 Vgl. dazu G. Flaubert,Madame Bovary, Paris 1971 (Classiques Garnier), S. 225: „Tous ces grands artistes brûlent la chandelle par les deux bouts; il leur faut une existence dévergondée qui excite un peu l’imagination. Mais ils meurent à l’hôpital, parce qu’ils n’ont pas eu l’esprit, étant jeunes, de faire des économies“.
42 Vgl. J. Rousset,Madame Bovary ou Le Livre sur rien, in: ders., Forme et signification, Paris 51970, S. 109–133.
43 B. F. Bart,Flaubert, Syracuse N.Y. 1967, S. 322.
44 Vgl. H. Levin,The Gates of Horn, New York – Oxford 1963, S. 246–269.
45 Die Seitenzahlen im Text verweisen auf die Ausgabe: G. Flaubert,Madame Bovary, hrsg. v. C. Gothot-Mersch,Paris 1971 (Classiques Garnier).
46 Ähnliche Kontrastwirkungen werden in späteren Romanen des europäischen Realismus, sobald eine Familie die Protagonisten-Rolle erhält, häufig wiederaufgenommen, so beispielsweise in Thomas Manns „Buddenbrooks“ durch die Gegenüberstellung der Buddenbrooks und der Hagenströms, die freilich – weit weniger pointiert – eher im Hintergrund der Erzählung verbleibt.
47 Vgl. dazu mit ausführlicheren Belegen U. Schulz-Buschhaus, Homais oder die Norm des fortschrittlichen Berufsbürgers, in: RJb 28, 1977, S. 126–149, bes. S. 126ff.
48 Vgl. U. Dethloff,Das Romanwerk Gustave Flauberts – Die Entwicklung der Personendarstellung von „Novembre“ bis „L’éducation sentimentale“ (1869), München 1976, S. 145.
49 C. Digeon,.Flaubert, Paris 1970, S. 81f.
50 Deshalb erscheint es auch durchaus konsequent, wenn bezeichnenderweise Emile Zola durch Pierre Froment, die Identifikationsfigur seines späten Romans „Paris“, einmal eine entschiedene Apologie von Homais’ Sache gegen den Geist des Fin-de-Siècle geäußert hat („Sans doute, monsieur Homais est ridicule, mais lui du moins reste sur un terrain solide“), vgl. E. Zola,Les trois villes: Paris, in: ders., Œuvres complètes illustrées, Bd. 13, Paris 1906, S. 158f.
51 Die Zitate aus den Entwürfen beziehen sich jeweils auf die Ausgabe: G. Flaubert,Madame Bovary, Nouvelle Version, hrsg. v. J. Pommier/G. Leleu,Paris 1949 (= N.V.)
52 A. Thibaudet,Gustave Flaubert, Paris 1973 (1. Aufl. 1935), S. 117.
53 Vgl. R. Girard,Mensonge romantique et vérité romanesque, Paris 1961, S. 156f.
54 M. Vargas Llosa,La Orgía Perpetua – Flaubert y „Madame Bovaty“, Madrid-Barcelona 1975, S. 191.
55 C. Digeon,Flaubert, S. 84.
56 Vgl. dazu auch die interessante Studie von J. Bem, Désir et Savoir dans l’Œuvre de Flaubert, Neuchâtel 1979, bes. S. 177ff. In ihr wird der fundamentale Gegensatz zwischen Homais und Emma Bovary in seiner bedeutungsstiftenden Funktion gleichfalls scharf erfaßt, doch dann als Opposition von „science“ und „savoir“ durch einen psychoanalytisch-epistemologischen und nicht – wie hier intendiert – durch einen sozialgeschichtlichen Diskurs gedeutet.
57 Vgl. etwa A. Thibaudet, Gustave Flaubert, S. 104f., und M. Beyerle,„Madame Bovary“ als Roman der Versuchung, Frankfurt/M. 1975, S. 21, 29, 31 und passim.
58 Vgl. N. Elias,Die höfische Gesellschaft, Neuwied-Berlin 1969, S. 426.
59 Bezeichnenderweise wird der Hinweis bald darauf wiederholt, wenn eine Aufreihung von Emmas romantischen Geschichtsbildern mit der erneuten Unterstreichung „et toujours le souvenir des assiettes peintes où Louis XIV était vanté“ (S. 39) endet.
60 Insofern erscheint der Versuch einer Ehrenrettung, den J. Améry in seinem umfangreichen Essay „Charles Bovary, Landarzt – Porträt eines einfachen Mannes“ (Stuttgart 1978) unternommen hat, zwar begrüßenswert, was die Tendenz betrifft, doch – bei genauerer Textlektüre – eigentlich gegenstandslos und in seinem „J’accuse“-Pathos überflüssig. Wenn eine „Wirklichkeit“ prononciert gegen Flaubert rehabilitiert werden sollte, könnte es nur die Homais’ sein, nicht jene Charles Bovarys, welche im Grunde schon auf die stumme Apotheose der Félicité in Un cœur simple vorausweist.
61 Vgl. V. Roloff,Zur Thematik der Lektüre bei G. Flaubert- „Madame Bovary. Mœurs de Province“, in: GRM 25, 1975, S. 322–337.
62 Vgl. C. Gothot-Mersch,La genèse de Madame Bovary, Paris 1%5, S. 119, 135ff. u. 277f.
63 Vgl. H. Taine,Vie et opinions de M. Frédéric-Thomas Graindorge, Paris 1867, S. 222.
64 G. Flaubert,Madame Bovary, hrsg. v. E. Maynial,Paris 1961, S. 350.
65 G. Flaubert,Madame Bovary, hrsg. v. E. Maynial,S. 363f.
66 E. Zola,Les Romanciers Naturalistes, S. 142.
67 Vgl. G. Flaubert,Madame Bovary, hrsg. v. C. Gothot-Mersch,Introduction S. XI.
68 Vgl. A. Moravia,I racconti 1927–1951 (Opere complete 5/I), Milano 1974, S. 147.
69 Interessanterweise nimmt 40 Jahre später – in kurioser Verwechslung der historischen Rollen – aber gerade Moravia Anstoß an Flauberts sogenannter „Bürgerlichkeit“, über die er offenbar von Sartre gehört hat. Vgl. A. Moravia,Intervista sullo scrittore scomodo, hrsg. v. N. Ajello,Bari 1978, S. 101: „Flaubert [...] mi ha indicato i vizi dai quali dovevo guardarmi. È uno scrittore talmente borghese [...]“ („An Flaubert habe ich die Mängel erkannt, vor denen ich mich hüten mußte. Er ist ein dermaßen bürgerlicher Autor [...]“). Der Ausspruch gibt ein schönes Beispiel für die nicht nur in Italien übliche Entleerung des Begriffs „bürgerlich“ zum bloßen Denunziations- und Vituperationstopos.
70 VgI. U. Dethloff, Das Romanwerk, bes. S. 106ff. und S. 165ff., sowie neuerdings auch: ders., Gustave Flaubert, in: W.-D. Lange,Hrsg., Französische Literatur des 19. Jahrhunderts II-Realismus und l’art pour l’art, Heidelberg 1980, S. 208–229.
71 VgI. Ch. Baudelaire,Œuvres complètes, Paris 1961 (Bibl. de la Pléiade), S. 653.
72 Als ,Buch‘ wird dieser Roman von Rémy de Gourmont bezeichnet: „C’est peut-être le livre par excellence, le livre pour les forts, car il contient bien de l’amertume, et son goût de néant porte au cœur“ (zitiert nach: M. Nadeau,Gustave Flaubert écrivain, Paris 1969, S. 304). Bekanntlich gehört die Transformation des „roman“ in das „livre“, wie sie sich am prägnantesten etwa in E. de Goncourts Vorwort zu Chérie oder passim in Gourmonts Livres des Masques formuliert findet, zu den leitenden Vorstellungen der Literaturästhetik des Fin de Siècle.
73 E et J. de Goncourt,Journal-Mémoires de la vie littéraire, hrsg. v. R. Ricatte, Bd. III,Paris 1956, S. 106.
74 Vgl. J. Hytier,Flaubert et la génération de Valéry, in: Ch. Carlut,Hrsg., Essais sur Flaubert – En l’honneur du professeur Don Demorest, Paris 1979, S. 15.
75 VgI. J. Hytier,Flaubert, S. 24.
76 A. Gide,Journal 1889–1939, Paris 1970, S. 805.
77 Vgl. V. Brombert,The Novels of Flaubert, Princeton 1966, S. 262.
78 Vgl. B. F. Bart, Flaubert, Syracuse 1967, S. 609, außerdem S. 593, 599 und 605.
79 Vgl. R. Queneau,Bâtons, chiffres et lettres, Paris 1965 (1. Aufl. 1950), S. 97–124; außerdem die interessanten Hinweise in R. Barthes’S/Z, Paris 1970, S. 105 und 212.
80 Vgl. dazu W. Drost, Flaubert-L’éducation sentimentale, in: W. Pabst,Hrsg., Der französische Roman, Düsseldorf 1974, S. 352f.
81 Vgl. dazu M. Hardt,Flauberts Spätwerk – Untersuchungen zu „Bouvard et Pécuchet“, Frankfurt a. M. 1970, bes. S. 51.
82 Vgl. R. Queneau,Bâtons, chiffres et lettres, S. 116f.
83 Die Seitenzahlen im Text verweisen auf die Ausgabe: G. Flaubert, Bouvard et Pécuchet, hrsg. v. C. Gothot-Mersch,Paris 1979 (Coll. Folio), die auch eine Auswahl der Szenarios enthält und überdies wegen der klugen Introduction (S. 7–43) zu empfehlen ist.
84 Ein besonders treffendes Beispiel dafür bildet das Gespräch zwischen Frédéric und Mme Arnoux in Saint-Cloud (vgl. G. Flaubert,L’éducation sentimentale, hrsg. v. E. Maynial,Paris 1961, S. 84: „Il entama le chapitre des aventures sentimentales. Elle plaignait les désastres de la passion, mais était révoltée par les turpitudes hypocrites“). Dem entspricht halb ironisch die auktoriale Bemerkung: „C’était la première fois qu’ils ne parlaient pas de choses insignifiantes“.
85 Dabei handelt es sich um A. Boué (nicht „Boné“, wie S. 147 irrtümlich gedruckt), Guide du géologue voyageur sur le modèle de l’„Agenda geognostica“ de M. Léonhard, Paris 1835–36 (Vgl. R. Descharmes,Autour de „Bouvard et Pécuchet“, Paris 1921, S. 179ff.).
86 Vgl. etwa V. Brombert,The Novels of Flaubert, S. 260. Auf jeden Fall erscheint die Beziehung zum Candide signifikanter als die Relationen zu Le bourgeois gentilhomme oder Le mariage de Figaro,welche die Interpretation A. Thibaudets (Gustave Flaubert, S. 217f.) vorrangig in Betracht zog
87 So hebt z. B. die Interpretation von M. Hardt (vgl. Flauberts Spätwerk, S. 37–42) ausschließlich die „Springfederautomatik“ des immer gleichen Handlungsschemas von Illusion und Desillusion hervor.
88 Daß die agronomischen Unternehmungen einen industriellen Stil beanspruchen, wird im 2. Kapitel verschiedentlich unterstrichen (vgl. bes. S. 95: „Il [Pécuchet] dit: – Nous devrions nous livrer exclusivement à l’arboriculture, non pour le plaisir, mais comme spéculation! [...] C’est une belle industrie!“).
89 Deutlich wird der latent subversive Charakter ihres Verhaltens insbesondere an der Reaktion des ,Staatsanwalts‘ (vgl. S. 402: „Mais Foureau qui était ministère public se leva. On avait outragé le garde dans l’exercice de ses fonctions. Si on ne respecte pas les propriétés, tout est perdu.“).
90 Vgl. dazu bereits im ersten Kapitel die ,phrase capitale‘ „Et ayant plus d’idées, ils eurent plus de souffrances“ (S. 61), auf deren vorbereitende Funktion insbesondere A. Cento (Commentaire de „Bouvard et Pécuchet“, Napoli 1973, S. 25) hingewiesen hat. Sie besitzt im übrigen ein alttestamentarisches Vorbild beim Prediger Salomo (I 18): „Eo quod in multa sapientia multa sit indignatio; et qui addit scientiam, addit et laborem“.
91 Besonders charakteristisch erscheinen noch der Beginn der politischen Ökonomie (S. 256: „La brouille étant passée, ils reconnurent qu’une base manquait à leurs études: l’économie politique“) und der Übergang von der Geographie zur Geschichte bei der Unterrichtung Victors, welche die Gesamtentwicklung des Buches verkürzt und verzerrt wiederholt (S. 381: „Tout cela, peut-être, s’éclaircirait en étudiant l’Histoire“).
92 Daß „bêtise“ bzw. „ineptie“ „consiste à vouloir conclure“, wird zweimal in einem Brief vom 4. September 1850 an Louis Bouilhet betont (vgl. G. Flaubert, Correspondance, Bd. I, hrsg. v.J. Bruneau,Paris 1973, Bibl. de la Pléiade, S. 679f.).
93 Vgl. G. Flaubert, Correspondance Bd. I, S. 730.
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