Während des letzten Jahrzehnts sind in bemerkenswerter Häufung Sammelbände über Leben und Werk Erich Auerbachs erschienen. Es handelt sich, chronologisch gereiht, um die folgenden Publikationen:
– Erich Auerbach. 5. Colóquio Universidade Estadual do Rio de Janeiro,
Rio de Janeiro (Imago) 1994, 254 S. Vgl. zu diesem Band meine Rezension in: Sprachkunst 27 (1996),
S. 194–201.
– Literary History and the Challenge of Philology. The Legacy of Erich Auerbach, hrsg. von Seth Lerer, Stanford, California (Stanford University Press), 1996, 301 S.
– Wahrnehmen Lesen Deuten. Erich Auerbachs Lektüre der Moderne, hrsg. von Walter Busch und Gerhart Pickerodt (= Analecta Romanica 58), Frankfurt/M. (Vittorio Klostermann) 1998, 302 S.
– Mimesis. Studien zur literarischen Repräsentation. Studies on
Literary Representation, hrsg. von Bernhard F. Scholz, Tübingen und Basel
(Francke) 1998, 315 S. Eine ausführlichere kritische Besprechung, die ich speziell zum
letztgenannten Band verfaßt habe, erscheint in: Romanische Forschungen
111 (1999).
Ausgelöst wurde die Serie solcher Würdigungen zunächst gewiß durch zwei
Gedenkdaten: die hundertste Wiederkehr von Auerbachs Geburtstag, welche die
Kolloquien in Rio de Janeiro und Stanford veranlaßte, sowie das fünfzigjährige
Jubiläum des Erscheinens von ‚Mimesis‘, dem die von Busch und Pickerodt bzw.
Scholz gesammelten Beiträge der Kolloquien in Marburg und Groningen gewidmet
waren. Jenseits der Erinnerungspflicht, die sich mit den Daten verbindet,
scheint es für die Vielzahl der rezenten Auerbach-Symposien indes noch tiefere
Gründe zu geben. Sie kommen in den Sammelbänden selbst durch eine eigentümliche
Ambivalenz zum Ausdruck. Tatsächlich verraten die dort zusammengestellten
Aufsätze einerseits ein tief fasziniertes Interesse, das insbesondere zur
detaillierten Erforschung von Auerbachs höchst komplexer Bildungsgeschichte oder
der gleichfalls nicht ganz leicht resümierbaren Wirkungsgeschichte des
Mimesis-Buchs geführt Erwähnenswert sind in dieser Hinsicht vor allem einige Beiträge
des Stanforder Sammelbands, der überhaupt mit Abstand das niveauvollste
Opus in dem mir vorliegenden Bücherquartett darstellt. Ich denke hier an
Hans Ulrich Gumbrecht, ‚„Pathos of the Earthly Progress“: Erich
Auerbach’s Everydays‘ (Literary History, S. 13–35); Carl Landauer,
‚Auerbach’s Performance and the American Academy, or How New Haven Stole
the Idea of Mimesis‘ (ebenda, S. 179–194), oder Herbert Lindenberger,
‚On the Reception of Mimesis’ (ebenda, S. 195–213). Gumbrecht arbeitet
die phänomenologisch-existentialphilosophischen Ursprünge des
Auerbachschen Konzepts ,lebensweltlicher‘ Alltäglichkeit heraus und
pointiert treffend jene „Gelassenheit“, von der Auerbach 1935 einmal in
einem Brief an Walter Benjamin spricht und die wohl in der Tat als ein –
unter manchen Gesichtspunkten rätselhafter – Grundzug seines Wesens
(seiner Attitüde?) gelten darf. Landauer macht zu Recht auf das
merkwürdige Nebeneinander von bewußt demokratischen, ja sozial
engagierten und ebenso prononciert aristokratischen Aspekten in
Auerbachs Autoren-Figura aufmerksam, wobei die ersteren sich vorrangig
auf der Ebene der Thematik manifestieren, die letzteren dagegen in
Auerbachs anti-pedantischer schriftstellerischer Haltung, die sich den
Normen professioneller Spezialisierung und Arbeitsteilung, wie sie zumal
in den USA selbstverständlich waren, weithin entzieht (vgl. ebenda,
S. 187). Interessant scheint mir auch Landauers Vorschlag, den
amerikanischen Erfolg der ‚Mimesis‘‚ durch den Umstand zu erklären, daß
die Abhandlung „formalists“ und „contextualists“ gleichermaßen
anzusprechen vermochte (vgl. ebenda, S. 188f.). Der Vorschlag gerät
allerdings in eine gewisse Spannung zu Lindenbergers Beobachtung, daß
die Unmöglichkeit, Auerbachs approach epistemologisch eindeutig und
etikettenhaft zu klassifizieren, für die Aufnahme seines Werks in den
‚Kanon institutionell anerkannter Literaturkritik‘ auch wieder
entschieden hinderlich gewirkt hat (vgl. ebenda, S. 201f.).
Die Sammelbände können demnach – wie mir scheint – in einem doppelten
Sinn aufschlußreich wirken. Natürlich darf man von ihnen in erster Linie
erwarten, daß sie neue Materialien und Aspekte erschließen, die uns Auerbachs
Werdegang, Schreibweise, philologische Methoden oder epistemologische Prämissen
deutlicher als zuvor sichtbar machen. Dazu kommt jedoch außerdem die Möglichkeit
eines anderen, indirekten Erkenntnisgewinns. Indem die Literatur- und
Kulturwissenschaft der neunziger Jahre ihren Umgang mit ‚Mimesis‘ zu klären
sucht, sagt sie nämlich einiges über sich selbst aus, über die stolzen
Fortschritte, die sie sich gerne zuschreibt, Hier tut sich insbesondere Scholz als préfacier seines
Sammelbands hervor, wenn er angesichts der „Vagheit“ von Auerbachs
„Bildungssprache“ erwartet, daß die von ihm präsentierten Gelehrten „das
von Auerbach nur eben ‚Angedachte‘ zum Vorwurf für die Bearbeitung
mittels der eigenen begrifflichen Kunst“ machen werden (vgl. Mimesis,
S. 8). Dabei erweist sich indes, daß diese Erwartung gerade in den
Beiträgen des Groninger Kolloquiums – von wenigen Ausnahmen abgesehen,
die etwa den Philosophen Gottfried Gabriel oder J. J. A. Mooij zu
verdanken sind – derart eklatant enttäuscht wird, daß der Verdacht eines
ironischen Spiels entstehen muß, das Scholz im Vorwort mit den
Mitarbeitern des Bandes treibt.
Was die heutige Literaturwissenschaft zumindest in der Version, die sie
als ,normal science‘ bietet, von Auerbachs ‚Mimesis‘ trennt, zeigt sich
vielleicht am deutlichsten an einem bestimmten Aufsatztypus, der vor allem in
den zuletzt erschienenen Sammelbänden häufig wiederkehrt. Gemeint ist das Genre
einer Studie, die ein einzelnes Kapitel des Mimesis-Buchs herausgreift, um dies
Kapitel dann – gemeinhin in kritischer Absicht – mit neueren Erkenntnissen und
Perspektiven zu konfrontieren. Dabei liegt nahe, daß die Abschnitte zur
Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts sich hier der größten Beliebtheit
erfreuen. So wird das Kapitel über Stendhal, Balzac und Flaubert beispielsweise
von Jolanta Jastrzebska (‚Pour une nouvelle notion de la réalité et de sa
représentation‘, Mimesis, S. 111–117) oder Svend Erik Larsen (‚Historical and
Literary Sources. A Complementary View‘, Mimesis, S. 15–32) betrachtet, von
Larsen sogar mit derartiger Ausschließlichkeit, daß der Blick des Betrachters
nicht einmal mehr dazu kommt, nach dem Kapitel „Im Hôtel de La Mole“ auch noch
das folgende Kapitel ‚Germinie Lacerteux‘ zur Kenntnis zu nehmen; umstandslos
heißt es zu Beginn des Aufsatzes: „In chapter 18 of Mimesis [...] Erich Auerbach gives a detailed account of 19th Century
French realism and naturalism [!]“ (Mimesis, S. 15). Isolde Schiffermüller (‚Das
letzte Kapitel der Mimesis. Pathos und Erkenntnis in der
Philologie Erich Auerbachs‘, Wahrnehmen, S. 264–286) überprüft den Abschnitt zu
Virginia Woolf und Marcel Proust, bei dem sie sich wiederum ganz auf Woolfs
Roman ‚To the Lighthouse‘ konzentriert, während Gerhard Pickerodt das Kapitel
„Musikus Miller“ zu seinem Gegenstand macht, um die „deutsche Literatur“ gegen
Auerbachs – meines Erachtens freilich keineswegs eindeutige oder gar
entschiedene – Kritik“ zu verteidigen (‚Schiller, Goethe und die Folgen. Erich
Auerbachs Kritik der deutschen Literatur‘, Wahrnehmen, S. 249–263).
Begreiflicherweise laufen solche Nachdem sie Auerbach mangelnden Scharfblick für die
Intertextualität der Stendhalschen oder Flaubertschen Romane vorgeworfen
hat, scheint Jastrzebska übrigens schon wenige Sätze später eine Wende
vollziehen und mit merkwürdiger Inkonsequenz unversehens ein Zuviel an
Intertextualität monieren zu wollen; denn plötzlich befindet sie, erneut
überaus klobig formulierend: D’une manière plutôt inconsciente [?]
Auerbach examine la vraisemblance d’un texte littéraire en comparaison
avec d’autres textes et pas avec le monde naturel [?]“ (Mimesis,
S. 114). Pickerodt sieht auch richtig, daß dies Konzept durchaus eine
Art Generations- und Familienähnlichkeit mit den Realismusvorstellungen
eines Georg Lukács besitzt (vgl. Wahrnehmen, S. 260, sowie mit analoger
Tendenz Reinahrd Brandt, ‚Reflexionen in Wort und Bild zu Auerbachs
Konzept der Mimesis und Figura‘, ebenda, S. 176–196, hier S. 183f.).
Freilich ist der normative Anspruch des Konzepts bei Auerbach, der ja
Literaturgeschichte und keine operative Poetik zu schreiben gedenkt, zu
seinem und unserem hermeneutischen Vorteil unendlich schwächer
ausgeprägt als bei Lukács. Hans Jörg Neuschäfer, der im Genre der
Würdigung von Einzelkapiteln den meines Erachtens klügsten und
ausgewogensten Beitrag liefert (‚Die verzauberte Dulcinea. Zur
Wirklichkeitsauffassung in Mimesis und im Don Quijote‘, ebenda,
S. 238–248), spricht daher betont zurückhaltend lediglich von einer
„gewisse[n] Normativik“, die „durch die Orientierung am modernen
Realismus als der bisher radikalsten Form der Stilmischung“ „in die
Betrachtung“ früherer Realismusformen gleichsam ,miteinfließe‘ (vgl.
ebenda, S. 243). Eher als eine starke poetologisch-politische Norm à la
Lukács entsteht aus ihr ein teleologischer Zug, der Auerbachs
Geschichtsbild, das im neuzeitlichen Historismus, der „kopernikanischen
Entdeckung der Geisteswissenschaften“, seinen tiefsten Wahrheitsmoment
erblickt, in der Tat diskret, doch nachhaltig strukturiert; vgl. Erich
Auerbach, Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike
und im Mittelalter, Bern 1958, S. 13. So Auerbach in: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der
abendländischen Literatur, 2. Aufl., Bern 1959, S. 481. Beispielhaft für
Auerbachs Kunst oft ambivalenter Charakterisierung wirkt im gleichen
Zusammenhang auch ein Aperçu, das dem „junge[n], gepreßte[n] und
finstere[n] Hebbel“ „neben volkstümlichen Wendungen viel
krampfig-poetisches Pathos“ nachsagt, „welches zuweilen so unnatürlich
und doch so schrecklich suggestiv wirkt wie ein ins Kleinbürgerliche
transponierter Seneca“ (ebenda).relectures, mit
denen verschiedene Spezialisten sich jeweils über ein bestimmtes
‚Mimesis‘-Kapitel beugen, in der Regel auf gewisse gravamina hinaus. Wie kaum anders zu erwarten, sind sie von durchaus
unterschiedlichem Gewicht. Ziemlich läppisch wirkt z. B. Jastrzebskas ahnungslos
formulierter Vorwurf, Auerbachs Interpretation habe bei den großen Realisten
nicht hinlänglich die Verhältnisse der Intertextualität beachtet: „Auerbach ne
se demande nul [!] part
Ungeachtet ihrer unterschiedlichen, bald mehr und bald weniger
evidenten Plausibilität läßt sich nun aber nicht übersehen, daß diesen Einwänden
gegen Auerbachs Einzelinterpretationen bei allen guten Gründen, über die sie
partiell verfügen, etwas letztlich Inadäquates anhaftet. Inadäquat bleiben sie
insofern, als sie Vgl. dazu ausführlicher Ulrich Schulz-Buschhaus, Vgl. Auerbach, Mimesis (zit. Anm. 7), S. 476. Die Art und
Weise, wie Auerbach hier und anderweitig den „Kern des sozialen
Problems“ bestimmt (vgl. auch ebenda, S. 414), läßt deutlich einen
intellektuellen Kontext erkennen, der unter anderem durch die
Bekanntschaft mit Walter Benjamin und mehr noch Ernst Bloch geprägt war.
Zwischen beiden hat Auerbach bei Gelegenheit einer „Trübung“ ihres
Verhältnisses auch einmal behutsam zu vermitteln versucht; vgl. dazu den
Brief vom 3. 1. 1937, in: Karlheinz Barck, 5 Briefe Erich Auerbachs an
Walter Benjamin in Paris, in: Zeitschrift für Germanistik 9 (1988),
S. 688–694, hier: S. 693.
Ein solches Denken in unablässig modifizierten Relationen, das
‚Mimesis‘ vom ersten Kapitel an – der primär heuristisch intendierten
Differenzierung eines homerischen und eines alttestamentarischen Stils –
kontinuierlich prägt, ist eben das, was Auerbach in der Einleitung zu
‚Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im
Mittelalter‘ als den „radikalen“ Relativismus oder Perspektivismus seiner
Methode bezeichnet hat Vgl. Auerbach, Literatursprache (zit. Anm. 6), S. 12 und 15.
Daß die Programmatik, welche diese Einleitung entwickelt, pointiert
gegen die Positionen des seinerzeit in den USA hegemonialen New
Criticism gerichtet ist, wird plausibel von Stephen G. Nichols dargelegt
(Philology in Auerbach’s Drama of [Literary] History, Literary History,
S. 63–77, hier: S. 66f.). Bezeichnenderweise hatte Wellek speziell an
Auerbachs Neigung zu Hegel, „the ancestor of historicism and
Geistesgeschichte“, Anstoß genommen und hielt „Auerbach’s linking of
existence and history“ für eine ‚extrem gefährliche Konzeption‘ (an
extremely dangerous conception of criticism and scholarship“); vgl.
ebenda, S. 66 und 262f. Zu den fatalen Folgelasten der heute üblichen Organisation
literaturwissenschaftlicher Disziplinen zählt nicht zuletzt eine
auffällige Tendenz interdisziplinärer Kommunikation. Sie zeigt sich in
dem Umstand, daß die spezialistischen Verwalter einer historischen
Parzelle in der Regel wohl asymmetrisch mit den Hegemonen der jeweils
diskursmächtigen ‚Theorie‘ kommunizieren, doch nur höchst selten
symmetrisch mit den Spezialisten der an sie angrenzenden historischen
Parzellen. Zum Habitus der „aktualisierenden Hoch-Interpretation“, der
geradezu zwangsläufig aus diesen Kommunikationsverhältnissen resultiert,
vgl. Ulrich Schulz-Buschhaus, Dabei ist freilich einzuräumen, daß Auerbachs Verfahrensweisen
auch in seiner Epoche, das heißt: den dreißiger und vierziger Jahren,
keineswegs der Regel literaturwissenschaftlicher ,normal science‘
entsprachen, was nicht zuletzt durch den entschiedenen Widerspruch René
Welleks deutlich wird. Aufschlußreich wirkt in diesem Zusammenhang der
Kanon von vier Axiomen, mit denen Gerhard Neumann in einem Sammelband
zum „Poststrukturalismus“ jüngst die „Grundfesten“ der herkömmlichen
„Institution Literaturwissenschaft“ resümiert hat; vgl.
Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, hrsg.
von Gerhard Neumann, Stuttgart und Weimar 1997, S. 4. Es sind das nach
Neumann „die Axiome von Ganzheit und Geschlossenheit (Totalität) des
literarischen Werks, von einem auf das Literale eingeschränkten
Text-Begriff, von der untrüglichen Manifestation von Autorschaft und
Schöpfertum in diesem literarischen Text, und von der fraglosen
Etablierung und Sicherung einer Werthierarchie im literarischen Feld“.
Für Auerbachs Wissenschaftspraxis, in der Textfragmente aus Gregors
‚Gesta Francorum‘ ungeniert mit solchen aus dem Markus-Evangelium oder
aus den ‚Mémoires‘ des Herzogs von Saint-Simon gleichgeordnet werden,
scheint – ohne daß man sie deshalb als prä-poststrukturalistisch
bezeichnen könnte – keine dieser „Grundfesten“ jemals Gültigkeit
besessen zu haben.
Eines solcher Probleme besteht ja in der Aufgabe, zur Relationierung
historisch wie generisch manchmal weit entfernter Texte immer wieder neue
Vergleichsparameter zu finden und gleichzeitig eine literaturkritische Sprache
zu entwickeln, welche ihre Differenzierungen ohne aufdringliche Wertungen und
zumal Denunziationen vornehmen kann. Vor allem im Hinblick auf die letztere
Aufgabe hat Auerbach mittels eines Sprachgebrauchs von größter Flexibilität und
Nuancierungsfähigkeit – also dem, was Scholz, der die Problematik des
dialektisch vermittelnden und nicht kritisch trennenden Differenzierens
bezeichnenderweise völlig Mimesis 10 and the Late Medieval
Aesthetic‘, Literary History, S. 156–175). Dabei liefert Brownlee zu Auerbachs
Interpretation von Ausschnitten aus Antoine de la Sales ‚spätmittelalterlichem‘
‚Réconfort de Madame du Fresne‘ gewiß einige wertvolle ergänzende Hinweise, die
insbesondere Genus, Exempel-Charakter, Intertextualität und auktoriale Situation
des schwierigen Textes betreffen. Was er Auerbach eigentlich übel nimmt, ist
jedoch nicht die Existenz solcher Informationslücken, für die jeder nachgeborene
Forscher im Grunde dankbar zu sein hätte, sondern die vermeintliche
literarästhetische Geringschätzung der Schreibweise von Antoine de la Sale wie
der Epoche insgesamt. Brownlee meint, das nach den Vorgaben Johan Huizingas
gesehene späte Mittelalter stelle in Auerbachs teleologischem
Geschichtsverständnis eine Art ,Tiefpunkt‘ dar: „This is a low point, a
retrograde moment, in the Auerbachian schema: on the one hand, a falling away
from the mimetic high point of trecento Italy (incarnated by Dante’s Commedia and Boccaccio’s Decameron); an the other hand, an inadvertent ,preparation‘ for the
impending high point of the Renaissance“ (Literary History, S. 158f.). Demnach
entstehe von diesem Zeitraum, der zwischen den ‚Gipfelzeiten‘ des
Hochmittelalters und der Renaissance bloß als uninteressante Niederung
erscheine, ein ‚verarmtes‘ Bild, das den eigenen Prämissen der Epoche nicht
gerecht werde: „Auerbach’s impoverished notion of the late Middle Ages is a
function (and a result) of the evolutionary period-ideology which privileges the
High Middle Ages and the Renaissance. An alternative approach would attempt to
define a given literary historical period an its own (often lost) terms“
(ebenda, S. 175).
Wenn man das fragliche ‚Mimesis‘-Kapitel näher – und im Original statt
in Willard Trasks englischer Übersetzung Daß das mitunter einen beträchtlichen Unterschied macht, kommt
zum Vorschein, wie Brownlee einmal Anstoß an einer „dismissive
characterization“ nimmt, welche bei Antoine de la Sale „the solemnly
invocational accumulation of pleonastic or quasi-pleonastic expressions
like nourry, amé et tenu chier“ betreffe (vgl. Literary History,
S. 162). Im Original wirkt die Charakterisierung dagegen weit weniger
„dismissive“, da Auerbach hier nicht von „pleonastic [...] expressions“
spricht, sondern präziser „das feierlich beschwörende Aufhäufen von
synonymen oder beinah synonymen Ausdrücken wie nourry, amé et tenu
chier“ registriert; vgl. Auerbach, Mimesis (zit. Anm. 7), S. 230. Wobei im übrigen sehr fein Auerbachs eminent subtiles Gespür
für die mentalitäten- und sozialgeschichtlichen Konnotationen
syntaktischer Eigentümlichkeiten sichtbar wird; vgl. ebenda: „Wie in
solchen feierlichen Urkunden wird das Eigentliche häufig durch eine
Fülle von Formeln, Anreden, adverbialen Bestimmungen und zuweilen selbst
von einer ganzen Parade vorbereitender Sätze eingeleitet, so daß es
auftritt wie ein Fürst oder König, dem die Herolde, die Leibwachen,
Hofchargen und Bannerträger voraufziehen“. Ebenda, S. 232. Vgl. ebenda, S. 218 Vgl. ebenda, S. 249. Mit dem Hinweis auf das „christliche Erbe“
(vgl. auch ebenda, S. 238f.) bringt Auerbach im übrigen auch einen
Gesichtspunkt ins Spiel, den Brownlee als „La Sale’s Christian spiritual
vision“ so emphatisch unterstreicht, als wäre er der Auerbachschen
Interpretation ganz und gar entgangen (vgl. Literary History,
S. 168f.).denigrates (Kursivierung
U. S.-B.) certain characteristic features of the Réconfort’s language as ,reminiscent of the pompous style of legal and
diplomatic documents‘ [...], without considering how this ,style‘ functions in
that work“ (ebenda, S. 161). In Wahrheit will Auerbach indessen auf den gleichen
Befund hinaus, den auch Brownlee im Sinn hat, wenn er den Sachverhalt einer
„interaction between legal and literary discourses so deeply characteristic of
the late Middle Ages in France“ (ebenda) betont. Der Sachverhalt wird von
Auerbach lediglich mit allgemeineren geistes- und sozialgeschichtlichen
Betrachtungen gedeutet, welche im „Prunkstil“ der Urkunden die prinzipielle
Differenz des „Ständischen“ gegenüber dem „Humanistischen“ nachzuzeichnen
suchen
Das Mißverständnis relativierender Differenzierungen als kritische
Abwertungen, das in Brownlees enttäuschter Lektüre des Kapitels „Madame du
Chastel“ manifest wird, ist insofern exemplarisch, als es sich beinahe mit
Notwendigkeit aus Auerbach, Mimesis (zit. Anm. 7), S. 94. Zum Ausmaß und zur
Intensität von Auerbachs (prinzipiell unbestreitbarem) Hegelianismus
vgl. Luiz Costa Lima, (‚Figura e Evento‘, Erich Auerbach, S. 219–229)
sowie mehr noch das Korreferat zu Costa Limas Vortrag von Kathrin H.
Rosenfield (ebenda, S. 230–241).misreading
in hohem Maße zeittypisch erscheint, bin ich etwas detaillierter auf den Fall
eingegangen, weshalb es jetzt genügen mag, zwei ähnlich symptomatische Fälle nur
noch stichwortartig zu erwähnen. Den einen – und besonders eklatanten – bietet
in dem Sammelband aus Rio de Janeiro João Adolfo Hansen (‚Mímesis: Figura,
Retórica & Imagem‘, Erich Auerbach, S. 45–77). Hansen wirft Auerbach
vor, die in den frühen Kapiteln von ‚Mimesis‘ präsentierten spätantiken und
frühchristlichen Texte ‚anachronistisch‘ an den Normen eines klassischen
Prosastils zu messen und demzufolge ihres stilistischen Eigenwerts zu berauben.
So widerfahre im Kapitel „Sicharius und Chramnesindus“ beispielsweise der
Frankengeschichte des Gregor von Tours schweres hermeneutisches Unrecht: „pois a
matriz transhistórica de excelência ‚clássica‘ aplicada comparativamente à sua
avaliação é anacrônica, exterior às práticas do reino franco“ (ebenda, S. 56).
Offenkundig hat Hansen nicht begriffen, daß die Rückverweise auf klassische
Stilnormen in diesem und in anderen Kapiteln keineswegs einer kritischen Absicht
dienen, sondern eine ausschließlich heuristische Funktion besitzen: Gäbe es
nicht den Vergleichsmaßstab – sagen wir – ciceronianischer oder taciteischer
Schreibweisen, ließe sich ein Eigenwert des Duktus der ‚Gesta Francorum‘ nämlich
gar nicht erst ausmachen und identifizieren. Außerdem wird durch Auerbachs
relativierende Sicht mentalitätengeschichtlich eben auch jener Stil positiviert,
der von der klassischen Überlieferung am weitesten – und vielleicht am
„rohesten“ – abweicht; denn zum Schluß des von Hansen inkriminierten Kapitels
ereignet sich eine charakteristische dialektische Wende, wie sie dem –
wenngleich diskreten – Hegelianer Auerbach teuer war: „Wenn Gregor schreibt, ist
die Katastrophe geschehen, das Reich ist gestürzt, die Organisation
zusammengebrochen, die antike Bildung zerstört – aber die Spannung ist gelöst,
und freier, unmittelbarer, von keiner unlösbaren Aufgabe mehr bedrängt, [...]
steht sein Gemüt der lebendigen Wirklichkeit gegenüber, bereit, sie lebendig zu
fassen und praktisch in ihr zu wirken“
Das andere Beispiel stammt von Brian Stock (‚Literary Realism in the
Later Ancient Period‘, Literary History, S. 132–155) und betrifft ungefähr den
gleichen spätantiken Bereich. Hier wird bemängelt, Auerbach habe das
allegorische Schrifttum der Epoche nicht ausreichend berücksichtigt und bei
Augustinus der Wirkung des Plotinischen Neoplatonismus nicht genügend
Aufmerksamkeit geschenkt. Zweifellos ist der Kritiker Stock ein sachkundiger
Experte in Sachen Augustinus; doch ob er auch Auerbach zu lesen weiß, muß man
wohl mit einem Fragezeichen versehen. Einigermaßen kurios wirkt jedenfalls der
folgende Vorschlag einer Korrektur von Auerbachs Interpretation der
Alypius-Episode in den ‚Confessiones‘: Auerbach, Mimesis (zit. Anm. 7), S. 70. Ebenda.
Wie schon in Anm. 3 vermerkt, beobachtet Herbert Lindenberger wohl mit
Recht, daß Auerbachs institutionelle Kanonisierung in Anthologien
literaturwissenschaftlicher oder -theoretischer Klassiker von der Schwierigkeit
behindert wird, für sein Werk, das Lionel Trilling als „unique, unclassifiable“
bezeichnet (vgl. Literary History, S. 201), eine unmißverständliche Kategorie
bzw. ein plakatives Markenzeichen zu finden Das Fehlen eines solchen Markenzeichens ist wahrscheinlich der
Grund dafür, daß noch Larsen den eindeutigen – und dogmatischen –
Marxisten Lukács für einen großen theoretischen Kopf hält, während er
den nur gelegentlich – und ziemlich distanziert – mit Marxschen
Konzepten umgehenden Auerbach, der von beiden genaugenommen der
schärfere (freilich weniger herrschaftliche) Denker war, als „evasive
[...], almost hostile to theoretical deliberations“ einschätzt (vgl.
Mimesis, S. 16ff).disinvoltura ebenso bei Friedrich Meinecke wie bei
Hippolyte Taine oder Karl Marx suchte, zu mindern, hat sich die Tendenz
entwickelt, den Begriff der Figuraldeutung, der in Auerbachs Interpretation
mittelalterlich-christlicher Texte und zumal der Danteschen ‚Commedia‘ eine
zentrale Rolle spielt, gleichsam von der Objektebene auf die Beschreibungsebene
der Auerbachschen Studien zu verlagern und als den Inbegriff von Auerbachs
eigener und dadurch nunmehr schlagwortartig erfaßbarer Methode auszugeben.
Erstmals aufgefallen ist mir diese Tendenz in zahlreichen Beiträgen des
brasilianischen Kolloquiums. Dort erscheint nicht nur Hansen überzeugt, daß
Auerbach Vgl. Auerbach’s Mimesis. Figural Structure and Historical
Narrative, in: After Strange Texts. The Role of Theory in the Study of
Literature, hrsg. von Gregory S. Jay und David L. Miller, Tuscaloosa
(University of Alabama Press) 1985, S. 124–145. Vgl. dazu etwa Auerbach, Mimesis (zit. Anm. 7), S. 458, wo es
über Flaubert heißt: „Übrigens haben wenige von den Späteren die Aufgabe
der Darstellung zeitgenössischer Wirklichkeit mit der gleichen Klarheit
und Verantwortlichkeit erfaßt wie er; aber freilich hat es unter den
Späteren freiere, spontanere, reichere Geister gegeben als ihn“. Der
Ausdruck solcher Reserven, die aufs neue eine vage Affinität zu Lukács
offenbaren, erstreckt sich bezeichnenderweise auch auf andere
deklarierte Ästheten des Dix-Neuvieme, neben den Brüdern Goncourt sogar
auf Baudelaire. Jedenfalls erwähnt Geoffrey Green einmal eine
symptomatische Anekdote, die Robert Fitzgerald aus dem Auerbach und
Curtius zusammenführenden Princeton-Seminar des Jahres 1949 berichtet:
„All who know modern poetry, said Auerbach, find Baudelaire the
initiator; he is the point where everything converges, then radiates
again. ‚But I have a personal confession‘, he said. l don’t like him
very much“`. Vgl. Geoffrey Green, ‚Erich Auerbach and the „Inner Dream“
of Transcendence‘ (Literary History, S. 214–226, hier: S. 222f.), und
Robert Fitzgerald, Enlarging the Change: The Princeton Seminars in
Literary Criticism, 1949–1951, Boston 1985, S. 23.
Trotzdem hat die forcierte Verwechslung von Gegenstand und Methode des
‚Mimesis‘-Buchs, für die Bathi dekonstruktivistisch und andere Autoren eher
kontinuitätsideologisch plädieren Vgl. zur letzteren Variante z. B. das einflußreiche Buch von
Geoffrey Green, Literary Criticism and the Structures of History: Erich
Auerbach and Leo Spitzer, Lincoln (University of Nebraska Press) 1982,
bes. S. 25–33.communis opinio avanciert ist. So
behauptet der Herausgeber Walter Busch (‚Geschichte und Zeitlichkeit in Mimesis. Probleme der Vico-Rezeption Erich Auerbachs‘,
Wahrnehmen, S. 85–121, hier: S. 121), und zwar gewissermaßen als Fazit seines
Artikels: „Die figurale Deutung der Geschichte und der Dauer des menschlichen
Lebens ist, so scheint es, die geheime Grundlage, die Auerbachs gesamtes
philologisches Werk trägt und motiviert“. Selbst in dem sonst bestens
informierten Essay von Claus Uhlig (‚Erich Auerbach: Ein
Geschichtstheoretiker?‘, ebenda, S. 63–84, hier: S. 74) wird Geoffrey Greens
analoge Auffassung von „Auerbachs Festhalten an einer Theorie der Geschichte,
die auf dem typologischen System basiert und als ein Garant judäochristlicher
Kontinuität fungiert“, nicht nur referiert, sondern nachdrücklich bestätigt und
durch den Vorschlag ergänzt: „In diesem Zusammenhang könnte man vielleicht des
weiteren nahelegen, daß figura und Typologie in Auerbachs
Leben dieselbe Funktion erfüllten wie die berühmten topoi
der klassischen Rhetorik für Curtius in seiner Vision historischer Kontinuität,
die durch ‚Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter‘ (1948) dargeboten
wird, und das insbesondere, wenn man die Hingabe der beiden Gelehrten an die
Idee der europäischen Kultureinheit bedenkt“. Danach kommt es dann insofern zu
einer unfreiwillig ironischen Pointe, als Uhlig an dieser „panchronistische[n]
Konzeption“, die in der Tat „zur Destruktion der Geschichte als eines Prozesses“
führen müßte, wenig später auch wieder Anstoß nimmt, das heißt: mit plötzlicher
Kehrtwendung eine Geschichtstheorie kritisiert, die er selber Auerbach allererst
unterstellt hat: „Dadurch, daß er [Auerbach, U. S.-B.] die Bereiche profaner und
heiliger Geschichte miteinander vermischt, mag wohl ein Dante, nicht ungleich
Gott selbst, in der Lage sein, über alle Geschichte zu richten, aber wenn
Auerbach, Jahrhunderte später, mit offenkundiger Sympathie diese Sicht der Welt
teilt, dann scheint er als ein irdisches menschliches Wesen, das gewiß nicht den
Sitz des Schiedsrichters Providenz einnimmt, den Überzeugungen eines
unhistorischen Existentialismus viel näher zu sein als jenen eines theoretisch
wohlbegründeten Historismus“ (ebenda, S. 75).
Demgegenüber fallen Auerbachs eigene Stellungnahmen zum Phänomen der
Figuraldeutung alias Typologie ganz anders aus und sind überdies, da es hier um
einen Sachverhalt von fundamentaler theoretischer Relevanz geht, nicht einmal in
Ansätzen ambivalent, sondern bemerkenswert eindeutig formuliert. Was Auerbach
für die Figuraldeutung interessiert hat, war ja weniger ein ideologisches
Anliegen, wie man es ihm heute etwa in Gestalt der „europäischen Kultureinheit“
gerne zuschreibt. Den Ausgangspunkt des Interesses bildete vielmehr ein höchst
konkretes Problem des Dante-Verständnisses: die Frage nämlich, wie es Dante
gelingen konnte, in die eigentlich geschichtslose Welt der Jenseitsreiche
gleichwohl eine bestürzende Fülle geschichtlicher irdischer Wirklichkeit zu
integrieren. Für diese in der Tat erstaunliche Integrationsleistung schien
Auerbach die – dagegen von Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und
lateinisches Mittelalter, Bern und München 1963, S. 355–366 und
passim. Dabei mag im Zusammenhang unserer Argumentation ausgeklammert
bleiben, inwieweit Auerbachs Plädoyer für die Figuralstruktur die
abgründigen Probleme der Danteschen „Jenseitsrealistik“ wirklich besser
löst als der konkurrierende Verweis auf die allegorische Tradition.
Einen bedenkenswerten Einwand äußert hier beispielsweise Joachim Küpper,
wenn er bei Auerbach eine „Begriffsverwirrung“ ausmacht, die darin
bestünde, daß die Figural-Exegese per definitionem „zwei
innergeschichtlich Verschiedene als heilsgeschichtlich aufeinander
Bezogene“ begreift, während die Beziehung zwischen Figur und Erfüllung
in der ‚Commedia‘ strenggenommen nicht innergeschichtlich, sondern
unmittelbar zwischen Diesseits und Jenseits zustande kommt, freilich –
wie man in Auerbachs Sinn hinzufügen könnte – durchaus nach dem formalen
Muster der innergeschichtlichen Typologie. Vgl. Joachim Küpper,
Diskurs-Renovatio bei Lope de Vega und Calderón. Untersuchungen zum
spanischen Barockdrama. Mit einer Skizze zur Evolution der Diskurse in
Mittelalter, Renaissance und Manierismus, Tübingen 1990, S. 261f.
Deshalb hat Auerbach stets größten Wert darauf gelegt, das typologische
Denken, das für ihn in Dantes ‚Commedia‘ kulminiert, als ein historisch strikt
begrenztes Phänomen zu beschreiben Das wird auch grundsätzlich richtig von Arne Melberg (‚Mimetic
Temporality‘, Mimesis, S. 87–98, hier: S. 88f.) erkannt, der diese
treffende Erkenntnis dann allerdings gewissermaßen unterläuft, indem er
das Konzept ‚Figura‘ („that I now find everywhere“) zunächst auf den
‚Don Quijote‘, danach auf Prousts ‚Recherche‘ und schließlich zu einer
Art Omnipräsenz ausweitet, welche den Begriff nicht bereichert, sondern
ihm am Ende jede Bestimmtheit und Distinktionsfähigkeit nimmt. Vgl. Erich Auerbach, Typologische Motive in der
mittelalterlichen Literatur (= Schriften und Vorträge des
Petrarca-Instituts Köln 2), 2. Aufl., Krefeld 1964, S. 13f. Vgl. Auerbach, Mimesis (zit. Anm. 7), S. 75. Ebenda, S. 193. Unerfindlich ist mir, wie Earl Jeffrey Richards
zu der Auerbachs Dante-Interpretation total konträren Behauptung
gelangen kann, Auerbach habe – und zwar „immer wieder“ – betont, „daß
seit [!] Dante das Figurale die Darstellung der Wirklichkeit in der
europäischen Literatur beherrschte“ (vgl. Wahrnehmen, S. 42). Auerbach, Mimesis (zit. Anm. 7), S. 302.expressis verbis, der „modernen Geschichtsauffassung“,
deren „Entwicklungsvorstellungen“ im Unterschied zur mittelalterlichen
Figuraldeutung selbstverständlich Auerbachs eigene – eben historistisch
relativierende – epistemologische Perspektive konstituieren. Wäre das anders,
hätte Auerbach gerade das Dante-Kapitel der ‚Mimesis‘ schlicht nicht verfassen
können. Bei diesem Kapitel handelt es sich nämlich nicht einfach um die
Herausarbeitung eines besonders grandiosen Beispiels für die typologische
Geschichtskonzeption, deren Begriff zunächst bei Augustinus eingeführt wurde, um
zu zeigen, wie sie das „klassisch-antike Wesen“ „bis in die Struktur seiner
Sprache hinein“ ‚zerstören‘ mußte.und an ihr quasi geschichtsphilosophisch modelliertes Ende gelangt;
denn – wie Auerbach wieder unverkennbar hegelianisch formuliert – „Dantes Werk
verwirklichte das christlich-figurale Wesen des Menschen und zerstörte es in der
Verwirklichung selbst; der gewaltige Rahmen zerbrach durch die Übermacht der
Bilder, die er umspannte“Autos
sacramentales, entgegen. Wesentlich erscheint jedoch, daß solche
Restaurationen eines mittelalterlichen Analogismus auf keinen Fall zu den
Hauptlinien der Entwicklung gehören, die Auerbachs ‚Mimesis‘ entwirft. In der
Tat bildet dann eine der entscheidenden Voraussetzungen, welche Auerbach für das
Werk Shakespeares nennt, eben das allmähliche Verblassen der Figuraldeutung, die
also nicht einmal auf der Objektebene den Charakter epochenübergreifender
Permanenz gewinnt: „Im Laufe des 16. Jahrhunderts [...] lockerte sich die
christlich-figurale Rahmenvorstellung fast überall in Europa; der Ausgang zum
Jenseits, obwohl nur selten völlig aufgegeben, verlor an Sicherheit und
Eindeutigkeit; und zugleich traten die antiken Vorbilder (zunächst Seneca, dann
auch die Griechen) und die antike Theorie wieder ungetrübt vor die Augen“
Das Mißverständnis, das den mittelalterlichen Sachverhalt der
Figuraldeutung mit dem Inbegriff von Auerbachs eigener Methode verwechselt,
auszuräumen, ist im Hinblick auf die Struktur des ‚Mimesis‘-Buchs – wie ich noch
hinzufügen möchte – weitaus mehr als eine interpretative Quisquilie. Sobald
Auerbach als ein Historiker erscheint, der die gesamte Geschichte dem
„typologischen System“ unterwirft, wird er nämlich zu einem Denker der
Kontinuität stilisiert, und es wirkt außerordentlich bezeichnend, daß Uhlig ihn
in dieser Hinsicht ausdrücklich neben Curtius stellt (vgl. Wahrnehmen,
S. 74). In die gleiche Richtung geht mit freilich eher kritischer
Intention eine Äußerung von Karlheinz Barck, der während einer Debatte
des brasilianischen Kolloquiums behauptet: „Auerbach está sempre
buscando, construindo continuidades“ (Erich Auerbach, S. 206). Ich zitiere aus dem „vier Seiten umfassende[n], schwer
entzifferbare[n] handschriftlichen“ Gutachten nach der Transkription von
Martin Vialon, in: Erich Auerbachs Briefe an Martin Hellweg (1939–1950).
Edition und historisch-philologischer Kommentar, hrsg. von Martin
Vialon, Tübingen und Basel 1997, S. 61. Vgl. dazu neben vielen anderen Stellen Ernst Robert Curtius,
Deutscher Geist in Gefahr, Stuttgart und Berlin 1932, S. 93, wo Curtius
resolut verlangt: „Der heute verbreitete Relativismus wäre durch eine
Lehre von den Konstanten aller ontologischen Gebiete zu
berichtigen“. So in einem Brief an Hellweg vom 22. 5. 1939; vgl. Erich
Auerbachs Briefe (zit. Anm. 33), S. 57. Die Anerkennung von Curtius’
Arbeiten wirkt hier um so bemerkenswerter, als der gleiche Brief etwas
später ja eine – auf den ersten Blick überraschende – Kritik an der
wissenschaftlichen Entwicklung des Auerbach-Schülers Werner Krauss
äußert: „Vieles von dem, was er schreibt, verstehe ich nicht [...].
Common Sense ist eine sehr triviale Eigenschaft, aber er verachtet sie
allzu sehr“ (ebenda, S. 56).
Mit der Hypostasierung der Figuraldeutung mag indessen noch ein
weiteres Phänomen zusammenhängen, das in den Sammelbänden auffällt. Ich meine
den Eifer, den diverse Interpreten daran setzen, in ‚Mimesis‘ möglichst viele –
und eben „figurale“ – Bezüge zu Auerbachs zeitgeschichtlicher Aktualität
ausfindig zu machen. Ingeniös, aber keineswegs überzeugend wirkt diesbezüglich
etwa der Beitrag von Seth Lerer (‚Philology and Collaboration: The Case of Adam
and Eve‘, Literary History, S. 78–91), der die Interpretation einer Szene des
‚Mystère d’Adam‘, welche Auerbach im siebten Kapitel ‚Adam und Eva‘ präsentiert,
als eine Allegorie der französischen Kollaboration mit den deutschen Besatzern
liest. Auch hier zeigt sich im übrigen der Marburger Band, dem vor allem das
„politisch Situationsbewußte in Auerbachs Schreiben“ (Wahrnehmen, S. 8) am
Herzen liegt, wieder besonders engagiert. So wird Earl Jeffrey Richards (‚Erich
Auerbach und Ernst Robert Curtius: Der unterbrochene oder der verpaßte Dialog?‘,
ebenda, S. 31–62) nicht müde, ‚Mimesis‘ nach Antworten „auf den Holocaust“
(ebenda, S. 35), „die europäische Katastrophe“ (ebenda, S. 39) oder „das
Aufkommen des Nationalsozialismus“ (ebenda, S. 41) abzusuchen, während Gert
Mattenklott
Nun fördert der unpedantische Stilcharakter der ‚Mimesis‘, den Lerer
treffend durch das spannungsreiche Verhältnis „between the scholarly and the
colloquial“ kennzeichnet (vgl. Literary History, S. 91), zweifellos die Neigung,
gelegentliche Hinweise auf Auerbachs Gegenwart in den Gang der Darstellung
einfließen zu lassen. Diese Hinweise sind jedoch zum einen weniger zahlreich,
als man nach der Lektüre des Marburger Sammelbands vermuten könnte, und zum
anderen ermangeln sie völlig des exaltiert apokalyptischen Tons, den die
Sprachregelungen der neunziger Jahre für eine Auseinandersetzung mit der
Geschichte der dreißiger Jahre gleichsam zur diskursiven Pflicht gemacht haben.
So spricht Auerbach anläßlich von Tacitus’ konservativ-aristokratischer
Gesinnung einmal von der „Rücksicht“, die „in der jüngst vergangenen Epoche“
auch der „konservativste Politiker“ „auf die politischen Problemstellungen
seiner sozialistischen Gegner“ nehmen muß. Vgl. Auerbach, Mimesis (zit. Anm. 7), S. 40f. Vgl. ebenda, S. 56. Vgl. ebenda, S. 512. Ebenda, S. 22. Vgl. ebenda, S. 378f. Wie dem Beitrag von Reinhard Brandt (‚Reflexionen in Wort und
Bild zu Auerbachs Konzept der Mimesis und Figura‘, Wahrnehmen,
S. 176–196, hier: S. 178) zu entnehmen ist, gilt Auerbach inzwischen als
idealtypischer „Aufklärer“: „Er ist über Nietzsche und die Romantik
hinweg Aufklärer – eine in dem Deutschland, das er verlassen mußte,
konsequent verfemte Geistesrichtung“. Daß diese Einschätzung eine grobe
Simplifikation darstellt, wird nicht nur durch den Voltaire-Abschnitt
der ‚Mimesis‘ dokumentiert. Bei genauerer Lektüre des ganzen Buchs zeigt
sich, daß Auerbach im Grunde ebenso wenig den Typus des Aufklärers tout
court repräsentiert, wie das beispielsweise sein Altersgenosse Walter
Benjamin oder die Autoren der ‚Dialektik der Aufklärung‘ getan
haben.
Bestätigt wird dieser Befund übrigens von Hans-Georg Gadamer,
unter dessen Erinnerungen an Erich Auerbach, (Wahrnehmen, S. 13f.) sich
die Reminiszenz findet: „Erich Auerbach merkte man [...] niemals an, oh
er strapaziert war. Das hat sich dann später sogar so weit gesteigert,
daß sich in seinem Verhalten gar nichts geändert hat, als er wegen
seiner jüdischen Abstammung suspendiert war“. Demgegenüber erwähnt Barck die ,,crítica de um judaísmo
militante, sobretudo norteamericano“, welche sich gerade gegen ein nach
ihren Maßstäben hei Auerbach nicht hinlänglich prononciertes jüdisches
Bewußtsein richte (vgl. Erich Auerbach, S. 141f). Vorsichtiger und differenzierter äußert sich zur letzteren
Hypothese Carl Landauer, der Auerbach mit dem George-Kreis lediglich
durch eine lockere typologische Affinität verbindet, welche in erster
Linie auf dem Niveau der auktorialen Attitüde, das heißt: der
Distanznahme von „scholarly conventions“, zu erblicken wäre (vgl.
Literary History, S. 186).
Das betrifft unter anderem die Behauptungen vom „Ethos konsequenter
Diesseitigkeit“ (ebenda, S. 18), das Auerbachs Präferenz für die Tradition
„christlicher Stilmischung“ widerspricht, von der normativen Geltung eines
„poetische[n] Realismus“ (ebenda, S. 28), unter dem dann die gewöhnlich anders
kategorisierten Romane Balzacs oder Zolas zu verstehen wären, oder von der
Neigung zur italienischen – statt zur französischen – Literatur, und zwar
insbesondere zu den „Universalisten“ Ariost oder Tasso (ebenda, S. 24f.), die in
‚Mimesis‘ – dem Thema entsprechend – indes überhaupt keine Rolle spielen.
Eklatant falsch ist gleichfalls die These, welche Auerbach eine „klassizistische
Option“ und eine „Entscheidung für die Repräsentation der Wirklichkeit in den
konventionellen Formen“ nachsagt (vgl. ebenda, S. 29). Wenn man bei Auerbach
eine „Option“ ausmachen wollte, Vgl. Erich Auerbach, Gesammelte Aufsätze zur Romanischen
Philologie, Bern und München 1967, S. 301–310, hier: S. 301: „[...]
damit wäre der Gedanke der Weltliteratur zugleich verwirklicht und
zerstört“. Vgl. ebenda.
An dieser Stelle mag noch eine Bemerkung über Auerbachs Verhältnis zu
Deutschland und den Deutschen angebracht sein. Bekanntlich bleibt die
deutschsprachige Literatur in ‚Mimesis‘ ja eine eher marginale Erscheinung, was
Pickerodt nicht zuletzt aus Auerbachs lebensgeschichtlichen Enttäuschungen
erklärt: „Daß dabei [gemeint ist: der „Fortgang realistischer europäischer
Literaturentwicklung von Homer bis Proust und Joyce“] der deutschen Literatur
kein allzu großes Gewicht zufiel, darf gewiß auch als Reaktion auf die
rassistisch begründete Großmannssucht der bücher- und menschenverbrennenden
deutschen Kulturbarbaren gelten“ (Wahrnehmen, S. 249). Nach dem Konsens der
neunziger Jahre ist das sicher ein tadelloser Satz; doch wirkt er gleichwohl
irreführend, wenn durch ihn speziell Auerbachs Perspektive bezeichnet werden
soll. Was Pickerodt übersieht, ist der Umstand, daß die beklagte (oder begrüßte)
kritische Marginalisierung sich im Grunde gar nicht auf die deutschsprachige
Literatur an sich, sondern genaugenommen lediglich auf deren sozial- und
politikgeschichtliche Voraussetzungen bezieht. Was die deutschsprachige
Literatur selbst angeht, spart Auerbach durchaus nicht mit Lob etwa für Stifter
oder Gottfried Keller, bei denen „eine so innige Lebensfrömmigkeit und eine
Reinheit der Anschauung vom menschlichen Beruf“ herr Vgl. Auerbach, Mimesis (zit. Anm. 7), S. 479. Vgl. ebenda.
Ganz ähnlich ist die thematisch zentrale Synkrisis zwischen Goethe und
dem Erzrealisten Stendhal angelegt. Von der Person des letzteren, einer „nicht
eigentlich [...] große[n] Figur“, zeichnet Auerbach ja ein keineswegs besonders
freundlich intendiertes Porträt, Vgl. ebenda, S. 426f. Vgl. ebenda, S. 419f.
Demnach läßt sich nicht ohne Verwunderung konstatieren, daß Auerbachs
Verhältnis zu Deutschland selbst während der Emigration und selbst nach dem
Zweiten Weltkrieg durch Züge eines so ‚gelassenen‘ wie maßvoll herzlichen
Patriotismus bestimmt geblieben ist. Dafür sprechen auch viele briefliche Äußerungen, etwa 1948 die
Warnung vor dem „Einmischen der Amerikaner“ in die deutschen
„Schulreformverhältnisse“: „das deutsche System war im ganzen
unvergleichlich besser“, oder 1950 die Mahnung: „Die Deutschen sollten
[...] wieder anfangen, weltpolitisch zu denken, aber auf eine andere
Weise als früher – nicht rein aus deutschen Vorstellungen und im engsten
deutschen Interesse“. Vgl. Erich Auerbachs Briefe (zit. Anm. 33), S. 116
und 136. Vgl. Auerbach, Literatursprache (zit. Anm. 6), S. 9.
Damit sind wir beim letzten – und kürzesten – Punkt unserer Übersicht
angelangt: dem Versuch zu erklären, was eigentlich die singuläre Vorzüglichkeit
der Auerbachschen ‚Mimesis‘ ausmacht. Hier wäre auf der Ebene der
epistemologischen Voraussetzungen wohl zunächst klarzustellen, daß der von
Auerbach immer wieder reklamierte (romantische) Historismus mit unverkennbar
hegelianischen Elementen vermischt ist. Dem ersteren verdankt Auerbach die Weite
des Blicks und zugleich den Respekt vor der jeweiligen Autonomie der Texte und
Epochen, die er behandelt. Von den letzteren, die weniger nachdrücklich
hervorgehoben werden, hat er neben dem Sinn für epochale Brüche und dialektische
Umschwünge offenkundig die Energie des „emplotment“ (Hayden White) übernommen,
das die Geschichte der ‚Mimesis‘ strukturiert. Dabei kann die besondere Art
dieses „emplotment“ als der eigentliche Glücksfall des Auerbachschen Hauptwerks
gelten. Bekanntlich besteht es – auf seine Grundzüge reduziert – aus zwei
Motiven: zum einen dem Widerstreit stilmischender und stiltrennender Poetiken,
zum anderen der Herausbildung eines umfassenden, das Politische, Soziale und
Ökonomische einschließenden historischen Bewußtseins. Eine Trouvaille sind die
beiden Motive nun nicht schon deshalb, weil sie treffende interpretative
Einsichten gestatten; wichtiger noch erscheint mir ihr Status sozusagen
mittlerer Stringenz, das heißt: der Umstand, daß sie geschichtliche Abläufe in
longues durées zu gliedern vermögen, ohne doch dem
Einzelnen und Besonderen, das ihrer gliedernden Kraft unterliegt, etwa à la
Lukács kategoriale Gewalt antun zu müssen.
Freilich wäre die spannungsreiche und doch harmonische Architektur der
‚Mimesis‘ nichts ohne die Fülle und Varietät der in ihr aufgehobenen
künstlerischen Details. Bei ihnen lassen sich vor allem zwei Genera
unterscheiden, in denen Auerbach exzelliert. Es sind das einerseits seine
Stilanalysen, andererseits seine – gemeinhin weniger beachteten – Porträts
verschiedener Autorenfiguren. Was die Stilanalysen betrifft, steht Auerbach mit
ihnen bemerkenswerterweise nicht unbedingt in einer speziell romanistischen
Tradition, gewiß nicht in der seines nominellen Lehrers Erhard Lommatzsch und
auch kaum in der seines großzügig spekulierenden Habilitationsvaters Leo
Spitzer. In dieser Hinsicht hat Frank-Rutger Hausmann (‚Michel de Montaigne,
Erich Auerbachs Vgl. dazu den 1929 verfaßten, dem Marburger Habilitationsantrag
beigelegten Lebenslauf, am besten konsultierbar in: Erich Auerbachs
Briefe (zit. Anm. 33), S. 34. Vgl. Curtius, Europäische Literatur (zit. Anm. 25), S. 63, 127
oder 473f.Mimesis und Erich Auerbachs
literaturwissenschaftliche Methode‘, Wahrnehmen, S. 224–237, hier: S. 236)
recht, wenn er Auerbach einmal als eine „romanistische proles
sine patre creata“ bezeichnet. Bedenkt man dagegen, daß Auerbachs
stilanalytische Kunst sich am reichsten bei den lateinischen Texten der
Anfangskapitel entfaltet und daß sie mit auffälliger Konstanz stets von der
Beobachtung syntaktischer Eigentümlichkeiten ausgeht, wird hinter der
romanistischen eine gleichsam ältere und tiefere Schicht von Auerbachs
akademischer Ausbildung sichtbar. Sie besteht in der altphilologischen Lehre
Eduard Nordens, die für Auerbach ebenso produktiv geworden sein dürfte wie jene
seines philosophischen Lehrers Ernst Troeltsch, von dem er Anregungen für die
frühe Beschäftigung mit Giambattista Vico
Mit der Kunst des Porträtierens geht Auerbach auf eine noch weitaus
ältere Tradition zurück, die sich im wesentlichen von der französischen
Moralistik herleitet. In ihr spielen für Auerbach sowohl Montaigne wie La
Bruyère eine Rolle; doch kommt die zentrale Modellfunktion hier zweifellos dem
Duc de Saint-Simon zu, also jenem Autor, der in ‚Mimesis‘ neben Dante vielleicht
mit dem größten Enthusiasmus präsentiert wird. Dabei sind die Motive, die
Auerbach für Saint-Simons Memoiren begeistert haben, vielfältiger Art.
Saint-Simon ist Auerbach willkommen, weil sein Werk in der ersten Hälfte des 18.
Jahrhunderts einen „Gegensatz zu dem elegant geformten und begrenzten Stil der
Zeitgenossen“ verkörpert, weil er das alltägliche Hofgeschehen vollkommen
ernsthaft, ja tragisch erfaßt und weil er „aus dem beliebig Einzelnen,
Unausgewählten, oft bis zum Absurden Persönlichen und Parteiischen unversehens
in die Tiefe der menschlichen Existenz hinabstößt“ Vgl. Auerbach, Mimesis (zit. Anm. 7), S. 400ff.
Ein solcher Stil ermangelt – wie Auerbach betont – vorgegebener
ästhetischer oder ethischer Ordnungsvorstellungen und erreicht eben deswegen die
„profondeurs opaques“ der jeweils geschilderten individuellen Existenz. Als ein
charakteristisches schriftstellerisches Mittel, das für diesen Zweck eingesetzt
wird, betrachtet Auerbach insbesondere jenen Typus fließend koordinierter
Periodenbildungen, in die „lauter Sinnantithesen eingeschlossen sind“ Vgl. ebenda, S. 391.
Seine Gedanken sind oft energisch und genial, aber sprunghaft,
willkürlich vorgebracht und trotz aller paradierenden Kühnheit ohne innere
Sicherheit und Fügung; sein ganzes Wesen hat etwas Brüchiges; der Wechsel
zwischen realistischer Offenheit im ganzen und albernem Versteckspiel im
einzelnen, zwischen kalter Selbstbeherrschung, schwärmerisch-genießender Hingabe
ans Sinnliche und unsicherer, zuweilen sentimentaler Eitelkeit ist nicht immer
leicht zu ertragen; seine sprachliche Gestaltung ist sehr eindrucksvoll und
unverwechselbar originell, aber kurzatmig, ungleichmäßig geglückt, ihren
Gegenstand nur selten ganz ergreifend und festhaltend. Ebenda, S. 427.
Ganz im Sinn Saint-Simons – und durchaus im Gegensatz zu sonstigen
literaturwissenschaftlichen Gepflogenheiten – wirkt dies Bild alles andere als
idealisierend; aber es ist scharf und gleichsam existentiell gesehen, ebenso wie
das abschließende, eher dem historischen Plot
verpflichtete Fazit, das Auerbach seinem Porträt dann entgegenhält:
Aber gerade so, wie er war, bot er sich dem Moment; die Umstände
ergriffen ihn, warfen ihn umher, legten ihm ein esigentümliches [sic],
unerwartetes Geschick auf; sie formten ihn so, daß er gezwungen war, sich mit
der Wirklichkeit auf eine Weise auseinanderzusetzen, wie niemand zuvor. Ebenda.
In solchen Sätzen gelangt die unbändige Differenzierungs- und Distinktionslust, die Auerbach beherrscht, gewissermaßen zu ihrem konzentriertesten Ausdruck. Daher scheint sich diese Saint-Simonsche Manier, in der die Widersprüchlichkeit der Erscheinungen nicht erst durch weitere diskursive Zusammenhänge, sondern schon durch die Aperçus im Rahmen einzelner Perioden manifest wird, für Auerbach geradezu in einen Habitus verwandelt zu haben. Jedenfalls pflegt er ihn nicht nur in seinen – wenn man so will – offiziellen essayistischen Schriften, sondern gleichfalls in der Privatkorrespondenz. So schreibt er 1948 über das Pennsylvania State College:
Die Landschaft ist bezaubernd, die Leute, insbesondere die
Kollegen, zwar nicht eigentlich interessant, aber menschlich sehr sympathisch;
die Studenten vergnügt, sehr gutartig, optimistisch, furcht- und komplexlos,
formlos, dabei taktvoll, und sehr unwissend. Erich Auerbachs Briefe (zit. Anm. 33), S. 102f.
Vielleicht noch symptomatischer erscheint ein Passus vom 5. 1. 1932, in dem Auerbach sich seiner Schwierigkeiten beim Verfassen einer Rezension über Spitzers ‚Stilstudien‘ bewußt zu werden versucht:
Überhaupt ist Sp. unbequem. Wenn er ein Stück Text in die Hand
nimmt, wird es lebendig, und man sieht plötzlich Sachen, die man nie gesehen
hat, und man ist entzückt. Dann kommt aber Sp., unruhig, masslos, ohne Steuer,
auf dem grossen Meer der Emotionen, oft genug an der Der Briefabschnitt wird von Hausmann (Wahrnehmen, S. 236)
zitiert. Die fertige Rezension erschien 1932 in der Deutschen
Literaturzeitung und erregte prompt den heftigen Zorn des Rezensierten,
der ein Jahr später in einem ganz anderen Kontext indigniert antwortete,
indem er Auerbach – vom heutigen Standpunkt aus kaum verständlich –
einen „Neoscientismus“ vorwarf, ja eine „Erfassung des geistigen Quale
durch Quantitäten, wie sie die amerikanische und in Europa
amerikanisierende Wissenschaft liebt“. Vgl. dazu das Kapitel „Ein Streit
zwischen Auerbach und Spitzer Anfang der dreißiger Jahre“ in: Peter
Jehle, Werner Krauss und die Romanistik im NS-Staat, Berlin 1996,
S. 110ff.
Dabei mag dieser Habitus der extrem gedrängten Wahrnehmung und
Rufreihung von Widersprüchen, für sich selbst genommen, nicht einmal etwas
Extraordinäres darstellen. Ungewöhnlich ist er dagegen im Zusammenhang mit der
zeitenübergreifenden hegelianischen Kraft zur Synthese, welche das Mimesis-Buch
ja ebenfalls prägt: eine coincidentia oppositorum, die
offenkundig auch dann nicht aufhört, zu faszinieren und zu provozieren, wenn
manche Einzelheiten des Auerbachschen Werks vor dem Fortschritt der – allerdings
kaum noch miteinander kommunizierenden – Spezialforschungen unvermeidlich zu
verblassen beginnen.