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Quelle: Leonardo Sciascia. Annäherungen an sein Werk, hg. S. M. Moraldo, Heidelberg, Winter, 2000, S. 135–151.

Todo modo

Kriminalroman und Conte philosophique

Anders als die Mehrzahl der Kriminal- und insbesondere Detektivromane provoziert Sciascias Todo modo beinahe unwiderstehlich zur wiederholten Lektüre. Eine solche Suggestion, die ersten Leseeindrücke durch weitere Lektüren zu klären und zu vertiefen, üben bei Sciascia zwar erstaunlicherweise alle Erzählwerke aus, die dem populären Strukturmodell des ‚giallo‘ folgen; doch kommt sie in Todo modo wohl auf die intensivste Art zustande. Dafür gibt es verschiedene und vom Autor offenbar auch genau berechnete Gründe.
Der evidenteste Grund besteht zunächst darin, daß Todo modo einen höchst komplexen Fall jenes Typus von Kriminalroman darstellt, den Sciascia einmal als den „più assoluto giallo“bezeichnet hau Gemeint ist ein „,giallo‘ senza soluzione“ in der Manier von Gaddas Quer pasticciaccio brutto de via Merulana. [1] In der rezenten Erzählliteratur scheint dieser Typus des ‚Kriminalromans ohne Lösung‘ bemerkenswert attraktiv gewirkt zu haben. Jedenfalls prägt er zumal mit dem Motiv des ‚scheiternden Detektivs‘ eine deutlich konturierbare Formtradition, [2] deren Ursprung und Wachstum sich in erster Linie der Herausforderung verdanken, welche das gleichsam potenzierte Happy Ending, wie es im herkömmlichen Detektivroman die Regel war, für das Bewußtsein einer avancierten Moderne bedeuten mußte. Im Detective Novel vor allem der britischen Schule hatte das normgerechte glückliche Ende ja nie allein Sie Bestrafung eines Übeltäters vorgesehen, sondern immer auch die Lösung eines Rätsels, so daß zum doppelt guten Schluß neben der Ordnung der rechten Moral stets zugleich die Ordnung der richtigen Erkenntnis restituiert wurde. Deshalb enthielt der Detektivroman bereits in seiner Erzählstruktur eine Allegorie geglückter Aufklarung, die – gewissermaßen sichergestellt – ad infinitum erneuerbar schien. Eben diese Allegorie unwandelbar garantierter Aufklärung, die dem Detective Novel strukturell anhaftet und sicher auch für einen großen Teil seines ideologischen Erfolgs verantwortlich ist, hat nun aber den ideologiekritischen Einspruch all jener – meist prononciert modernen – Autoren hervorgerufen, welche die öffentliche Geltung und die Permanenz von Aufklärung aus durchaus verschiedenartigen Motiven nicht für sichergestellt erachten mochten. [3] Unter ihnen fallt Sciascia – ähnlich wie Gadda, Borges oder den Initiatoren des Nouveau roman – eine herausragende Rolle zu, die dann auch daran erkennbar wird, daß er sich tatsächlich während seines gesamten Schaffens mit besonderem Nachdruck um den Romantyp eines Anti-Kriminalromans, das heißt eines „‚giallo‘ senza soluzione“ bemüht hat. [4]
Dabei kann man in den Verfahren, die Sciascia zur Ausbildung eines solchen „‚giallo‘ senza soluzione“ einsetzt, um die Konventionen des traditionellen Detektivromans zu falsifizieren, signifikante Strategien der Zuspitzung und Radikalisierung beobachten. In seinen frühen Mafia-Romanen negiert Sciascia speziell die Konvention des moralischen Happy Ending, und zwar dergestalt, daß die Negation sich wie eine Art falsifizierender Konsequenz aus den hard-boiled novels Hammetts oder Chandlers darstellt. [5] Das heißt, um ein kompliziertes Verhältnis etwas vereinfacht zu resümieren: Sciascia meint gleich den Amerikanern einen gesellschaftlichen Zustand zu erblicken, in dem das organisierte Verbrechen der bürgerlichen Ordnung nicht mehr entgegensteht, sondern in dieselbe tendenziell integriert ist. Anders als bei den Amerikanern ergibt sich daraus bei Sciascia jedoch, daß auch die Rückkehr zur Ordnung, die am Romanende auf die episodische Störung des sozialen Gleichgewichts folgt, eine Rückkehr zur Normalität des Verbrechens impliziert. Angesichts solcher Verbrechensnormalität erfährt vor allem die Rolle des Detektivs einen einschneidenden Funktionswandel. Aus der Position eines Retters der Gesellschaft gerät der Defektiv in die eines unheilträchtigen Außenseiters, [6] dessen Aufklärungsarbeit realiter nichts Positives mehr zu bewirken vermag. So wird er in Il giorno della civetta durch die Agenten eines mafiosen politisch-ökonomischen Systems entmachtet und vom Ort seiner sizilianischen Recherchen in seine emilianische Heimat zurückversetzt; in A ciascuno il suo und Il contesto beläßt das System es nicht bei der Entmachtung, sondern vernichtet den aufklärenden detektivischen Helden, der in der älteren Gattungstradition einst das mythische Privileg der Unsterblichkeit genoß, auch in seiner physischen Existenz.
In Il contesto wird die Verunsicherung, welche für den Leser durch die Negation des moralischen Happy Ending entsteht, darüber hinaus von dem Umstand vertieft, daß die vielleicht noch dringlicher erwartete Befriedigung eines gnoseologischen Happy Ending ebenfalls ausbleibt oder jedenfalls nicht restlos erfüllt wird. Sciascia enttäuscht hier die optimistische Hoffnung auf eine Erkenntnis letztlich transparenter Verhältnisse, indem er dem Leser nie eindeutig mitteilt, welche Bewandtnis es mit der offenkundig politisch motivierten Verschwörung hat, die der Detektiv Rogas entdeckt, bekämpft und am Ende seinem Freund Cusan – nicht aber dem Leser – offenlegt. [7] Um zu erfahren, was Rogas Cusan genau erzählt, muß der Leser in diesem Fall – wie etwa in Borges’ oder vielmehr Herbert Quains Romanprojekt The God of the Labyrinth [8] –eigene Hypothesen bilden, welche nach den Indizien der eher allusiven als expliziten Dialoge des Romans ungefähr auf den folgenden Sachverhalt hinauslaufen: Die Serienmorde, denen Staatsanwälte und Richter zum Opfer fallen, haben nicht – wie es Rogas’ Vorgesetzte postulieren – jugendliche Anarchisten als Täter, sondern sind das Rachewerk eines vormals zu Unrecht verurteilten Einzeltäters, des Apothekers Cres. Indessen wird Cres bei seiner Ausschaltung des Richterstandes von den Repräsentanten der politischen Exekutive gedeckt, um die in Wahrheit lächerlich harmlose und eitle Protestbewegung zu belasten [9] und damit im erwünschten Chaos günstige Voraussetzungen für einen Putsch oder wenigstens eine Verschärfung autoritärer Überwachung und Repression zu schaffen. [10]
Daß die kriminelle Intrige in Il contesto nur angedeutet und nicht detailliert enthüllt wird, mag mit der Ungeheuerlichkeit des von ihr suggerierten politischen Vorwurfs zu tun haben, welcher auch durch die Gattungsangabe „Una parodia“ und durch die Situierung der Aktionen nicht mehr in Sizilien, sondern in einem imaginären Staat, wo alle Namen vage spanisch (lateinamerikanisch) klingen, bis zu einem gewissen Grad neutralisiert wird. Indes hat Sciascia die Technik des narrativen Chiaroscuro, die er in Il contesto gegen die Überlieferung der detektivischen Gattung einführt, in Todo modo noch entschieden weiter entwickelt, obgleich die Handlung hier erneut im südlichen Italien lokalisiert ist. Den Schauplatz des Romans bildet eine zum Luxushotel umgebaute Eremitei (man könnte sie als eine Art Allegorie der römischen ecclesia deuten), in der sich Politiker, hohe Staatsbeamte und Manager zu geistlichen Exerzitien ignatianischer Provenienz zusammenfinden, die unter dem Patronat des charismatischen, ebenso unheimlichen wie intelligent scharfsichtigen Priesters don Gaetano stehen. Den Ich-Erzähler, einen erfolgreichen Maler, der im weiteren Romanverlauf auch die Funktion des Detektivs übernimmt, hat es zufällig auf die Eremitei verschlagen, wo er nun als Außenseiter den Exerzitien beiwohnt und bald bemerkt, daß die frommen Übungen lediglich als Vorwand für die Verfolgung substantieller politischer und geschäftlicher Interessen dienen. Diese wahren Zwecke der Veranstaltung kommen spätestens dann ans Tageslicht, als der Kreis der betenden Führungskräfte in rascher Folge durch drei Morde dezimiert wird. Nicht wirklich ans Tageslicht kommt bei der Affäre, die ihren Ausgangspunkt wohl in Konflikten um die Aufteilung illegaler Parteispenden hat, dagegen die Identität des Mörders oder der Mörder. Bis zuletzt wird gegen die Regeln des Genres nicht geklärt, wer zunächst den Abgeordneten Michelozzi erschoß, wer darauf den Advokaten Voltrano – wahrscheinlich als möglichen Mitwisser des ersten Mordhergangs – von der Terrasse stürzte und wer schließlich don Gaetano, den allwissenden Organisator der Exerzitien und den dunklen Raisonneur des Romans, aus dem Wege räumte. Zwar gesteht der Ich-Erzähler im vorletzten Abschnitt unversehens, für die Ermordung don Gaetanos selber verantwortlich zu sein; doch ereignet sich das anscheinend ganz en passant ausgesprochene Geständnis in einem Kontext, wo es ebensogut ironische wie ernste Bedeutung haben kann. Von seinem Adressaten, dem Staatsanwalt Scalambri, wird es ohnehin nicht akzeptiert und statt dessen für einen absurden Scherz gehalten, so daß die Verbrechen zumindest auf der Ebene der äußeren Handlung dieses Romans nicht nur ungesühnt, sondern als Rätsel zugleich ungelöst bleiben. Neben der irritierenden Offenheit desRomanendes gibt es freilich noch ein zweites Motiv, das den Leser von Todo modo zur relecture anhält, ja zwingt. Es resultiert aus einer weiteren – quasi gattungsmischenden – Unregelmäßigkeit der Erzählung, welche die Ebene des kriminalistischen Plot so eng mit einer anderen Ebene literarisch-philosophisch-ideologischer Diskussionen und Divagationen verbindet wie das in der Geschichte des Kriminalromans wohl nie zuvor geschehen war. Auch unter diesem Aspekt läßt sich von Il giorno della civetta über ciascuno il suo und Il contesto bis eben Todo modo eine geradezu systematische Progression von Sciascias Verfahrensweisen beobachten, die in Todo modo einen Punkt erreicht, an dem sich die Schicht des intellektuellen Diskussionsromans à la Thomas Mann Zauberberg in puncto struktureller Relevanz – wie zum Schluß deutlich wird – erstmals vor die Schicht des Kriminalromans schiebt. Das heißt: Bei Todo modo würde der kriminalistische Plot – selbst wenn man seine prinzipielle Offenheit als gegeben akzeptieren wollte jedem Verständnis widerstehen, wenn er nicht gleichsam allegorisch auf die Gespräche zu beziehen wäre, die vor allem zwischen dem Ich-Erzähler und don Gaetano über Kirche, Staat, Christentum, Aufklärung oder Apokalypse geführt werden.
Nun fällt aber auf, daß in den Gang dieser Diskussionen ähnlich verwirrende Leerstellen eingelagert sind wie in die eigentliche Kriminalhandlung, welche die Diskussionen als eine Reihe von Kommentaren und Erklärungsversuchen begleiten. Jedenfalls gilt für die Gespräche nicht weniger als für die Affäre des ‚giallo‘ im engeren Sinn, daß sie vieles im Dunkeln lassen und ihre Positionen wie ihre Resultate lediglich durch Andeutungen und nie ganz explizite Verweise umreißen. Es handelt sich offenkundig um jenen Gesprächsstil vieldeutiger Suggestivität, den Sciascia in Il cavaliere e la morte später am Beispiel des Gedankenaustausches zwischen dem Vice und seinem jüdischen Freund Rieti charakterisiert hat: ein Reden, das sich meist („il più delle volte“) „svagatamente, per allusione, per parabole e metafore“ vollzieht. [11] Aus ihm erwächst schließlich der spezifische Erzählton, der Sciascias Texte nicht nur in ihren Dialogpartien bestimmt, sondern mehr und mehr in ihrer Gesamtheit prägt und zunehmend unverwechselbar macht. In einem solchen Ton, der anspielungsreich und zitatgesättigt an den narrativ-essayistischen Duktus der Texte von Jorge Luis Borges erinnert, spricht in Todo modo auch der Erzähler selbst, mit der Folge, daß sich der Spannungseffekt des Geheimnisses, das die Mordfälle umgibt, gewissermaßen vervielfältigt und Spuren von faktischer wie von ideologischer Rätselhaftigkeit noch auf kleine und kleinste Texteinheiten verteilt. Das Incipit des Romans, das einen Passus aus den Pirandello-Aufsätzen Giacomo Debenedettis (des „maggior critico italiano dei nostri anni“) sowohl evoziert wie zugleich kaschiert, [12] wirkt hier von Anfang an exemplarisch für ein Register, das in zweifacher Richtung, in der des Kriminalromans wie in der des Conte philosophique, nach änigmatischen Wirkungen strebt.
Die doppelte Änigmatik, die sich bereits am Romanbeginn ankündigt, muß in Todo modo um so irritierender erscheinen, als der Roman ansonsten ja wenig mit der Poetik einer – wenn man so will – herkömmlichen Avantgarde zu tun hat und insbesondere von den typischen Verfahren des Nouveau roman, erst recht von denen der Tel-Quel-Gruppe, bewußt Abstand hält. [13] Worum es Sciascia hier wie anderweit geht, ist keineswegs eine Vernichtung des Sinns, der durch die Selbstbegegnung der écriture ersetzt würde, sondern umgekehrt dessen Suggestion im Modus des Rätselhaften: eine Absicht also, welche die prinzipielle Möglichkeit von Sinn eben in dem Maß voraussetzt, wie sie ihn als einen bestimmten und traditionell garantierten suspendiert. Auch das wird schon mit dem Romanbeginn deutlich, der bei aller Rätselhaftigkeit doch keinen Zweifel daran läßt, daß ein Erzählwerk wie Todo modo sich von einem mit kriminalistischen Schemata spielenden Nouveau roman nach Art von Robbe-Grillets Les gommes in mancher Hinsicht grundsätzlich unterscheidet. Bei Robbe-Grillet wird die für den Kriminalroman charakteristische Handlungsführung nämlich bereits an der Textoberfläche so weitgehend verfremdet, daß die gattungsmäßige Krimi-Frage nach der Identität des Täters, das Whodunit, sich für den literarisch einigermaßen erfahrenen Leser von vornherein als absurd erweisen muß. Dagegen tut Sciascia zunächst alles, um eine frühzeitige Verfremdung des Gattungsschemas zu vermeiden und um den Leser statt dessen die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit einer – wie üblich – pointierten Lösung des Whodunit-Problemsin Aussicht zu stellen.
Tatsächlich gehört zu den auffälligsten Zügen, welche Todo modo auszeichnen, die Insistenz, mit der Sciascia sich über weite Strecken an die typischen Gepflogenheiten eines klassischen Detektivromans mehr noch als eines Kriminalromans hält. Eine solcher Gepflogenheiten bildet beispielsweise die Überschaubarkeit des von der Umwelt abgeschiedenen Ortes, an dem sich die Folge der Verbrechen ereignet: eine für den Detektivroman konstitutive Prämisse, die später – und dann in einem vergleichbar ekklesiastischen Milieu – auch Von Umberto Ecos Il nome della rosa befolgt, oder besser produktiv gemacht wird. Ebenfalls charakteristisch ist für den Detektivroman der ausgesprochen spektakuläre Charakter, der dem ersten Mord – der Erschießung Michelozzis –anhaftet. Er findet beim kollektiven Rosenkranzbeten statt, dessen manöverartige Prozession verblüffend präzis an die Szenerie des Mordfalls in Vargas Llosas La ciudad y los perros erinnert. [14] Was sich dort im militärischen Bereich abspielte, wird hier gewissermaßen in ein Ambiente der militia Christi übertragen; doch bleibt die Situation unter strikt detektivischen Aspekten genaugenommen die gleiche. Mit Sorgfalt wendet sich die Analyse darauf dem Hergang und den möglichen Motiven der Tat zu, welcher bald ein zweiter Mord nachfolgt. Im Lauf der Enquete tauchen bezeichnenderweise diverse Motive auf, die dem Leser von Detektivromanen bestens vertraut sind. Zu ihnen zählt die Rivalität mehrer Detektive, in diesem Fall des Staatsanwalts, des Polizeikommissars und des Ich-Erzählers, von denen der ranghöchste – der Staatsanwalt – wegen seines Opportunismus den schlechtesten Eindruck hinterläßt. [15] Der Topik des Detektivromans gehört ebenfalls das Faktum an, daß der mächtigste im Kreis der Verdächtigen, der besonders gewissenlose und phrasenhaft daherredende Minister, [16] überhaupt gegen alle Evidenz leugnet, daß jemand aus der Gruppe der Exerzitien-Teilnehmer für die Morde in Frage kommt „[...] confermo e sottoscrivo la mia opinione: l’assassino non e tra noi“ (p. 89). Demzufolge entwickelt der Ich-Erzähler – und mit ihm der Leser – Verständnis für die Ängste des unbeteiligten Hotelkochs, der nicht ohne Grund von der Furcht ergriffen wird, daß die Schuld der Mächtigen auf ihn, den Ohnmächtigen, abgewälzt werden könnte. [17]
Im übrigen prozediert die detektivische Analyse, welche den ersten beiden Morden gilt, mit jenem Bemühen um Rationalität und Konsequenz, wie es seit altersher im Detective Novel selbstverständlich erscheint. So wird zunächst festgestellt, daß der Mörder Michelozzis sich bei der Rosenkranzprozession in nächster Nähe des Opfers befunden haben muß, was unter anderem auf den avvocato Voltrano zutrifft, der dann umgehend zum zweiten Mordopfer wird. In Anbetracht der Tatumstande, wie sie speziell aus den Aussagen Voltranos hervorgehen, werden im Gespräch der Detektive verschiedene durchaus vernünftige Hypothesen gebildet: Beispielsweise könnte Voltrano von der Terrasse gestürzt worden sein, weil man in ihm einen Beobachter und Mitwisser des ersten Mords vermutete oder weil er selbst – als ein ‚Fuchs‘, wie ihn der Staatsanwalt charakterisiert – auf die Idee gekommen war, den Mörder des – nach Scalambri relativ honorigen – Spendensammlers Michelozzi zu erpressen. Ein Moment besonderer Verunsicherung und gleichzeitig Spannung entsteht dabei durch die den Detektiven gemeinsame Ahnung, daß don Gaetano über alles, was sich den Ermittlern noch verbirgt, auf dem Laufenden ist und daß er, anders als die Detektive, um die Identität des Mörders oder der Mörder weiß. [18]
Da die Ermittlungen solcherart in der orthodoxen, Spannung und optimistische Erwartung schaffenden Manier des Detektivromans aufgenommen werden, wirkt es nun jedoch doppelt frustrierend, wenn der Leser von ihren Resultaten um so weniger erfährt, je weiter der Ich-Erzähler in seinen Analysen – nach eigener Angabe: höchst erfolgreich – fortschreitet. Diese Frustration erreicht ihren Höhepunkt, als der Ich-Erzähler versichert, beim Zeichnen – vielleicht nicht zufällig: eines Aktbilds für Scalambri – die definitive Lösung gefunden zu haben, eine Lösung überdies, die so klar und offensichtlich sei wie die von Poes The Purloined Letter. Ja soluzione del problema netta e quasi owia: molto simile a quella della Lettera rubata di Poe“ (p. 108). Zu welchem Ergebnis der Maler bei seiner konklusiven Hypothesenbildung, die er ausdrücklich im Stil von Poes Erzdetektiv Dupin betreibt, konkret gelangt ist, teilt er indessen nicht mit. „Ma non voglio dire di più“ (p. 108) heißt es im gleichen Moment, in dem die Problemlösung angekündigt wird, und der enttäuschte Leser muß sich damit trösten, daß der Erzähler ihm verspricht, sein vorerst theoretisches Ergebnis am nächsten Tag empirisch zu verifizieren. Am nächsten Tag, an dem auch der Kommissar weitere Hypothesen über Michelozzis Rolle bei der illegalen Parteifinanzierung vorträgt, folgt jedoch bloß die lakonische Mitteilung des Malers, zur Verifizierung seiner Poeschen Theorie zu einem Spaziergang in den nahegelegenen Wald aufbrechen zu wollen. Was er dort findet (möglicherweise die Pistole als Tatwaffe des ersten Mordes), bleibt aber erneut im Dunkeln. Der kriminalistische Plot des Romans tritt erst wieder in den Vordergrund, als am Abend des gleichen Tags im Wald die Leiche don Gaetanos gefunden wird, zusammen mit der Pistole, die nach dem ersten Mord verschwunden war. Das ist – wenn man so will – ein Paukenschlag, der freilich an Eklat noch übertroffen wird, wie der Ich-Erzähler beim letzten Gespräch mit dem Staatsanwalt auf die Frage nach einem Alibi zur Zeit der Ermordung don Gaetanos, die Frage „E tu [...] Dov’è che te ne sei andato?“, plötzlich antwortet: „- A uccidere don Gaetano -(p. 122).
Wie verläßlich – ob ironisch oder ernst gemeint – diese Auskunft am Ende ist, läßt sich angesichts der unaufhebbaren unreliability eines jeden romanesken Ich-Erzählers kaum mit Sicherheit entscheiden. Die Entscheidung fällt hier auf der rein kriminalistischen Ebene um so schwerer, als auch ein anderer Satz des Erzählers, der eventuell Klarheit schaffen könnte, ganz und gar zweideutig wirkt. Wie der Maler auf die Nachricht von don Gaetanos Tod als letzter der Gäste bei der Leiche eintrifft, formuliert er über seine Empfindungen: „Non mi fece forte impressione, rivederlo morto“ (p. 117). Dabei läßt sich die Wendung „rivederlo morto“ in zweifacher Weise lesen. Entweder liegt bei ihr der Akzent auf „morto“, in welchem Fall gemeint ist, daß es dem Schreiber wenig ausmacht, don Gaetano als Toten wiederzusehen. Oder der Akzent liegt auf „rivederlo“, und dann würde die Wendung außerdem implizieren, daß der Schreiber den Toten zum zweiten Mal sieht. Im letzteren Fall hätte er die Leiche als einziger schon vor der allgemeinen Entdeckung gesehen, und somit wäre das spätere, wie gesagt unentscheidbare Mordgeständnis an dieser Stelle implizit vorweggenommen. Der Leser müßte sich dann allerdings nicht nur fragen, ob der Ich-Erzähler den Priester wirklich erschossen hat, sondern dringlicher noch: Weshalb hat er ihn erschossen? Weil der Priester eine moralisch korrumpierende Wirkung ausübt? Oder konkreten Weil don Gaetano zuvor Michelozzi und Voltrano umgebracht hat? Im Falle Michelozzis wäre das nach den Indizien der Prozessionsordnung zumindest nicht möglich gewesen, da don Gaetano sich bei der Prozession – wie rekonstruiert wurde – unmittelbar an der Seite des Ermordeten befand. Doch sei dem, wie ihm wolle: Eine sichere Antwort läßt sich für die strikt detektivischen Probleme des Romans wohl auch nach wiederholter Lektüre nicht gewinnen; denn für eine solche Antwort sind die im Kriminalroman üblichen Indizien zwar rhetorisch in Aussicht gestellt, aber narrativ dann offenbar mit Bedacht allzu spärlich angelegt worden. So sieht sich der Leser angesichts der Unlösbarkeit des Kriminalfalls auf die zweite Ebene der Romanhandlung, die des Conte philosophique, verwiesen, aus der er gewissermaßen komplettieren muß, was ihm die erste Ebene des Detective Novel pointiert versagt.
Freilich kann auch eine solche Ergänzung durch die Sinnbildung des Conte philosophique, wie wir oben festgehalten haben, nicht ohne Schwierigkeiten vonstatten gehen. Zwar erhalten die intellektuellen Gespräche, welche die Romanhandlung neben der Mordaffäre bestimmen, insofern eine prägnante Gestalt, als sie sich weithin um zwei Diskussionspartner und -gegner, don Gaetano und den Ich-Erzähler, konzentrieren. Dabei erinnert die Konstellation, wenn man sich auf Sciascias frühere Romane beziehen will, ein wenig an die Auseinandersetzung zwischen capitano Bellodi und dem Mafia-Boss don Mariano Arena in Il giorno della civetta. Was Inhalt und Positionen der Auseinandersetzung angeht, kommt man außerdem nicht umhin, an die Debatten Settembrinis und Naphtas in Thomas Manns Zauberberg zu denken. Gerade vor dem Hintergrund des Zauberbergs wird indessen sichtbar, was die Eigenart und zugleich die hermeneutische Schwierigkeit der Gespräche in Todo modo ausmacht. Es sind das zum einen – wie schon oben skizziert – ihr gewollter Mangel an Explizitheit, das heißt ihre bereits von der Konzision des Gesamttextes her gebotene Beschränkung auf Suggestionen und Allusionen, zum anderen die eigentümliche Asymmetrie der Diskussionsanteile, welche don Gaetano und dem Ich-Erzähler zugestanden werden.
Während bei Thomas Mann Naphta und Settembrini ungefähr über die gleiche Redezeit und – zur Wahrung gleichsam spielerischer Symmetrie – auch über ein gleiches Maß an Eloquenz verfügen, ist die diesbezügliche Chancenverteilung in Todo modo entschieden einseitig ausgefallen. Hier spielt der laizistische Maler anders als Settembrini zumindest äußerlich nur eine kleine argumentative Rolle; der abgründig kluge Priester dagegen beherrscht das Gespräch, setzt die Themen, doziert und provoziert, so daß dem Maler gegenüber den Herausforderungen des Priesters im wesentlichen bloß ein defensiver Part übrig bleibt. Selbstverständlich hat die Einseitigkeit dieser Gesprächsstrategie mit den semiotischen Voraussetzungen der Ich-Erzählung zu tun; doch kommt etwas anderes hinzu. Es handelt sich um den Hinweis, den die mise en abyme eines leitmotivisch angesprochenen Bildes, der Versuchung des heiligen Augustinus von Rutilio Manetti, für den Sinn der Erzählung gibt. Daß Don Gaetano die gleiche Art von Brille trägt wie der Versucher auf Manettis Gemälde, ist nicht nur als Symbol der ekklesiastisch-diabolischen Zwiespältigkeit seines Wesens zu verstehen. Mehr noch deutet der fortwährende Bezug auf das Bild und don Gaetanos Brille einen zentralen Zug in der Gesamtstruktur des Romans an. Wie Manettis Gemälde stellt nämlich auch der Roman den Vorgang einer Versuchung dar, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, daß im Roman die Rollen gegenüber der christlichen Bildtradition vertauscht sind: In die Rolle des Versuchungsopfers ist jetzt ein kirchenferner Laizist, der angesichts von don Gaetanos Attacken wenig zu sagen hat, geraten, während als Versucher eben nicht der alte Teufel auftritt, sondern ein Exponent der Ecclesia, der durch die Macht seiner Sprache und Argumente beunruhigend zu faszinieren weiß. [19]
So erklärt sich, daß don Gaetano, weil ihm der Part des Versuchers zufällt, immer wieder die Initiative zur Diskussion ergreift und die Fäden des Gesprächs fest in der Hand behält. Exemplarisch wird das verdeutlicht, wie der Priester dem widerstrebenden Laizisten zum Schluß die Lektüre von Pascals Pensées aufdrängt. In dieser letzten Initiative kommt wohl am klarsten die ungewöhnlich prononcierte intertextuelle Verfaßtheit des ganzen Romans zum Vorschein, welche dem Bewußtsein Ausdruck gibt, daß die Konflikte verschiedener Ethiken stets die Konflikte verschiedener Texte spiegeln und daß hinter jeder moralisch-ideologische Position eine bestimmte Art von Literatur steht. Im Sinne solcher Intertextualität wird auch die Auseinandersetzung zwischen don Gaetano und dem Ich-Erzähler zu einer Kontroverse pointiert, in der sich gleichsam figural die Opposition von Pascal und Voltaire wiederholt, und zwar in einem Modus, der an dieser Opposition eben Voltaires aufklärerischen Widerstand gegen die metaphysische Versuchung und Verführung betont, welche (nicht nur) in Sciascias Augen von Pascals Pensées ausgeht.
Bemerkenswert ist hier im übrigen, daß der Pascal, auf den sich don Gaetano beruft, unverkennbar nach dem Pascal-Bild von Borges, also einem von Sciascias wichtigsten Referenzautoren, stilisiert ist. Offenkundig führt don Gaetano gegen den Maler in erster Linie jenen Pascal ins Feld, den Borges in dem Essay La esfera de Pascal des Bandes Otras inquisiciones vorstellt. Und den er im Vergleich mit Lukrez und Giordano Bruno folgendermaßen charakterisiert „En aquel siglo desanimado, el espacio absoluto que inspirö los hexämetros de Lucrecio, el espacio absoluto que habia sido una liberación para Bruno, fue un laberinto y un abismo para Pascal“. [20] Wenn Borges in seinem Essay Pascals Haltung gegenüber dem ‚verabscheuten Universum‘ („aborrecido universo“) als eine Haltung beschreibt, die sich aus „vertigo, miedo y soledad“ zusammensetzt und die Sphäre mit dem Epitheton „espantosa“ („effroyable“) versieht, dann kehrt das gleiche Pascal-Bild in dem Akzent wieder, den don Gaetano bei den Pensies auf das Motiv des Erschreckens legt „lo spavento che Pascal sentiva di fronte all’universo“ (p. 105). Dabei ist wichtig zu unterstreichen, daß der Priester den Pascalschen Schrecken nicht nur wie Borges konstatiert (oder gar auf Distanz hält), sondern ihn begrüßt, ja auf ihn hofft. So bedauert er, daß die Geschäftigkeit moderner Forschung den gegenwärtigen Menschen noch daran hindert, sich seines Schreckens bewußt zu werden, und erwartet gleichzeitig, daß eine heilsame Konversion zum „spavento di Pascal“ – statt zum „candore di Candide“ – unmittelbar bevorsteht:
„l’uomo d’oggi [...] e tanto indaffarato a spostare i confini, come dopo una guerra vinta, che ancora non lo awerte; ma le incrinature già ci sono, da cui si insinueia lo spavento. E lo spavento cosmico sara nulla di fronte allo spavento che l’uomo avrä di se stesso e degli altri...“ (p. 105).
Darauf schließt don Gaetano dann ein wörtliches Pascal-Zitat an: „Ricorda? ,E sempre lo contraddico, finche non comprenda che e un mostro incomprensibile‘“ („et le contredis toujours, jusqu’à ce qu’il comprenne qu’il est un monstre incomprehensible“). [21]
Demnach vertritt don Gaetano zumal in der äußersten Zuspitzung des Gesprächs mit dem Ich-Erzähler gewissermaßen die Partei der Apokalypse, oder mit anderen Worten: eine Sichtweise, die alles Weltliche unter dem Aspekt des Abgrunds („abisso“) und des Falls („caduta“) betrachtet. Beide Begriffe tauchen in don Gaetanos Reden als Schlüsselwörter und Leitmotive auf. Besonders eindrucksvoll geschieht das beispielsweise, wenn der Priester – mit seiner Anspielung auf Tertullian – behauptet:
„‚con voi coabitiamo nel secolo ...‘ Giustissimo: solo che per noi il secolo, il mondo, e ben altra cosa. E l’orlo dell’abisso: dentro di noi, fuori di noi. L’abisso che invoca l’abisso. Il terrore che invoca il terrore“ (p. 77).
Oder wenn sich don Gaetano wenig später mit der folgenden Kritik an seinen laizistischen Gesprächspartner wendet:
„– Ecco che lei torna alle parole che decidono, alle parole che dividono: migliore, peggiore; giusto, ingiusto, bianco, nero: E tutto invece non e che una caduta, una lunga caduta: come nei sogni...“ (p. 77f.).
Es ist das im übrigen der Moment eines dramatischen Coup de scène; denn in eben dem Augenblick, in dem don Gaetano im moralischen Sinn vom ‚langen Fallen‘ der irdischen Welt spricht, wird entdeckt, daß auch das zweite Mordopfer, der avvocato Voltrano, einen konkret fatalen Fall von der Höhe der Terrasse getan hat.
Für die apokalyptische Perspektive, die don Gaetano propagiert, wird die Kirche in einer Welt des Abgrunds und des unabsehbaren Falls gleichsam zum Floß der Medusa: Bezeichnenderweise kreist ein intensives Gespräch um das berühmte Gemälde Géricaults, um Mallarmes Gedicht Brise marine und um die im Sinne von Graham Greenes Roman The Power and the Glory abgehandelte Frage der guten und der schlechten Priester. Das Floß der Medusa befindet sich in einer Welt, in der die Katastrophe, der finale Schiffbruch, bereits stattgefunden haben soll, [22] oder zumindest in einer Welt, in der wie don Gaetano es sieht keinerlei staatliche Ordnung mehr existiert. [23] Daher besteht ein weiteres von don Gaetanos ideologischen Leitmotiven in der Überzeugung, daß dem von Abgrund und Apokalypse faszinierten Christen, der die Aufklärung widerruft und auf die Erlösung setzt, in einer solchen Welt der „lunga caduta“ alles erlaubt ist. „Io permetto tutto. Ammetto e permetto“ (p. 39), sagt der Priester in bezug auf die „dantesca bolgia dei ladri“ (p. 46), als welche die Eremitei (das Luxushotel) und mit ihr (ihm) die classepolitica Italiens hier erscheint. Und ein anderes Mal äußert er die Devise:
„‚Dio esiste, dunque tutto ci e permesso‘ [...] E nella sua vera essenza, questo e il cristianesimo: che tutto ci e permesso. Il delitto, il dolore, la morte: crede sarebbero possibili, se Dio non ci fosse?“ (p. 76).
So wird, um das Ende und folglich das Heil zu beschleunigen, sogar die ‚Zerstörung‘ erlaubt und begrüßt. Wie don Gaetano das 18. Jahrhundert, also die Aufklärung, zurückweist („il secolo diciottesimo ci ha fatto perdere il senno“), um stattdessen die Katastrophen des zwanzigsten willkommen zu heißen („il ventesimo ce lo farà riguadagnare“), da feiert, ja verlangt er schließlich explizit auch das heilsame Übel der Destruktion: „- Non c’e altra via, non c’e altro scampo. Distruggere, distruggere...“(p. 104). [24]
Selbstverständlich handelt es sich bei der Religiosität, die don Gaetano sowohl luziden wie dämonischen Reden zugrunde liegt, um einen höchst eigentümlichen Motivkomplex, in dem sich durch die Faszination der Apokalypse Pascalsche Perspektiven mit alten gnostischen Überlieferungen verbinden. Man kann ihn – wie Rossa Dedola das tut [25] - trotz aller Ambivalenzen, welche Sciascia, der jede direkte Denunziation vermeidet, ihm beläßt, durchaus als einen „discorso totalitario“ charakterisieren, zumal er in mancher Hinsicht an das ähnlich totalitäre Rechtsverständnis des presidente Riches in Il contesto anschließt. [26] Auf jeden Fall steht don Gaetanos ‚totalitärer Diskurs‘ insofern in einem engen Verhältnis zur Ebene der kriminalistischen Romanhandlung, als sein Aufruf zur apokalyptischen Destruktion eigentlich das einzige Indiz abgibt, das den Priester als Täter oder zumindest als Verantwortlichen bei der Ermordung der beiden weltlichen Führungskräfte ausweisen könnte. Gleichzeitig wäre die Versuchung, die von don Gaetanos ‚totalitärem Diskurs‘ ausgeht, das eher ideologisch als sensu scricto kriminalistisch begründete Motiv für den Mord, den der Erzähler sich am Ende überraschenderweise selbst zuschreibt. Es fällt nämlich auf, daß der Erzähler mehrfach die partielle Identität seiner Weltsicht mit jener don Gaetanos betont. Freilich ist wichtig festzuhalten, daß diese Identität partiell bleibt eben eine Versuchung und bloße Faszination. Gegen sie setzt der Erzähler, der bei den ideologischen Debatten im Vergleich zu don Gaetano beinahe sprachlos wirkt, nur wenige Argumente ein, die selten ganz explizit werden, aber gerade in ihrer Kargheit eine bewegende – und ihrerseits paradoxal religiös gefärbte – Konstanz, ja Tapferkeit bei der Treue zur Aufklärung verraten. Solche Argumente sind in abgekürzter und gleichsam zeichenhafter Form die obstinate Berufung auf den Candide und dessen Ethos der Praxis, ein kurzes Voltaire-Zitat („L’homme n’est point une enigme“ alias „Non sono un mostro incomprensibile“), das Pascals Pensées opponiert, sowie am Romanende quasi als Pointe ein längeres Zitat jener Episode aus Gides Les caves du vatican, in der Anthime, der ehemalige und neuerliche Freidenker, sich von Julius, dem opportunistischen bien-pensant, und der Kirche lossagt, um zur fragilen Humanität und Unerlöstheit seiner Krankheit zurückzukehren. [27] Allein diese Zitate können durch ihren Widerspruch gegen don Gaetanos dunkel verführerische Eloquenz auch die Ermordung des Priesters, die der Erzähler sich – mit einem unentscheidbaren Grad von Ernst oder Ironie – arrogiert, halbwegs plausibel machen: zumindest auf der symbolischen Ebene des Conte philosophique als Befreiung von der Faszination durch Kirche und Apokalypse, einer Faszination, die der Erzähler – hierin Gides Anthime vergleichbar – zum Schluß hinter sich läßt wie das Christus-Bild, das er gezeichnet hat, oder den Band der Pensées, der ihm von don Gaetano aufgedrängt wurde.
Indessen liegt die Besonderheit des Romans darin, daß die zuletzt entwickelten Deutungsversuche Hypothesen bleiben müssen, was die kriminalistische Handlungsebene mit ihren sozusagen materiellen Indizien anbelangt. Nahegelegt werden sie lediglich durch den Gang der moralisch-ideologischen Handlungsebene, die am Ende zwar mehr und mehr das Übergewicht gewinnt, aber auch ihrerseits wiederum eher mit Suggestionen als mit Affirmationen voranschreitet. Vor allem muß noch einmal gesagt werden, daß diese zweite Handlungsebene eine frappante Ungleichmäßigkeit zwischen den Argumentationsanteilen der Disputanten offenbart. Was als gefährliche Versuchung gelten soll, kommt breit und glanzvoll zu Wort, während die Position einer Sorge um die irdische, pragmatische Gerechtigkeit, die wir sonst als Sciascias spezifische Perspektive kennen, fast wort- und begriffslos in der Defensive verharrt (sieht man von der eventuellen symbolischen Tötung des Versuchers ab). Zwar sollen die Tendenzen der Geschichte wohl auch in Todo modo dank der Emanzipation des Erzählers von don Gaetano auf eine Rehabilitation der Aufklärung hinauslaufen; doch ist diese Rehabilitation – wie es der Lauf der Welt historisch nahelegt – überaus skeptisch, ja kleinlaut geworden. Wie Aufklärung in der kriminalistischen Detektion nicht länger triumphiert, so erweist sie sich auch in der Moraldebatte als ungesichert nicht eine garantierte Gewißheit, sondern gleich der Detektion eine Aufgabe, die gegen Widerstände und durchaus starke Gegenargumente erst noch zu leisten ist.
1 Leonardo Sciascia: Cruciverba, Torino 1983. p. 231. Im gleichen Aufsatz, dem dieser Begriff entstammt („Breve storia del romanzo poliziesco“. ebd., p. 216–231), macht Sciascia auch aufschlußreiche Bemerkungen über den „ruolo di inferiorita e passivita intellettuale“, zu dem der Leser von traditionellen Kriminalromanen mit regelrechter Lösung verleitet wird (ebd., p. 2l6ff.).
2 Vgl. zu ihr den wegweisenden Aufsatz von Hinrich Hudde: „Das Scheitern des Detektivs – Ein literarisches Thema bei Borges sowie Robbe-Grillet, Dürrenmatt und Sciascia“, in: Romanistisches Jahrbuch 29 (1978), p. 322–342.
3 Dazu ausführlicher Ulrich Schulz-Buschhaus: „Funktionen des Kriminalromans in der post-avantgardistischen Erzählliteratur“, in: Ulrich Schulz-Buchhaus/Karlheinz Stierle: Projekte des Romans nach der Moderne, München 1997, p. 331–368, hier p. 359ff.
4 In bezug auf Sciascia spricht auch Stefano Tani vom Typus des „innovative anti-detective novel“, den er vor allem in ciascuno il suo verkörpert sieht. Freilich ist es irreführend, ciascuno il suo – wie Tani es tut – unter diesem Begriff typologisch mit Umberto Ecos Il nome della rosa gleichzusetzen. Vgl. Stefano Tani: The Doomed Detective. The Contribution of the Detective Novel to Postmodern American and Italian Fiction, Carbondale-Edwardsvilfe 1984.
5 Zu den narrativen Verfahrensweisen, die Sciascia dabei im einzelnen anwendet, vgl. Ulrich Schulz-Buschhaus: „Sciascias beunruhigende Kriminalromane“, in: Italienische Studien 1 (1978). p. 43–53. Über seine Sicht des amerikanischen Kriminalromans äußert Sciascia selbst sich in der schon zitierten „Breve storia del romanzo poliziesco“; vgl. Cruciverba, p. 226ff, Allerdings formuliert Sciascia als Literarhistoriker dort nicht ganz korrekt, wenn er Sam Spade, den Detektiv des Maltese Falcon, als „il detective dei romanzi di Dashiell Hammett“ (ebd., p. 226) bezeichnet, so als wäre er bei Hammett ebenso eine Serienfigur wie Philip Marlowe in den Romanen Raymond Chandlers.
6 Besonders eklatant kommt das am Ende von A ciascuno il suo zum Ausdruck, wo der Außenseiterstatus des „povero Laurana“ durch don Luigis zynisches (und unter dem Gesichtspunkt der Moral natürlich antiphrastisch zu verstehendes) Schlußwort „Era un cretino“ vom Konsens der Gesellschaft sozusagen besiegelt wird; vgl. Leonardo Sciascia: A ciascuno il suo, Torino 1971 (11966). p. 134.
7 Leonardo Sciascia: Il contesto. Torino 1971, p. 102. wo der Vorgang einer Aufklärung, die selber nicht näher erläutert wird, in dem Satz resümiert: „Raccontò tutto a Cusan“.
8 Vgl. dazu den Text Examen de la obra de Herbert Quain in: J. L Borges: Fictiones, Buenos Aires 1973 (11956), p. 77–83, hier p. 78f.
9 Die maliziösen Karikaturen der „neoanarchici evangelici“. Des Herausgebers der Zeitschrift „Rivoluzione permanente“ oder des .revolutionären Schriftstellers Nocio, die Sciascia in diesem Zusammenhang präsentiert, gehören wohl zu den scharfsichtigsten Momenten des Romans und würden m.E. eine genauere Analyse im Kontext der kulturrevolutionären Literatur nach 1968 verdienen. Im Hinblick auf Todo modo interessant ist auch der Umstand, daß Nocio, der Pascals berühmtes Argument der Wette für den Glauben an die Revolution einsetzt (Il contesto, p. 60f.), sich schon ähnlich auf die Pascalschen Pensées stützt wie später don Gaetano.
10 Auf eine analoge Pointe läuft dann übrigens Sciascias vorletzter Kriminalroman, die ‚Sotie‘ Il cavatiere e la morte, hinaus, wo es für den Inhaber der Macht gleichfalls darum geht, die Fiktion einer revolutionären Verschwörung, der .figli dell’ottantanove“, zu unterhalten, um sie als eine Art Alibi für die Stärkung der eigenen Autorität zu nutzen. Dementsprechend lautet in diesem Roman das Fazit der Intrige: „Si può sospettare [...] che esista una segreta carta costituzionale che al primo artieoio reciti: La sicurezza del poiere si fonda sull’insicurezza dei cittadini“. Vgl. Leonardo Sciascia: Il cavaliere e la morte, Milano 1988, p. 60.
11 Ebd., p. 56.
12 Der Passus, auf den der Romanbeginn anspielt, findet sich in G. Debenedettis Saggi critici, Seconda Serie, Milano 1955, p. 280. Zum Incipit von Todo modo insgesamt, wo neben dem Zitat Debenedettis möglicherweise auch eine Wendung von Mallarmé als Subtext auszumachen ist, vgl. R. Stillers: „Spazio narrato e spazio della narrazione. Riflessione sulla poetica di Leonardo Sciascia“, in: M. Picone/P. de Marchi/T Crivelli (Hg.): Sciascia, scrlttore europeo, Basel-Boston-Berlin 1994, p. 131–150, hier p. 144ff.
13 Über seine Distanz zur Avantgarde etwa eines Philippe Sollers äußert sich Sciascia mit bemerkenswerter Entschiedenheit, ja Schärfe in einem französischen Interview aus dem Jahr 1987; vgl. J. Dauphine: Leonardo Sciascia. Qui êtes-vous?, Paris 1990, p. 148.
14 M. Vargas Llosa: La ciudad y los perros, Barcelona 1983 (11963), p. 188. Zu diesem literarischen Modell gesellt sich nach Sciascias eigener Aussage die persönliche Erfahrung von abendlichen „Esercizi spirituali“, denen Sciascia in dem Salesianer-Hotel Emmaus in Zafferana Elnea beigewohnt hat; vgl. Leonardo Sciascia, La Sicitia come metafora. Intervista di Marcelle Padovani, Milano 1979, p. 67.
15 So etwa bei der Kontroverse über die Bedeutung, welche den fünf Damen, offensichtlich den Geliebten einiger besonders privilegierter Führungskräfte, in der Affäre zukommen mag; vgl. Leonardo Sciascia: Todo modo, Torino 1974, p. 93ff. (Auf diese Ausgabe beziehen sich im Folgenden die Seitenangaben im Text).
16 Zur Phrasenhaftigkeit des Ministers, welche ihn signifikant von der suggestiven Rhetorik don Gaetanos unterscheidet, ebd., p. 62f.: eine Gesprächsszene, auf die der Erzähler bezeichnenderweise mit dem Kommentar „Già dalle prime battute mi pareva di stare a sentire del Ionesco“ reagiert. Die Gewissenlosigkeit des Ministers kommt zum Vorschein, wie er – literarisch ahnungslos – eine Maxime von La Rochefoucauld widerspricht: „‚Nessuno merita di essere lodato per la sua bontà se non ha la forza di essere cattivo‘... Ma come massima, direi che e cretina: chi ha la forza di essere cattivo e cattivo-“ (ebd., p. 97).
17 Wie es tatsächlich auch vom Minister versucht wird; vgl. ebd., p. 98. In seinem letzten Kriminalroman Una storia semplice hat Sciascia dies Motiv am Beispiel des willkürlich trakassierten Volvo-Fahrers dann nicht breiter ausgeführt.
18 So meint zunächst der Erzähler „Sapeva. Secondo me, o almeno intuiva“ (ebd., p. 71), darauf mit prononcierter Analogie der Staatsanwalt: „Ah, ecco finalmente un punto fermo: don Gaetano sa tutto“ (ebd., p. 86).
19 Im gleichen Sinn wird die Konstellation des Romans auch von Sciascia selbst beim Interview mit Marcelle Padovani zusammengefaßt; vgl. Leonardo Sciascia: La Sicilia come metafora, p. 63f.: „Il cattolicesimo é tentatore, per chi e nato in quella sfera. Io ho tentato di fare definitivamente i conti con il cattolicesimo in Todo modo“.
20 Jorge Luis Borges: Otras inquisiciones, Madrid 1979 (Buenos Aires 11960), p. 16.
21 Blaise Pascal: Pensées, Paris 1977, p. 111.
22 Weshalb der Priester den Erzähler, über dessen Seelenregungen er anscheinend mit psychologischer Tiefenhermeneutik verfügt, folgendermaßen zur Konversion anhält „[...] lei sta nuotando per raggiungere la zattera. Perche il naufragio c’e già stato“. Wie immer in die Defensive gedrängt, versucht der Erzähler auch hier, trotzig auf der Gegenthese zu beharren: „Ma no, non stavo nuotando per raggiungere la zattera. E nemmeno c’era già stato il naufragio“. Vgl. Leonardo Sciascia: Todo modo, p. 49.
23 Ebd., p. 115: „- Ma signori – disse don Gaetano al ministro e al presidente – spero non mi darete il dolore di dirmi che lo stato c’e ancora... Alla mia eta, e con tutta la fiducia che ho avuto in voi, sarebbe una rivelazione insopportabile. Stavo cosi tranquillo che non ci fosse più...“. Diese ironisch getönte Äußerung gewinnt im Ganzen der Romankomposition um so mehr Gewicht, als es sich um die letzten Worte handelt, die don Gaetano, bevor er tot aufgefunden wird, in direkter Rede spricht. Was die Wertung ihrer ideologischen Tendenz betrifft, muß man sich erinnern, daß es noch in Il contesto für den idealistischen Detektiv darum gegangen war, den ,Staat‘ gegen dessen Usurpanten zu ‚verteidigen‘: „In pratica, si trattava di difendere lo Stato contro coloro che lo rappresentavano, che lo detenevano. Lo stato detenuto. E bisognava liberarlo“. Vgl Leonardo Sciascia: Il contesto, p. 83.
24 Als direkter Kommentar zu diesem Passus – und überhaupt zu Todo modo – ist wohl eine Meinungsäußerung Sciascias im Gespräch mit Frau Padovani zu werten, welche besagt „che lo stesso terrorismo sia ricerca di Dio, sete di misticismo, bisogno di quell’assoluto che Dio può dare“. Leonardo Sciascia: La Sicilia come metafora, p. 64.
25 Vgl. R Dedola: „Sciascia e l’enigma: owero un sogno che nasce in Europa“, in: Picone/De Marchi/Crivelli: Sciascia, scrittore europeo, p. 229–245, hier p. 240.
26 Vgl. ebd., Dedolas Hinweis auf die Fragwürdigkeit von don Gaetanos Doktrin: „E in verita quella che lei chiama l’invenzione della legge altro non e che questo: il diventare tutti colpevoli“. Sie ähnelt in der Tat Riches’ Theorie der „decimazione“, wobei bezeichnend ist, daß sich Riches ebenso wie don Gaetano für eine Widerlegung Voltaires – hier speziell des Traité sur la tolerance – engagiert. Vgl. Leonardo Sciascia: Il contesto, p. 88f.
27 Vgl. A Gide: Les caves du Vatican, Paris 1965, p. 241f. Es handelt sich um den Schluß von Kapitel V 6, beginnend mit dem Satz „Tous deux demeurèrent quelques instants silencieux“.
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