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Quelle: bisher unveröffentlicht
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Genera und Modi der Literaturgeschichtsschreibung
Die Thematik und die Problematik, die ich heute behandeln möchte, geht
im wesentlichen auf zwei Lektüren zurück, zum einen die – enorm gehaltvolle –
Einführung in die französische
Literaturgeschichtsschreibung von Friedrich Wolfzettel (Darmstadt
1982), zum anderen eine französische Bestandsaufnahme, die von Henri Béhar und
Roger Fayolle als Sammelband unter dem Titel L’Histoire
littéraire aujourd’hui (Paris, Armand Colin, 1990) veröffentlicht
wurde. In beiden Büchern geht es um methodologische wie epistemologische Aspekte
der Literaturgeschichte, wobei die Haltung der Betrachter jeweils durch eine
eigentümliche Mischung von Apologie und gedämpftem Optimismus auffällt.
Wolfzettel erinnert in der Einleitung zur Einführung an
den 1968 stattgehabten „Zusammenbruch des Wissenschaftsideologems“, verbindet
die „Krise der Literaturgeschichte“ mit der „Krise der bürgerlichen
Universität“, um dann aber hoffnungsvoll festzustellen: „Zwischen verzweifelter
Suche nach Praxisbezug und formalistischer Verwissenschaftlichung ist die
Literaturgeschichte jedoch trotz (oder auch wegen ihrer Problematik)
offensichtlich dazu berufen, historisches Verstehen in
aktueller Perspektive zu vermitteln“ (S. 12). Ähnlich erscheint die
Stimmung in dem französischen Band, dessen Vorwort mit dem Satz beginnt: „Seit
einiger Zeit ist viel von einer Rückkehr zur
Literaturgeschichte die Rede“. Darauf folgt dann die Frage, ob es sich bei
dieser Rückkehr um die Rückkehr der vertriebenen Aristokraten des Ancien Régime
handele, welche durch die Revolution nichts dazugelernt hätten, oder um eine
Rückkehr, die nach der Erfahrung und der Anerkennung der Revolution Neues in die
Wege leiten könnte. Plädiert wird hier natürlich für den letzteren Fall, die
Erneuerung des Ancien Régime der histoire littéraire oder
– perspektivisch anders gewendet – für die Normalisierung des Revolutionären
durch eine Art Synthese mit dem, was vom Ancien Régime Bestand hat (vgl. S. 5).
Zu einer solchen Erneuerung werden von den Kontribuenten des Bands verschiedene
Hilfsmittel vorgeschlagen, als da wären die „critique génétique“(die Erforschung
der Genese eines Textes durch seine Manuskripte), der Einsatz der Medien als
Instrument wie als Material und Thema der Literaturgeschichte, die
Berücksichtigung von „littératures dites marginales [...] ou
‚contre-littératures‘“ also eine Erweiterung des literaturwissenschaftlichen
Kanons, und vieles andere mehr.
Trotz allem Engagement für die histoire
littéraire bzw. die Literaturgeschichtsschreibung ist in beiden Büchern
jedoch ein eigentümlicher blinder Fleck zu bemerken. Es wird in ihnen zwar
ständig von Erweiterungen des Gegenstandsbereichs und von
Verfeinerungen der Interpretationsmethoden (bei Wolfzettel vor allem durch
sozialgeschichtliche und ideologiekritische Interessen) gesprochen; doch bewegen
sich diese Erörterungen essentiell auf der Ebene epistemologischer Positionen.
Das heißt: Es wird erörtert, welche Fragen gestellt werden sollen, woraus sich –
besonders in dem französischen Band – eine umfassende Verteilung von Aufgaben
ergibt. Dagegen wird kaum einmal angesprochen, was im engeren Sinn die
Performanz einer Literaturgeschichte ausmacht. Damit meine ich das Ensemble von
Komponenten, welche eine „Literaturgeschichte“ zum literarischen Genus machen,
und insbesondere den Aspekt ihrer Narrativität. Dieser Narrativitätsaspekt
spielt in dem Sammelband von Béhar-Fayolle überhaupt keine Rolle, und es ist
bezeichnend, daß einer der Beiträger sogar explizit „la formule du
‚dictionnaire‘“ (S. 34: die Formel des Lexikons) vorschlägt, um die
schriftstellerischen Probleme der neuen Literaturgeschichte zu bewältigen.
Freilich sieht es bei Wolfzettel nicht sehr viel anders aus. Obwohl er nicht
einfach von der „Literaturgeschichte“, sondern spezieller von der
„Literaturgeschichtsschreibung“ handelt, profilieren seine – insgesamt sehr
rosigen – Zukunftsperspektiven in erster Linie ein fruchtbares Zusammenspiel von
Begriffen, z. B. ein „ Zusammenwirken des marxistischen Ideologiebegriffs und
des strukturalistischen, zum Teil auch psychoanalytischen Mythenbegriffs“
(S. 276), aus dem die Produkte der künftigen Literaturgeschichtsschreibung
offenbar generiert werden können. Ungesagt bleibt dagegen, welche
schriftstellerischen, zumal narrativen Strategien zwischen den Begriffen
einerseits und dem Text einer Literaturgeschichte andererseits ins Werk gesetzt
werden müssen, damit nicht eine Enzyklopädie oder eine Serie kleiner
Monographien, sondern eben eine „ Literaturgeschichte“ entsteht.
Aus diesem blinden Fleck, der zwei an sich sehr verdienstvollen Büchern
zur Literaturgeschichte gemeinsam ist, läßt sich – wie ich meine – zweierlei
folgern. Zunächst offenbart die auffällige Leerstelle ein meines Erachtens
prinzipielles Manko dessen, was in den letzten Jahrzehnten
literaturwissenschaftliche Methodendiskussion hieß. Diese sogenannte
Methodendiskussion traktierte zum weitaus größten Teil Probleme, welche die
Dignität der jeweiligen Fragen betrafen: etwa, ist eine sozial- und
mentalitätsgeschichtliche Frage, beispielsweise nach Elias gestellt, nobler,
relevanter als eine psychoanalytische Frage, beispielsweise nach Freud auf den
Autor oder nach Lacan auf den Text zentriert? Zu einem viel geringeren Teil betraf die Diskussion, die eigentlich eine Epistemologie-Diskussion
war, Probleme der methodologischen Ebene, also Probleme, die entstehen, sobald
man sich auf die Dringlichkeit einer bestimmten Frage geeinigt hat und nun daran
geht, diese Frage durch die eine oder durch die andere Methode (Vorgehensweise)
zu lösen. Mehr noch blieb indes ausgeklammert, was mir manchmal geradezu als die
Hauptsache erscheint: die Gestalt des – im weitesten Sinne des Wortes –
literaturwissenschaftlichen Textes, der Ziel und Fluchtpunkt aller
Forschungsbemühungen ausmacht. Damit wurde verdrängt, daß sowohl die
epistemologischen als auch die methodologischen Entscheidungen, die man als
Literaturwissenschaftler (Literaturhistoriker) trifft, niemals unabhängig von
einer Textidee, von einem Textprojekt zustandekommen, auf das man – meistens
nach bestimmten Modellen, nach Diskursen – hinarbeitet. Was hier beinahe
vollständig fehlt, ist neben der breit vertretenen Epistemologie und der
spärlicher entwickelten Methodologie eine Poetologie der Literaturwissenschaft,
die wenigstens in Ansätzen so etwas wie eine Poetik literaturwissenschaftlicher
(literarhistorischer) Textsorten ausbilden müsste. Was uns daran gehindert hat,
läßt sich meines Erachtens auf die Wirkung einer Art Wissenschaftsillusion
zurückführen, welche wohl ähnlich wie die berühmte „illusion référentielle“
funktioniert. Da es um wissenschaftliches Wissen geht, scheint jede Reflexion
auf die ästhetische (literarische) Erscheinungsform dieses Wissens die
Zuverlässigkeit und den tiefen Ernst unserer Erkenntnisbemühungen in Zweifel zu
ziehen. Wahrscheinlich ist dann das Ausbleiben einer solchen Reflexion auch für
die schlichte Umkehrung der alten Wissenschaftsüberzeugungen verantwortlich: für
die einfache Idee nämlich, daß literaturwissenschaftliche Aktivitäten, da eine
„science de la littérature“ nun einmal nicht zu erreichen ist, überhaupt nichts
anderes als Literatur ergeben können.
Unter dem Gesichtspunkt einer solchen historischen Poetik
literaturwissenschaftlicher Textsorten interessiert mich nun besonders
diejenige, welche zweifellos – falls man sie ernst nimmt – den höchsten
Komplexitäts- und Schwierigkeitsgrad aufweist: eben die Literaturgeschichte. Wie ich mit meinen einleitenden Bemerkungen
verdeutlichen wollte, ist man sich über die Verfassung der Literaturgeschichte
als einer besonderen Gattung oft gar nicht klar. Dabei kommt es – wie ich meine
– sehr darauf an, wenigstens eine grundsätzliche typologische Distinktion
zwischen Literaturgeschichte und Literaturenzyklopädie einzuführen. Angesichts dieser Distinktion
stellt sich sogleich heraus, daß die Gattung der
Literaturenzyklopädie genaugenommen weit kompakter vertreten ist als die
Literaturgeschichte sensu strictiori. Es gibt Literaturenzyklopädien, die alphabetisch geordnet sind, Literaturenzyklopädien mit
systematischer Ordnung (etwa jüngst noch die von
Alberto Asor Rosa herausgegebene Letteratura Italiana
Einaudi) und – besonders zahlreich– Literaturenzyklopädien mit historischer Ordnung, meist kollektiv durchgeführte
Großunternehmen, bei denen eine Schwadron von Fachgelehrten kooperiert, damit
möglichst jede Epoche und jede Gattung von einem für sie zuständigen
Spezialisten betraut werden kann.
So betrachtet, wird meine Behauptung von der Komplexität und der
Schwierigkeit einer Literaturgeschichte – wie ich hoffe – besser verständlich.
Wenn sie gelegentlich als eine eher simple literaturwissenschaftliche
Angelegenheit gilt, mit einer allenfalls propädeutischen Funktion, wie einst
Benedetto Croce meinte, dann liegt das im wesentlichen an einer generischen,
typologischen Verwechslung: der Verwechslung zwischen Literaturgeschichte und
literarhistorisch geordneter Enzyklopädie. Um diese Verwechslung aufzuhellen,
möchte ich die Distinktion der beiden benachbarten Genera jetzt durch eine
historische Spezifikation noch erweitern. Wenn man ein wenig schematisieren
darf, ist es nämlich wohl erlaubt, die Literaturgeschichte nicht als die Regel
vorzustellen, sondern als die entschiedene Ausnahme, deren Geltungsbereich sich
weithin auf das 19. Jahrhundert beschränkt. Demgegenüber erscheint die
Literaturenzyklopädie – historisch gesehen – als das Übliche und Naheliegende:
Literaturenzyklopädien gestalten das literarische Wissen in den Perioden, die
dem 19. Jahrhundert vorangehen, und sie sind dann auch im Verlauf des 20.
Jahrhunderts längst wieder zum Regelfall geworden, weshalb der transgressive
Gestus, mit dem heute gelegentlich noch gegen die Literaturgeschichte
polemisiert wird, etwas eigentümlich Irreales hat.
Was ist nun für die Literaturgeschichte im Sinn von
Literaturgeschichtsschreibung konstitutiv? Und was begünstigt diese Gattung
während ihrer Blütezeit im 19. Jahrhundert? Als wesentliches Distinktiv der
Literaturgeschichte würde ich den Umstand bezeichnen, daß sie sich nicht auf die
Beschreibung eines Repertoires von Werken beschränkt, sondern gleichzeitig
versucht, das Repertoire von Werken als eine geschichtliche Folge zu erzählen.
Nun weiß man ja, daß jede Narration in nuce auch eine Interpretation darstellt.
Insofern wäre eine Literaturgeschichte eine Darstellung, in der
literarische Werke vor aller expliziten Deutung immer schon durch Narration
interpretiert werden (was gewissermaßen für den Leser ein hermeneutisches
Überangebot zur Folge hat). Dabei wirkt die erzählerische Verkettung, der die
literarischen Texte jeweils als Ereignisse in der Literaturgeschichte
unterliegen, idealtypisch sowohl im Kleinen wie im Großen. Das heißt: Zum einen
werden die Texte untereinander narrativ verbunden, was im übrigen erklärt,
weshalb die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts in nuce
wesentlich mehr an intertextuellen Einsichten befördert hat als etwa die
explizit hermeneutischen Bemühungen der Idealistischen Neuphilologie in den
zwanziger und dreißiger Jahren. Zum anderen entwickeln die anspruchsvollen
Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts aber auch immer wieder eine Art
narratives Großschema, ein „Emplotment“, das der Mikrogeschichte der vielen
Episoden eine übergeordnete, großflächig strukturierende Handlung verschaffen
soll.
Die Tendenz zu einem solchen „Emplotment“ auf der Ebene der
Gesamtgeschichte erklärt nun am besten die Affinität des Genus
Literaturgeschichte zur Epistemologie speziell des 19. Jahrhunderts. Im 19.
Jahrhundert existieren nämlich zwei Prämissen, welche besonders geeignet sind,
einen gesamtgeschichtlichen Plot hervorzubringen Es ist das zum einen – wie
allgemein bekannt – das Konzept eines nationalen Geistes und zum anderen die
Idee von – geschichtsphilosophisch verstandenem – Fortschritt oder von –
biologisch konzipierter – Evolution. (Dabei wäre es interessant zu untersuchen,
welche Konsequenzen die zuletzt genannte Variation – geschichtsphilosophisch
oder biologisch – für die literaturgeschichtliche Darstellung besitzt. Wie ich
nach meinem bisherigen Überblick vermute, sind die hier gegebenen
epistemologischen Unterschiede zwischen hegelianischen oder darwinistischen
Ausgangspunkten narrativ bemerkenswert folgenarm; besonders frappant etwa im
Fall von De Sanctis zu beobachten, der sich im Laufe seines Lebens vom
„Hegelianer“ zum „Darwinisten“ entwickelt, ohne daß das für die Art seiner
Literaturgeschichtsschreibung wesentliche Folgen hätte, die über den Bereich
einzelner Wertungen hinausgingen). Durch das Konzept nationaler Individualitäten
erhielt die Literaturgeschichte als narratives Genus sozusagen ihren
Protagonisten (als ein solcher Protagonist könnte im übrigen auch – marxistisch
verstanden – eine Klasse statt einer Nation auftreten, ohne daß das in der
narrativen Struktur große Folgelasten hätte). Dagegen sorgte das andere Konzept
der Evolution bzw. des Fortschritts für die diegetischen Etappen,
welche der Protagonist, der jeweilige nationale Geist, zu durchlaufen hatte.
Dabei gehört zu den Konzepten, welche für die Epoche konstitutiv sind,
freilich neben der geschichtsphilosophischen Fortschrittsidee auch die
komplementäre geschichtsphilosophische oder auch wiederum biologische
Verfallsidee. So ist es möglich, daß Literaturgeschichten sowohl mit einem Plot
im Sinne der Komödie oder des Griechischen Romans als auch mit einem Plot im
Sinne tragischer Entzweiung versehen werden. Für beide Möglichkeiten gibt es
gerade unter den repräsentativen Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts
eindrucksvolle Beispiele. Zwei Exempla, die ich für besonders schön halte, habe
ich schon wiederholt vorgestellt, möchte das hier aber noch einmal resümieren,
weil die beiden Exempla meines Erachtens überaus charakteristisch sind und
überdies idealtypisch die Möglichkeit eines Happy-Ending und die Möglichkeit
einer Literaturgeschichte als Anti-Märchen verwirklichen. Ich beginne mit der
Histoire de la littérature française von Désiré
Nisard, die in vier Bänden zwischen 1844 und 1861 erschienen ist und speziell
auf die französische Literaturgeschichtsschreibung wie überhaupt das in
Frankreich kanonisierte Literaturbild eine große, wenngleich ungern
eingestandene Wirkung ausgeübt hat (vor allem bei Ferdinand Brunetière, dem
vorgeblichen Positivisten).
In Nisards Literaturgeschichte wird besonders resolut die Konstruktion
eines nationalen Geistes als ideellem Protagonisten der Geschichte durchgeführt.
Subjekt und Träger der Handlung ist hier der „esprit français“, wie er sich nach
klassizistischen Vorstellungen am schönsten im „Grand Siècle“ der französischen
Klassik verwirklicht hat. Da diese Klassik des französischen Geistes indes
historisch weit zurückliegt, erwächst aus der Identifikation von Klassik und
„esprit français“ eine traurige Verfallsgeschichte, die offenkundig am Modell
von Gibbons „Rise and Fall of the Roman Empire“ oder Montesquieus „grandeur et
décadence des Romains“ orientiert ist. Das heißt: Wie das römische Imperium
kennt der französische Geist nur eine einzige Phase der Vollendung und totaler
Selbstidentität, eben den „classicisme“. Umrahmt wird die Epoche der
hypostasierten Klassik einerseits von einer längeren Inkubationszeit,
andererseits von einem Prozeß des Niedergangs, der sich in der Aufklärung
verhältnismäßig rasch vollzieht. Bemerkenswerterweise ist für Nisard
die normative Autorität der Klassik so groß, daß die Inkubationszeit erst mit
der Renaissance beginnen darf, während das Mittelalter überhaupt keine Rolle
spielt: für Chrétien de Troyes beispielsweise hat Nisard lediglich eine Fußnote
übrig; denn offenbar gehört der höfische Roman – der ‚matière de Bretagne‘ wegen
– noch eher zum bretonischen als zum eigentlich französischen Geist. Allerdings
vermag vor dem Ideal des wahren „esprit français“ auch die Renaissanceliteratur
nicht völlig zu überzeugen, da es ihr an dem mangelt, worauf Nisard besonderen
Wert legt: den ‚allgemeinen Ideen‘ („idées générales“). So gibt es im 16.
Jahrhundert für Nisard noch eine Mischung von „Vorzügen“ und „Mängeln“, wie sie
etwa in der Wendung von „les qualités et les défauts de Montaigne“ festgehalten
wird, und grundsätzlich gilt, daß in der französischen Literatur vor dem Grand
Siècle ‚alles zu wünschen übrig läßt‘. Zum Beispiel stößt man im Kapitel über
Corneille auf einen Abschnitt „Des imperfections du théâtre de Corneille“ oder
auf einen anderen mit dem fragenden Titel „De ce que la Tragédie de Corneille
laissait à désirer“. Wenig später folgt dann die Antwort des Historikers, dem
mit der Geschichte auch die Vorsehung vertraut ist: „Corneille laissait à
désirer Racine“.
Wendungen dieser Art geben zu verstehen, daß ein vielgestaltiges
literarisches Material hier nach strikt teleologischen Gesichtspunkten
organisiert und bewertet wird. Sie konzedieren den verschiedenen Autoren der
‚Vorgeschichte‘ als alleiniges Ziel die Offenbarung des französischen Geistes,
welche sich dann in einer exemplarischen Verschmelzung vollzieht, der „union de
1’esprit antique et de 1’esprit moderne, de l’art paien et de la philosophie
chrétienne“ (III, 28). Diese Fusion christlicher Weltanschauung und antiker
Kunst macht – wie Nisard stolz verkündet – die französische zur dritten jener
Literaturen (neben der griechischen und der römischen), die allgemeingültige und
‚universale‘ Geltung beanspruchen dürfen. Jedenfalls bewahrt sie ihre
Universalität, solange sie die Harmonie des Christlichen und des
Klassisch-Antiken aufrechterhält. Wie diese Harmonie, in deren Realisierung
Racine, Boileau und Bossuet die Allergrößten waren ((dagegen später H. Taine:
Pascal, La Fontaine, Saint-Simon)), zerfällt, so zerfällt mit ihr auch der
„esprit français“, und mit den ‚vollkommenen Werken‘ ist es unwiederbringlich
dahin. Daher werden für Nisard im 18. Jahrhundert, dem Siècle des lumières,
Apotheose und Apokalypse eins. Während die französische Sprache und mit ihr die
französische Literatur im Äußeren über Europa triumphieren wie nie zuvor, geht im Inneren – zersetzt vom „esprit de chimère“ eines Rousseau oder
eines Diderot – der „esprit français“ zugrunde, und bezeichnenderweise zögerte
Nisard nach dem 1849 publizierten dritten Band mehr als ein Jahrzehnt, bevor er
sich an die düstere Beschreibung des Zusammenbruchs machte. Er bewältigte ihn
mit einer Art Bilanz, welche die ‚Gewinne‘ („gains“) und die ‚Verluste‘
(„pertes“) des 18. Jahrhunderts gegeneinander aufrechnet, wobei das triste
Ergebnis darauf hinausläuft, daß die wirklich klassischen Werte, die von den
„deux antiquités“ ererbt wurden, verloren scheinen, die wenigen „nouveautés
durables“ dagegen kaum sonderlich willkommen. Derart bewirkt Nisards
konservative Perspektive (eine konservative Perspektive ist für
Literarhistoriker schriftstellerisch immer mißlich), daß die Histoire de la littérature française bei ihm – wenigstens vorläufig –
einen denkbar unglücklichen Ausgang nimmt, der nicht einmal zum überwältigenden
Eclat des Tragischen gelangt; denn ein wirkliches Finis Franciae kann Nisard
1861 unter dem Deuxième Empire ja keineswegs konstatieren. Da er aus einer Art
buchhalterischer Gewissenhaftigkeit gezwungen ist, im Dix-Huitième doch auch ein
paar ‚Gewinne‘ anzuerkennen (etwa die Prosa Montesquieus oder Voltaires Siècle de Louis XIV), verwischt sich die Düsternis des
Zerfalls schließlich zu einem Grau in Grau, das erst recht unattraktiv wirkt und
den Leser in eine wenig verheißungsvolle Zukunft entläßt.
Das zweite Beispiel bildet die Storia della
letteratura italiana von Francescio de Sanctis, 1870 und 1871 in zwei
Bänden veröffentlicht. Auch sie hat einen stringent strukturierten Plot, der zu
jenem der Nisardschen Literaturgeschichte gleichsam im Verhältnis eines
rhetorischen Chiasmus steht, also nicht ‚Aufstieg – Gipfel – Abstieg‘, sondern
‚Höhenlage (Gipfel) – Abstieg – tiefster Punkt – neuer Aufstieg‘. Dieser Plot
kann deshalb auf ein zukunftsfrohes Happy-Ending zugehen, weil De Sanctis sich
im Gegensatz zum Revolutions- und Aufklärungsgegner Nisard in tiefem
Einverständnis mit den politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen seiner
Gegenwart befindet (dem Risorgimento, der nationalen Einigung, der Auflösung des
„potere temporale“ der römischen Kirche). So erlaubt die essentiell progressive
Perspektive dem Historiographen, seine Geschichte nicht nur an ein gutes oder
jedenfalls verheißungsvolles Ende zu führen, sondern seine Leser durch berühmt
gewordene inzitatorische Sätze zu weiterem Fortschritt zu ermuntern:
„Die große Arbeit des 19. Jahrhunderts ist an ihr Ende (ihr Ziel)
gelangt (è al suo termine). Wir wohnen einer neuen Bewegung von
Ideen bei, die eine neue Bildung ankündet. Schon sehen wir in diesem die Umrisse
des nächsten Jahrhunderts. Und diesmal dürfen wir nicht in der Nachhut bleiben,
nicht in der zweiten Reihe“.
Der wie immer vage nationalliberale „Progressismus“, der sich in dieser
wie in vielen anderen Stellungnahmen von De Sanctis manifestiert, hat nun für
die Storia della letteratura italiana den unschätzbaren
Vorteil, daß De Sanctis einen teleologisch zielgerichteten Prozeß, der bei
Nisard im Grand Siècle abbrach, in die eigene Gegenwart und über sie hinaus
führen kann. Allerdings trifft De Sanctis bei seinem Willen zum
geschichtsphilosophischen Happy-Ending auf eine spezifische Schwierigkeit, die
mit dem eigentümlichen Verlauf der italienischen Literatur zu tun hat: dem
Umstand nämlich, daß sich die kanonisierten Klassiker dieser Literatur (Dante,
Petrarca, Boccaccio) nach allgemein akzeptiertem Urteil der Tradition gleich an
ihrem chronologischen Anfang befinden. Nicht zuletzt aus diesem Dilemma, dem
eigenen Pathos des Fortschritts und der Modernisierung auf der einen Seite, dem
traditionellen Pathos des Ursprungs und der Klassiker des Trecento auf der
anderen Seite, erklärt sich wohl die besonders scharf konturierte Figur, welche
De Sanctis der Narration seiner Literaturgeschichte mitteilt. Sie besteht – wie
gesagt – im wesentlichen aus drei Akten: einem erhabenen Ursprung (Dante), einer
langen Dekadenz bis hin zum Seicento sowie – am guten Ende – einer ebenso langen
Wiedergeburt, die sich – entfernt von Hegelschen Ideen beflügelt – als eine
reichere Resurrektion des Ursprungs und als eine Art Synthese auf höherem
geschichtlichen Niveau darbietet.
Zu dem einfachen Dreischritt der Hegelschen Dialektik tritt bei De
Sanctis indessen noch ein bestimmtes Erzähl- oder besser Romanschema, um den
narrativ-romanesken Entwurf zu vollenden. Gemeint ist das Grundschema des
griechischen Romans nach Art von Heliodors Aithiopika,
auf das De Sanctis wahrscheinlich mehr unbewußt als bewußt zurückgegriffen hat.
Am Anfang der literarhistorischen Romanhandlung, die aus diesem Schema
entspringt, steht – wie es sich gehört – ein füreinander bestimmtes Paar, das
hier nicht Theagenes und Charikleia heißt, sondern „contenuto“ (maskulin) und
„forma“ (feminin). Bei diesem Paar muß – wie es die ideologischen Vorgaben von
De Sanctis’ bürgerlichem Progressismus (Zola-Nähe) verlangen – der männliche
Partner „contenuto“ der bestimmende Teil sein, welchem sich der feminine
Partner, die „forma“, idealiter zu fügen hätte, wenn die Ehe im bürgerlichen
Sinn produktiv werden soll. Doch bleibt die Phase einer vorbildlichen ehelichen Pflichterfüllung in der italienischen Literatur nach
De Sanctis nur allzu kurz. Sie findet genaugenommen lediglich in Dantes Divina Commedia statt, in welcher der Inhalt die Form
exemplarisch beherrscht. Bereits in Petrarcas Canzoniere
und erst recht im Werk Boccaccios gehen die Partner jedoch getrennte Wege. Die
kapriziöse „forma“ macht sich auf einen langen Irrweg, bei dem sie zwischen
Polizian und Giambattista Marino „patria“ (Vaterland), „famiglia“, „umanità“,
„civiltà“ und alle sonstigen Werte bürgerlicher Existenz vergißt, was als Strafe
ihren Tod, oder genauer: ihren Scheintod, zur Folge hat. Der Scheintod der
Literatur tritt ein, wie das Wort, die „parola“, in der Talsohle von
„decadenza“, Gegenreformation und Fremdherrschaft ihren Sinn verliert und zum
reinen, bedeutungslosen Klang wird, wie die ‚Literatur‘ sich also in ‚Musik‘
auflöst: „La letteratura moriva, e nasceva la musica“.
Gerettet werden und wiederauferstehen kann die Literatur nur durch die
‚virile‘ Kraft des „contenuto“. Deshalb ist die Geschichte ihrer Wiedergeburt,
ihres „risorgimento“, gebunden an eine erneute Annäherung und Versöhnung von
Form und Inhalt. Dabei machen den Inhalt nun natürlich nicht mehr die Danteschen
Glaubenssätze aus, sondern die bürgerlich-progressiven Prinzipien, die De
Sanctis im 19. Jahrhundert realisiert sieht: vor allem die Werte von Nation und
Wissenschaft. So eröffnet der Satz „La letteratura non poteva risorgere che con
la risurrezione della coscienza nazionale“ (Annominatio „risorgere“ –
„risurrezione“) ein Kapitel, das „La nuova scienza“ betitelt ist. Es stellt der
Verfallsgeschichte einer vom Inhalt getrennten Form die Aufstiegsgeschichte
einer Wissenschaft entgegen, die sich die auf Abwege geratene Form wieder
untertan macht, wobei die literarhistorische Filiation von Machiavelli über
Giordano Bruno, Galilei und Campanella zu Vico und Pietro Giannone führt (also
durchaus verschiedenartige, disparate Wissenschaftsstationen).
Demnach hat die idealhistorische Verwirklichung der „risurrezione della
coscienza nazionale“, die politische Einigung Italiens, für den ‚positiven‘ Plot
der Storia della letteratura italiana auch ungefähr die
gleiche Bedeutung wie die Niederlage im Krieg 1870–71 für den ‚negativen‘
Roman-Plot von Zolas Rougon-Macquart. Es ist das
entscheidende Ereignis, das die Figur der Erzählung verifiziert und
gewissermaßen besiegelt. Tatsächlich hält der Erzähler der Literaturgeschichte an einem der fesselndsten Momente seines Berichts inne, um dies
Ereignis als Zielpunkt seiner narrativen Rekonstruktion gebührend und würdigend
zu feiern. Bezeichnenderweise geschieht das, als er unter der Devise „Muore la
scolastica, nasce la scienza“ von ‚unserem Machiavelli‘ handelt und Narration
wie essayistische Reflexion gleichsam zur Ode in Prosa steigert:
Gloria a lui, quando crolla alcuna parte dell’antico edificio. E
gloria a lui, quando si fabbrica alcuna parte del nuovo. In questo momento che
scrivo, le campane suonano a distesa, e annunziano l’entrata degl’italiani a
Roma. Il potere temporale crolla. E si grida viva all’unità d’Italia. Sia gloria
al Machiavelli.
(Er sei gerühmt, wie ein Teil des alten Gebäudes zerbricht. Und
er sei gerühmt, wie ein Teil des neuen entsteht. In diesem Moment meines
Schreibens, läuten mit ganzer Kraft überall die Glocken und verkünden den
Einmarsch der Italiener in Rom. Die weltliche Gewalt der Kirche zerbricht. Und
man ruft: Es lebe die Einheit Italiens. Machiavelli sei gerühmt.)
Wie die Darstellung hier, als ihr ideelles Ziel sich auch
realhistorisch verwirklicht, zur anaphorisch strukturierten Emphase der
Prosa-Ode greift, bedient sie sich an den gleichsam entgegengesetzten Stellen
der nationalen Stagnation im 16. und 17. Jahrhundert, zwischen den Phasen des
Verfalls und der Wiedergeburt, immer wieder des Tons der Satire. Dabei läßt sich sowohl eine pathetische Satire in der Manier
Juvenals als auch eine ironische Satire in der Manier des Horaz nachweisen.
Juvenalsches Pathos setzt De Sanctis immer dann ein, wenn er die
politisch-sozialen Verhältnisse anspricht, welche im Cinquecento Leos X. durch
eine ‚unendliche Korruption‘ und eine ‚immense Leere‘ geprägt erscheinen. Eher
im ironischen Register des Horaz bietet sich die Satire dann dar, wenn speziell
vom literarischen Leben der Epoche, von den Autoren und ihren Werken, die Rede
ist, wobei der Erzähler den Eindruck hohler Abundanz, den er erzeugen möchte,
mit Vorliebe durch das Rhetoricum syndetischer und asyndetischer Reihungen
suggeriert. Solche Reihungen – etwa von wenig bekannten Titeln oder
Akademiegründungen – sollen im narrativ sinnträchtigen Gefüge des Textes
offenkundig jeweils als ein Moment absurder Sinnlosigkeit wirken. Wo De Sanctis
dagegen Sinn sehen und stiften will, da schafft er zwischen den Gestalten und
Ereignissen seiner Storia eine Fülle textueller
Ligaturen. Unter ihnen fallen besonders zwei Figuren auf. Die eine
besteht aus der Goetheschen Devise eines ‚Stirb und werde‘, welche die
historischen Phänomene jeweils als Symptome von Übergängen und als Bestandteile
zielgerichteter Prozesse zu verstehen sucht: „Muore la scolastica, nasce la
scienza“(zu Machiavelli); „La letteratura moriva, e nasceva la musica“. Die
andere läuft auf die Formel eines „Noch nicht“ hinaus (z. B. im Falle von
Petrarcas Laura: „Non ci è ancora l’individuo: ci è il genere“), einer Formel,
die oft Anlaß zu der Frage gibt: „Che gli manca?“ – Was fehlt ihm noch?.
In extremer Dichte erscheinen solche teleologischen Verbindungslinien
vor allem im letzten Abschnitt der Aufstiegsgeschichte. In ihr gibt es
beispielsweise drei Protagonisten, die explizit zu ‚Dichtern des Übergangs‘
erklärt werden: „Metastasio, Goldoni e Passeroni erano della stessa pasta,
idillici e puri letterati. Sono i tre poeti della transizione“. Wenn sie eine
Übergangsrolle spielen, muß ihnen per definitionem etwas fehlen, und daher
bleibt die Frage nicht aus: „Cosa manca a Goldoni?“. Die Antwort lautet: „[...]
Mancò a lui quello che mancava da più secoli a tutti gl’italiani, e che rendeva
insanabile la loro decadenza: la sincerità e la forza delle convinzioni“. Was
dem „giuoco di forma“ fehlt, ist also ein Inhalt im emphatischen Sinn, weshalb
das Urteil über die „poeti della transizione“ auf die Formel gebracht wird: „ci
è il letterato, manca l’uomo“ (Es gibt Literaten, es fehlt ein Mensch). Dieser
Befund „manca l’uomo“ organisiert dann den letzten Teil der Erzählung so
stringent wie keinen Abschnitt zuvor. Und zwar dergestalt, daß mit den Autoren
Parini, Alfieri und Foscolo nunmehr drei Gestalten auftreten, die jeweils eine
andere Facette des ‚neuen Menschen‘ verkörpern, wie ihn das neue Italien
verlangt. So gilt Parini als der „uomo nuovo in vecchia società“. Alfieri, der
nächste im Regenerationsprozeß, wird präsentiert als „uomo nuovo in veste
classica“ (der neue Mensch in klassischem Gewand), während sich mit Foscolo dem
‚neuen Menschen‘ schließlich auch der Bereich der bürgerlichen Innerlichkeit
erschließt: „L’uomo nuovo s’integra“.
Nun habe ich die Italienische Literaturgeschichte von De Sanctis bisher
etwas einseitig behandelt, da es mir darauf ankam, ihre narrative Struktur
hervorzuheben, wie sie sich hier in einem jener geschichtsphilosophischen
„métarécits“ manifestiert, an die wir laut Jean-François Lyotard nicht mehr zu
glauben vermögen. Die Literaturgeschichte von De Sanctis gilt aber nicht zuletzt
deshalb als das wohl vorzüglichste Exemplar ihrer Gattung im 19.
Jahrhundert, weil sie über ihrem geschichtsphilosophischen Plot die Episoden der
einzelnen Werke und Autoren nicht vergißt, d. h.: sie keineswegs mit robuster
Energie auf das Emplotment hin stilisiert, sondern ihnen durchaus Raum für ihre
jeweilige ästhetische Kontingenz läßt. Besonders deutlich zeigt sich diese
Großzügigkeit etwa an der Darstellung Ariosts. Nach dem Plot müsste sein Werk ja
Symptom der tiefsten nationalen Erniedrigung sein, ein Indiz für die Talsohle
der Dekadenz; doch folgt dann ein überraschend nuanciertes und gerade ästhetisch
ausgesprochen subtiles und verständnisvolles Porträt des Orlando furioso. Bemerkenswerterweise fällt es hier bei dem
deklarierten Anti-Ästheten De Sanctis eben im Ästhetischen weit präziser aus als
etwa später bei Croce, dem die „Estetica“ doch programmatisch über alles ging.
Damit ist – wie ich meine – am Beispiel von De Sanctis ein praktikables
Kriterium gegeben, das uns ein Urteil über die Ergiebigkeit von
Literaturgeschichten nach Art des 19. Jahrhunderts gestattet. Ergiebig sind sie
nämlich immer dann, wenn ihr Plot einerseits an den Einzelheiten plausibel
gemacht werden kann und wenn er andererseits Widersprüche zuläßt. Das heißt:
Erst wenn die literaturkritische Wahrnehmung im Einzelnen dem
narrativ-geschichtsphilosophischen Plan des Ensembles partielle Resistenz
leisten darf, gewinnt eine Literaturgeschichte dialektische Spannung, wie sie
von (nicht einfach verdrängten) Widersprüchen des Allgemeinen und Besonderen
auszugehen pflegt. Dabei sind es solche Widersprüche, oder besser: die
offengehaltene Möglichkeit zu solchen Widersprüchen, welche das Genus der
Literaturgeschichte im engeren Sinn eigentlich interessant machen. Denn in der
Enzyklopädie, zumindest in deren alphabetisch geordneter Variante, spielt sich
ja alles auf derselben Ebene ab, und die Möglichkeiten zur Reliefgebung bleiben
demzufolge gering. Dagegen erlaubt die narrative Struktur der
Literaturgeschichte einen Hintergrund zu entwerfen, vor dem die Texte, Autoren
und Ereignisse im Vordergrund – wenigstens theoretisch – ein stärkeres Relief
erlangen können: sei es durch Kongruenz mit den allgemeinen Entwicklungslinien,
sei es durch flagrante Inkongruenz, die zum Motiv für weitergehende Reflexionen
sowie einen Erkenntnisprozeß von stetigen Nuancierungen und Falsifikationen
wird.
Wie schon gesagt, hat sich die klassische Literaturgeschichtsschreibung
(Nisard, Taine, Brunetière, De Sanctis, Gervinus, Scherer) seit Beginn des
20.Jahrhunderts in verschiedene enzyklopädische Nachfolgeformen aufgelöst. Für
diese Auflösung sind meines Erachtens ganz unterschiedliche, ja
entgegengesetzte Motive anzuführen. Eines dieser Motive, und zwar das
wissenschaftsgeschichtlich mächtigste, hängt mit einer idealistischen
Hypostasierung des Ästhetischen zusammen, das wenigstens tendenziell in einer
Sphäre jenseits von Raum, Zeit und Begriff angesiedelt wird, so daß es sich auch
jeder historischen Darstellung entziehen muß. Am energischsten und wohl auch am
folgenreichsten ist eine solche prinzipielle Trennung der poetischen Sprache von
allen Formen geschichtlich spezifischer und gebundener Diskurse durch Benedetto
Croce vertreten worden: mit sehr eigentümlichen Folgen, welche etwa der
italienischen Literaturwissenschaft über Jahrzehnte hinweg einen Sondercharakter
verliehen haben. Da für Croce das dichterisch Essentielle, die „poesia“, per
definitionem als a-historisch und zugleich als a-konzeptuell, unbegrifflich,
galt, konnte – und durfte – es nach diesem Postulat auf keinen Fall
geschichtlich dargestellt und dadurch relativiert werden. An die Stelle der
Literaturgeschichte hatte folglich die Kritik, die „critica“, zu treten, welche
nun unermüdlich und immer wieder neu durch autoritative Intuitionen zu bestimmen
hatte, was in einem Text „poesia“, ‚Dichtung‘, war und was bloße „letteratura“,
‚Literatur‘, blieb. Damit wurde die Instanz des Geschichtlichen gewissermaßen
verschoben. Es gab nun keine Geschichte der Dichtung mehr, wohl aber eine
Geschichte ihrer kritischen Rezeption, und so entstand dann eine typisch
italienische bzw. typisch crocianische Tradition der Literaturgeschichte, die
sogenannte „storia della critica“. Deren Protagonisten waren nicht mehr Dante
oder Petrarca, sondern jeweils die historische Reihe der Dante- und
Petrarca-Interpreten, wobei solche Geschichten vor allem referierten, daß Croce
bei Dante in jenem Vers einen Funken von „poesia“ wahrgenommen hatte, Fubini
aber in einem anderen Vers, usw. Im übrigen muß ich gestehen, daß ich die Epoche
der „storia della critica“ in Italien stets ein wenig mit Nostalgie betrachtet
habe, da sie dem Narzißmus des Interpreten ja über die Maßen schmeichelte; denn
jetzt traten die kritischen Lektüren einzelner Autoritäten in den Mittelpunkt
aller philologischen Aufmerksamkeit. Die Autoren selber wurden zwar noch heilig
gehalten, aber eben durch ihre Kanonisierung auch neutralisiert. Da sie
außerhalb der Geschichte standen, konnten die Leser und die ‚Kritiker‘ mit ihren
‚Lektüren‘ den Platz der Geschichte neu besetzen.
Zwar hat Croces Kunstphilosophie am intensivsten und am kompaktesten in
Italien gewirkt; doch sind ihre Wirkungen auch im Bereich anderer
Literaturen und anderer literaturwissenschaftlicher Traditionen nachzuweisen.
Dabei denke ich an die Idealistische Neuphilologie eines Vossler oder Spitzer
bis hin zu Emil Staiger im deutschen Sprachraum oder an den ‚New Criticism‘ in
den Vereinigten Staaten. Ganz durch Croce bestimmt erscheint beispielsweise noch
Wellek-Warrens einst vielgelesene Theory of Literature,
vor allem René Welleks noch auf dem 5. Symposion von Poetik
und Hermeneutik Anfang der siebziger Jahre verkündete Überzeugung vom
„Fall of Literary History“. Sie gründet sich auf Croces Idee, daß ein Kunstwerk
als ein Gefüge von Werten allein durch Kontemplation zu erfassen ist und deshalb
durch keine geschichtlichen Kausalitäten – vor allem auch nicht intertextueller
Art – angetastet werden darf: „A work of art [...] is not only a structure which
may be analyzed descriptively. It is a totality of values which do not adhere to
the structure but constitute its very nature. The values can be grasped only in
an act of contemplation (Das wäre wörtlicher Croce). These values are created in
a free act of the imagination irreducible to limiting conditions in sources,
traditions, biographical and social circumstances“ (S. 438). Und Wellek schließt
darauf seinen Beitrag mit dem Befund: „Croce and Ker are right. There is no
progress, no development, no history of art except a history of writers,
institutions and techniques. This is, at least for me, the end of an illusion,
the fall of literary history“ (S. 439f.).
Im übrigen hat sich diese idealistische Tradition einer Hypostasierung
des Ästhetischen zur Zeitlosigkeit in einer heterodoxen Seitenlinie bis zu
Roland Barthes’ Alternative „Histoire ou littérature?“ durchgehalten,
schließlich noch bis zu seiner kategorialen Distinktion von „texte lisible“ und
„texte scriptible“. Diese Distinktion bezieht sich bei Barthes wohl auf einen
anderen Typus von Poetik; doch funktioniert sie durchaus ähnlich wie Croces an
einer klassisch-romantischen Poetik ausgerichtete Unterscheidung „poesia“ vs.
„letteratura“. Das heißt: „Letteratura“ wie „textes lisibles“ existieren in
überwältigender bzw. entmutigender Fülle, während der ideale Pol der Opposition
– die „poesia“ bzw. der „texte scriptible“ – durch extreme Seltenheit
ausgezeichnet ist, genaugenommen eigentlich bloß als Postulat bzw. bei Barthes
als eine nie wirklich zu realisierende schriftstellerische Praxis vorkommt. So
ist die spezifische Attitüde der durch solche Ästhetiken geprägten Autoren immer
eine Attitüde der Suche und der Beschwörung, nie die sozusagen handgreiflich
robuste des Historikers, der Bestände aufnimmt und gliedert.
Beschworen werden entweder die „poesia“ (zu deutsch: Dichtung) oder die
„écriture“ als etwas Heiliges, Seltenes und im Letzten Irreales, das zumindest
der Geschichte und ihren Kontingenzen entzogen werden muß.
Daneben hat die Zurückweisung der Literaturgeschichte aber auch noch
einen ganz anderen Grund. Erscheint Historiographie einerseits zu profan für das
Heilige, so kann sie andererseits auch wieder zu sakral bzw. kulturgesättigt
erscheinen, um dem Postulat einer Basisdemokratie aller Texte zu genügen. Dies
zweite Motiv, das gegen die klassische Literaturgeschichtsschreibung wirkt,
kommt sehr prägnant in einem Beitrag des französischen Sammelbands L’Histoire littéraire aujourd’hui (den ich eingangs
erwähnt habe) zum Ausdruck: „Les littératures dites marginales ou les
‚contre-littératures‘“ von Bernard Mouralis. Mouralis setzt sich für etwas ein,
was in der alten BRD „der erweiterte Kulturbegriff“ hieß; das heißt: er läuft
Sturm gegen die Elite der kanonisierten Werke und möchte ihnen gegenüber das
Volk der nicht-kanonisierten Texte emanzipieren. So steht am Beginn seines
Plaidoyers der Befund: „Le temps n’est plus où 1’on se proposait pour
l’essentiel de dresser une liste des ‚chefs-d’oeuvre‘ en essayant de les
repartir selon une ligne diachronique, privilégiant la division par siècles.
Rappelons pour mémoire les ouvrages, destinés à 1’enseignement secondaire, de
Chevalier et Audiat, Lagarde et Michard, Aubry et Crouzet ou Castex et Surer“
(S. 32).
Was hier emanzipiert werden soll – gegen die literarhistorischen
Manuale zum Schulgebrauch –, ist eine Fülle verschiedenartigster Texte:
„littératures régionales“, „littératures populaires“, „littératures des pays
autrefois colonisés et écrites dans la langue du colonisateur“ (S. 31),
Gattungen der sogenanten Trivial- oder Paraliteratur (Kriminalroman, Photoroman,
Comics), aber auch schlicht vergessene Autoren vergangener Epochen, schließlich
noch Texte, denen wir kontinuierlich im Alltag begegnen: „annuaires, catalogues
de vente par correspondance, prospectus, presse, textes publicitaires“ (S. 35).
Wie man sieht, führt die Idee radikaler Text-Demokratie hier folgerichtig zum
Ideal der „exhaustivité“, das auch mehrfach explizit postuliert wird. Eine
solche Exhaustivität widerstrebt aber von vornherein jeglicher
narrativ-historiographischer Entfaltung und läßt allein die Formel der
alphabetisch geordneten, d. h. möglichst wertneutralen Enzyklopädie zu: „la
formule du ‚dictionnaire‘“ (S. 34). Dazu sagt der Autor Folgendes: „[...]
l’ordre alphabétique, en raison même de son arbitraire, rend plus
difficile 1’affirmation des valeurs et des hiérarchies consacrées. Il tend à
mettre toutes les données retenues sur un même plan: Fanon est précédé de Noël
du Fail et suivi des Fantaisistes… En outre, par le type de rapport au livre –
et par conséquent de lecture – qu’il implique, le dictionnaire ne favorise guère
le développement d’une conception finaliste de l’histoire littéraire. Il invite
plutôt le lecteur à prendre en considération des ‚phénomènes‘ ou des ‚fonctions‘
littéraires et l’ordre alphabétique pourra peut-être alors être perçu comme
l’affirmation d’un refus ou d’une impossibilité de l’histoire littéraire“
[1]
(S. 34). Wenn man das zusammenfaßt, laufen diese Empfehlungen auf zwei
wesentliche Gesichtspunkte hinaus. Die alphabetisch geordnete Enzyklopädie
bietet sich als bestmögliches Vermittlungsprinzip für das literarische Wissen
an, weil sie erstens keine Werthierarchien kennt (Alles wird auf ein und
derselben Ebene nivelliert), und weil sie zweitens jeglicher teleologisch
finalisierenden Geschichtssicht aus dem Wege geht (Wenn man die hier implizierte
Tendenz weiter verfolgt, müßte man im übrigen auch darauf Wert legen,
Querverbindungen und Verweise zwischen den Stichwörtern zu minimalisieren, da
durch solche Verweise ja immer Elemente von Sinn, Zusammenhang und eben
Teleologie geschaffen werden).
Demnach könnte man sagen, daß die klassische
Literaturgeschichtsschreibung im Verlauf des 20. Jahrhunderts aus zwei eher
konträren als komplementären Motiven disqualifiziert worden ist. Zunächst wegen
ihrer Profanität, welche dazu tendiert, das Transzendente bzw. Allgegenwärtige
des Kunstwerks in den Staub der Geschichte und ihrer unendlichen Differenzen
hinabzuziehen. Dann wegen ihrer Sakralität, das heißt: wegen der Reliefgebung,
der Hierarchisierung und der narrativen Ordnung von Ereignissen (Texten), welche
mit jeder historiographischen Darstellung unweigerlich verbunden ist. Beide
Motive haben zwar nicht zusammengewirkt, aber sie sind aufeinander gefolgt und
haben durchaus machtvolle Konsequenzen gehabt. Deren Resultat besteht vielleicht
darin, daß die Literaturgeschichte des ‚klassischen‘ Typs heute als eine Art
literaturwissenschaftlicher Trivialgattung erscheint, allenfalls wie der
Lagarde-Michard oder der Castex-Surer für die Schule geeignet, und daß viele
Literaturgeschichten, welche sich so nennen, im Vergleich zu Nisard, De Sanctis
oder Taine im Grunde eben keine Geschichten mehr sind, sondern verkappte
Enzyklopädien. Trotzdem ist gar nicht zu leugnen, daß es immer noch
auf Seiten des Leserpublikums ein nach wie vor ungestilltes Bedürfnis nach
Literaturgeschichtsschreibung gibt. Bei allen Einwänden, welche sich im Laufe
des 20. Jahrhunderts akkumuliert haben, erscheint bemerkenswert allein schon die
schlichte Zahl von literaturwissenschaftlichen Darstellungen, die sich als
Literaturgeschichten etikettieren: viele sind – wie gesagt – verkappte
Enzyklopädien mit einem Teamwork von Mitarbeitern, und viele andere sind – trotz
historiographischer Exposition des Materials – wohl lediglich als eine Art
Literaturpropädeutik gedacht. Indessen existiert die Literaturhistoriographie
auch auf einem anspruchsvolleren Niveau fort, und zwar in der Form – häufig
fragmentarisierter – Partialgeschichten.
Wie dieser Wandel aussehen kann, zeigt am besten das ehrgeizige
Unternehmen einer deklarierten Literaturenzyklopädie: die seit 1982 von Alberto
Asor Rosa herausgegebene Letteratura italiana Einaudi.
Sie setzt sich bewußt vom Modell der Storia della letteratura
italiana von De Sanctis ab, wie Asor Rosa in seiner Einleitung zum
ersten Band der Enzyklopädie klarmacht (vgl. „Letteratura, testo, società“, in:
Il letterato e le istituzioni, Torino 1982, S. 5–29).
Gegen dies Modell, das ich ja ausführlich beschrieben habe, führt Asor Rosa vor
allem zwei Einwände ins Feld, die freilich speziell mit den italienischen
Literaturverhältnissen zu tun haben. Zum ersten betont er, daß die italienische
Literatur nicht mit der politischen, gesellschaftlichen und moralischen
Geschichte der italienischen Nation assoziiert werden kann. Und zum zweiten hält
er fest, daß aus einer Epoche moralischer Vorbildlichkeit nicht notwendig auch
eine große Literatur hervorgehen muß (Im Originaltext ist das etwas vage
formuliert: „Non necessariamente la grande letteratura nasce da una grande vita
morale“). Bezogen ist diese Feststellung, die auf den ersten Blick ein wenig
trivial, ja selbstverständlich erscheinen mag, auf die besondere Verlaufsform
der italienischen Literatur, die ihr größtes europäisches Prestige und ihre
größte Ausstrahlung ja zwischen Trecento und Seicento in einer Phase des
nationalpolitischen Niedergangs und der Lethargie besaß, während die für De
Sanctis normgebende Entwicklung der nationalpolitischen Wiedergeburt seit dem
Settecento nie mehr ein ähnliches kulturelles Prestige erreichte.
Demnach sieht Asor Rosa davon ab, die italienische Literatur noch
einmal als den Ablauf einer spezifischen nationalen (Literatur)
Geschichte vorzustellen, und an die Stelle des alten Modells Storia della letteratura italiana tritt eben die vielbändige und
nunmehr systematisch (nicht alphabetisch) geordnete Enzyklopädie der Letteratura italiana. Nun ist aber zu beobachten, daß die
Einzelteile dieser Enzyklopädie in gewissem Sinn jenes Maß an Narrativität
rekuperieren, das aus dem Gesamtplan der Enzyklopädie eliminiert worden ist. Das
heißt: Wir haben nicht mehr eine Geschichte der
italienischen Literatur, sondern eine Pluralität von Narrationen, sozusagen
metonymische Geschichten der italienischen Literatur, welche sich als
Geschichten von Institutionen, Gattungen, Kunstformen oder
Wissenschaftstechniken entfalten. Bemerkenswerterweise stehen am Ende der
Enzyklopädie dann in der Tat auch wieder deklarierte Literaturgeschichten, die
aber nicht von der italienischen Nation, sondern von den Regionen und ihren
verschiedenen Sprachen ausgehen (also venezianische, neapolitanische,
lombardische Literatur undsofort). Da die Beiträge beispielsweise venezianischer
Literaten zur italienischen Literatur aber immer nur sporadisch in
venezianischer Sprache verfaßt wurden, die Beiträge Mailänder Literaten immer
nur sporadisch auf Mailändisch bzw. Lombardisch, erhalten diese regionalen
Literaturgeschichten einen weithin fragmentarisch enumerativen Charakter und
wirken manchmal bewußt inkohärent, so als hätte man hier bei der
Literaturgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts (der alten
„Literärgeschichte“) wiederanknüpfen wollen. Trotzdem ergibt sich solcherart
natürlich eine stark verfremdende Perspektive auf die italienische Literatur:
eine Perspektive, die einerseits in der Tradition des italienischen
Literaturhistorikers Carlo Dionisotti steht (der schon in den fünfziger Jahren
für eine ‚geografie‘ der italienischen Literatur plädierte), und die
andererseits einem Philosophen wie Lyotard gefallen müßte (obwohl hier – soweit
ich sehe – kaum ein direkter geistesgeschichtlicher Zusammenhang besteht).
Die literarhistorische Option, die in Asor Rosas Letteratura italiana zum Ausdruck kommt, läßt sich im übrigen in
vielen ähnlichen Unternehmungen neueren Datums beobachten. So sind mir selbst in
einer alphabetisch geordneten Enzyklopädie wie dem soeben erschienenen ersten
Band des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“ (A-Bib, Hrsg. Gerd Ueding)
verschiedene Artikel aufgefallen, welche durchaus den Charakter von
Partial-Literaturgeschichten in nuce haben und dann auch gelegentlich einen
energisch strukturierten Plot à la De Sanctis aufweisen. Ein gutes
und – wie ich finde –schönes Beispiel dafür ist etwa der Artikel „Argumentation“
in diesem Lexikon (Vf. Ekkehard Eggs; Umfang über 80 Seiten). Gegenstand des
Artikels ist in der Tat eine narrativ durchgegliederte Geschichte des
Argumentationsaspekts der Rhetorik von Aristoteles bis Chaim Perelman, deren
Plot von weitem an den der Storia della letteratura
italiana von De Sanctis erinnert. Zunächst erfahren wir, wie die Topik bei
Aristoteles als eine Argumentationslehre ernstgenommen wird, um darauf seit der
Renaissance und insbesondere seit Descartes zu zerfallen, da sie offenkundig in
geringerem Maß szientifizierbar erscheint als die beiden anderen Komponenten des
Triviums, die Grammatik und die Dialektik alias Logik. Wir erleben also den
Triumph der Grammatik (à la Port-Royal) und der Logik, durch den die
Argumentationstopik immer mehr ins wissenschaftliche Abseits gerät, bis
schließlich im 20. Jahrhundert der Mythos des Szientismus seine bannende Kraft
verliert und auch der Argumentationslehre (siehe Perelman und siehe Habermas)
neue Chancen gewährt.
Durch diese beiden Beispiele, die das Fortleben von Historiographie im
Rahmen einer übergeordneten enzyklopädischen Struktur zeigen, wird deutlich, daß
solche Literaturgeschichten die alte National-Literaturgeschichte sowohl in der
Richtung des Supra-Nationalen (Europäischen) als auch in die Richtung des
Sub-Nationalen (Regionalen) ersetzen können. Dabei folgt aus der Partialisierung
der Gegenstandsbereiche keineswegs, daß solche Literaturgeschichten auch auf
einen narrativen Plot verzichten (wie man das nach der langjährigen Tabuisierung
des Narrativen aus dem Bereich von Wissenschaft meinen könnte). Eher habe ich
den Eindruck, daß ein Plot, besser: die Strukturierung nach Art eines Plot oder
einer Minimal-Sequenz allegorischer Narration, sich immer dann aufdrängt, wenn
ein dichtes, in evident fassbaren Traditionen geordnetes Material vorliegt.
Dagegen fehlen Ansätze zum historiographischen Plot, wenn das Material – wie bei
der Literaturgeschichte der italienischen Regionen – diskontinuierlich
erscheint. Im übrigen bin ich selber geneigt, solche Plot-Strukturen
literarhistorischer Erzählungen (seien es nun große oder kleine) durchaus zu
begrüßen. Sie weisen nämlich auf Regelmäßigkeiten und Großtendenzen hin, mit
denen wir gerade auch dann umgehen müssen, wenn wir das Einzelne beschreiben
wollen (dem Plot gegenüber als Ausnahme oder als Falsifikation).
Dabei ist der Begriff „Falsifikation“ an dieser Stelle
natürlich nicht exakt. Wie bei allen Fragen historiographischer Gliederung, vor
allem bei Periodisierungsentscheidungen, geht es nicht um die Kriterien
‚Wahr‘-‚Falsch‘, sondern um den Code ‚Praktisch‘-‚Unpraktisch‘ bzw.
‚Anschlußfähig‘-‚Borniert‘. Oder wie ein hinlänglich distanzierter Theoretiker
des Post-Modernism (Brian Mc Hale) formuliert: „But if all our stories [...] are
fictions, if all our categories are constructions, this does not mean that they
are all equally good stories, equally sound constructions. It makes a difference which story or variant we
choose to tell, and there are criteria for preferring certain stories or
variants over others“. Solche Kriterien, um eine ‚gute‘ Geschichte – mangels
eines ‚Wahrheits‘-Kriteriums – zu beurteilen, wären nach Brian Mc Hale etwa:
„internal consistency or coherence; appropriateness of scope; richness of
interconnections; fineness of detail; and productivity, a story’s capacity to
generate other stories, to stimulate lively conversation,
to keep the discursive ball rolling“ (S. 21).
In diesem Sinne meine ich, daß es weniger darauf ankommt, Narrativität
in der Vermittlung von literarhistorischem Wissen strikt szientifisch zu
eliminieren oder sie – koste es, was es wolle – zu restaurieren, sondern
poetologisch über die Art ihrer Verwendung nachzudenken. Wofür ich plädieren
möchte, wäre so etwas wie eine Poetik (oder auch Poietik) der
Literaturgeschichte (Literaturwissenschaft): also das Element, der Aspekt, der
in der berühmten Methodendiskussion der siebziger Jahre mit fanatischer
Hartnäckigkeit verdrängt worden ist. Gemeint ist das Bewußtsein, ein notwendiges
Bewußtsein, daß alle unsere methodologischen und epistemologischen
Entscheidungen auch von dem Typ des Textes abhängig sind,
den wir jeweils zu schreiben gedenken. Daß ein bestimmter Texttyp aus bestimmten
Begründungstexten hervorgeht, die uns bestimmen, oder umgekehrt: daß wir nach
bestimmten Begründungs-, Legitimationstexten auch suchen, um die Absicht
bestimmter eigener Texte rechtfertigen zu können. Ein möglicher Texttyp ist
meines Erachtens indessen immer noch derjenige einer Literaturgeschichte sensu
strictiori, wie sie immer noch im Rahmen einer Nationalkultur erzählt werden
kann. Ganz unvorhersehbar gibt es dafür manchmal überraschende Beispiele, eines
der bemerkenswertesten stammt von einem großen Ex-Siegener, Hans Ulrich
Gumbrecht, und heißt bezeichnenderweise: Eine Geschichte der
spanischen Literatur.
In diesem Falle erscheint mir der unbestimmte Artikel der
Titelformulierung symptomatisch. Zum einen soll er – wohl in erster Linie – auf
den Umstand hinweisen, daß diese Literaturgeschichte eine unter verschiedenen
möglichen der spanischen Literatur darstellt (so jedenfalls äußert sich der
Autor im Vorwort). Zum anderen läßt sich der unbestimmte Artikel aber auch quasi
als Adjektiv lesen und dann kommt ihm offensichtlich eine stärkere Bedeutung zu:
eine Geschichte würde dann heißen, daß hier eine
Geschichte eines Verfassers in eben einem Buch vorgelegt wird, was die
Geschichte vom neueren Typus der Kollektiv-Geschichten bzw.
Kollektiv-Enzyklopädien mit Nachdruck unterscheidet.
Tatsächlich fällt ja auf, daß Gumbrechts Geschichte der spanischen
Literatur strukturell insofern an die Tradition eines De Sanctis anschließt, als
auch sie über einen – freilich skeptischer präsentierten – Plot verfügt. Wo sich
bei De Sanctis „forma“ und „contenuto“ bald begegneten und bald
auseinanderlebten, da entwickelt sich auch Gumbrechts Erzählung um das
problematische Verhältnis von zwei Sinnfiguren, deren eine „Subjektivität“ und
deren andere „kosmologisch fundiertes Weltbild“ heißt. Der Plot, der sich
hieraus ergibt, kann um so leichter resümiert werden, als er in der
Großerzählung der Inhaltsübersicht dem gesamten Buch vorangestellt ist. Danach
kommt es in Spanien einerseits zu „besonders früh subjektzentrierten Rollen der
Sinnbildung“ (S. 23), denen andererseits ein besonders fest gegründetes
„kosmologisches Ordnungsdenken“ entgegensteht. So wird über die Epoche des
frühen 16. Jahrhunderts auf der Ebene des „métarécit“ gesagt: „Zwischen der zu
erhaltenden christlichen Kosmologie und der bereits entfalteten Subjektivität
aber lud sich eine Spannung in den Strukturen des Alltags auf, aus deren
Verdichtung die spanische Literatur des ‚Goldenen Zeitalters‘ entstehen sollte.“
(24).
Nun macht es aber die Besonderheit der spanischen Entwicklung, wie sie
von Gumbrechts Geschichte nacherzählt wird, aus, daß diese Spannung zwischen
„Subjektivität“ und „kosmologischem Weltbild“ alias „Individualität“ und
„Gesellschaft“ in ihr nicht wirklich ausgetragen wird, jedenfalls nicht bis zur
Mitte des 20. Jahrhunderts. Gelöst wird sie – das ist die Hauptthese des
Métarécit – durch Arrangements „wechselseitiger Ausblendung“ (S. 18). Das
folgenreichste solcher Arrangements vollzieht sich im Zeitalter des spanischen
Barock, wo die „wechselseitige Ausblendung“ zur „Entwirklichung alltäglicher [...] Welten“ und zur „Ontologisierung imaginärer Welten“ führt
(vgl. S. 25). Diese „Entwirklichung“ zieht sich – wie ausdrücklich festgehalten
wird (S. 18) – „über Jahrhunderte“ hin und bestimmt noch die Lage eines
Nebeneinanders von „zwei Spanien“ im 19. Jahrhundert. Ich zitiere: „Doch die
Leiden des Individuums erschienen gemildert durch ein literarisches Jenseits,
das alle Spannungen zwischen Norm und Bedürfnis neutralisierte. Dieselbe
Weltbild-Harmonie konstituierte aber auch eine Grenze für die politische
Liberalisierung, an der in den siebziger Jahren des XIX. Jahrhunderts die erste
spanische Republik scheiterte“ (S. 26). So wird der Leser noch im Abschnitt über
Claríns La Regenta an das Hauptthema der Erzählung
erinnert: „Wir spielen an auf den Gestus ‚individueller Entwirklichung
gesellschaftlicher Wirklichkeit‘, dessen Habitualisierung und dessen
verschiedene Ausprägungen seit der Mitte des XVI. Jahrhunderts wir in den
vorausgegangenen Kapiteln immer wieder thematisiert haben“ (S. 754). Und noch zu
einem Essay des „unvermeidlichen“ Pedro Laín Entralgo meint der Erzähler: „Auch
dieser Aufruf zur Konvergenz des Verschiedenen implizierte die Beobachtung, daß
es den Spaniern noch an jener Toleranz mangelte, mittels derer (dies jedenfalls
war der historische Traum des Bürgertums gewesen) die Instanzen ‚Individualität‘
und ‚Gesellschaft‘ in ein produktives Spannungsverhältnis gebracht werden
könnten“ (S. 1040). Gelöst wird die spanische Dauerkrise erst durch einen
„säkularen Einstellungswandel“, dessen Resultate „nach Francos Tod im Jahr 1975“
sichtbar wurden: „In Jahrzehnten ‚ohne Ereignisse‘ hatte sich ein säkularer
Einstellungs-Wandel vollzogen: Auch in Spanien waren nun Individualität und
Gesellschaft in ein Verhältnis produktiver Spannung getreten“ (S. 28).
Die Zitate, die ich hier pars pro toto aneinandergereiht habe, sind
keineswegs als Kritik gedacht. Sie wollen lediglich auf den Plot bzw. Métarécit,
die große allegorische Erzählung, aufmerksam machen, welche Einer Geschichte der spanischen Literatur zugrunde liegt. Mit einem
solchen Plot setzt der Verfasser einen narrativen Usus fort, der zum Zeitpunkt
der Niederschrift dieser Literaturgeschichte wohl kaum noch den Rang einer
wirklichen Tradition behauptete und jedenfalls weit ins 19. Jahrhundert, eben in
die Glanz- und Blütezeit der Literaturgeschichtsschreibung, zurückreicht.
Demnach könnten wir hier mit großem Recht von einer ‚postmodernen‘
Literaturgeschichtsschreibung sprechen, welche – im Sinne Nietzsches – Verfahren
und Anschauungen zurückholt, die prononciert unzeitgemäß geworden waren. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Hegelsche Atmosphäre,
welche sich gegen Ende des Buches einstellt, eine Stimmung, in der die Eule der
Minerva zum Flug anzusetzen scheint. Für ihre Normalisierung – den Umstand, daß
nun auch in Spanien „Individualität“ und „Gesellschaft“ in ein „Verhältnis
produktiver Spannung“ getreten sind – bezahlt die spanische Literatur nämlich
den Preis, daß sie dadurch eben als unterscheidbar spanische zuende gehen muß.
Überdies wird ihr Eintritt in die okzidentale Normalität begleitet und sozusagen
besiegelt von dem, was der Verfasser – erneut mit einem Hegelianischen Gestus –
den „Tod der Literatur“ nennt. Damit erhält die Narration einen ausgesprochen
starken Schlußakkord, der gleichsam die Konklusionen von De Sanctis und Nisard
(über die ich gesprochen habe) ineins setzt. Das heißt: wir begegnen einem
Aufstieg im Sinne der ‚Zivilgesellschaft‘, einem Parcours, der die spanische
Literatur zur Normalität führt, welche Glück, aber auch Unscheinbarkeit in petto
hält. Zugleich bedeutet dies unscheinbare Glück aber auch ein Hegelsches Ende
der Kunst, den Tod der Literatur im emphatischen Verständnis und den Verlust
einer spanischen Spezifizität.
Damit ein solcher Geschichtseffekt zustande kommt, verlangt die
Erzählung vom beziehungslosen Nebeneinander der Subjektivität und der
christlichen Kosmologie, welche erst spät zu einer produktiven
Spannungsbeziehung findet, eine bewußte Konzentration auf den Bereich des
sozusagen Kern-Spanischen (in Analogie zum „Kern-Deutschen“ gebildet). Daß die
spanische Literaturgeschichte, wie Gumbrecht sie präsentiert, sich als eine
hochgradig kastilische Literaturgeschichte versteht, kündigt bereits das Vorwort
an (S. 16f.). Nur unter dieser Prämisse können nämlich die Konturen ihres Plot
plausibel bzw. anschlußfähig bleiben. Damit postiert sich die Gumbrechtsche
Literaturgeschichte idealtypisch in der äußersten Gegenposition zu den
Regionalgeschichten, durch die Asor Rosa in seiner Letteratura
Italiana das Historische an der italienischen Literatur in einer
Proliferation von fragmentierten Mikrogeschichten zu fassen sucht. Das
Mikrogeschichtliche verläuft bei Gumbrecht dagegen weniger neben dem
strukturierenden Métarécit als vielmehr unterhalb des Niveaus der umfassenden
Erzählfügung. Gemeint sind damit die zahllosen, oft anekdotenhaft zugespitzten
Anekdoten, in denen es immer wieder um Todesfälle, Körperlichkeit und
körperliche wie intellektuelle Stilisierungen geht. Wie diese kleinen Ereignisse
unterhalb des Niveaus des großen mentalitätsgeschichtlichen Plot
erzählt werden und wie sie – mit den verschiedensten, orthodoxen wie heterodoxen
Mitteln der Hermeneutik – mit dem oberen Niveau der narrativen Großfigur immer
wieder neu verflochten werden, macht im übrigen das größte Lesevergnügen dieser
Literaturgeschichte aus. Tatsächlich ist sie aufs neue, was Literaturgeschichten
im 19. Jahrhundert häufig waren, aber dann lange nicht mehr zu sein wagten: ein
Roman einer Nationalliteratur, erzählt mit neuen Begriffen und neuen Diskursen,
aber durch Mittel narrativer Verknüpfung, die ihr paradoxes Novum eben darin
besitzen, daß sie an wissenschaftlich Verdrängtes und Vergessenes anschließen.
1 |
Übersetzung USB (handschriftliche Ergänzung; Anm. d. Hg.):
‚Die alphabetische Ordnung macht gerade wegen
ihres arbiträren Charakters die Bestätigung etablierter Werte
u.[nd] Hierarchien schwieriger. Sie tendiert dazu, alle Daten
auf dem gleichen Niveau zu vereinen: (Frantz) Fanon folgt auf
Noël du Fail und steht vor den ‚Fantaisistes‘ (den Clowns)…
Außerdem begünstigt das Lexikon – durch den (konsultierenden)
Gebrauch, den man von ihm als Buch macht – kaum die Entwicklung
einer ‚finalistischen‘ (teleologischen) Sicht der
Lit.[eratur]gesch.[ichte]. Es lädt vielmehr dazu ein,
literarische ‚Phänomene‘ oder ‚Funktionen‘ in Betracht zu
ziehen, und so kann die alphabet[ische] Ordnung wohl als
Ausdruck einer Verweigerung oder einer Unmöglichkeit der
Lit.[eratur]gesch.[ichte] gesehen werden.‘
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