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Quelle: Literatur: Geschichte und Verstehen. Festschrift für Ulrich Molk, hg. H. Hudde, Heidelberg, Winter, 1997, S. 447–462.

„C’est la faute de la fatalité!“

Über die Funktion von ‚grands mots‘ in den Romanen Flauberts

Zu den Momenten, welche die Leser der Madame Bovary stets am heftigsten irritiert haben, zählt jene Szene des letzten Kapitels, in der Charles Bovary – nunmehr aufgeklärt über das, was ihm in seiner Ehe widerfahren ist – Emmas Verführer Rodolphe „in willenloser Versöhnlichkeit“ (so Hugo Friedrich) [1] gegenübersitzt und dabei eine Äußerung tut, die vom Erzähler überraschenderweise als ein ‚großes Wort‘ bewertet wird: „un grand mot, le seul qu’il ait jamais dit: – C’est la faute de la fatalité!“. [2] Das Irritierende an dieser Äußerung und an dieser Szene hängt zunächst mit der Gestalt Charles’ zusammen, die den meisten Lesern seit eh und je als eine der tristesten des Romans gilt. Weshalb – mag man fragen – wird gerade ihr ein Satz anvertraut, der sich geriert, als wolle er die gesamte Erzählung resümieren und auf den Begriff bringen? Wie kann ausgerechnet Charles Bovary eine offenbar bedeutende „Einsicht“ formulieren, wo er zu ihr doch – wie Hugo Friedrich meint – lediglich „aus der Feigheit seines Gemüts“ gelangt? [3]
Indessen fragt sich zugleich, ob man das Fazit „C’est la faute de la fatalité!“ überhaupt für eine bedeutende Einsicht halten soll. Ist der Erzähler wirklich ernstzunehmen, wenn er in bezug auf Charles’ Äußerung von einem „grand mot“ spricht? Oder wäre die Bewertung, die dem Satz zuteil wird, nicht vielleicht eher als eine Art ironischer Antiphrasis zu verstehen? Schließlich weist etwa Victor Brombert zu Recht darauf hin, daß die anscheinend konklusive Erkenntnis des betrogenen Ehemanns mit einem der verbrauchtesten ‚romantischen Klischees‘ („Romantic clichés“) übereinkommt: „Charles’ exclamation carries its own condemnation, at the same time that it implies a debunking of the tragic ending of the novel“. [4] Und so verwandelt der amerikanische Interpret, was der Erzähler als ‚großen Gedanken‘ empfiehlt, dann in einen „lamentable thought“, durch den der Roman am Ende zu jenem „triple sign of inadequacy, drowsiness and a passively accepted necessity“ zurückkehre, das schon die Schulszene des ersten Kapitels als sein Hauptthema umrissen habe. [5]
Nun könnte man sich dieser und ähnlicher Irritationen gewiß leicht entledigen, indem man sie auf dem opportunen Konto einer Poetik der Vieldeutigkeit und Unentscheidbarkeit verbucht. Auf ihm ließen sich auch die Polysemie und die pragmatische Erratik von Charles’ „grand mot“ als charakteristische Belege für den bekannten Sachverhalt eines „Flaubert le précurseur“ heranziehen, wie ihn am einprägsamsten Nathalie Sarraute aus der Perspektive des Nouveau roman postuliert hat. [6] Zweifellos wäre ein solcher Befund nicht falsch, und wir wollen ihn deshalb auch keineswegs in Frage stellen oder gar negieren, sondern lediglich ein wenig suspendieren. Das heißt: Bevor man sich auf die beruhigend breite Ebene des poetologischen ‚locus communis‘ begibt, dürfte es die Mühe lohnen, etwas genauer zu untersuchen, welche Funktionen dem „grand mot“ durch die Struktur des Textes selbst mitgeteilt werden. Dabei mag sich herausstellen, daß sowohl evidente Widersprüchlichkeiten als auch so etwas wie eine geheime, für das Pathos und die latente Moral Flaubertscher Romane kennzeichnende Kohärenz zutage treten.
Die erste und am klarsten formulierte Funktion, welche Charles’ Äußerung zukommt, wird schon von dem unmittelbar folgenden Satz angezeigt. Er besitzt um so größeres Gewicht, als er in einem unverkennbar auktorialen Duktus gehalten ist:
Rodolphe, qui avait conduit cette fatalité, le trouva bien débonnaire pour un homme dans sa situation, comique même, et un peu vil (S. 355f.).
Offensichtlich wird dem „grand mot“ bereits hier die Qualität einer Erkenntnis bestritten; denn der auktoriale Kommentar hält fest, daß Charles mit seiner Schuldzuweisung an die Fatalität in einer Illusion befangen ist. Charles zieht aus den Ereignissen insofern ein irriges Fazit, als er nicht bemerkt, welchen Anteil sein lebenskluger Gegenspieler an der vermeintlichen Fatalität gehabt hat. Damit zeigt sich ein letztes Mal Charles’ eklatanter Mangel an Lebensklugheit. Was er selber in tiefem Ernst zum Ausdruck bringt, hat Rodolphe zuvor ja schon als eine geschickt eingesetzte rhetorische Floskel verwendet, indem er sich bei Emma für seinen Liebesverrat eben mit der Wendung entschuldigte:
Est-ce ma faute? O mon Dieu! non, non, n’en accusez que la fatalité! (S. 208).
Daß beide Äußerungen in einem engen semiotischen Zusammenhang stehen, unterstreicht ihre jeweilige Präsentation unter dem Begriff „mot“. Wo Charles ein „grand mot“ zugebilligt wird, konzipiert Rodolphe, der sich offenbar auf einer höheren Reflexionsstufe der „arte de prudencia“ bewegt, „un mot qui fait toujours de l’effet“ (ebd.). [7]
So belegt die Distanz, welche Charles und Rodolphe in Verständnis und Verwertung des Begriffs „fatalité“ trennt, zunächst einmal Rodolphes überlegene Intelligenz, speziell was die praktischen Belange von Kommunikation und Interaktion angeht. Während Rodolphe weiß, wie vorteilhaft man sich Begriffe zunutze machen kann, bleibt Charles’ Bewußtsein auch am Ende noch in einer dumpfen Naivität eingeschlossen, welche die Autorität der Begriffe passiv hinnimmt. Für Charles ist die „fatalité“ kein bloßes Wort, das bestimmten strategischen Zwecken dienen kann, sondern eine schlicht geglaubte Realität. In diesem Sinn hat er – in erlebter Rede – bereits von „fatalité“ gesprochen, als es darum ging, sich über den Mißerfolg der Klumpfußoperation zu trösten:
Quelle mésaventure! pensait-il, quel désappointement! Il avait pris pourtant toutes les précautions imaginables. La fatalité s’en était mêlée (S. 189).
Was immer mit der gescheiterten Operation zusammenhängt, gilt für die Umwelt – und besonders für Emma – indes als ein Beweis der „incurable ineptie“ (S. 257), die Charles zu eigen ist, und folglich kann auch der Rekurs auf das Fatalitätsargument, gleichgültig ob es zur Entschuldigung von Charles oder von Rodolphe eingesetzt wird, nach den Maßstäben intellektueller Kompetenz nur wie ein Indiz tiefer Dummheit oder wenigstens ‚fanatischer‘ Erkennungsverweigerung wirken. So wird es jedenfalls von Rodolphe aufgefaßt, der Charles’ Verhalten in der Tat für ‚komisch‘ – und außerdem ‚ein wenig feige‘ – hält. Mit dieser Reaktion verweist er, in gewissem Sinn bestätigend, auf den Romananfang, der Charles dem Motto des „ridiculus sum“ (S. 5) unterworfen und ihn derart zum ‚Ridicule‘ par excellence, dem des ‚Cocu‘, vorherbestimmt hatte.
Freilich darf man nicht übersehen, daß ein solches, Charles’ Charakter und Würde vernichtendes Verdikt am Romanende gerade Rodolphe anvertraut ist. Damit wird das Urteil personal perspektiviert und zugleich erheblich eingeschränkt, was seinen überpersönlichen Geltungsanspruch betrifft. Wenn Charles sich ‚komisch‘ verhält, so resultiert die ‚Komik‘ hier nämlich in erster Linie aus den Normen, die Rodolphes Perspektive ausmachen. Es sind das die Normen erfolgreicher Kommunikationsstrategien, welche nicht zuletzt deshalb zum Ziele führen, weil sie wirkungsvoll („Voilà un mot qui fait toujours de l’effet“) die Begriffe zu manipulieren verstehen.
Demnach hat Rodolphes Urteil, das den Sachverhalt – Charles’ unzulängliche lebenspraktische Intelligenz – auf der einen Ebene treffend erfaßt, auf der anderen, moralisch übergeordneten Ebene etwas für ihn selbst Kompromittierendes. In noch höherem Maß kompromittiert sich Rodolphe jedoch, indem er Charles – offenbar wegen dessen Versöhnlichkeit – als „un peu vil“ erachtet. Diese Mißachtung, die Hugo Friedrich leider wörtlich genommen zu haben scheint [8] , verrät nicht nur Rodolphes ‚mauvaise foi‘, sondern präsentiert auch einen Aspekt objektiver Ironie; denn tatsächlich war es bislang ja speziell Rodolphe gewesen, der sich nach auktorialer Auskunft durch eine gleichsam geschlechts- bzw. genderspezifische ‚Feigheit‘ – „cette lâcheté naturelle qui caractérise le sexe fort“ (S. 316) – in seiner Handlungsweise disqualifiziert hatte. Auch bei der Begegnung mit Charles wirken Rodolphes Reaktionen im übrigen durchaus angstgeprägt. Zunächst ist er so erschrocken, daß er nur zu ‚stammeln‘ weiß und sich zum Gespräch erst ‚ermutigen‘ muß. Und dann wird er abermals von ‚einer Art‘ „effroi“ ergriffen, wie er Charles’ Gesichtszüge studiert und in deren Bewegtheit die Vorzeichen eines Anfalls aggressiver Eifersucht wahrzunehmen glaubt: „il y eut même un moment où Charles, plein d’une fureur sombre, fixa ses yeux contre Rodolphe qui, dans une sorte d’effroi, s’interrompit“ (S. 355).
Indessen sind solche Ängste, wenn man der Erzählerstimme trauen darf, völlig unbegründet. Die „fureur sombre“, die Charles erfüllt, ist nämlich nicht die Wut der Eifersucht, und in der Tat gibt sie sich bald als ‚unendlichen Schmerz‘ über den erlittenen Verlust zu erkennen. Damit offenbart sich nun die zweite Funktion, welche dem „grand mot“ zugeschrieben werden kann. Wie der nachfolgende Satz es als Ausdruck von Charles’ Illusionen kennzeichnet, so machen es die ihm vorangehenden Sätze zu einer Äußerung, aus der Charles’ schlichte Caritas, das heißt: seine Bereitschaft zu verzeihen, spricht. Wenn das „grand mot“ zum einen den letzten Beweis tumber Begriffsstutzigkeit erbringt, dient es zum anderen (was von vielen Lesern übersehen wird) als Bekräftigung – in Charles’ Verständnis wohl auch als Erklärung – für die bezeichnenderweise zweimal artikulierte Versicherung „– Je ne vous en veux pas“ (S. 355). Bei ihr hat selbst die kleine Variation von „pas“ zu „plus“ („– Non, je ne vous en veux plus“ heißt es in der Wiederholung) ihre Bedeutung, welche die Versicherung, von Haß oder Ranküne frei zu sein, gewissermaßen zum Resultat eines Ereignisses, eben des Verzeihens, erhebt.
Daß Charles so rasch verzeiht, muß in Rodolphes Augen – wie gesagt – als Schwäche gelten. [9] Der Erzähler sieht und wertet dagegen anders. Für ihn hat Charles’ Versöhnlichkeit offenbar mit der Unendlichkeit seines Schmerzes, den „douleurs infinies“, zu tun, welche wiederum auf die Unendlichkeit seiner Liebe verweisen. Die letztere spiegelt sich bei der Begegnung mit Rodolphe in dem Umstand, daß er dem Rivalen gegenüber von vornherein keinerlei Eifersucht empfindet. Statt dessen überträgt er die Empfindungen, die er für Emma hegt, in der maßlosen Generosität seiner Liebe auch noch auf den Mann, der einst von Emma geliebt wurde: „[...] et Charles se perdait en rêveries devant cette figure qu’elle avait aimée. Il lui semblait revoir quelque chose d’elle. C’était un émerveillement. Il aurait voulu être cet homme“ (S. 355). Eine solche Generosität der Gefühle bedeutet indes nichts anderes, als daß Charles gleichsam die Extremgestalt in einer Liebestypologie verkörpert, die Flauberts Vorstellungen schon früh bestimmt zu haben scheint. In den zwischen 1849 und 1851 zu datierenden Entwürfen für eine Erzählung Une Nuit de Don Juan, deren exemplarisch akkurate Ausgabe wir Ulrich Mölk verdanken, findet sich diese Typologie bzw. Distinktion folgendermaßen formuliert:
Deux espèces d’amour – celui qui attire à soi, qui pompe, où l’individualisme et les sens prédominent (pas toute espèce de désir volupté pourtant) – à celui-là appartient la jalousie – le second c’est l’amour qui vous tire hors de soi – il est plus large – plus navrant – plus doux – il a des [rêveries] effluves à la place où l’autre a des âcretés rentrantes [...]. [10]
Ähnlich wie später Félicité, die Protagonistin von Un Cœur simple [11] , geht Charles ganz in jenem zweiten Typus einer Liebe auf, die nichts ‚an sich zu ziehen‘ versteht, den „individualisme“ von sinnlichem Besitz transzendiert und folglich auch über die Eifersucht und ihre Rankünen hinaus ist. Wenn das nicht bereits durch Charles’ Verhalten gegenüber Rodolphe, den er wegen des Abglanzes von Emma, den der Rivale bewahrt, nicht hassen kann, offensichtlich wäre, so würde es zumindest von bestimmten lexikalischen Reprisen nahegelegt. Sie betreffen etwa die im Manuskript gestrichenen „rêveries“, welche in den „rêveries devant cette figure qu’elle avait aimée“ wiederkehren, und mehr noch die – semantisch prägnanteren – „effluves“, mit denen das Manuskript die „rêveries“ ersetzt hat. Als solche „effluves“ werden die letzten Empfindungen bezeichnet, welche die erzählerische Introspektivanalyse über Charles’ Gefühle mitteilt, bevor wir von seinem Tod erfahren: „[...] et Charles suffoquait comme un adolescent sous les vagues effluves amoureux qui gonflaient son cceur chagrin“ (S. 356). [12]
Ebenso evident ist, daß Emma Bovary unter dem Gesichtspunkt dieser Typologie den Gegentypus eines „amour“ darstellt, „qui attire à soi, qui pompe“. Während Charles, von seinen „vagues effluves amoureux“ überwältigt, gewissermaßen einen post-romantischen Liebestod stirbt [13] , bleibt Emma den „âcretés rentrantes“ ihrer egoistischen Leidenschaft verhaftet, bis hin zur „saveur âcre“ (S. 322) des Arsens, das ihr schließlich den Tod bringt, wo Charles in den Strömen liebender Erinnerung versinkt. Die „saveur âcre“ entsteht, wenn man so will, als letzte Konsequenz eines Begehrens, in dem tatsächlich ‚Individualismus und Sinnlichkeit‘ vorherrschen. In ihm wird alles auf das Ich bezogen und zu dessen Genuß abgerichtet, wie die Erzählung auch dann enthüllt, wenn Emma ihrem ungeschickten Gatten gelegentlich einen Anflug von Zärtlichkeit erweist:
Emma, quelquefois, lui rentrait dans son gilet la bordure rouge de ses tricots, rajustait sa cravate, ou jetait à l’écart les gants déteints qu’il se disposait à passer; et ce n’était pas, comme il croyait, pour lui; c’était pour elle-même, par expansion d’égoïsme, agacement nerveux (S. 64).
Wird ein solches Begehren frustriert, pflegt sich das „agacement nerveux“, das ihm wie ein Schatten folgt [14] , in Widerwillen und Ekel zu verwandeln, vor denen am Ende selbst der Liebhaber Léon nicht gefeit ist (vgl. S. 296: „Elle était aussi dégoûtée de lui qu’il était fatigué d’elle“). Und wenn der entindividualisierende „amour qui vous tire hors de soi“ sich in der Unbestimmtheit seiner „effluves“ verliert, mündet der besitzergreifende „amour [...] qui attire à soi“ immer wieder in blanken Haß: „Mais elle était pleine de convoitises, de rage, de haine“ (S. 110; vgl. auch S. 310: „comme se délectant à la haine qui l’étouffait“).
Durch das pathetisch verdoppelte „Je ne vous en veux pas (plus)“, das dem „grand mot“ vorausgeht, erfährt die Gestalt von Emmas lächerlichem Ehemann also eine späte und in gewissem Sinn paradoxale Nobilitierung. Paradoxal erscheint die Nobilitierung vor allem insofern, als sie die Auszeichnung des gleichsam ‚mystischen‘ „amour qui vous tire hors de soi“ durchaus mit dem Befund eines getrübten, in Illusionen befangenen Bewußtseins verbindet, ja geradezu erklärt. Auch hier wird für Charles eine idealtypische Gegenposition zu Emma insinuiert; denn die Protagonistin verkörpert ja nicht nur den egoistischen „amour [...] qui attire à soi“, sondern stirbt auch – anders als Charles – „mit klarem Bewußtsein“ [15] ,einer Klarheit des Bewußtseins freilich, die nicht Versöhnung schafft, sondern die Welt mit der Verzweiflung eines „rire atroce, frénétique, désespéré“ (S. 332) verabschiedet.
So ergibt das Fazit von Charles’ „C’est la faute de la fatalité“, das geistige Beschränktheit wie alles verzeihende Liebe bezeugt, gleichzeitig ein romantisches Klischee und einen Moment von höchstem Pathos. [16] Man könnte es als eine jener ‚leeren Phrasen‘ bezeichnen, die bei Flaubert – wie Stirling Haig treffend bemerkt hat – oft „the hollow shell of an unspoken plenitude“ darstellen. [17] Demnach ist die Qualifikation der Äußerung als „grand mot“ wohl ernst gemeint und dennoch – in unaufhebbarer Ambivalenz – mit einem Gran Ironie behaftet. Ernst reklamiert die Einschätzung, soweit sie die stille Heroisierung (oder auch ‚Heiligung‘) besiegelt, die Charles am Ende des Romans – wie einem Märtyrer seiner besinnungslosen Liebe – zuteil wird. Trotzdem bleibt die Wendung nicht frei von Ironie, da Charles’ ‚Heiligkeit‘ eben doch mit einer Trübung seines Bewußtseins zusammenhängt und das Pathos demzufolge die Phrase nicht nur als Begleitumstand, sondern pointiert zur Prämisse hat.
Als romantische Phrase, deren negativen Status das „grand mot“ bei allem Pathos bewahrt, erfüllt Charles’ Fazit indessen noch eine weitere Funktion, welche auf einer anderen Ebene den Roman und speziell das Romanende insgesamt betrifft. Sie hat mit Flauberts bekannter, aber mitunter interpretativ verdrängter Abwehr einer „littérature probante“ zu tun [18] , deren moralischem Profitstreben dann allerdings auch die Deutung der Madame Bovary realiter nicht entgehen konnte: Man denke etwa an die gesellschaftspolitischen Nutzanwendungen, die autoritär thesensüchtige Leser wie Bourget oder Zola aus der Fabel des Romans abzuleiten suchten. [19] Solche Nutzanwendungen werden nun – wenigstens ansatzweise – von einem „grand mot“ blockiert, das ihnen zuvorkommt, indem es in gewisser Weise ihre didaktische Attitüde übernimmt, ohne mit der Attitüde indes auch einen entsprechenden didaktischen Inhalt zu liefern. Derart wird das Wort von der „faute de la fatalité“ zu einem „grand mot“ in bezug auf Charles, weil aus der Wendung die Güte seines Herzens spricht; dagegen wird es zur Parodie in bezug auf eine eventuelle „conclusion“, weil aus der Wendung intellektuell nicht das Geringste folgt.
Deshalb erscheint es mir kaum angemessen, das „grand mot“ – wie Claudine Gothot-Mersch im Anschluß an Alfred Colling vorschlägt – zum umfassenden Thema des ganzen Romans zu deklarieren und die Madame Bovary dementsprechend als „un des grands romans de la fatalité“ verstehen zu wollen. [20] Daß die Äußerung als uneingeschränkt gültige „conclusion“ nicht in Betracht kommen kann, zeigen der Konnex des Fatalitätsarguments mit Charles’ intellektuell bornierter Perspektive sowie der manipulative Gebrauch, den Rodolphe von dem „mot qui fait toujours de l’effet“ macht. Zur „conclusion“ wird die Schuldzuweisung an das Schicksal allenfalls in einem negativen Sinn, und zwar als Blockierung anderer Schuldzuweisungen, die opportunistisch auf speziellere Verantwortlichkeiten abzielen könnten. Wer immer für Emmas Unglück die Literatur, die Kirche, die bürgerliche Gesellschaft oder die Unterdrückung der Frau verantwortlich machen möchte, sieht sich durch Charles’ „grand mot“ mit einem Fazit konfrontiert, welches die eigene Konklusion zugleich unterläuft und übersteigt. Es ist ein Fazit, das eben im Gestus der Konklusion die üblichen Konklusionen aufhebt: hoffnungslos töricht in der nichtssagenden Allgemeinheit seiner Begriffsbeschwörung und doch auch weise in seinem Verweis auf eine unbegreifliche Kontingenz, den die Begriffsbeschwörung als parodierte suggeriert.
Bestätigt wird eine solche Auffassung des „grand mot“ durch das in manchen Zügen vergleichbare Ende der Éducation sentimentale. Dort hat das letzte Kapitel ja mehr noch als in Madame Bovary die Aufgabe, ein nunmehr geradezu toposhaft entwickeltes Fazit zu ziehen. Das tut es freilich auf eine überaus komplexe Weise, deren Aspekte (und Probleme) an dieser Stelle lediglich angedeutet werden sollen.
Formal gehört das Schlußkapitel der Éducation sentimentale zu jenen „Epilogen“, welche etwa im viktorianischen Roman zumal bei Dickens an der Tagesordnung waren. Die Konvention solcher Epiloge entstand als Folge der Vielfalt von Handlungssträngen, die sich nicht mehr in einer einheitlichen oder gestuften Schlußbildung zusammenfassen ließen. Dem „letzten Hauptereignis“ mußte daher jeweils eine Art Nachwort angeschlossen werden, welches den Leser „im Katalogstil“ über das narrativ ausgeklammerte weitere Geschick von Haupt- und Nebenfiguren unterrichtete. [21]
In Madame Bovary bedient Flaubert sich dieser Konvention bloß ansatzweise, indem er den Epilog auf eine so knappe wie bitter pointierte Gegenüberstellung der Zukunft von Mademoiselle Bovary und M. Homais beschränkt. Dagegen entfaltet die Éducation sentimentale ihren Epilog bemerkenswert ausführlich und mit starker Markierung seines Konventionscharakters. Die Deutlichkeit der Markierung erklärt sich wahrscheinlich als Versuch, auf der Ebene des ‚discours‘ schlußsetzend zu kompensieren, was auf der Ebene der ‚histoire‘ – nach den Kriterien der Tradition betrachtet – ohne romanesken Abschluß bleibt: Das Romanende sieht für Frédéric und Deslauriers ja weder (geglückte) Hochzeit noch Tod vor [22] , sondern allein die Empfindung einer monotonen Kontinuität, jene „paralysie dans le passé“, die Peter M. Wetherill in einer textgenetischen Studie vorzüglich herausgearbeitet hat. [23] Offenbar handelt es sich diegetisch um eine Art Anti-Finale, wie Flaubert es an Voltaires Candide als Ausweis eines „génie de premier ordre“ bewunderte: eine „conclusion tranquille, bête comme la vie“. [24]
Um so notwendiger mag es da erschienen sein, das diegetisch Unabgeschlossene, das sich gleichsam in der Anonymität einer Rentier- und einer Angestelltenexistenz verläuft, wenigstens im Erzähldiskurs mit den Kennzeichen des Endes zu versehen. Dabei sind diese Kennzeichen derart prononciert angebracht, daß sie beinahe karikaturale Züge gewinnen. [25] Dem Schlußkapitel geht ein kleiner Zeitsprung voraus, der quasi in die Erzählgegenwart führt [26] ; mit der Figur einer Epanalepse [27] verweist die letzte Erinnerung an die Episode „chez la Turque“ zum Anfang zurück; der „Katalogstil“ der Reihung nähert sich mitunter lapidarer Trockenheit. Daß die Nachgeschichte jetzt szenisch präsentiert wird, gibt Flaubert die Möglichkeit, ein „resümierendes Potential“ zu nutzen, das gerade auch dem Gespräch innewohnt. [28] Und so kommt es im Verlauf der Unterhaltung zwischen Frédéric und Deslauriers dann gleich zu zwei „mots“, die einen ähnlichen Anspruch des Resümierens und Erklärens erheben wie Charles’ „C’est la faute de la fatalité“.
Dabei geht es auch hier darum, einen Grund für (freilich weniger eklatantes) Unglück und Versagen zu finden. Diesbezüglich äußert sich zunächst Frédéric mit einem Satz, der literarhistorisch kaum minder prominent geworden ist als das „grand mot“ des Charles Bovary: „– ‚C’est peut-être le défaut de la ligne droite‘, dit Frédéric“. [29] Daß der Satz eine durchaus ernsthafte Bedeutungsschicht enthält, läßt sich zum einen durch analoge Formulierungen in Flauberts Korrespondenz belegen, welche die „ligne droite“ als eine Maxime künstlerischer Arbeitsmoral einfordern. [30] Zum anderen besitzt die Wendung suggestive Kraft, weil man den Befund des „défaut de la ligne droite“ von einem partikularen Defizit, das Frédérics Charakter bezeichnet, zu einem generellen Strukturprinzip erweitern kann, welches der gewollten ‚Inkohärenz‘ einer neuartigen Romankomposition zugrunde liegt. [31] Trotz solcher Suggestivität ist indes auch Frédérics Fazit nicht über jeden Zweifel und Ironieverdacht erhaben.
Eingeschränkt wird die Verläßlichkeit des Resümees bereits durch Deslauriers’ Replik, die das von Frédéric gezogene Fazit prompt mit einer Deutung beantwortet, welche den eigenen Fall genau umgekehrt erklärt:
– „Pour toi, cela se peut. Moi, au contraire, j’ai péché par excès de rectitude, sans tenir compte de mille choses secondaires, plus fortes que tout. J’avais trop de logique, et toi de sentiment.“ (S. 427)
Dabei liegt das komische Element nicht schon in der einfachen Gegensätzlichkeit der Interpretationen. Was sie suspekt macht und dem Verdacht auf Ironie ausliefert, ist vielmehr die Promptheit, mit der die Deutungsalternativen als eine antithetische Figur formuliert werden. Die Zuspitzung gibt zumal der ‚conclusion‘ „J’avais trop de logique, et toi de sentiment“ etwas klappernd Mechanisches, das in der sonst pointenarmen Kontingenz der Ereignisse und Gespräche wie ein Fremdkörper wirkt. Angesichts der Mechanik des Oppositionsverhältnisses, welche an Bergsons Essay Le rire denken läßt [32] , hat man nicht mehr den Eindruck, zwei Protagonisten eines realistischen Romans, sondern Figuren aus einem Vaudeville reden zu hören: Zu Allegorien der „logique“ und des „sentiment“ abstrahiert, scheinen Deslauriers und Frédéric sich gleichsam in Bouvard und Pécuchet verwandelt zu haben.
Derart verlieren die Begriffe, mit denen Frédéric sein Leben erfassen möchte, durch Deslauriers’ so parallel wie gegensätzlich entwickelte Begriffe umgehend jeglichen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Der Widerspruch relegiert sie aus dem Bereich des Generellen und Regelhaften, den sie zu besetzen versuchen, in eine Sphäre subjektiver Meinungen, in der es – um mit Robert Musil zu sprechen – „jede ewige Wahrheit doppelt und mehrfach gibt“ und in der alle Ideen den Gedanken nahelegen, „daß es auch etwas Großes wäre, das Gegenteil davon zu verwirklichen“. [33] So werden die Konklusionen, auf die man der erlebten Geschichte gegenüber verfällt, nicht nur radikal subjektiviert. Durch die Gegensätzlichkeit, die zwischen ihnen mit quasi komödienhafter Mechanik entsteht, ziehen sie sich auch den Anschein des Beliebigen zu. Und je länger Frédéric und Deslauriers ‚resümieren‘, um so peinlicher wird klar, daß die Resultate des Resümierens nichts anderes erbringen als ein Repertoire von ‚idées reçues‘: „Puis, ils accusèrent le hasard, les circonstances, l’époque où ils étaient nés“ (S. 427).
Damit ist in den Reim, den Frédéric sich durch das Fazit des „défaut de la ligne droite“ auf sein Leben zu machen sucht, endgültig eine ironische Dissonanz geraten. Mag dies Fazit an sich auch noch so begründet sein: kraft der reihenden Gleichordnung mit seinem Gegenteil – dem „excès de rectitude“ – und den Topoi des ‚Zufalls‘, der ‚Umstände‘ und der ‚Epoche‘ wird es von der phrasenhaften Beliebigkeit der weiteren Argumente gewissermaßen kontaminiert. Der Kontext läßt Frédérics Resümee gleich Charles’ „grand mot“ schließlich wie eine Geste diskursiver Hilflosigkeit erscheinen, in der nicht nur ein einzelner Versuch des „conclure“ fehlschlägt, sondern das begriffliche ‚Resümieren‘ überhaupt traurig versagt.
Freilich erschöpft sich das Epilogkapitel nicht in der Suggestion solchen Versagens. Wohl folgt dem Satz „Et ils résumèrent leur vie“ (S. 426) eine Reihe von Argumenten, durch welche die Leistung der Begriffe zunehmend blamiert wird: Wie immer bei Flaubert löst sich jeder Begriff letzten Endes in der ‚idée reçue‘ auf. Dagegen sind die beiden Plauderer erfolgreicher, wenn sie vom ‚Resümieren‘ ablassen und statt dessen – mit augenscheinlich wachsender Faszination – die emphatisch verdoppelte Frage „Te rappelles-tu?“ (vgl. S. 427) stellen. Sobald sie sich der begriffslosen Erinnerung anheimgeben, kommt in (wenigstens halbwegs) authentischer Rede das konkrete Einzelne der Vergangenheit zu seinem Recht, und es entsteht ein Moment herzlicherer Gemeinsamkeit. Wo der Versuch zu resümieren in die Negativität der Phrase führte, entschädigt nun die Möglichkeit einer Geschichte, deren Erzählung offenbar die weniger frustrierende Alternative zu dem schafft, was vorher der Satz „Et ils résumèrent leur vie“ bezeichnet hatte:
Ils se la contèrent prolixement, chacun complétant les souvenirs de l’autre; et, quand ils eurent fini: – „C’est là ce que nous avons eu de meilleur!“ dit Frédéric. (S. 428)
Die letzten Worte der Éducation sentimentale sind also in der Tat mit einer gewissen Dignität versehen. Solche Würde kommt ihnen unter anderem deshalb zu, weil sie eben nicht beanspruchen, ein ‚grand mot‘ des Resümierens zu sein, sondern aus Erinnerung und Erzählung hervorgehen. [34] Dabei könnte man die Schlußbemerkungen in ihrem semiotischen Verhältnis zu den früheren Ansätzen eines begrifflichen Fazits durchaus mit der argumentativen Hierarchie vergleichen, welche das bewunderte Ende von Voltaires Candide bestimmt. Was die positivierten Äußerungen betrifft, fällt natürlich sofort der geistesgeschichtliche Abstand ins Auge, der die eine von der anderen Positivität trennt: Candides „il faut cultiver notre jardin“ weist – trotz allem nüchtern optimistisch oder zumindest tatkräftig – in die Zukunft; Frédérics „C’est là ce que nous avons eu de meilleur“ überläßt sich – als ein „retour sur les langueurs de leur jeunesse“, wie es in einem Szenario heißt [35] – resigniert und insgeheim romantisch der Vergangenheit. Beide Äußerungen ziehen ihre relative Würde indes aus dem Umstand, daß sie sich jeweils von schlußfolgernden und sinnstiftenden Raisonnements abheben. Im Candide sind das Pangloss’ Deduktionen einer providentiellen Ordnung „dans le meilleur des mondes possibles „ [36] bei Flaubert die ‚grands mots‘, welche das Scheitern von Lebensentwürfen auf den Begriff bringen und erklären sollen.
Das Mißtrauen und die untergründige Ironie, mit denen Flaubert solchen Schlußfolgerungen begegnet, gehören wohl zu den hervorstechenden Charakteristika seines Werkes. Dennoch können sie in der Romanliteratur des 19. Jahrhunderts nicht als etwas völlig Singuläres gelten, und es wäre eine lohnende Aufgabe, die Modi der Verweigerung, der Abwehr oder der Parodie von Konklusionen komparatistisch in einem weiteren Flaubertschen Umfeld zu untersuchen. Dabei würde sich vielleicht herausstellen, daß das in Madame Bovary oder L’Éducation sentimentale geübte Verfahren, die ‚grands mots‘ der Konklusion derart ins Allgemeine zu überdehnen, daß sie ihren Erkenntnisanspruch implizit dementieren, auch anderweitig Analogien findet.
Eine möglicherweise unfreiwillige Analogie bietet etwa der eigentümliche Schluß von Manzonis I promessi sposi, der sich ja nach Kräften bemüht, das dem Happy-Ending inhärente Glücksversprechen durch mancherlei Trübungen auf die ‚realistischen‘ Maße einer grauen bürgerlichen Normalität, wie sie von Hegel als die Essenz des „Romanhaften“ beschrieben wird [37] , zu reduzieren. Dieser Schluß läßt – insbesondere in Renzos Rede, die anaphorisch das „ho imparato“ betont – einen ganzen Aufzug von ‚nützlichen Lehren‘ paradieren [38] und endet dann doch mit einer „conclusione“, die genaugenommen erst dadurch tiefsinnig wird, daß sie in der Bescheidenheit des Glaubens auf alle begrifflichen Konturen verzichtet:
Dopo un lungo dibattere e cercare insieme, conclusero che i guai vengono bensì spesso, perchè ci si è dato cagione; ma che la condotta più cauta e più innocente non basta a tenerli lontani, e che quando vengono, o per colpa o senza colpa, la fiducia in Dio li raddolcisce, e li rende utili per una vita migliore. [39]
Ähnlich präsentiert sich das berühmte Ende von Fontanes Effi Briest. Es erinnert, wie Herr und Frau von Briest über ihre Verantwortung für Effis Tod diskutieren, an Frédérics und Deslauriers’ Suche nach den Gründen ihres Scheiterns oder an Charles’ Brüten über den Grund von Emmas Tod. Wie Frédéric und Deslauriers meint auch Luise von Briest bestimmte Motive auszumachen, aus denen tatsächlich praktische Folgerungen gezogen werden könnten: bei der (strengeren) Erziehung, beim (moralisch eindeutigeren) Gesprächston, bei der Festsetzung des (höheren) Heiratsalters. [40] Zugleich unterminiert und transzendiert werden solche ‚nützlichen Lehren‘ jedoch durch Briests Schlußwort „Ach, Luise, laß... das ist ein zu weites Feld“: [41] ein ‚grand mot‘ wie das Charles Bovarys, mit dem es sowohl die töricht nichtssagende Allgemeinheit als auch die höhere Weisheit teilt, die hier wie bei Flaubert eine Ahnung von dem vermittelt, was durch keinen Diskurs zu domestizieren ist.
1 Vgl. H. Friedrich, Drei Klassiker des französischen Romans, Frankfurt a.M. 71973 (l. Ausgb. 1939), S. 124f.
2 Flaubert, Madame Bovary, édition de C. Gothot-Mersch, Paris 1971, S. 355. Auf diese Ausgabe beziehen sich im Folgenden die Seitenangaben nach den Zitaten.
3 Vgl. Friedrich (Anm. 1), S. 125.
4 V. Brombert, The Novels of Flaubert, Princeton, New Jersey 1966, S. 53.
5 Vgl. ebd. S. 44.
6 Vgl. N. Sarraute, „Flaubert le précurseur“, in: Preuves 168 (1965), S. 3–11.
7 Eine durchschlagende Wirkung hat das gleiche Wort offenbar auch schon beim ‚Innamoramento‘ während der Comices agricoles erzielt, wo es von Rodolphe mit gleichsam umgekehrter Tendenz verwendet wurde: „Oh! n’importe, tôt ou tard, dans six mois, dans dix ans, elles (deux pauvres âmes) se réuniront, s’aimeront, parce que la fatalité l’exige et qu’elles sont nées l’une pour l’autre“ (S. 151).
8 Vgl. Friedrich (Anm. 1), S. 125.
9 Wobei Rodolphes Perspektive wohl auch für die Normen der ‚opinion publique‘ steht, denen der Roman indes eine problematisierende Anteilnahme verweigert. Jedenfalls bringt Charles’ extraordinäre Herzensgüte es mit sich, daß die öffentliche Dimension einer Ehrenproblematik, wie sie beispielsweise Fontanes Effi Briest bestimmt, von Madame Bovary angesichts der Figurenkonstellation des Romans nicht einmal in Ansätzen thematisiert werden könnte.
10 U. Mölk, Flaubert, Une Nuit de Don Juan. Kritischer Text mit Beigaben (= Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-Historische Klasse, Jg. 1984, Nr. 8), Göttingen 1984, S. 361 [23].
11 Zu ihr vgl. U. Schulz-Buschhaus, „Die Sprachlosigkeit der Félicité“, in: ZFSL 93 (1983), S. 113–130; jetzt auch in: ds., Flaubert – Die Rhetorik des Schweigens und die Poetik des Zitats (= Ars Rhetorica 6), Münster 1995, S. 85–104.
12 Der Passus korrespondiert mit einem früheren, der schildert, wie solche Liebeserinnerungen nach Emmas Tod gleich einer Springflut auf Charles einstürzen: „Il fut longtemps à se rappeler ainsi toutes les félicités disparues [...]. Après un désespoir, il en venait un autre, et toujours, intarissablement, comme les flots d’une marée qui déborde“ (S. 340).
13 Vgl. dazu U. Schulz-Buschhaus, <xref url=„http://gams.uni-graz.at/fedora/get/o:usb-067-184/bdef:TEI/get“ type=„usb“>„Charles Bovary – Probleme der Sympathiesteuerung und der Figurenkohärenz in einem Flaubertschen Roman“</xref>, in: Tales and „their telling différence“. Festschrift für Franz K. Stanzel (= Anglistische Forschungen 221), Heidelberg 1993, S. 243–262, hier S. 257; jetzt auch in: ds., Flaubert (Anm. 11), S. 31–45, hier S. 41.
14 Das „agacement“ ergibt so etwas wie ein Leitmotiv in Emmas Verhalten, das z.B. auch ihre Reaktionen nach der mißglückten Klumpfußoperation prägt; vgl. S. 189: „– Assieds-toi, dit-elle, tu m’agaces!“. Eine verwandte lexikalische Konstante bildet die ‚exaspération‘; vgl. S. 63: „Mais elle était exaspérée de honte“, oder S. 311: „Cette idée de la supériorité de Bovary sur elle l’exaspérait“.
15 Vgl. U. Mölk, „Gustave Flaubert: Madame Bovary. Mceurs de province“, in: T. Wolpers (Hrsg.), Gelebte Literatur in der Literatur. Studien zu Erscheinungsformen und Geschichte eines literarischen Motivs (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Dritte Folge, Nr. 152), Göttingen 1986, S. 217–230, hier S. 230.
16 Das sieht auch Brombert, den „one of the most belabored Romantic clichés“ nicht daran hindert, von „Charles’ pathetic, yet moving final comment“ zu sprechen; vgl. Brombert (Anm. 4), S. 53.
17 Vgl. S. Haig, Flaubert and the Gift of Speech, Cambridge UP 1986, S. 69 und passim.
18 Vgl. dazu als ein Zeugnis unter vielen Flaubert, Correspondance, édition [...] par J. Bruneau, Vol. 2, Paris 1980, S. 62: „– Il y aurait un beau livre à faire sur la littérature probante. – Du moment que vous prouvez, vous mentez“.
19 Bezeichnenderweise sind sie bei dem eher ‚linken‘ Zola und dem eher ‚rechten‘ Bourget auffällig ähnlich ausgefallen; denn beide identifizieren Flauberts vermeintliche soziale Botschaft in einer Warnung vor den Gefahren unstandesgemäßer Erziehung. Für Zola ist Emma, „qui a reçu une instruction au-dessus de sa classe, [...] la femme déclassée, mécontente de son sort, gâtée par une sentimentalité vague, sortie de son rôle de mère et d’épouse“. Bourget erblickt in Madame Bovary wie in Stendhals Le Rouge et le Noir „l’étude d’un malaise d’âme produit par un déplacement de milieu“: „Emma est une paysanne qui a reçu l’éducation d’une bourgeoise. Julien est un paysan qui a reçu l’éducation d’un bourgeois. Cette vision d’un immense fait social domine ces deux livres“. Vgl. É. Zola, Les Romanciers naturalistes, Paris 1893, S. 139f. und 142; P. Bourget, Essais de psychologie contemporaine, Paris 1924 (1. Ausgb. 1883), T. 1, S. 179.
20 Vgl. C. Gothot-Mersch, „Introduction“, in: Flaubert, Madame Bovary (Anm. 2), S. V–LXIII, hier S. XXVIIf., und A. Colling, Gustave Flaubert, l’homme et son œuvre, Paris 1947, S. 170. Diese Sicht geht im wesentlichen auf Albert Thibaudet zurück, von dem übrigens auch Friedrichs Akzentuierung des „Fatalismus“ in Madame Bovary abhängig ist. Thibaudet meint in der Romanstruktur „la forme même de la fatalité“ erkennen zu können und ergänzt den Befund eines „roman de la fatalité“ durch – offenbar Bourget verpflichtete – kritische Bemerkungen über den ‚Mangel an Willenskraft‘, der Emma charakterisiere: „Il n’y a roman de la fatalité, de la destinée, que là où il y a absence de volonté“. Vgl. A. Thibaudet, Gustave Flaubert, Paris 1973 (1. Ausgb. 1935), S. 97 und 104.
21 Vgl. P. Goetsch, „Literatursoziologische Aspekte des viktorianischen Romanschlusses“, in: Poetica 10 (1978), S. 236–261, hier S. 242f.
22 Durch Deslauriers’ kurzfristige Ehe mit Louise Roque wird das traditionelle HappyEnding bloß angedeutet, um sofort explizit negiert zu werden. Vgl. Flaubert, L’Éducation sentimentale, texte établi [...] par P. M. Wetherill, Paris 1984, S. 425: „L’autre, sans dire comment il avait épousé M“ Roque, conta que sa femme, un beau jour, s’était enfuie avec un chanteur“.
23 Vgl. P. M. Wetherill, „C’est là ce que nous avons eu de meilleur“, in: Flaubert à l’œuvre, Paris 1980, S. 37–68, hier S. 49.
24 Vgl. Flaubert, Correspondance (Anm. 18), S. 78. Von dem Modell des Candide dürfte sich auch die gelegentlich ventilierte Idee herleiten, Frédéric am Romanende als „marié père de famille“ auftreten zu lassen. Vgl. dazu Wetherill, „C’est là“ (Anm. 23), S. 38 und 55f. (wo Wetherill plausibel die nachteiligen Folgelasten dieser Idee erläutert).
25 Mit guten Gründen spricht Stirling Haig deshalb auch vom „mock ending“, welches die Éducation sentimentale einem ‚traditionellen Roman‘, der „the ‚Novel of Frédéric Moreau‘“ wäre, bereitet; vgl. Haig (Anm. 17), S. 153.
26 Vgl. dazu Flaubert, L’Éducation sentimentale (Anm. 22), S. 506. Wetherill kommentiert dort die Zeitangabe „Vers le commencement de cet hiver“ mit der Bemerkung: „Cet hiver est selon toute vraisemblance l’hiver 1868–1869. Le récit et le moment de sa narration se rejoignent“.
27 Zu deren Bedeutung für die Techniken der „Schlußgebung“ vgl. B. Korte, Techniken der Schlußgebung im Roman, Frankfurt a.M.-Bern-New York 1985, S. 134ff., bes. S. 138.
28 Wie Barbara Korte am Beispiel von Henry James’ The Ambassadors verdeutlicht; vgl. ebd. S. 123.
29 Flaubert, L’Éducation sentimentale (Anm. 22), S. 426. Auf Wetherills Edition des Romans beziehen sich im Folgenden die Seitenangaben nach den Zitaten.
30 Wetherills Kommentar liefert dazu aufschlußreiche Parallelstellen; vgl. ebd. S. 507, Anm. 819. Freilich muß hier einschränkend berücksichtigt werden, daß Flaubert ohne weiteres fähig ist, selbst eigene Überzeugungen, die er in Briefen mit Nachdruck vertritt, im Romantext als Material von ‚idées reçues‘ zu verwenden und zu degradieren. Auch hierfür gibt Wetherill mehrere Beispiele; vgl. ebd. S. 466 Anm. 381, S. 467 Anm. 386 oder S. 479 Anm. 529.
31 Vgl. dazu neben anderen Interpretationen Wetherills „Préface“, ebd. S. LXI–LXVIII, bes. S. LXVI.
32 Zur „mécanisation de la vie“, wie sie in Komödien etwa durch einen „effet de raideur ou de vitesse acquise“ entsteht, vgl. H. Bergson, Le rire, Paris 1985, S. 77, 85 und passim.
33 Vgl. R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften – Gesammelte Werke, hrsg. von A. Frisé, Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 1, S. 229. Als ausgesprochen flaubertnah erweist sich in Musils Roman auch die Klage des Generals Stumm von Bordwehr, dem es nicht gelingen will, von den Experten des „Zivilgeistes“ Auskunft über jene Idee zu erhalten, „die gleichsam die ranghöchste unter allen Ideen darstellt“: „Sagt der eine das, so behauptet der andere das Gegenteil“. Unverkennbar ist die perspektivische und epistemologische Affinität zu Bouvard et Pécuchet vor allem bei Stumms – selbstverständlich scheiterndem – Versuch, gemeinsam mit Korporal Hirsch und Leutnant Melichar eine „Bestandaufnahme des mitteleuropäischen Ideenvorrats“ zu ‚vollziehen‘. Die Bestandaufnahme zeigt Stumm „zu seinem Bedauern“ nicht nur, daß der Ideenvorrat „aus lauter Gegensätzen“ besteht, sondern „zu seinem Erstaunen“ auch, „daß diese Gegensätze bei genauerer Beschäftigung mit ihnen ineinander überzugehen anfangen“. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 371ff.
34 Vereinfachend gesagt, wird hier das Erzählen vor dem Zugriff der Sprache des Begriffs gerettet, während in Bouvard et Pécuchet dann auch das Erzählen in der intertextuellen „copie“, dem Arrangement vorgefertigten Textmaterials, zu verschwinden beginnt. So deutet es jedenfalls das geplante – epanaleptische – Ende des Erzählteils in Flauberts unvollendetem Spätwerk an; vgl. Flaubert, Bouvard et Pécuchet, édition de C. Gothot-Mersch, Paris 1979, S. 414.
35 Vgl. Wetherill, „C’est là“ (Anm. 23), S. 37. Bezeichnend ist, daß diese Notiz von den Titelnamen „Oberman René“ begleitet wird.
36 Vgl. Voltaire, Romans et contes, Paris (Collection Folio) 1972, S. 234.
37 Vgl. G. W. F. Hegel, Werke Bd. 14 – Vorlesungen über die Ästhetik II, Frankfurt a.M. 1970, S. 220: „Mag einer auch noch soviel sich mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden sein, zuletzt bekommt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister so gut wie die anderen auch; die Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ungefähr ebenso aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer der übrigen da“. Zur Problematik des getrübten ‚lieto fine‘ der Promessi sposi, über das noch viel zu sagen wäre, vgl. unter anderem F. Ulivi, Manzoni – Storia e Provvidenza, Roma 1974, S. 163–186 („Il ‚lieto fine‘ dei Promessi sposi e la dottrina provvidenziale in Manzoni“), G. Bàrberi Squarotti, Il romanzo contro la storia. Studi sui „Promessi sposi“, Milano 1980, S. 54–81 („Partenza o fuga: la conclusione dei Promessi sposi“) oder J. Köpper, „Ironisierung der Fiktion und De-Auratisierung der Historie. Manzonis Antwort auf den historischen Roman (I Promessi Sposi)“, in: Poetica 26 (1994), S. 121–152, bes. S. 135ff. und 146ff.
38 Vgl. A. Manzoni, I promessi sposi, a cura di V. Spinazzola, Milano 1980, S. 540 und S. 539 (zum Begriff des „utile ammaestramento“).
39 Ebd. S. 541.
40 Vgl. T. Fontane, Werke, hrsg. von K. Schreinert, München 1968, Bd. 2, S. 301.
41 Ebd.
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