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Quelle: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 23, 1999, S. 431–446.

Parinis Giorno und die Ambivalenzen der Aufklärung

In Anbetracht seiner geringen außeritalienischen Fortüne kann nicht oft genug betont werden, daß Parinis unvollendetes Tageszeitenepos Il Giorno zuden komplexesten und folglich schwierigsten, aber deshalb auch interessantesten Texten gehört, welche die italienische, ja die europäische Literatur zu bieten hat. [1] Daß es sich um einen überaus komplexen Text handelt, mag bereits die Geschichte seiner Genese oder, genauer gesagt: seiner Unvollendetheit, andeuten. [2] Veröffentlicht wurden zu Parinis Lebzeiten in relativ rascher Folge ja lediglich die beiden ‚poemetti‘ Il Mattino (1763)und Il Mezzogiorno (1765).Was Parini weiterhin zur Vollendung des Tags, der öffentlich bloß bis zum Mittag gediehen war, noch geschrieben und entworfen hat, ist Fragment geblieben. Dabei änderte sich in den Dezennien zwischen 1765und Parinis Tod im Jahr 1799nicht nur das Konzept der Tageszeiten, die zunächst in einer Gliederung von drei Gesängen noch eine Sera vorsahen, um dann später mit Vespro und Notte zueiner die Maße der Vergilschen Georgica erfüllenden Ordnung von vier Gesängen ausgeweitet und differenziert zu werden. Gleichzeitig wurden auch die schon publizierten Teile des Giorno geändert, welche Parini einer langwierigen Revision unterzog: in erster Linie – von einem an Flaubert erinnernden Ideal makelloser ästhetischer Perfektion besessen – aus sprachlich-stilistischen Gründen, teils indes wohl auch aus ideologischen Motiven, die offenkundig mit den tiefen historischen Brüchen des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu tun haben. [3]
Formal stellt sich die Komplexität von Parinis Giorno vor allem durch seine ungewöhnlich komposite Gattungsstruktur dar. Sie präsentiert auf einer ersten und – wenn man so will – fundamentalen Ebene das der Epoche teure Genus eines ‚Lehrgedichts‘, das in Italien bekanntlich ‚Lehrepos‘, nämlich „poema didattico“, heißt. Eben die epische Komponente des „poema didattico“ wird von Parini im Giorno auch mit bis dahin unerhörter Anstrengung valorisiert und ausgebaut, indem die verschiedenen dem „Giovin Signore“ empfohlenen Beschäftigungen sich – ironisch stilisiert – in gleichsam heroische Taten verwandeln. Diese Stilisierung der Didaxis des Tageslaufs ins Epische hängt nun wieder damit zusammen, daß sie moralisch nicht ernst gemeint, sondern nach dem Satirenschema der ‚falschen Lehre‘ angelegt ist. Die Moral der Didaxis und die Emphase des Epos sind also grundsätzlich antiphrastisch zu lesen: Wenigstens prinzipiell werden sie zu Instrumenten der Satire, die den Adressaten der (falschen) Lehre und den Helden des (falschen) Epos kompromittieren und erniedrigen sollen, statt ihn – und mit ihm seinen gesamten aristokratischen Stand – zu illustrieren, wie es der enkomiastischen Tradition entsprach und durch die Wörtlichkeitsebene des Giorno immerhin noch über weite Strecken simuliert wird.
Von selbst versteht sich, daß mit der komplexen generischen Struktur, die den Giorno kennzeichnet, vielfältige semantische Ambivalenzen verbunden sind. Deren wichtigste und jedenfalls am häufigsten kommentierte erwächst aus der mehrfachen Gebrochenheit der Satire, welche im Giorno wohl gelegentlich auch direkt artikuliert wird, im allgemeinen aber der antiphrastischen Umkodierung des wörtlichen Epentons und der wörtlichen Positivität eines „amabil rito“ bedarf. Dazu kommt der unleugbare sinnliche Glanz, den die Welt des opulenten aristokratischen Müßiggangs in den Schilderungen von Parinis Präzeptor empfängt. Er ist einerseits gewiß als Teil der Satire intendiert, nicht zuletzt um die Sprache des Präzeptors in ihrer blamabel euphemistischen Servilität bloßzustellen. Andererseits verraten die Schilderungen indes auch eine sensuelle Faszination durch den Schein schöner Oberflächen, welche mit den übergeordneten Absichten des Satirikers interferiert und sich ihnen gegenüber mitunter durchaus verselbständigt. Von der italienischen Kritik ist diese Verselbständigung faszinierter Beschreibung, die ihre satirischen Intentionen gelegentlich vergessen läßt, immer wieder hervorgehoben worden [4] , manchmal ein wenig disproportional, da sie im Sinne der Ästhetik Croces ja eher zum Höchstwert der „poesia“ führen konnte als die generisch eingeschränkte Haltung der Satire.
Eine andere Ambivalenz betrifft in Parinis Giorno die Position, welche der Text zu den idealtypischen Interessen und Errungenschaften der Aufklärung einnimmt. Auch hier spielt bereits die Komplexität der Gattungsstruktur eine irritierende Rolle. Unter ihren Schichten lassen sich zwei als spezifisch aufklärerisch begreifen; denn von den Tendenzen der Epoche werden sowohl die praktisch-pädagogische Attitüde des Lehrgedichts wie deren kritische Funktionalisierung durch eine Art potenzierter Satire getragen. Weniger leicht ist dagegen die epische Komponente des Textes mit dem Inbegriff von Aufklärung zu vermitteln. Sie kommt ihm partiell nahe, soweit sie satirisch funktionalisiert der Blamage des „Giovin Signore“ und seiner Adelswelt dient. Sie widerstrebt ihm aber in dem Maße, in dem ihre Evokation heroischer Vergangenheiten und überhaupt die aller glatten Kommunikation abholde Elaboriertheit ihrer Sprache ein insgeheim nostalgisches Eigengewicht gewinnen: eine gleichsam autonome Bedeutung, die dazu verführen mag, den Giorno als quasi letzten Versuch epischer Dichtung zu lesen, der schon im vollen geschichtsphilosophischen Bewußtsein der ‚historischen Unmöglichkeit des Epos‘ unternommen wurde. [5]
Ambivalent bleibt die Haltung des Giorno zur Aufklärung freilich auch, was die inhaltlichen Momente einer Philosophie oder Ideologie der „lumières“ angeht. Von seiner diesbezüglichen Gespaltenheit legt der Text sogar ein unmittelbares Zeugnis ab, indem er wiederholt auf die Rezeption der französischen Neuerungen durch den „Giovin Signore“ zu sprechen kommt. Wie nachdrücklich er das tut, wird im übrigen nicht nur von der relativen Ausführlichkeit der respektiven Passagen unterstrichen, sondern mehr noch von dem Umstand, daß sie gerade in den beiden publizierten Teilen des Giorno,also zunächst im Mattino und dann im Mezzogiorno,einen jeweils zentralen Platz erhalten haben. Man darf demnach vermuten, daß es sich in diesem Fall – anders als bei dem Mangel an Eindeutigkeit zwischen Luxus-Denunziation und Luxus-Faszination – um eine Ambivalenz handelt, die dem Autor selbst sehr bewußt war und die deshalb in ihren divergenten Aspekten auch mit Absicht exponiert, ja inszeniert wird.
Bezeichnend ist für beide Passagen der Zusammenhang mit dem Thema der Mode, in dem das Verhältnis des „Giovin Signore“ zur Literatur der französischen Aufklärung sowohl im Mattino wie im Mezzogiorno angesprochen wird. [6] Dieser Zusammenhang gibt den Erwähnungen französischer Schriften – was die Kommentatoren nicht immer ausreichend deutlich machen – eine von vornherein negativierende Note, da jede Empfehlung des Präzeptors in Anbetracht des antiphrastischen Systems, nach dem der Text funktioniert bzw. funktionieren soll, ja prinzipiell in eine moralische Kritik übersetzt werden muß. Im Mattino kann man den Zusammenhang geradezu als eine Rahmung bezeichnen; denn auf die Lektüre-Vorschläge folgt die Episode vom fahrenden Händler, dessen Mode-Artikel den Anlaß zur – falschen – Apotheose des Luxus bilden, und eingeleitet werden die Vorschläge, indem ihr materielles Substrat, das allein als ein pretioses bibliophiles Objekt geschilderte „Picciol libro elegante“, neben anderen Mode-Artikeln auf dem Toilettentisch des „Giovin Signore“ auftaucht.
So ist von Anfang an klar, daß auch die Lektüre des „Giovin Signore“ – nicht anders als Toilette oder Kleidung – eine Angelegenheit der Mode bleibt. Das betrifft zunächst schon den Akt des Lesens selbst, der im Zeichen von Langeweile und Zufall steht, da dem müßigen Leser im Hinblick auf das „libro gentil“, das er mit zögernder Hand ergreifen soll, der Rat zuteil wird: „[...] e non senza sbadigliare un poco, Aprilo a caso“ (Mattino 595f.). [7] Wesentlicher ist freilich die Auswahl der Autoren und Werke, also der Lektüre-Kanon, den der Präzeptor seinem Zögling und Herrn ans Herz legt. Er wird beherrscht von der Gestalt Voltaires, und das hat eine tiefere Bedeutung, als den Kommentatoren und Interpreten des Giorno im allgemeinen bewußt zu sein scheint.
Zwischen Parini und Voltaire existiert nämlich – außer der im Settecento quasi unvermeidlichen geistesgeschichtlichen – eine ganz konkrete intertextuelle Verbindung. Durch sie bezieht sich das Projekt des Giorno als Replik auf Voltaires „Badinage“ Le Mondain,einen Text, der ja genau wie der Giorno den idealtypischen Tageslauf eines wohlhabenden jungen Mannes („le train des jours d’un honnête homme“) unter den Bedingungen der avancierten europäisch-metropolitanen Zivilisation beschreibt. Dabei ist Parinis Giorno insofern als Replik zu werten, als er eben die Momente von sensuellem Genuß zu kritisieren trachtet, welche in Voltaires Mondain – nicht ohne Untertöne eines ökonomisch-moralische Inkompatibilitäten betonenden Zynismus – gefeiert werden. Wenn der Giorno dem Mondain solcherart repliziert, tut er das überdies in der sehr prägnanten Figur einer chiastischen Gattungsopposition von Satire und Lehrgedicht, welche Parini offenbar mit Bedacht arrangiert hat. [8] In Voltaires Mondain bildete die Satire gewissermaßen den generischen Ausgangspunkt des Textes, der sich dann freilich gegen die traditionell realitätsvernichtende Haltung der Satire wendete, um sie in der realitätsbejahenden Haltung („haec aetas moribus apta meis“) eines heiteren Lehrgedichts à la Ovids Ars amatoria aufzuheben. Dagegen verfährt Parinis Giorno exakt umgekehrt: In ihm gibt die Form des Lehrgedichts, welche die aktuelle Wirklichkeit freundlich zu affirmieren pflegt, den generischen Rahmen ab, der dann von seinem Inhalt quasi systematisch dementiert und durch die Attitüde der falschen Lehre – trotz mancher hedonistischen Interferenzen – mehr oder weniger unerbittlich ins Satirische gewendet wird.
Daß Voltaire unter den ,,leggiadri studi“ des „Giovin Signore“ die erste Stelle einnimmt, hat demnach nicht allein mit seiner Berühmtheit und dem in der Tat außerordentlichen literarischen wie historischen Rang seiner Schriften zu tun, sondern beruht auf einem distinkten Oppositionsverhältnis. Gleichwohl wird die – auch positive – Bedeutung, die Voltaires Werken zukommt, von Parini nicht schlechterdings geleugnet: Immerhin gilt Voltaire hier als ‚vielgestaltiger Proteus‘ französischer Literatur und Kultur, und wenngleich vom (diesmal nicht antiphrastisch zu verstehenden) Präzeptor mit stärkerem Akzent ein Zuviel des Voltaire-Lobs moniert wird, gibt es vorher doch auch einen Einwand gegen ein Zuviel des Voltaire-Tadels, wie er bei der anti-aufklärerischen Fraktion der Settecento-Literatur (man denke an Carlo Gozzi!) verbreitet war. [9] Der stärkere Akzent liegt indes – wie gesagt – ohne Zweifel auf der Kritik. Sie hat einen patriotischen Aspekt, den bereits die Emphase der Anastrophe bei der Anrufung des französischen Proteus andeutet: „O de la Francia Proteo multiforme“ (Mattino 598). Die gleiche Figur wird bei der analogen Anrufung der Ninon de Lenclos wiederholt (Mattino 610: „Tu de la Francia onor“), während „Italia“ demgegenüber als Opfer französischen Diebstahls erscheint, den – wie periphrastisch festgehalten wird – etwa La Fontaine an Boccaccio oder Ariost begangen habe.
Indes ist das Motiv des Patriotismus bei dieser Kritik an Voltaire und anderen Franzosen wohl nicht das entscheidende. Mit größerer Insistenz und zugleich größerem Raffinement betreibt der Text die Stilisierung Voltaires zum Inbegriff des Modischen, welcher in der Literatur gleichsam jene „fregi e giojelli a cui la moda Di viver concedette un giorno intero“ (Mattino 653f.) vertritt, die in der nächsten Episode der fahrende Händler feilbietet. Zu einer solchen Stilisierung und Degradierung tragen in dem Passus des Mattino verschiedene Mittel bei: so das untergründige Oxymoron vom „eterno cibo“, das mit „novi modi“ aufgetischt werde, oder die parodistische Auszeichnung Voltaires als „maestro Di coloro che mostran di sapere“ (Mattino 602f.), welche Dantes Formulierung vom „maestro di color che sanno“ (Inferno 4,131) aufgreift und Voltaire dadurch zum prätentiös falschen Aristoteles erklärt. Worauf der Passus hinaus will, ist folglich die Negation oder wenigstens Verdrängung des ernsthaft philosophischen Anspruchs der Voltaireschen Schriften. Statt dessen soll die Gleichordnung mit Ninon de Lenclos, mit dem La Fontaine der Contes et Nouvelles oder mit diversen Verfassern orientalisierender erotischer Romane, unter denen man beispielsweise Crébillons Le Sopha erkennen mag, Voltaire zu einem frivolen Autor essentiell galanter Unterhaltungsliteratur machen, das heißt: eben zumAutor des Mondain. [10] Was der Mondain an ‚philosophischer‘ Hintergründigkeit in Sachen Religions- und Traditionskritik oder merkantilistischer Luxus-Apologie enthielt, stellte sich für Parini nämlich gleichfalls als eine Art galanter Klassen-Philosophie dar: als Ideologie einer libertinistischen Oberschicht, deren Rechtfertigung in Gestalt des „Mondain“ durch dessen Kontrafaktur, den „Giovin Signore“, satirisch umzukehren war.
Die Lektüre-Episode des Mattino läßt demnach im Verhältnis des Giorno zur Aufklärung eine – wenn man so will – schiefe Ambivalenz erkennen, bei der die negative Seite weit stärker ausgeprägt erscheint als die positive. Durch Voltaire und speziell den Voltaire des Mondain verkörpert, bedeutet Aufklärung hier eine Ideologie des zügellos gewordenen, weil von den Normen der Tradition befreiten Sensualismus. Wie die anschließende Episode vom fahrenden Händler suggeriert, verschmäht diese Ideologie den Wert der allgemeinen Bedürfnisse, der „Necessitade“, und fördert dafür den Wert des sich unablässig steigernden ‚Luxus‘. [11] Ihre partiell gewiß emanzipatorische Wirkung kommt somit – wie Parini es sieht – allein den Besitzenden und jenen Sparten von Handel und Industrie zugute, welche auf die Interessen der Oberschicht ausgerichtet sind. Dagegen droht sie, die Welt der elementaren Bedürfnisse, welche die von Parini verteidigte traditionale Welt der Bauern und Handwerker ist, ins Elend zu stoßen und die alten Standesschranken als neue ökonomische Klassentrennung zu vertiefen. [12]
Im Mezzogiorno wird die Episode des Mattino nun dergestalt wiederaufgenommen, daß sich ihre schiefe Ambivalenz in eine explizite Distinktion verwandelt und pointiert. Ging es im Mattino noch um die zunächst stille Lektüre, dann kommt für den „Giovin Signore“ mittags der Moment, bei dem es heißt, aus seiner Lektüre einen entsprechenden Konversationsprofit zu ziehen, oder mit den Worten des Präzeptors gesagt: „[...] Ma fia la mensa Il favorevol loco ove al sol esca De’ brevi studj il glorioso frutto“ (Mezzogiorno 961ff.). Gegenstand der ‚kurzen Studien‘ sind selbstverständlich in erster Linie die „novi Sofi“, die ‚neuen Philosophen‘ aus Frankreich und der (französischen) Schweiz. Daß sie mit Selbstverständlichkeit den Mittelpunkt von Lektüre und Gespräch bilden, wird erneut durch die Modeabhängigkeit unterstrichen, welche allen Handlungen des „Giovin Signore“ und seiner gesellschaftlichen Sphäre zu eigen ist. Bevor das Gespräch sich den neuen Philosophen zuwendet, hat der Präzeptor nämlich schon – wie in einem Leitmotiv – in Erinnerung gebracht, daß die Mode sogar über die Auswahl lateinischer Autoren wacht, die der junge Herr lesen, oder genauer: für die er in der Öffentlichkeit Interesse demonstrieren soll: „[...] La Moda impone, Ch’Arbitro, o Flacco a un bello spirto ingombri Spesso le tasche“ (Mezzogiorno 931ff.).
Obwohl der Kontext jenem der Episode im Mattino also ähnlich ist, fällt die Präsentation der „novi Sofi“ selbst im Mezzogiorno um einige Nuancen freundlicher aus. Das zeigt sich vor allem daran, daß die nurmehr zwei Autoren, die hier spezielle Erwähnung finden, in ihren philosophischen Ansprüchen jetzt durchaus ernst genommen werden. Außerdem profitieren sowohl Rousseau, der „novo Diogene, dell’auro spregiatore E della opinione de’ mortali“, als auch Voltaire, der „morbido Aristippo Del secol nostro“, davon, daß ihre Werke das Pathos verfolgter, verbotener und verbrannter Bücher gewinnen. Dazu kommt der Nachdruck, mit dem der Präzeptor auf die Oberflächlichkeit ihrer Rezeption durch den jungen Herrn und seine Dame verweist. In dem Maße, wie die flüchtige Lektüre während der Frisur oder vor dem Einschlafen den Schriften Voltaires und Rousseaus gegenüber als unangemessen erscheint, wird diesen ja eine Dignität zugesprochen, deren intellektueller Abstand von den Modi der Lektüre allererst ermöglicht, die Leseakte des „Giovin Signore“ als oberflächlich zu blamieren.
Wie flüchtig der „Giovin Signore“ auch immer gelesen (oder zugehört) haben mag, [13] so weiß er doch – vom Präzeptor ermutigt – auf jeden Fall genau, was von den „novi Sofi“, ihren willkommenen und ihren unwillkommenen Botschaften, zu halten ist. Zwischen den Botschaften, die der Präzeptor als begrüßenswert empfiehlt, und den Botschaften, die er als schädlich für die Interessen des jungen Herrn zurückweist, wird nämlich eine scharfe Trennungslinie gezogen, wobei man die Bewertungen der durch sie getrennten Tendenzen – von der Warte des Autors aus – wieder prononciert antiphrastisch verstehen muß. So wird zunächst gerühmt und demnach kritisiert, daß die Philosophie der „novi Sofi“ dem jungen Herrn erlaubt, mit überlegenem Spott auf die religiöse Gläubigkeit der Vorfahren herabzusehen. An der indirekt verteidigten Religion treten dabei bestimmte Funktionen hervor, die sich in erster Linie – durchaus aufklärerisch – auf ihre sozialen Leistungen und weniger auf den Bezirk individueller Erbauung beziehen.
Als Schlüsselwort fungiert hier „freno (fren)“; denn die vom „Giovin Signore“ und von den „novi Sofi“ verhöhnte Religion ist in der Sicht des Präzeptors „il fren che i creduli maggiori Atto solo stimar l’impeto folle A vincer de’ mortali, a stringer forte Nodo fra questi, e a sollevar lor speme Con penne oltre natura alto volanti“ (Mezzogiorno 965–969).Das heißt: Allein der Religion wurde in der Vergangenheit die Fähigkeit zugebilligt, die Aggressivität des Menschen einzudämmen, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stiften und Hoffnung auf ein Jenseits der irdischen Existenz zu wecken. Daß diese verschiedenen Leistungen im ambivalenten Begriff des Zaums oder Zügels zusammenkommen, hat natürlich mit dem antiphrastischen System des Textes zu tun; [14] doch weist der Begriff zugleich auf die besondere Art des Widerwillens hin, den der „Giovin Signore“, der sich im Gefolge der neuen Philosophen von der Überlieferung emanzipiert, gegen die Religion empfindet. Bezeichnend ist dafür der nächste Satz, wenn vom Präzeptor, der wieder ganz die Rolle des subalternen Dieners ergreift, die schmeichelnde rhetorische Frage gestellt wird: „Chi por freno oserà d’almo Signore A la mente od al cor?“ (Mezzogiorno 970f.).
Wenn der „Giovin Signore“ die französischen ‚philosophes‘ bei ihrer Kritik von Religion und Tradition begrüßt, tut er das also im gesteigerten Bewußtsein seiner gesellschaftlichen Superiorität. Was für die anderen „mortali“ Zügelung von Trieben und Schaffung von Solidarität bedeuten mag, ist für ihn, den „Semideo“, bloße Einschränkung seiner privilegierten Freiheit und Ungebundenheit. Unterstrichen wird dies Verständnis durch die Vertikalität der Bewegung, welche der aufklärerische Emanzipationsprozeß in der Vorstellung des Präzeptors (des „Giovin Signore“) vollzieht. Nach ihnen muß das Volk religiös gebunden bleiben, während der junge Herr, indem er sich von den Zügeln der Religion befreit, gleich einem Adler in die Höhe strebt: „Paventi il vulgo Oltre natura [...]. Ma il mio Signor, com’aquila sublime Dietro ai Sofi novelli il volo spieghi“ (Mezzogiorno 971–978).Dabei deuten die Metaphern eines maliziösen Nachsatzes an, daß der junge Herr den stolzen emanzipatorischen Flug ohne genaueres Studium und ohne nähere Kenntnis unternimmt (simuliert), angetrieben allein durch die in seiner Gesellschaftssphäre verbreiteten Schlagwörter und Thesen: „Perché più generoso il volo sia, Voli senz’ale ancor; nè degni ‘l tergo Affaticar con penne“ (Mezzogiorno 979–981). [15]
Aus der Antiphrase des Präzeptors in die Intention des Autors übersetzt, treffen Parinis Reserven die – insbesondere Voltairesche – Kritik der Offenbarungsreligion folglich insofern, als sie solche Überlieferungskritik mit dem Vorwurf konfrontieren, die Grundlage gesellschaftlicher Ethik und Solidarität zu zerstören und die privilegierte Freiheit der herrschenden Schicht zur völligen Zügellosigkeit zu enthemmen. Selbstverständlich wird dieser Vorwurf in den Maßen der bienséance geäußert, welche die Salonkultur der lombardischen Metropole um die Mitte des Settecento vorschrieb; doch meint der von ihm anvisierte Sachverhalt im Grunde nichts anderes als die Folgerungen, die aus der aufklärerischen Bewegung – mit einer Wendung ins definitiv Zynische – auch von den philosophisch-libertinistischen Romanen des Marquis de Sade gezogen werden. In beiden Fällen geht es um die Konsequenzen radikaler Emanzipation, und in beiden Fällen werden die Konsequenzen der Sache nach ganz ähnlich bestimmt, obgleich die respektive Wertung dann ebenso prononciert verschieden ausfällt. Wo der Marquis de Sade für die Herrschenden unerhörte Chancen eines sinnlichen Emanzipationsprofits fantasiert, beschwört der Autor des Giorno,den Blick auf die Gesamtheit der „mortali“ – „vulgo“ und „Bel Mondo“ – gerichtet, die Folgelasten von Emanzipation: jene „Dialektik der Aufklärung“, deren Begriff bezeichnenderweise ja nicht zuletzt durch die Reflexion über Sades Juliette ou Les prospérités du vice gewonnen wurde. [16]
Wie der Autor des Giorno – mittels der Empfehlung des Präzeptors – vor den Folgen der aufklärerischen Kritik an Religion und moralischer Überlieferung warnt, weil sie ausschließlich die zügellose Souveränität des „Bel Mondo“ bediene, so solidarisiert er sich umgekehrt mit einem anderen aufklärerischen Postulat, indem er es in Gestalt des Präzeptors scheinbar besorgt zurückweist. Gemeint ist das Prinzip der Gleichheit menschlicher Rechte und Ansprüche, wie es aus der Kritik an der sozialen Realität der Standestrennung zwischen „Plebe“ und „Nobiltade“ hervorgeht. [17] Mit neuem Pathos, das paradoxerweise der Ironie entspringt, wird dem „Giovin Signore“ dadurch eine Botschaft der ,philosophes‘ nahegebracht, welche besagt: „Che ciascun de’ mortali all’altro è pari; Che caro a la Natura, e caro al Cielo È non meno di te colui che regge I tuoi destrieri, e quei ch’ara i tuoi campi“ (Mezzogiorno 1001–1004). Dabei scheint die Evidenz der Forderung nach égalité so machtvoll zu wirken, daß Parini gerade an dieser Stelle die stärksten Mittel ironischer Umkehrung einsetzt. So wird dem jungen Herrn geraten, vor dem ‚tödlichen Gift‘ der ‚berühmten Bände‘ auf der Hut zu sein; denn: „[...] con fallace Lusinghevole stil corromper tenta Il generoso de le stirpi orgoglio Che ti scevra dal vulgo“ (Mezzogiorno 997–1000). Und in sarkastische Ironie gefaßt ist gleichfalls die Formulierung der entscheidenden Distinktion, welche der Giorno in seinem Verhältnis zur Aufklärung vornimmt. Nach ihr gilt dem Präzeptor die Gleichheitsforderung als schädlich und die religiös-moralische Emanzipation als förderlich für die Lüste des „Giovin Signore“: „Folli sogni d’infermo! Intatti lascia Così strani consiglj; e sol ne apprendi Quel che la dolce voluttà rinfranca, Quel che scioglie i desiri, e quel che nutre La libertà magnanima.“ (Mezzogiorno 1007–1011). Damit ist gesagt, daß der Autor, der sich nicht exklusiv an den „Giovin Signore“ wendet, die Dinge im Hinblick auf die Gesellschaft als Ganzes normativ anders sieht und eben die „sogni d’infermo“ der Gleichheit begrüßt, daß er aber gleichzeitig begriffen hat, welche auch langfristig prekären Ermächtigungen zur „libertà magnanima“ oder – weniger euphemistisch formuliert – zur bodenlosen Willkür von der aufklärerischen Traditionsvernichtung in der historischen Realität freigesetzt werden können. [18]
Neben der Lichtseite von égalité und Menschenrechten nimmt Parini demnach eine dunkle oder jedenfalls schillernd fragwürdige Seite der Aufklärung wahr, aus der die Oberschicht Argumente für Willkür und ungehemmten sensuellen Profit zieht. Die unorthodoxe und weder als konservativ noch als progressiv eindeutig kategorisierbare Perspektive, die der Giorno auf die epochale Emanzipationsbewegung richtet, hat im sprachlichen Detail zur Folge, daß zentrale Begriffe der Aufklärung hier immer wieder in ein eigentümliches Zwielicht und gelegentlich auch unter eine überraschend negative Beleuchtung geraten. Das ist – um pars pro toto nur ein einziges, eher unscheinbares, aber aufschlußreiches Exempel zu nennen – der Fall bei Parinis subtil ironischem Umgang mit dem Begriff des ‚Geschmacks‘ alias „gusto“. Bekanntlich war dieser Begriff – „parola di gran moda nel Settecento“, wie der Kommentator Attilio Momigliano bemerkt [19] – eines der für die gesamte Epoche konstitutiven ästhetischen Konzepte und überdies ein Wert von praktisch unbestrittener Positivität, der in verschiedenen Kulturen und auch in verschiedenen Ästhetiken gleichermaßen geachtet wurde. [20]
Daß der Begriff Autoren wie Gracián, Muratori oder Pope miteinander verbinden konnte, belegt neben seinem Prestige selbstverständlich nicht minder seine bemerkenswerte Elastizität, die sich jeder strikteren semantischen Festlegung entzieht. In der Tat ist wohl nicht unbedingt dasselbe gemeint, wenn Gracián von einer für den Hof geeigneten „conversable sabrosa erudición“ spricht, die man nicht aus den ‚Büchern‘, sondern durch die „teatros del buen gusto“ lerne [21] , oder wenn Pope den „True Taste“ als eine Qualität nennt, die für den Kritiker ebenso fundamentale Bedeutung besitze wie für den Dichter „true Genius“: „In Poets as true Genius is but rare, True Taste as seldom is the Critic’s Share“. [22] Immerhin gibt Graciáns Wendung von den ,,teatros del buen gusto“ aber einen Hinweis auf Tendenzen, durch die sich zumindest bestimmte soziologische Aspekte der frühen Begriffsgeschichte charakterisieren lassen. Indem er die „teatros del buen gusto“, die zum generellen ‚Schauplatz‘ (‚Theater‘) der „discreción“ zählen sollen, gegen die „libros“ und die „escuelas“ ausspielt, grenzt er sie von der Sphäre berufsbürgerlicher Gelehrsamkeit ab [23] und macht sie zu einer Domäne jener aristokratischen Hofgesellschaft, in der „una cierta sabiduría cortesana“ am Platze ist.
Dem gleichen sozialen Bereich gehören wohl die Conversations des Chevalier de Méré an, deren vierte weitere Aufschlüsse über die Funktion des Terminus erteilt. Ihnen kann man entnehmen, daß „goust“ um 1668 ein ausgesprochenes Modewort gewesen sein muß, bei dem einer der Gesprächspartner sich beinahe entschuldigt „que je me serve de ce mot dont tant de gens abusent“. [24] Was die nähere Bedeutung des Begriffs angeht, wird sie in der Spontaneität einer Urteilskraft identifiziert, die ‚schneller und manchmal treffender‘ zu Ergebnissen gelangt, als das durch Überlegung möglich wäre: Ein „goust [...] délicat“ gewährleiste die Kompetenz des „juger bien de tout ce qui se presente, par je ne sçay quel sentiment qui va plus viste, et quelquefois plus droit que les réflexions“. [25]
Sowohl Méré wie Gracián legen also Wert darauf, den in Mode kommenden Terminus nicht zuletzt durch den Abstand zu bestimmen, den er gegenüber der Leistung von Reflexionen, Büchern und Schulen markiert. In dieser Distanz zeigt sich zum einen ein Moment gesellschaftlicher Übereinkunft, das eine spezifische Adelsästhetik der ‚sprezzatura‘, das heißt: der Vermeidung von ‚affettazione‘ (alias Mühe und Studium) begünstigt. Zum anderen wirkt die Distanz indes auch als ein Moment der Emanzipation, das aus zunächst speziell aristokratischen Interessen die Geltung der „règles“ zurückdrängt. Daß die allgemeinere Geschmacksästhetik ihre eigentliche Pointe anfangs in einer solchen – unter moderner Perspektive – befreienden Abkehr von der engeren Regelästhetik hatte, mag in der harmonisierenden Kunstlehre des Settecento dann wieder ein wenig in Vergessenheit geraten sein. Jedenfalls ist einem Lehrgedicht wie Giuseppe Colpanis Il Gusto, das nach Voltaireschem Vorbild vor allem einen Überblick über die Glanzepochen der europäischen Kunst und Kultur geben möchte, nicht mehr viel von dieser Pointe anzumerken: Sie scheint hier allenfalls noch in der beiläufigen Bemerkung nachzuwirken, daß man mit dem Herzen eine Kunst wie etwa die Musik auch genießen könne, „Senza che un fino ed erudito orecchio Delle note volubili e fugaci Le varie leggi a parte a parte intenda“. [26]
Mit Nachdruck wird die – wenn man so will – emanzipatorische Pointe, die der Geschmacksästhetik ursprünglich zu eigen war, dagegen von Parinis Giorno in Erinnerung gebracht. Das geschieht im Mattino,und zwar bezeichnenderweise nicht allzu weit von den Passagen entfernt, deren falsche Lehre die Libertinage der französischen Literatur und den Luxus der französischen (oder Französisches imitierenden) Warenproduktion in ihrem jeweiligen Nutzen für den jungen Herrn ironisch zu rühmen wußte. Dabei bilden den Anlaß der Episode diesmal die Kunstwerke eines Miniaturisten, der dem „Giovin Signore“ das Porträt seiner Dame oder auch das eigene Konterfei liefert, wodurch er sich zumal dann ungewöhnlich strenger Kritik aussetzt, wenn die Aufgabe in einem Porträt des jungen Herrn selbst bestanden haben sollte. Gewiß wird vom Präzeptor eingeräumt, daß der anspruchsvolle adlige Kritiker über keinerlei Kenntnis und Erfahrung in Sache Malerei verfügt; doch folgt darauf mit gewohnt schmeichlerischer Gebärde eine rhetorische Frage, welche behauptet, daß präzise Kennerschaft im Fall des „Giovin Signore“ auch gar nicht vonnöten ist:
Ma che non puote quel d’ogni precetto
Gusto trionfator che all’ordin vostro
In vece di maestro il Ciel concesse,
Et onde a voi coniò le altere menti
Acciò che possan de’ volgari ingegni
Oltre passar la paludosa nebbia,
E d’aere più puro abitatrici
Non fallibili scerre il vero e il bello? (Mattino 708–715).
Damit wird dem Begriff „gusto“ die alte, tendenziell polemische Bedeutung nicht nur zurückerstattet; sie erscheint vielmehr noch entschieden gesteigert, da der Passus zwischen der Instanz des ‚Geschmacks‘ und der Instanz der ‚Regeln‘ ein direkt antagonistisches Verhältnis herstellt. Zwischen beiden hat – wie Parinis Formulierung suggeriert – offenbar ein Kampf stattgefunden, an dessen Ende der ‚Geschmack‘ als die höhere Instanz über jegliche ‚Regel‘ triumphiert. Begründet wird dieser Triumph indes durch nichts anderes als das gesellschaftliche Privileg, das dem höheren Stand auch ein überlegenes ästhetisches Prinzip zuerkennt, welches der humanistisch-gelehrten Vermittlung durch detaillierte Regelwerke nicht länger bedarf. Dabei zeigen sich die sozialen Trennungslinien, die von Gracián oder Méré eher vorausgesetzt als thematisiert wurden, jetzt in aller Schärfe. Der inferiore berufsbürgerliche Bereich, den Gracián in den Begriffen „libros“ und „escuelas“ zurückwies, wird hier durch den Begriff des „maestro“ zugleich angesprochen und stigmatisiert. [27] Über ihn erhebt sich die Gabe des „gusto“, da sie dem Stand des Adels dank göttlicher Gnade als Privileg zuteil geworden ist. Der ‚Geschmack‘ ersetzt ‚Lehrer‘ und Studium, weil er als Inbegriff aristokratischer Urteilskraft gleichsam mit dem Bereich der platonischen Ideen korrespondiert, wo er dann so unmittelbar wie unfehlbar – qua „sentiment“ und nicht qua „réflexions“, um Mérés Begriffe zu verwenden – das Wahre und Schöne zu erkennen vermag.
Indessen steht selbstverständlich auch dieser Passus unter dem Gesetz der ironischen Antiphrase. Das heißt: Wo der „gusto“ wortwörtlich ‚triumphiert‘, wird er nach dem Willen des Autors eben durch die Anmaßung seines Triumphs blamiert. In Wahrheit legt der weitere Kontext im Mattino nämlich nahe, den „gusto“ weniger mit dem „aere più puro“ platonischer Ideen zu verbinden und ihn eher als ein Konzept zu betrachten, das im Raum der Ästhetik den ökonomischen Begriffen von ‚Luxus‘ und ‚Mode‘ entspricht: Mit dem letzteren wird er ja auch explizit gleichgesetzt, wenn wenig später die Dienerschaft dem „Giovin Signore“ jene „vesti“ anlegt „Cui la moda e ’l buon gusto in su la Senna Tabbian tessute a gara [...]“ (Mattino 800f.). [28] Vor allem aber kompromittiert den Triumph des „gusto“ die Insistenz auf dem Standesprivileg, das von allen konkreten Studien oder Erfahrungen entlasten soll und eine unvermittelte Intuition des Schönen und des Wahren beansprucht.
Was die Kompromittierung des ‚Geschmacks‘ durch das Standesprivileg betrifft, schließt Parini offenkundig an Argumente an, die schon in Molières Komödien eine wichtige adelskritische Rolle gespielt haben. Man denke etwa an Les Précieuses ridicules,wo der Adelsimitator Mascarille impertinent behauptet: „Les gens de qualité sçavent tout, sans avoir jamais rien appris“, oder: „Tout ce que je fais me vient naturellement, c’est sans étude“. [29] Eben diese Prätention Studien- und kenntnisloser Omnikompetenz will auch Parini satirisch treffen [30] , wenn er seinen Präzeptor mit falscher Lehre den ‚unfehlbaren‘ Geschmack rühmen läßt, der über jede tradierte Regel erhaben sei. Damit ist durchaus eine gewisse Rehabilitation der Regelästhetik intendiert, wie sie Parinis traditionsgesättigtem neoklassizistischen Dichten, das sich keinem formalen Zwang zu entziehen suchte, wohl angemessen war. Wichtiger als der solcherart selbstapologetische Aspekt wirkt jedoch der ironisch negativierende Gesichtspunkt, den die Wendung vom „gusto trionfator“ verfolgt. Durch ihn wird ein Prozeß, den die aufgeklärte Zeitgenossenschaft, wie sie idealtypisch beispielsweise Pietro Verri verkörpert, als Emanzipation uneingeschränkt begrüßte, [31] erneut in seiner Ambivalenz (Dialektik) durchschaut. Oder mit anderen Worten gesagt: Unter Parinis scharfen (oder bösen) Blick gerückt, verrät auch die Bewegung ästhetischer Emanzipation, was bei ihr an – sonst kaschierten – Interessen von Ermächtigung und Willkür mitspielt.
Tatsächlich gebraucht der „Giovin Signore“ den Begriff des Geschmacks ausschließlich, um sich durch ihn zur Willkür eines souverän rücksichtslosen Urteils ermächtigen zu lassen, und es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß die gesamte Episode auf den Appell hinausläuft: „E mai sempre imperterrito decidi“ (Mattino 733).Der Appell dürfte eine Art von ästhetischem Dezisionismus meinen, der sich von jeglichem Argumentationszwang befreit hat und etwa in der tautologischen Manier eines Molièreschen Marquis verfährt: „elle (cette comédie) est détestable, parce qu’elle est détestable“. [32] Die Souveränität, auf Begründungen von Geschmacksurteilen verzichten zu können, ist wohl auch angesprochen, wenn der „gusto“ des jungen Herrn in einer weiteren Episode maliziös auf das bloße Objekt seines Monokels reduziert wird: „La Lente ancora all’occhio tuo vicina Irrefragabil giudice condanni O approvi di Paladio imuri e gli archi O di Tizian le tele [...]“ (Mattino 888–891).Demnach beansprucht das Monokel die gleiche standesspezifische Autorität, wie sie zuvor der Richtschnur des Geschmacks zugesprochen wurde: „[...] E chi del senso Comun sì privo fia che opporsi unquanco Osi al sentenziar de la tua Lente?“ (Mattino 893ff.).
So erscheinen Geschmack und Monokel gleichsam als idealisierter Inbegriff und als ironisierte Metonymie für eine subjektivierte Ästhetik modischer Beliebigkeit, die in Parinis Giorno zunächst noch essentiell zu den Vorrechten der Nobilität gehört. Wenn man dagegen eine Notiz liest, welche sich unter den Fragmenten der unrealisiert gebliebenen Episode des Theaterbesuchs findet, mag gleichzeitig der Eindruck entstehen, daß die Perspektive, die hier der Mentalität eines einzigen Standes gilt, durchaus bis zu den generalisierten ästhetischen Habitus späterer Konsumgesellschaften verlängert werden kann: „Il vulgo adoperi la ragione e quel senso che perciò è detto comune; ma le voglie repentine sieno sole la tua norma“. [33]
Cet essai est dédié à un texte qui compte parmi les plus complexes et, partant, les plus difficiles de la littérature européenne du XVIII siècle. En fait, le Giorno de Giuseppe Parini, poème qu’on peut classer aussi bien de satirique que de didactique ou épique, se distingue par une étonnante complexité générique. De là résultent nombreuses ambivalences qui n’ont jamais cessé de préoccuper la critique, assez productive en contributions pariniennes mais malheureusement peu connue hors de l’Italie.
L’ambivalence qui nous intéresse ici regarde les rapports que le poème de Parini entretient avec la philosophie et l’esthétique des lumières. Ces rapports ont d’autant plus d’importance que le Giorno se présente évidemment comme une réplique au Mondain de Voltaire dont il condamne le message hédoniste en le mimant excessivement. Ce que la relation intertextuelle avec le Mondain peut suggérer, est en effet confirmé par les deux endroits où Parini prend explicitement position à l’égard de la philosophie et de la litterature françaises. Chaque fois, il s’agit d’une position – si l’on peut dire – explicitement ambiguë. Elle épouse de la philosophie des lumières tout ce qui favorise les principes de l’égalité, tandis qu’elle rejette, avec des arguments qui trahissent des influences à la fois de Rousseau et de Fénelon, la critique spécifiquement voltairienne de la religion et des valeurs d’une morale traditionnelle.
Un tel refus de la critique voltairienne est motivé moins par un zèle proprement religieux que par le soupçon que la mise en question des traditions morales serve seulement les intérêts d’une aristocratie qui cherche à se libérer de tout ce qui puisse limiter sa souveraineté sensuelle. Le Giorno s’inscrit par là dans une thématique qui mène – pour ainsi dire – des romans philosophiques et libertins du marquis de Sade à l’interprétation de Sade donnée par Adorno-Horkheimer dans leur essai sur la ,dialectique des lumières‘. Dans le cas de Parini, la ,dialectique des lumières‘ s’étend même jusqu’au concept de „goût“, c’est-à-dire à une notion esthétique acclamée presque unanimement par les théoriciens du XVIII siècle. Parini, par contre, en réhabilitant en quelque sorte – contre le „goût“ – l’instance des „règles“, prend ses distances de cette notion qu’il soupçonne également de faire le jeu d’une classe qui – pour parler avec Molière – voudrait savoir juger de tout „sans avoir jamais rien appris“.
1 Als Einführung möchte ich aus der Fülle der kaum noch zu überblickenden, freilich bezeichnenderweise fast exklusiv italienischen Studien zu Parini die – in verschiedenen Epochen und mit verschiedenen Tendenzen – exemplarischen Darstellungen von Giosue Carducci und Mario Fubini empfehlen, also G. Carducci, „Storia del Giorno“,in: Ds., Studi su Giuseppe Parini. Il Parini maggiore,Bd. 18 der Edizione nazionale, Bologna 1944, S. 1–289, und M. Fubini, Il Parini e il „Giorno“,Lezioni raccolte dal dott. Sergio Antonielli, Milano 1952.
2 Auch zu diesem – nach wie vor umstrittenen – Problembereich gibt es inzwischen ein reiches Schrifttum; vgl. vor allem Dante Isellas „Introduzione“ zur kritischen Ausgabe von G. Parini, Il Giorno,a cura di D. Isella, Milano-Napoli 1969, Bd. 1, S. XXIII–C, sowie R. Amaturo, Congetture sulla „Notte“ di Parini,Torino 1968, oder R. Leporatti, Per dar luogo a la Notte. Saggio sull’elaborazione del „Giorno“ del Parini,Firenze 1990.
3 Die letzteren Motive werden insbesondere in Giuseppe Petronios für die ‚storia della critica‘ ebenfalls höchst bedeutsamer Monographie Parini e l’illuminismo lombardo (Bari 1987, 1. Ausg. Milano 1961) betont.
4 Als Beispiele wären etwa die Monographien von Domenico Petrini und Raffaele Spongano oder der Kommentar von Attilio Momigliano zu nennen; vgl. D. Petrini, La poesia e l’arte di G. Parini,Bari 1930; R. Spongano, La poetica del sensismo e la poesia del Parini,Bologna 1969 (1. Ausg. Messina-Milano 1933); G. Parini, Il Giorno,interpretato da A. Momigliano, Torino 1964 (1. Ausg. Catania 1925).
5 Eine solche Lektüre entwickelt z. B. der imposant einseitige Essay von G. Bàrberi Squarotti, „Il vero Ettorre: l’eroe del Giorno“,in: Interpretazioni e letture del „Giorno“ ,a cura di G. Barbarisi e E. Esposito, Milano 1998, S. 11–60, bes. S. 53ff. Weniger einseitig, das heißt: mit stärkerer Berücksichtigung ihrer satirischen Funktionalisierung, werden die Elemente der Epen-Affinität im Giorno von Norbert Jonard bilanziert; vgl. N. Jonard, „Le Giorno oul’impossible épopée“, in: Letteratura e società. FsGiuseppe Petronio, Palermo 1980, Bd. 1, S. 277–289.
6 Zum Stellenwert der Mode-Thematik im Giorno vgl.näherhin U. Schulz-Buschhaus, „‚Poemetti‘ über die Mode: Parini, Giambattista Roberti und Clemente Bondi“, in: Italica et Romanica. Fs. für Max Pfister, hrsg. von G. Holtus, J. Kramer und W. Schweickard, Tübingen 1997, Bd. 3, S. 341–359, bes. S. 343–349.
7 Aus dem Giorno zitiere ich – jeweils mit Angabe der Versnummer – nach der in Anm. 2 erwähnten kritischen Edition von Dante Isella.
8 Vgl. dazu ausführlicher U. Schulz-Buschhaus, „Voltaires Le Mondain oder die Satire der Satire“, in: Ds., Moralistik und Poetik,Hamburg 1997, S. 203–232, hier S. 223f.
9 Überhaupt wäre in dieser Hinsicht ein Vergleich mit Carlo Gozzis burleskem Epos („poema faceto“) La Marfisa bizzarra aufschlußreich, das ja erklärtermaßen unter dem Einfluß von Parinis „poemetti“ Il mattino und Il mezzogiorno vollendet wurde (vgl. C. Gozzi, La Marfisa bizzarra,a cura di C. Ortiz, Bari 1911, S. 9f.). Während Parini sich selbst in der schärfsten Kritik stets um Differenzierung bemüht, verfallen die „nuovi libriccini“ und die „scritture nuove“, auf die alle Übel der Welt zurückgehen sollen, bei Gozzi einer generellen, von Schimpflust erfüllten Ablehnung. Sie betrifft in erster Linie bekanntlich Komödien (Goldonis) und Romane (Chiaris) wegen deren angeblicher Sittenlosigkeit, hat es aber mehr noch auf die ‚Philosophen‘ abgesehen; vgl. etwa ebd. S. 17: „Altri scrittor piú dotti e disonesti/per i lor fini, a tal cominciamento,/stampavan libri sottili ed infernali,/dipingendo i mal beni ed i ben mali“. Emblematische Bedeutung gewinnt hier die Gestalt des Filinoro, durch welche der Typus des ‚philosophe‘ gleichzeitig als Ignorant, als Verschwender und als Verbrecher denunziert wird.
10 Auf die das Bild Voltaires maliziös deformierende Funktion der nachdrücklichen Parallelisierung mit Ninon de Lenclos weist auch Guido Santato hin, ohne allerdings den speziellen Zusammenhang mit Le Mondain ins Auge zu fassen; vgl. G. Santato, „I Lumi nel Giorno. Voltaire e i nuovi ,Sofi‘: dal Mattino edal Mezzogiorno al Giorno“,in: Interpretazioni e letture (Anm. 5), S. 293–349,hier S. 310ff.
11 Unverkennbar befindet sich eine solche Opposition von „Lusso“ und „Necessitade“, wie sie der Händler – mit freilich zynischer Tendenz – propagiert, in der Nähe der Gedankenwelt Rousseaus. Zu berücksichtigen ist indessen auch ihre für Parini vielleicht noch tiefer wirksame Herkunft aus den so christlich wie alt-aristokratisch moralisierenden Sozialutopien von Fénelons Télémaque Die letzteren lassen sich am Beispiel des Reichs der Kreter etwa auf die Formel bringen: ,,l’abondance des choses nécessaires, le mépris des superflues“, eine Formel, der Voltaires Mondain dann ökonomisch prononciert modern und kapitalistisch gesonnen replizieren wird: „Le superflu, chose très-nécessaire, A réuni l’un et l’autre hémisphère“. Zum geradezu systematisch notwendigen Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Demoralisierung, den Voltaire in Le Mondain zugleich beobachtet und postuliert, vgl. U. Schulz-Buschhaus, „Voltaires Le Mondain“(Anm. 8), S. 211ff.
12 Wieviel Parini der mit jenem des ‚Luxus‘ konkurrierende Begriff des – sozusagen plebejischen – ‚Bedürfnisses‘ (bei Fénelon der „vrais besoins“) bedeutet hat, kommt unter anderem durch die 1766 anonym veröffentlichte und offensichtlich von Cesare Beccarias Schrift Dei delitti e delle pene angeregte Ode Il bisogno zum Ausdruck. In ihr ersetzt Parini das Vitium als traditionelle (un)moralische Gegenkraft zur „Virtude“ – dank einer jetzt wieder eminent aufklärerischen Gedankenfigur – durch den „bisogno“, das heißt: den Inbegriff materieller Not.
13 Daß das Hören den jungen Herrn für die Zirkel der Salongeselligkeit besser präparieren kann als das Lesen, ist zuvor bereits insinuiert worden, wenn es heißt: „[...] nulla scienza [...] Ti spaventi giammai. Se cosa udisti, O leggesti al mattino onde tu possa Gloria sperar; [...] tu il sermone altrui volgi sagace Finchè là cada ove spiegar ti giovi Il tuo novo tesor. [...] (Mezzogiorno 851–861).
14 Es bewirkt hier allerdings auch eine gewisse semantische Unstimmigkeit; denn genaugenommen läßt der Terminus „fren“ sich ja lediglich auf den Effekt des „vincer [...] l’impeto“ beziehen, kaum auf den des „stringer forte Nodo“ und keineswegs auf ein „sollevar lor speme“. Vielleicht war diese Unstimmigkeit ein Grund dafür, daß Parini im Meriggio,der später überarbeiteten Fassung des Mezzogiorno,auf die Verse Mezzogiorno 964–969verzichtet hat und von Vers 963 („De’ brevi studj il glorioso frutto“) sofort zu Vers 970(„Chi por freno oserà d’almo Signore“, jetzt: „Chi por freni oserà d’inclita stirpe“) überleitet.
15 Mit der Unterstellung, die dieser Nachsatz insinuiert, stimmt dann auch der weiterführende Hinweis auf die spezifische Salonfunktion der zitierten Wissenschaftsbegriffe überein. Er behauptet, daß die Themen der Wissenschaft im Salon den Interessen einer erotischen Kultur nicht mehr widerstreben, sondern sie im Gegenteil befördern, was zum Schluß in einem pittoresken rokokohaften Bild ausgedrückt wird: „[...] Or più non odia De le scole il sermone Amor maestro; Ma l’accademia e i portici passeggia De’ filosofi al fianco, e con la molle Mano accarezza le cadenti barbe“ (Mezzogiorno 988–992). Zuder Anspielung auf eine Literatur eleganter Wissenschaftsvermittlung von Fontenelle bis zu Algarottis Il Newtonianismo per le dame,welche hier impliziert ist, vgl. G. Santato, „I Lumi nel Giorno“ (Anm. 8und 5), S. 326–330.
16 Vgl. M. Horkheimer, Gesammelte Schriften Bd. 5:‚Dialektik der Aufklärung‘ und Schriften 1940–1950,Frankfurt a.M. 1987, S. 104–143(„Juliette oder Aufklärung und Moral“), bes. S. 119f.: „Juliette hat die Wissenschaft zum Credo. Scheußlich ist ihr jede Verehrung, deren Rationalität nicht zu erweisen ist: der Glaube an Gott und seinen toten Sohn, der Gehorsam gegen die Zehn Gebote, der Vorzug des Guten vor dem Bösen, des Heils vor der Sünde“; oder S. 116: „Das anti-autoritäre Prinzip muß schließlich ins eigene Gegenteil, in die Instanz gegen die Vernunft selber umschlagen: die Abschaffung alles von sich aus Verbindlichen, die es leistet, erlaubt es der Herrschaft, die ihr jeweils adäquaten Bindungen souverän zu dekretieren und zu manipulieren“.
17 Diese Kritik artikuliert ansonsten wohl am effektvollsten die nach Art eines mythologischen Epyllions in den Ablauf des Mezzogiorno eingefügte ‚Favola del Piacere‘: Parinis Antwort auf das Rousseausche Problem der ‚Origine de l’inégalité parmi les hommes‘, welche den Ursprung von Standes-und Klassentrennung in einem Geist abgründiger Ironie durch die unterschiedliche sinnliche Genußfähigkeit erklärt, über die Volk und Adel verfügten; vgl. Mezzogiorno 250–338.
18 Durch solche Demystifizierung der noch stratifikatorisch privilegierten „libertà magnanima“ würde Parini eine – wie auch immer partielle – Einsicht antizipieren, welche von Adorno-Horkheimer als umfassendere Erkenntnis dem Wahrheitsaspekt der „katholischen Konterrevolution“ zugeschrieben wird: „Die romantischen Reaktionäre sprachen nur aus, was die Bürger selbst erfuhren: daß die Freiheit in ihrer Welt zur organisierten Anarchie hintrieb“ ; vgl. M. Horkheimer, Gesammelte Schriften (Anm. 16),S. 113.
19 Vgl. Parini, II Giorno, interpretato da A. Momigliano (Anm. 4), S. 43.
20 Vgl. dazu beispielsweise den materialreichen Überblick von H. C. Jacobs, Schönheit und Geschmack. Die Theorie der Künste in der spanischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1996. Jacobs’ Überblick ist, wie der Untertitel besagt, primär auf Spanien bezogen, bietet aber auch eine anregende Skizze der „europäische(n) Geschmacksdiskussion im 17. Jahrhundert und zu Beginn des 18. Jahrhunderts“ (S. 236ff.).
21 Vgl. B. Gracián, Obras completas Bd. 1: El Héroe – El Politico – El Discreto – Oráculo Manual, Madrid 1969, S. 323 (El Discreto V: ,,Hombre de plausibles noticias“).
22 A. Pope, The Poems, ed. by J. Butt, London 1968, S. 144 (An Essay an Criticism V. 11f.).
23 Der die Kompetenz zum ästhetischen Urteil damit ähnlich entzogen wird wie jene zum treffenden Urteil in politicis,welche etwa Guicciardini ihr schon ein Jahrhundert zuvor abgesprochen hatte, und zwar mittels einer identischen konzeptuellen Entgegensetzung von ,,libri“ und „discrezione“; vgl. F. Guicciardini, Ricordi,hrsg. von E. Pasquini, Milano 1975, S. 12oder 217(Nr. 6und 186).
24 Vgl. Chevalier de Méré, Œuvres complètes,ed. C.-H. Boudhors, Paris 1930,Bd. 1, S. 55.
25 Ebd.
26 Vgl. Sciolti del Cavaliere Giuseppe Colpani di Brescia, Lucca (Francesco Bonsignori) 1780, S. 142.Das Zitat steht im Kontext einer Reihe von Beispielen, die für die verschiedenen Künste (Musik, Architektur, Gartenbau usw.) zeigen sollen, wie im Angesicht des Schönen ein „delicato sentimento e vivo“ den Reaktionen von „giudizio“ und „ragion“ vorausgeht (vgl. ebd. S. 142ff.).
27 Daß dem „Giovin Signore“ die Sphäre des Schulischen besonders zuwider, ja verhaßt ist, hat schon der Beginn des Mattino durch die Erinnerung an jene „queruli ricinti“ klargemacht, in denen sich einst die „mesti de la Dea Pallade studj“ abspielten (vgl. Mattino 24–30).Im übrigen bildet der Kontrast zwischen Schulzwang und adliger Freiheit offenbar einen quer durch die europäische Literatur wirkenden Topos, der sich noch in einer 1798freilich ganz risikolos gewordenen Prosasatire des Niederländers Gerrit Paape wiederfindet, der den Giorno des „Giovin Signore“ gleichsam zur Vita seines „Willem“ amplifiziert. Vgl. G. Paape, Het leven en sterben van een hedendaags aristocraat,Amsterdam 1985,bes. S. 15ff.(„Willem speelt de aristocraat. De meester grijpt hem met zijn burgerlijke vingers bij de adellijke oren, en schopt hem van school“).
28 Vgl. dazu die treffenden Bemerkungen von F. Tancini, „Gusto e buon gusto nel primo Giorno“,in: Interpretazioni e letture (Anm. 5), S. 467–492,hier S. 472ff.Freilich zögert Tancini ein wenig, die ganze Reichweite von Parinis Kritik der Kategorie ‚Geschmack‘ auszumessen und wirklich anzuerkennen.
29 Vgl. Molière, Les Précieuses ridicules,édition critique par M. Cuénin, Paris 1973, S. 43f.
30 Wobei er Mascarilles Behauptung unter anderem zu den höhnisch intonierten rhetorischen Fragen ausweitet: „Cotanto adunque di sapere è dato A nobil mente? Oh letto, oh specchio, oh mensa, Oh corso, oh scena, oh feudi, oh sangue, oh avi, Che per voi non s’apprende? [...] (Mezzogiorno 845–848).
31 Zu den – möglicherweise bloß partiellen – Spannungen, die zwischen Parini und den Brüdern Verri bestanden und wohl mehr noch aus ästhetischen als aus stricto sensu ideologischen Motiven erwuchsen, vgl. G. Barbarisi, „I Verri e l’idea del Giorno“,in: Interpretazioni e letture (Anm. 5), S. 205–250,hier S. 233.Insgesamt habe ich freilich den Eindruck, daß Barbarisis Stellungnahme – offenbar um Parinis makellose aufklärerische Orthodoxie besorgt – die auch ideologisch weitreichenden Differenzen allzusehr herunterzuspielen trachtet.
32 Vgl. Molière, Théâtre complet,ed. R. Jouanny, Paris 1960,Bd. 1, S. 493 (La Critique de l’École des femmes 5).
33 Parini, Il Giorno (Anm. 2),Bd. 2, S. 159.
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