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Quelle: bisher unveröffentlicht

Genera und Modi der Literaturgeschichtsschreibung

Die Thematik und die Problematik, die ich heute behandeln möchte, geht im wesentlichen auf zwei Lektüren zurück, zum einen die – enorm gehaltvolle – Einführung in die französische Literaturgeschichtsschreibung von Friedrich Wolfzettel (Darmstadt 1982), zum anderen eine französische Bestandsaufnahme, die von Henri Béhar und Roger Fayolle als Sammelband unter dem Titel L’Histoire littéraire aujourd’hui (Paris, Armand Colin, 1990) veröffentlicht wurde. In beiden Büchern geht es um methodologische wie epistemologische Aspekte der Literaturgeschichte, wobei die Haltung der Betrachter jeweils durch eine eigentümliche Mischung von Apologie und gedämpftem Optimismus auffällt. Wolfzettel erinnert in der Einleitung zur Einführung an den 1968 stattgehabten „Zusammenbruch des Wissenschaftsideologems“, verbindet die „Krise der Literaturgeschichte“ mit der „Krise der bürgerlichen Universität“, um dann aber hoffnungsvoll festzustellen: „Zwischen verzweifelter Suche nach Praxisbezug und formalistischer Verwissenschaftlichung ist die Literaturgeschichte jedoch trotz (oder auch wegen ihrer Problematik) offensichtlich dazu berufen, historisches Verstehen in aktueller Perspektive zu vermitteln“ (S. 12). Ähnlich erscheint die Stimmung in dem französischen Band, dessen Vorwort mit dem Satz beginnt: „Seit einiger Zeit ist viel von einer Rückkehr zur Literaturgeschichte die Rede“. Darauf folgt dann die Frage, ob es sich bei dieser Rückkehr um die Rückkehr der vertriebenen Aristokraten des Ancien Régime handele, welche durch die Revolution nichts dazugelernt hätten, oder um eine Rückkehr, die nach der Erfahrung und der Anerkennung der Revolution Neues in die Wege leiten könnte. Plädiert wird hier natürlich für den letzteren Fall, die Erneuerung des Ancien Régime der histoire littéraire oder – perspektivisch anders gewendet – für die Normalisierung des Revolutionären durch eine Art Synthese mit dem, was vom Ancien Régime Bestand hat (vgl. S. 5). Zu einer solchen Erneuerung werden von den Kontribuenten des Bands verschiedene Hilfsmittel vorgeschlagen, als da wären die „critique génétique“(die Erforschung der Genese eines Textes durch seine Manuskripte), der Einsatz der Medien als Instrument wie als Material und Thema der Literaturgeschichte, die Berücksichtigung von „littératures dites marginales [...] ou ‚contre-littératures‘“ also eine Erweiterung des literaturwissenschaftlichen Kanons, und vieles andere mehr.
Trotz allem Engagement für die histoire littéraire bzw. die Literaturgeschichtsschreibung ist in beiden Büchern jedoch ein eigentümlicher blinder Fleck zu bemerken. Es wird in ihnen zwar ständig von Erweiterungen des Gegenstandsbereichs und von Verfeinerungen der Interpretationsmethoden (bei Wolfzettel vor allem durch sozialgeschichtliche und ideologiekritische Interessen) gesprochen; doch bewegen sich diese Erörterungen essentiell auf der Ebene epistemologischer Positionen. Das heißt: Es wird erörtert, welche Fragen gestellt werden sollen, woraus sich – besonders in dem französischen Band – eine umfassende Verteilung von Aufgaben ergibt. Dagegen wird kaum einmal angesprochen, was im engeren Sinn die Performanz einer Literaturgeschichte ausmacht. Damit meine ich das Ensemble von Komponenten, welche eine „Literaturgeschichte“ zum literarischen Genus machen, und insbesondere den Aspekt ihrer Narrativität. Dieser Narrativitätsaspekt spielt in dem Sammelband von Béhar-Fayolle überhaupt keine Rolle, und es ist bezeichnend, daß einer der Beiträger sogar explizit „la formule du ‚dictionnaire‘“ (S. 34: die Formel des Lexikons) vorschlägt, um die schriftstellerischen Probleme der neuen Literaturgeschichte zu bewältigen. Freilich sieht es bei Wolfzettel nicht sehr viel anders aus. Obwohl er nicht einfach von der „Literaturgeschichte“, sondern spezieller von der „Literaturgeschichtsschreibung“ handelt, profilieren seine – insgesamt sehr rosigen – Zukunftsperspektiven in erster Linie ein fruchtbares Zusammenspiel von Begriffen, z. B. ein „ Zusammenwirken des marxistischen Ideologiebegriffs und des strukturalistischen, zum Teil auch psychoanalytischen Mythenbegriffs“ (S. 276), aus dem die Produkte der künftigen Literaturgeschichtsschreibung offenbar generiert werden können. Ungesagt bleibt dagegen, welche schriftstellerischen, zumal narrativen Strategien zwischen den Begriffen einerseits und dem Text einer Literaturgeschichte andererseits ins Werk gesetzt werden müssen, damit nicht eine Enzyklopädie oder eine Serie kleiner Monographien, sondern eben eine „ Literaturgeschichte“ entsteht.
Aus diesem blinden Fleck, der zwei an sich sehr verdienstvollen Büchern zur Literaturgeschichte gemeinsam ist, läßt sich – wie ich meine – zweierlei folgern. Zunächst offenbart die auffällige Leerstelle ein meines Erachtens prinzipielles Manko dessen, was in den letzten Jahrzehnten literaturwissenschaftliche Methodendiskussion hieß. Diese sogenannte Methodendiskussion traktierte zum weitaus größten Teil Probleme, welche die Dignität der jeweiligen Fragen betrafen: etwa, ist eine sozial- und mentalitätsgeschichtliche Frage, beispielsweise nach Elias gestellt, nobler, relevanter als eine psychoanalytische Frage, beispielsweise nach Freud auf den Autor oder nach Lacan auf den Text zentriert? Zu einem viel geringeren Teil betraf die Diskussion, die eigentlich eine Epistemologie-Diskussion war, Probleme der methodologischen Ebene, also Probleme, die entstehen, sobald man sich auf die Dringlichkeit einer bestimmten Frage geeinigt hat und nun daran geht, diese Frage durch die eine oder durch die andere Methode (Vorgehensweise) zu lösen. Mehr noch blieb indes ausgeklammert, was mir manchmal geradezu als die Hauptsache erscheint: die Gestalt des – im weitesten Sinne des Wortes – literaturwissenschaftlichen Textes, der Ziel und Fluchtpunkt aller Forschungsbemühungen ausmacht. Damit wurde verdrängt, daß sowohl die epistemologischen als auch die methodologischen Entscheidungen, die man als Literaturwissenschaftler (Literaturhistoriker) trifft, niemals unabhängig von einer Textidee, von einem Textprojekt zustandekommen, auf das man – meistens nach bestimmten Modellen, nach Diskursen – hinarbeitet. Was hier beinahe vollständig fehlt, ist neben der breit vertretenen Epistemologie und der spärlicher entwickelten Methodologie eine Poetologie der Literaturwissenschaft, die wenigstens in Ansätzen so etwas wie eine Poetik literaturwissenschaftlicher (literarhistorischer) Textsorten ausbilden müsste. Was uns daran gehindert hat, läßt sich meines Erachtens auf die Wirkung einer Art Wissenschaftsillusion zurückführen, welche wohl ähnlich wie die berühmte „illusion référentielle“ funktioniert. Da es um wissenschaftliches Wissen geht, scheint jede Reflexion auf die ästhetische (literarische) Erscheinungsform dieses Wissens die Zuverlässigkeit und den tiefen Ernst unserer Erkenntnisbemühungen in Zweifel zu ziehen. Wahrscheinlich ist dann das Ausbleiben einer solchen Reflexion auch für die schlichte Umkehrung der alten Wissenschaftsüberzeugungen verantwortlich: für die einfache Idee nämlich, daß literaturwissenschaftliche Aktivitäten, da eine „science de la littérature“ nun einmal nicht zu erreichen ist, überhaupt nichts anderes als Literatur ergeben können.
Unter dem Gesichtspunkt einer solchen historischen Poetik literaturwissenschaftlicher Textsorten interessiert mich nun besonders diejenige, welche zweifellos – falls man sie ernst nimmt – den höchsten Komplexitäts- und Schwierigkeitsgrad aufweist: eben die Literaturgeschichte. Wie ich mit meinen einleitenden Bemerkungen verdeutlichen wollte, ist man sich über die Verfassung der Literaturgeschichte als einer besonderen Gattung oft gar nicht klar. Dabei kommt es – wie ich meine – sehr darauf an, wenigstens eine grundsätzliche typologische Distinktion zwischen Literaturgeschichte und Literaturenzyklopädie einzuführen. Angesichts dieser Distinktion stellt sich sogleich heraus, daß die Gattung der Literaturenzyklopädie genaugenommen weit kompakter vertreten ist als die Literaturgeschichte sensu strictiori. Es gibt Literaturenzyklopädien, die alphabetisch geordnet sind, Literaturenzyklopädien mit systematischer Ordnung (etwa jüngst noch die von Alberto Asor Rosa herausgegebene Letteratura Italiana Einaudi) und – besonders zahlreich– Literaturenzyklopädien mit historischer Ordnung, meist kollektiv durchgeführte Großunternehmen, bei denen eine Schwadron von Fachgelehrten kooperiert, damit möglichst jede Epoche und jede Gattung von einem für sie zuständigen Spezialisten betraut werden kann.
So betrachtet, wird meine Behauptung von der Komplexität und der Schwierigkeit einer Literaturgeschichte – wie ich hoffe – besser verständlich. Wenn sie gelegentlich als eine eher simple literaturwissenschaftliche Angelegenheit gilt, mit einer allenfalls propädeutischen Funktion, wie einst Benedetto Croce meinte, dann liegt das im wesentlichen an einer generischen, typologischen Verwechslung: der Verwechslung zwischen Literaturgeschichte und literarhistorisch geordneter Enzyklopädie. Um diese Verwechslung aufzuhellen, möchte ich die Distinktion der beiden benachbarten Genera jetzt durch eine historische Spezifikation noch erweitern. Wenn man ein wenig schematisieren darf, ist es nämlich wohl erlaubt, die Literaturgeschichte nicht als die Regel vorzustellen, sondern als die entschiedene Ausnahme, deren Geltungsbereich sich weithin auf das 19. Jahrhundert beschränkt. Demgegenüber erscheint die Literaturenzyklopädie – historisch gesehen – als das Übliche und Naheliegende: Literaturenzyklopädien gestalten das literarische Wissen in den Perioden, die dem 19. Jahrhundert vorangehen, und sie sind dann auch im Verlauf des 20. Jahrhunderts längst wieder zum Regelfall geworden, weshalb der transgressive Gestus, mit dem heute gelegentlich noch gegen die Literaturgeschichte polemisiert wird, etwas eigentümlich Irreales hat.
Was ist nun für die Literaturgeschichte im Sinn von Literaturgeschichtsschreibung konstitutiv? Und was begünstigt diese Gattung während ihrer Blütezeit im 19. Jahrhundert? Als wesentliches Distinktiv der Literaturgeschichte würde ich den Umstand bezeichnen, daß sie sich nicht auf die Beschreibung eines Repertoires von Werken beschränkt, sondern gleichzeitig versucht, das Repertoire von Werken als eine geschichtliche Folge zu erzählen. Nun weiß man ja, daß jede Narration in nuce auch eine Interpretation darstellt. Insofern wäre eine Literaturgeschichte eine Darstellung, in der literarische Werke vor aller expliziten Deutung immer schon durch Narration interpretiert werden (was gewissermaßen für den Leser ein hermeneutisches Überangebot zur Folge hat). Dabei wirkt die erzählerische Verkettung, der die literarischen Texte jeweils als Ereignisse in der Literaturgeschichte unterliegen, idealtypisch sowohl im Kleinen wie im Großen. Das heißt: Zum einen werden die Texte untereinander narrativ verbunden, was im übrigen erklärt, weshalb die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts in nuce wesentlich mehr an intertextuellen Einsichten befördert hat als etwa die explizit hermeneutischen Bemühungen der Idealistischen Neuphilologie in den zwanziger und dreißiger Jahren. Zum anderen entwickeln die anspruchsvollen Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts aber auch immer wieder eine Art narratives Großschema, ein „Emplotment“, das der Mikrogeschichte der vielen Episoden eine übergeordnete, großflächig strukturierende Handlung verschaffen soll.
Die Tendenz zu einem solchen „Emplotment“ auf der Ebene der Gesamtgeschichte erklärt nun am besten die Affinität des Genus Literaturgeschichte zur Epistemologie speziell des 19. Jahrhunderts. Im 19. Jahrhundert existieren nämlich zwei Prämissen, welche besonders geeignet sind, einen gesamtgeschichtlichen Plot hervorzubringen Es ist das zum einen – wie allgemein bekannt – das Konzept eines nationalen Geistes und zum anderen die Idee von – geschichtsphilosophisch verstandenem – Fortschritt oder von – biologisch konzipierter – Evolution. (Dabei wäre es interessant zu untersuchen, welche Konsequenzen die zuletzt genannte Variation – geschichtsphilosophisch oder biologisch – für die literaturgeschichtliche Darstellung besitzt. Wie ich nach meinem bisherigen Überblick vermute, sind die hier gegebenen epistemologischen Unterschiede zwischen hegelianischen oder darwinistischen Ausgangspunkten narrativ bemerkenswert folgenarm; besonders frappant etwa im Fall von De Sanctis zu beobachten, der sich im Laufe seines Lebens vom „Hegelianer“ zum „Darwinisten“ entwickelt, ohne daß das für die Art seiner Literaturgeschichtsschreibung wesentliche Folgen hätte, die über den Bereich einzelner Wertungen hinausgingen). Durch das Konzept nationaler Individualitäten erhielt die Literaturgeschichte als narratives Genus sozusagen ihren Protagonisten (als ein solcher Protagonist könnte im übrigen auch – marxistisch verstanden – eine Klasse statt einer Nation auftreten, ohne daß das in der narrativen Struktur große Folgelasten hätte). Dagegen sorgte das andere Konzept der Evolution bzw. des Fortschritts für die diegetischen Etappen, welche der Protagonist, der jeweilige nationale Geist, zu durchlaufen hatte.
Dabei gehört zu den Konzepten, welche für die Epoche konstitutiv sind, freilich neben der geschichtsphilosophischen Fortschrittsidee auch die komplementäre geschichtsphilosophische oder auch wiederum biologische Verfallsidee. So ist es möglich, daß Literaturgeschichten sowohl mit einem Plot im Sinne der Komödie oder des Griechischen Romans als auch mit einem Plot im Sinne tragischer Entzweiung versehen werden. Für beide Möglichkeiten gibt es gerade unter den repräsentativen Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts eindrucksvolle Beispiele. Zwei Exempla, die ich für besonders schön halte, habe ich schon wiederholt vorgestellt, möchte das hier aber noch einmal resümieren, weil die beiden Exempla meines Erachtens überaus charakteristisch sind und überdies idealtypisch die Möglichkeit eines Happy-Ending und die Möglichkeit einer Literaturgeschichte als Anti-Märchen verwirklichen. Ich beginne mit der Histoire de la littérature française von Désiré Nisard, die in vier Bänden zwischen 1844 und 1861 erschienen ist und speziell auf die französische Literaturgeschichtsschreibung wie überhaupt das in Frankreich kanonisierte Literaturbild eine große, wenngleich ungern eingestandene Wirkung ausgeübt hat (vor allem bei Ferdinand Brunetière, dem vorgeblichen Positivisten).
In Nisards Literaturgeschichte wird besonders resolut die Konstruktion eines nationalen Geistes als ideellem Protagonisten der Geschichte durchgeführt. Subjekt und Träger der Handlung ist hier der „esprit français“, wie er sich nach klassizistischen Vorstellungen am schönsten im „Grand Siècle“ der französischen Klassik verwirklicht hat. Da diese Klassik des französischen Geistes indes historisch weit zurückliegt, erwächst aus der Identifikation von Klassik und „esprit français“ eine traurige Verfallsgeschichte, die offenkundig am Modell von Gibbons „Rise and Fall of the Roman Empire“ oder Montesquieus „grandeur et décadence des Romains“ orientiert ist. Das heißt: Wie das römische Imperium kennt der französische Geist nur eine einzige Phase der Vollendung und totaler Selbstidentität, eben den „classicisme“. Umrahmt wird die Epoche der hypostasierten Klassik einerseits von einer längeren Inkubationszeit, andererseits von einem Prozeß des Niedergangs, der sich in der Aufklärung verhältnismäßig rasch vollzieht. Bemerkenswerterweise ist für Nisard die normative Autorität der Klassik so groß, daß die Inkubationszeit erst mit der Renaissance beginnen darf, während das Mittelalter überhaupt keine Rolle spielt: für Chrétien de Troyes beispielsweise hat Nisard lediglich eine Fußnote übrig; denn offenbar gehört der höfische Roman – der ‚matière de Bretagne‘ wegen – noch eher zum bretonischen als zum eigentlich französischen Geist. Allerdings vermag vor dem Ideal des wahren „esprit français“ auch die Renaissanceliteratur nicht völlig zu überzeugen, da es ihr an dem mangelt, worauf Nisard besonderen Wert legt: den ‚allgemeinen Ideen‘ („idées générales“). So gibt es im 16. Jahrhundert für Nisard noch eine Mischung von „Vorzügen“ und „Mängeln“, wie sie etwa in der Wendung von „les qualités et les défauts de Montaigne“ festgehalten wird, und grundsätzlich gilt, daß in der französischen Literatur vor dem Grand Siècle ‚alles zu wünschen übrig läßt‘. Zum Beispiel stößt man im Kapitel über Corneille auf einen Abschnitt „Des imperfections du théâtre de Corneille“ oder auf einen anderen mit dem fragenden Titel „De ce que la Tragédie de Corneille laissait à désirer“. Wenig später folgt dann die Antwort des Historikers, dem mit der Geschichte auch die Vorsehung vertraut ist: „Corneille laissait à désirer Racine“.
Wendungen dieser Art geben zu verstehen, daß ein vielgestaltiges literarisches Material hier nach strikt teleologischen Gesichtspunkten organisiert und bewertet wird. Sie konzedieren den verschiedenen Autoren der ‚Vorgeschichte‘ als alleiniges Ziel die Offenbarung des französischen Geistes, welche sich dann in einer exemplarischen Verschmelzung vollzieht, der „union de 1’esprit antique et de 1’esprit moderne, de l’art paien et de la philosophie chrétienne“ (III, 28). Diese Fusion christlicher Weltanschauung und antiker Kunst macht – wie Nisard stolz verkündet – die französische zur dritten jener Literaturen (neben der griechischen und der römischen), die allgemeingültige und ‚universale‘ Geltung beanspruchen dürfen. Jedenfalls bewahrt sie ihre Universalität, solange sie die Harmonie des Christlichen und des Klassisch-Antiken aufrechterhält. Wie diese Harmonie, in deren Realisierung Racine, Boileau und Bossuet die Allergrößten waren ((dagegen später H. Taine: Pascal, La Fontaine, Saint-Simon)), zerfällt, so zerfällt mit ihr auch der „esprit français“, und mit den ‚vollkommenen Werken‘ ist es unwiederbringlich dahin. Daher werden für Nisard im 18. Jahrhundert, dem Siècle des lumières, Apotheose und Apokalypse eins. Während die französische Sprache und mit ihr die französische Literatur im Äußeren über Europa triumphieren wie nie zuvor, geht im Inneren – zersetzt vom „esprit de chimère“ eines Rousseau oder eines Diderot – der „esprit français“ zugrunde, und bezeichnenderweise zögerte Nisard nach dem 1849 publizierten dritten Band mehr als ein Jahrzehnt, bevor er sich an die düstere Beschreibung des Zusammenbruchs machte. Er bewältigte ihn mit einer Art Bilanz, welche die ‚Gewinne‘ („gains“) und die ‚Verluste‘ („pertes“) des 18. Jahrhunderts gegeneinander aufrechnet, wobei das triste Ergebnis darauf hinausläuft, daß die wirklich klassischen Werte, die von den „deux antiquités“ ererbt wurden, verloren scheinen, die wenigen „nouveautés durables“ dagegen kaum sonderlich willkommen. Derart bewirkt Nisards konservative Perspektive (eine konservative Perspektive ist für Literarhistoriker schriftstellerisch immer mißlich), daß die Histoire de la littérature française bei ihm – wenigstens vorläufig – einen denkbar unglücklichen Ausgang nimmt, der nicht einmal zum überwältigenden Eclat des Tragischen gelangt; denn ein wirkliches Finis Franciae kann Nisard 1861 unter dem Deuxième Empire ja keineswegs konstatieren. Da er aus einer Art buchhalterischer Gewissenhaftigkeit gezwungen ist, im Dix-Huitième doch auch ein paar ‚Gewinne‘ anzuerkennen (etwa die Prosa Montesquieus oder Voltaires Siècle de Louis XIV), verwischt sich die Düsternis des Zerfalls schließlich zu einem Grau in Grau, das erst recht unattraktiv wirkt und den Leser in eine wenig verheißungsvolle Zukunft entläßt.
Das zweite Beispiel bildet die Storia della letteratura italiana von Francescio de Sanctis, 1870 und 1871 in zwei Bänden veröffentlicht. Auch sie hat einen stringent strukturierten Plot, der zu jenem der Nisardschen Literaturgeschichte gleichsam im Verhältnis eines rhetorischen Chiasmus steht, also nicht ‚Aufstieg – Gipfel – Abstieg‘, sondern ‚Höhenlage (Gipfel) – Abstieg – tiefster Punkt – neuer Aufstieg‘. Dieser Plot kann deshalb auf ein zukunftsfrohes Happy-Ending zugehen, weil De Sanctis sich im Gegensatz zum Revolutions- und Aufklärungsgegner Nisard in tiefem Einverständnis mit den politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Gegenwart befindet (dem Risorgimento, der nationalen Einigung, der Auflösung des „potere temporale“ der römischen Kirche). So erlaubt die essentiell progressive Perspektive dem Historiographen, seine Geschichte nicht nur an ein gutes oder jedenfalls verheißungsvolles Ende zu führen, sondern seine Leser durch berühmt gewordene inzitatorische Sätze zu weiterem Fortschritt zu ermuntern:
„Die große Arbeit des 19. Jahrhunderts ist an ihr Ende (ihr Ziel) gelangt (è al suo termine). Wir wohnen einer neuen Bewegung von Ideen bei, die eine neue Bildung ankündet. Schon sehen wir in diesem die Umrisse des nächsten Jahrhunderts. Und diesmal dürfen wir nicht in der Nachhut bleiben, nicht in der zweiten Reihe“.
Der wie immer vage nationalliberale „Progressismus“, der sich in dieser wie in vielen anderen Stellungnahmen von De Sanctis manifestiert, hat nun für die Storia della letteratura italiana den unschätzbaren Vorteil, daß De Sanctis einen teleologisch zielgerichteten Prozeß, der bei Nisard im Grand Siècle abbrach, in die eigene Gegenwart und über sie hinaus führen kann. Allerdings trifft De Sanctis bei seinem Willen zum geschichtsphilosophischen Happy-Ending auf eine spezifische Schwierigkeit, die mit dem eigentümlichen Verlauf der italienischen Literatur zu tun hat: dem Umstand nämlich, daß sich die kanonisierten Klassiker dieser Literatur (Dante, Petrarca, Boccaccio) nach allgemein akzeptiertem Urteil der Tradition gleich an ihrem chronologischen Anfang befinden. Nicht zuletzt aus diesem Dilemma, dem eigenen Pathos des Fortschritts und der Modernisierung auf der einen Seite, dem traditionellen Pathos des Ursprungs und der Klassiker des Trecento auf der anderen Seite, erklärt sich wohl die besonders scharf konturierte Figur, welche De Sanctis der Narration seiner Literaturgeschichte mitteilt. Sie besteht – wie gesagt – im wesentlichen aus drei Akten: einem erhabenen Ursprung (Dante), einer langen Dekadenz bis hin zum Seicento sowie – am guten Ende – einer ebenso langen Wiedergeburt, die sich – entfernt von Hegelschen Ideen beflügelt – als eine reichere Resurrektion des Ursprungs und als eine Art Synthese auf höherem geschichtlichen Niveau darbietet.
Zu dem einfachen Dreischritt der Hegelschen Dialektik tritt bei De Sanctis indessen noch ein bestimmtes Erzähl- oder besser Romanschema, um den narrativ-romanesken Entwurf zu vollenden. Gemeint ist das Grundschema des griechischen Romans nach Art von Heliodors Aithiopika, auf das De Sanctis wahrscheinlich mehr unbewußt als bewußt zurückgegriffen hat. Am Anfang der literarhistorischen Romanhandlung, die aus diesem Schema entspringt, steht – wie es sich gehört – ein füreinander bestimmtes Paar, das hier nicht Theagenes und Charikleia heißt, sondern „contenuto“ (maskulin) und „forma“ (feminin). Bei diesem Paar muß – wie es die ideologischen Vorgaben von De Sanctis’ bürgerlichem Progressismus (Zola-Nähe) verlangen – der männliche Partner „contenuto“ der bestimmende Teil sein, welchem sich der feminine Partner, die „forma“, idealiter zu fügen hätte, wenn die Ehe im bürgerlichen Sinn produktiv werden soll. Doch bleibt die Phase einer vorbildlichen ehelichen Pflichterfüllung in der italienischen Literatur nach De Sanctis nur allzu kurz. Sie findet genaugenommen lediglich in Dantes Divina Commedia statt, in welcher der Inhalt die Form exemplarisch beherrscht. Bereits in Petrarcas Canzoniere und erst recht im Werk Boccaccios gehen die Partner jedoch getrennte Wege. Die kapriziöse „forma“ macht sich auf einen langen Irrweg, bei dem sie zwischen Polizian und Giambattista Marino „patria“ (Vaterland), „famiglia“, „umanità“, „civiltà“ und alle sonstigen Werte bürgerlicher Existenz vergißt, was als Strafe ihren Tod, oder genauer: ihren Scheintod, zur Folge hat. Der Scheintod der Literatur tritt ein, wie das Wort, die „parola“, in der Talsohle von „decadenza“, Gegenreformation und Fremdherrschaft ihren Sinn verliert und zum reinen, bedeutungslosen Klang wird, wie die ‚Literatur‘ sich also in ‚Musik‘ auflöst: „La letteratura moriva, e nasceva la musica“.
Gerettet werden und wiederauferstehen kann die Literatur nur durch die ‚virile‘ Kraft des „contenuto“. Deshalb ist die Geschichte ihrer Wiedergeburt, ihres „risorgimento“, gebunden an eine erneute Annäherung und Versöhnung von Form und Inhalt. Dabei machen den Inhalt nun natürlich nicht mehr die Danteschen Glaubenssätze aus, sondern die bürgerlich-progressiven Prinzipien, die De Sanctis im 19. Jahrhundert realisiert sieht: vor allem die Werte von Nation und Wissenschaft. So eröffnet der Satz „La letteratura non poteva risorgere che con la risurrezione della coscienza nazionale“ (Annominatio „risorgere“ – „risurrezione“) ein Kapitel, das „La nuova scienza“ betitelt ist. Es stellt der Verfallsgeschichte einer vom Inhalt getrennten Form die Aufstiegsgeschichte einer Wissenschaft entgegen, die sich die auf Abwege geratene Form wieder untertan macht, wobei die literarhistorische Filiation von Machiavelli über Giordano Bruno, Galilei und Campanella zu Vico und Pietro Giannone führt (also durchaus verschiedenartige, disparate Wissenschaftsstationen).
Demnach hat die idealhistorische Verwirklichung der „risurrezione della coscienza nazionale“, die politische Einigung Italiens, für den ‚positiven‘ Plot der Storia della letteratura italiana auch ungefähr die gleiche Bedeutung wie die Niederlage im Krieg 1870–71 für den ‚negativen‘ Roman-Plot von Zolas Rougon-Macquart. Es ist das entscheidende Ereignis, das die Figur der Erzählung verifiziert und gewissermaßen besiegelt. Tatsächlich hält der Erzähler der Literaturgeschichte an einem der fesselndsten Momente seines Berichts inne, um dies Ereignis als Zielpunkt seiner narrativen Rekonstruktion gebührend und würdigend zu feiern. Bezeichnenderweise geschieht das, als er unter der Devise „Muore la scolastica, nasce la scienza“ von ‚unserem Machiavelli‘ handelt und Narration wie essayistische Reflexion gleichsam zur Ode in Prosa steigert:
Gloria a lui, quando crolla alcuna parte dell’antico edificio. E gloria a lui, quando si fabbrica alcuna parte del nuovo. In questo momento che scrivo, le campane suonano a distesa, e annunziano l’entrata degl’italiani a Roma. Il potere temporale crolla. E si grida viva all’unità d’Italia. Sia gloria al Machiavelli.
(Er sei gerühmt, wie ein Teil des alten Gebäudes zerbricht. Und er sei gerühmt, wie ein Teil des neuen entsteht. In diesem Moment meines Schreibens, läuten mit ganzer Kraft überall die Glocken und verkünden den Einmarsch der Italiener in Rom. Die weltliche Gewalt der Kirche zerbricht. Und man ruft: Es lebe die Einheit Italiens. Machiavelli sei gerühmt.)
Wie die Darstellung hier, als ihr ideelles Ziel sich auch realhistorisch verwirklicht, zur anaphorisch strukturierten Emphase der Prosa-Ode greift, bedient sie sich an den gleichsam entgegengesetzten Stellen der nationalen Stagnation im 16. und 17. Jahrhundert, zwischen den Phasen des Verfalls und der Wiedergeburt, immer wieder des Tons der Satire. Dabei läßt sich sowohl eine pathetische Satire in der Manier Juvenals als auch eine ironische Satire in der Manier des Horaz nachweisen. Juvenalsches Pathos setzt De Sanctis immer dann ein, wenn er die politisch-sozialen Verhältnisse anspricht, welche im Cinquecento Leos X. durch eine ‚unendliche Korruption‘ und eine ‚immense Leere‘ geprägt erscheinen. Eher im ironischen Register des Horaz bietet sich die Satire dann dar, wenn speziell vom literarischen Leben der Epoche, von den Autoren und ihren Werken, die Rede ist, wobei der Erzähler den Eindruck hohler Abundanz, den er erzeugen möchte, mit Vorliebe durch das Rhetoricum syndetischer und asyndetischer Reihungen suggeriert. Solche Reihungen – etwa von wenig bekannten Titeln oder Akademiegründungen – sollen im narrativ sinnträchtigen Gefüge des Textes offenkundig jeweils als ein Moment absurder Sinnlosigkeit wirken. Wo De Sanctis dagegen Sinn sehen und stiften will, da schafft er zwischen den Gestalten und Ereignissen seiner Storia eine Fülle textueller Ligaturen. Unter ihnen fallen besonders zwei Figuren auf. Die eine besteht aus der Goetheschen Devise eines ‚Stirb und werde‘, welche die historischen Phänomene jeweils als Symptome von Übergängen und als Bestandteile zielgerichteter Prozesse zu verstehen sucht: „Muore la scolastica, nasce la scienza“(zu Machiavelli); „La letteratura moriva, e nasceva la musica“. Die andere läuft auf die Formel eines „Noch nicht“ hinaus (z. B. im Falle von Petrarcas Laura: „Non ci è ancora l’individuo: ci è il genere“), einer Formel, die oft Anlaß zu der Frage gibt: „Che gli manca?“ – Was fehlt ihm noch?.
In extremer Dichte erscheinen solche teleologischen Verbindungslinien vor allem im letzten Abschnitt der Aufstiegsgeschichte. In ihr gibt es beispielsweise drei Protagonisten, die explizit zu ‚Dichtern des Übergangs‘ erklärt werden: „Metastasio, Goldoni e Passeroni erano della stessa pasta, idillici e puri letterati. Sono i tre poeti della transizione“. Wenn sie eine Übergangsrolle spielen, muß ihnen per definitionem etwas fehlen, und daher bleibt die Frage nicht aus: „Cosa manca a Goldoni?“. Die Antwort lautet: „[...] Mancò a lui quello che mancava da più secoli a tutti gl’italiani, e che rendeva insanabile la loro decadenza: la sincerità e la forza delle convinzioni“. Was dem „giuoco di forma“ fehlt, ist also ein Inhalt im emphatischen Sinn, weshalb das Urteil über die „poeti della transizione“ auf die Formel gebracht wird: „ci è il letterato, manca l’uomo“ (Es gibt Literaten, es fehlt ein Mensch). Dieser Befund „manca l’uomo“ organisiert dann den letzten Teil der Erzählung so stringent wie keinen Abschnitt zuvor. Und zwar dergestalt, daß mit den Autoren Parini, Alfieri und Foscolo nunmehr drei Gestalten auftreten, die jeweils eine andere Facette des ‚neuen Menschen‘ verkörpern, wie ihn das neue Italien verlangt. So gilt Parini als der „uomo nuovo in vecchia società“. Alfieri, der nächste im Regenerationsprozeß, wird präsentiert als „uomo nuovo in veste classica“ (der neue Mensch in klassischem Gewand), während sich mit Foscolo dem ‚neuen Menschen‘ schließlich auch der Bereich der bürgerlichen Innerlichkeit erschließt: „L’uomo nuovo s’integra“.
Nun habe ich die Italienische Literaturgeschichte von De Sanctis bisher etwas einseitig behandelt, da es mir darauf ankam, ihre narrative Struktur hervorzuheben, wie sie sich hier in einem jener geschichtsphilosophischen „métarécits“ manifestiert, an die wir laut Jean-François Lyotard nicht mehr zu glauben vermögen. Die Literaturgeschichte von De Sanctis gilt aber nicht zuletzt deshalb als das wohl vorzüglichste Exemplar ihrer Gattung im 19. Jahrhundert, weil sie über ihrem geschichtsphilosophischen Plot die Episoden der einzelnen Werke und Autoren nicht vergißt, d. h.: sie keineswegs mit robuster Energie auf das Emplotment hin stilisiert, sondern ihnen durchaus Raum für ihre jeweilige ästhetische Kontingenz läßt. Besonders deutlich zeigt sich diese Großzügigkeit etwa an der Darstellung Ariosts. Nach dem Plot müsste sein Werk ja Symptom der tiefsten nationalen Erniedrigung sein, ein Indiz für die Talsohle der Dekadenz; doch folgt dann ein überraschend nuanciertes und gerade ästhetisch ausgesprochen subtiles und verständnisvolles Porträt des Orlando furioso. Bemerkenswerterweise fällt es hier bei dem deklarierten Anti-Ästheten De Sanctis eben im Ästhetischen weit präziser aus als etwa später bei Croce, dem die „Estetica“ doch programmatisch über alles ging. Damit ist – wie ich meine – am Beispiel von De Sanctis ein praktikables Kriterium gegeben, das uns ein Urteil über die Ergiebigkeit von Literaturgeschichten nach Art des 19. Jahrhunderts gestattet. Ergiebig sind sie nämlich immer dann, wenn ihr Plot einerseits an den Einzelheiten plausibel gemacht werden kann und wenn er andererseits Widersprüche zuläßt. Das heißt: Erst wenn die literaturkritische Wahrnehmung im Einzelnen dem narrativ-geschichtsphilosophischen Plan des Ensembles partielle Resistenz leisten darf, gewinnt eine Literaturgeschichte dialektische Spannung, wie sie von (nicht einfach verdrängten) Widersprüchen des Allgemeinen und Besonderen auszugehen pflegt. Dabei sind es solche Widersprüche, oder besser: die offengehaltene Möglichkeit zu solchen Widersprüchen, welche das Genus der Literaturgeschichte im engeren Sinn eigentlich interessant machen. Denn in der Enzyklopädie, zumindest in deren alphabetisch geordneter Variante, spielt sich ja alles auf derselben Ebene ab, und die Möglichkeiten zur Reliefgebung bleiben demzufolge gering. Dagegen erlaubt die narrative Struktur der Literaturgeschichte einen Hintergrund zu entwerfen, vor dem die Texte, Autoren und Ereignisse im Vordergrund – wenigstens theoretisch – ein stärkeres Relief erlangen können: sei es durch Kongruenz mit den allgemeinen Entwicklungslinien, sei es durch flagrante Inkongruenz, die zum Motiv für weitergehende Reflexionen sowie einen Erkenntnisprozeß von stetigen Nuancierungen und Falsifikationen wird.
Wie schon gesagt, hat sich die klassische Literaturgeschichtsschreibung (Nisard, Taine, Brunetière, De Sanctis, Gervinus, Scherer) seit Beginn des 20.Jahrhunderts in verschiedene enzyklopädische Nachfolgeformen aufgelöst. Für diese Auflösung sind meines Erachtens ganz unterschiedliche, ja entgegengesetzte Motive anzuführen. Eines dieser Motive, und zwar das wissenschaftsgeschichtlich mächtigste, hängt mit einer idealistischen Hypostasierung des Ästhetischen zusammen, das wenigstens tendenziell in einer Sphäre jenseits von Raum, Zeit und Begriff angesiedelt wird, so daß es sich auch jeder historischen Darstellung entziehen muß. Am energischsten und wohl auch am folgenreichsten ist eine solche prinzipielle Trennung der poetischen Sprache von allen Formen geschichtlich spezifischer und gebundener Diskurse durch Benedetto Croce vertreten worden: mit sehr eigentümlichen Folgen, welche etwa der italienischen Literaturwissenschaft über Jahrzehnte hinweg einen Sondercharakter verliehen haben. Da für Croce das dichterisch Essentielle, die „poesia“, per definitionem als a-historisch und zugleich als a-konzeptuell, unbegrifflich, galt, konnte – und durfte – es nach diesem Postulat auf keinen Fall geschichtlich dargestellt und dadurch relativiert werden. An die Stelle der Literaturgeschichte hatte folglich die Kritik, die „critica“, zu treten, welche nun unermüdlich und immer wieder neu durch autoritative Intuitionen zu bestimmen hatte, was in einem Text „poesia“, ‚Dichtung‘, war und was bloße „letteratura“, ‚Literatur‘, blieb. Damit wurde die Instanz des Geschichtlichen gewissermaßen verschoben. Es gab nun keine Geschichte der Dichtung mehr, wohl aber eine Geschichte ihrer kritischen Rezeption, und so entstand dann eine typisch italienische bzw. typisch crocianische Tradition der Literaturgeschichte, die sogenannte „storia della critica“. Deren Protagonisten waren nicht mehr Dante oder Petrarca, sondern jeweils die historische Reihe der Dante- und Petrarca-Interpreten, wobei solche Geschichten vor allem referierten, daß Croce bei Dante in jenem Vers einen Funken von „poesia“ wahrgenommen hatte, Fubini aber in einem anderen Vers, usw. Im übrigen muß ich gestehen, daß ich die Epoche der „storia della critica“ in Italien stets ein wenig mit Nostalgie betrachtet habe, da sie dem Narzißmus des Interpreten ja über die Maßen schmeichelte; denn jetzt traten die kritischen Lektüren einzelner Autoritäten in den Mittelpunkt aller philologischen Aufmerksamkeit. Die Autoren selber wurden zwar noch heilig gehalten, aber eben durch ihre Kanonisierung auch neutralisiert. Da sie außerhalb der Geschichte standen, konnten die Leser und die ‚Kritiker‘ mit ihren ‚Lektüren‘ den Platz der Geschichte neu besetzen.
Zwar hat Croces Kunstphilosophie am intensivsten und am kompaktesten in Italien gewirkt; doch sind ihre Wirkungen auch im Bereich anderer Literaturen und anderer literaturwissenschaftlicher Traditionen nachzuweisen. Dabei denke ich an die Idealistische Neuphilologie eines Vossler oder Spitzer bis hin zu Emil Staiger im deutschen Sprachraum oder an den ‚New Criticism‘ in den Vereinigten Staaten. Ganz durch Croce bestimmt erscheint beispielsweise noch Wellek-Warrens einst vielgelesene Theory of Literature, vor allem René Welleks noch auf dem 5. Symposion von Poetik und Hermeneutik Anfang der siebziger Jahre verkündete Überzeugung vom „Fall of Literary History“. Sie gründet sich auf Croces Idee, daß ein Kunstwerk als ein Gefüge von Werten allein durch Kontemplation zu erfassen ist und deshalb durch keine geschichtlichen Kausalitäten – vor allem auch nicht intertextueller Art – angetastet werden darf: „A work of art [...] is not only a structure which may be analyzed descriptively. It is a totality of values which do not adhere to the structure but constitute its very nature. The values can be grasped only in an act of contemplation (Das wäre wörtlicher Croce). These values are created in a free act of the imagination irreducible to limiting conditions in sources, traditions, biographical and social circumstances“ (S. 438). Und Wellek schließt darauf seinen Beitrag mit dem Befund: „Croce and Ker are right. There is no progress, no development, no history of art except a history of writers, institutions and techniques. This is, at least for me, the end of an illusion, the fall of literary history“ (S. 439f.).
Im übrigen hat sich diese idealistische Tradition einer Hypostasierung des Ästhetischen zur Zeitlosigkeit in einer heterodoxen Seitenlinie bis zu Roland Barthes’ Alternative „Histoire ou littérature?“ durchgehalten, schließlich noch bis zu seiner kategorialen Distinktion von „texte lisible“ und „texte scriptible“. Diese Distinktion bezieht sich bei Barthes wohl auf einen anderen Typus von Poetik; doch funktioniert sie durchaus ähnlich wie Croces an einer klassisch-romantischen Poetik ausgerichtete Unterscheidung „poesia“ vs. „letteratura“. Das heißt: „Letteratura“ wie „textes lisibles“ existieren in überwältigender bzw. entmutigender Fülle, während der ideale Pol der Opposition – die „poesia“ bzw. der „texte scriptible“ – durch extreme Seltenheit ausgezeichnet ist, genaugenommen eigentlich bloß als Postulat bzw. bei Barthes als eine nie wirklich zu realisierende schriftstellerische Praxis vorkommt. So ist die spezifische Attitüde der durch solche Ästhetiken geprägten Autoren immer eine Attitüde der Suche und der Beschwörung, nie die sozusagen handgreiflich robuste des Historikers, der Bestände aufnimmt und gliedert. Beschworen werden entweder die „poesia“ (zu deutsch: Dichtung) oder die „écriture“ als etwas Heiliges, Seltenes und im Letzten Irreales, das zumindest der Geschichte und ihren Kontingenzen entzogen werden muß.
Daneben hat die Zurückweisung der Literaturgeschichte aber auch noch einen ganz anderen Grund. Erscheint Historiographie einerseits zu profan für das Heilige, so kann sie andererseits auch wieder zu sakral bzw. kulturgesättigt erscheinen, um dem Postulat einer Basisdemokratie aller Texte zu genügen. Dies zweite Motiv, das gegen die klassische Literaturgeschichtsschreibung wirkt, kommt sehr prägnant in einem Beitrag des französischen Sammelbands L’Histoire littéraire aujourd’hui (den ich eingangs erwähnt habe) zum Ausdruck: „Les littératures dites marginales ou les ‚contre-littératures‘“ von Bernard Mouralis. Mouralis setzt sich für etwas ein, was in der alten BRD „der erweiterte Kulturbegriff“ hieß; das heißt: er läuft Sturm gegen die Elite der kanonisierten Werke und möchte ihnen gegenüber das Volk der nicht-kanonisierten Texte emanzipieren. So steht am Beginn seines Plaidoyers der Befund: „Le temps n’est plus où 1’on se proposait pour l’essentiel de dresser une liste des ‚chefs-d’oeuvre‘ en essayant de les repartir selon une ligne diachronique, privilégiant la division par siècles. Rappelons pour mémoire les ouvrages, destinés à 1’enseignement secondaire, de Chevalier et Audiat, Lagarde et Michard, Aubry et Crouzet ou Castex et Surer“ (S. 32).
Was hier emanzipiert werden soll – gegen die literarhistorischen Manuale zum Schulgebrauch –, ist eine Fülle verschiedenartigster Texte: „littératures régionales“, „littératures populaires“, „littératures des pays autrefois colonisés et écrites dans la langue du colonisateur“ (S. 31), Gattungen der sogenanten Trivial- oder Paraliteratur (Kriminalroman, Photoroman, Comics), aber auch schlicht vergessene Autoren vergangener Epochen, schließlich noch Texte, denen wir kontinuierlich im Alltag begegnen: „annuaires, catalogues de vente par correspondance, prospectus, presse, textes publicitaires“ (S. 35). Wie man sieht, führt die Idee radikaler Text-Demokratie hier folgerichtig zum Ideal der „exhaustivité“, das auch mehrfach explizit postuliert wird. Eine solche Exhaustivität widerstrebt aber von vornherein jeglicher narrativ-historiographischer Entfaltung und läßt allein die Formel der alphabetisch geordneten, d. h. möglichst wertneutralen Enzyklopädie zu: „la formule du ‚dictionnaire‘“ (S. 34). Dazu sagt der Autor Folgendes: „[...] l’ordre alphabétique, en raison même de son arbitraire, rend plus difficile 1’affirmation des valeurs et des hiérarchies consacrées. Il tend à mettre toutes les données retenues sur un même plan: Fanon est précédé de Noël du Fail et suivi des Fantaisistes… En outre, par le type de rapport au livre – et par conséquent de lecture – qu’il implique, le dictionnaire ne favorise guère le développement d’une conception finaliste de l’histoire littéraire. Il invite plutôt le lecteur à prendre en considération des ‚phénomènes‘ ou des ‚fonctions‘ littéraires et l’ordre alphabétique pourra peut-être alors être perçu comme l’affirmation d’un refus ou d’une impossibilité de l’histoire littéraire“ [1] (S. 34). Wenn man das zusammenfaßt, laufen diese Empfehlungen auf zwei wesentliche Gesichtspunkte hinaus. Die alphabetisch geordnete Enzyklopädie bietet sich als bestmögliches Vermittlungsprinzip für das literarische Wissen an, weil sie erstens keine Werthierarchien kennt (Alles wird auf ein und derselben Ebene nivelliert), und weil sie zweitens jeglicher teleologisch finalisierenden Geschichtssicht aus dem Wege geht (Wenn man die hier implizierte Tendenz weiter verfolgt, müßte man im übrigen auch darauf Wert legen, Querverbindungen und Verweise zwischen den Stichwörtern zu minimalisieren, da durch solche Verweise ja immer Elemente von Sinn, Zusammenhang und eben Teleologie geschaffen werden).
Demnach könnte man sagen, daß die klassische Literaturgeschichtsschreibung im Verlauf des 20. Jahrhunderts aus zwei eher konträren als komplementären Motiven disqualifiziert worden ist. Zunächst wegen ihrer Profanität, welche dazu tendiert, das Transzendente bzw. Allgegenwärtige des Kunstwerks in den Staub der Geschichte und ihrer unendlichen Differenzen hinabzuziehen. Dann wegen ihrer Sakralität, das heißt: wegen der Reliefgebung, der Hierarchisierung und der narrativen Ordnung von Ereignissen (Texten), welche mit jeder historiographischen Darstellung unweigerlich verbunden ist. Beide Motive haben zwar nicht zusammengewirkt, aber sie sind aufeinander gefolgt und haben durchaus machtvolle Konsequenzen gehabt. Deren Resultat besteht vielleicht darin, daß die Literaturgeschichte des ‚klassischen‘ Typs heute als eine Art literaturwissenschaftlicher Trivialgattung erscheint, allenfalls wie der Lagarde-Michard oder der Castex-Surer für die Schule geeignet, und daß viele Literaturgeschichten, welche sich so nennen, im Vergleich zu Nisard, De Sanctis oder Taine im Grunde eben keine Geschichten mehr sind, sondern verkappte Enzyklopädien. Trotzdem ist gar nicht zu leugnen, daß es immer noch auf Seiten des Leserpublikums ein nach wie vor ungestilltes Bedürfnis nach Literaturgeschichtsschreibung gibt. Bei allen Einwänden, welche sich im Laufe des 20. Jahrhunderts akkumuliert haben, erscheint bemerkenswert allein schon die schlichte Zahl von literaturwissenschaftlichen Darstellungen, die sich als Literaturgeschichten etikettieren: viele sind – wie gesagt – verkappte Enzyklopädien mit einem Teamwork von Mitarbeitern, und viele andere sind – trotz historiographischer Exposition des Materials – wohl lediglich als eine Art Literaturpropädeutik gedacht. Indessen existiert die Literaturhistoriographie auch auf einem anspruchsvolleren Niveau fort, und zwar in der Form – häufig fragmentarisierter – Partialgeschichten.
Wie dieser Wandel aussehen kann, zeigt am besten das ehrgeizige Unternehmen einer deklarierten Literaturenzyklopädie: die seit 1982 von Alberto Asor Rosa herausgegebene Letteratura italiana Einaudi. Sie setzt sich bewußt vom Modell der Storia della letteratura italiana von De Sanctis ab, wie Asor Rosa in seiner Einleitung zum ersten Band der Enzyklopädie klarmacht (vgl. „Letteratura, testo, società“, in: Il letterato e le istituzioni, Torino 1982, S. 5–29). Gegen dies Modell, das ich ja ausführlich beschrieben habe, führt Asor Rosa vor allem zwei Einwände ins Feld, die freilich speziell mit den italienischen Literaturverhältnissen zu tun haben. Zum ersten betont er, daß die italienische Literatur nicht mit der politischen, gesellschaftlichen und moralischen Geschichte der italienischen Nation assoziiert werden kann. Und zum zweiten hält er fest, daß aus einer Epoche moralischer Vorbildlichkeit nicht notwendig auch eine große Literatur hervorgehen muß (Im Originaltext ist das etwas vage formuliert: „Non necessariamente la grande letteratura nasce da una grande vita morale“). Bezogen ist diese Feststellung, die auf den ersten Blick ein wenig trivial, ja selbstverständlich erscheinen mag, auf die besondere Verlaufsform der italienischen Literatur, die ihr größtes europäisches Prestige und ihre größte Ausstrahlung ja zwischen Trecento und Seicento in einer Phase des nationalpolitischen Niedergangs und der Lethargie besaß, während die für De Sanctis normgebende Entwicklung der nationalpolitischen Wiedergeburt seit dem Settecento nie mehr ein ähnliches kulturelles Prestige erreichte.
Demnach sieht Asor Rosa davon ab, die italienische Literatur noch einmal als den Ablauf einer spezifischen nationalen (Literatur) Geschichte vorzustellen, und an die Stelle des alten Modells Storia della letteratura italiana tritt eben die vielbändige und nunmehr systematisch (nicht alphabetisch) geordnete Enzyklopädie der Letteratura italiana. Nun ist aber zu beobachten, daß die Einzelteile dieser Enzyklopädie in gewissem Sinn jenes Maß an Narrativität rekuperieren, das aus dem Gesamtplan der Enzyklopädie eliminiert worden ist. Das heißt: Wir haben nicht mehr eine Geschichte der italienischen Literatur, sondern eine Pluralität von Narrationen, sozusagen metonymische Geschichten der italienischen Literatur, welche sich als Geschichten von Institutionen, Gattungen, Kunstformen oder Wissenschaftstechniken entfalten. Bemerkenswerterweise stehen am Ende der Enzyklopädie dann in der Tat auch wieder deklarierte Literaturgeschichten, die aber nicht von der italienischen Nation, sondern von den Regionen und ihren verschiedenen Sprachen ausgehen (also venezianische, neapolitanische, lombardische Literatur undsofort). Da die Beiträge beispielsweise venezianischer Literaten zur italienischen Literatur aber immer nur sporadisch in venezianischer Sprache verfaßt wurden, die Beiträge Mailänder Literaten immer nur sporadisch auf Mailändisch bzw. Lombardisch, erhalten diese regionalen Literaturgeschichten einen weithin fragmentarisch enumerativen Charakter und wirken manchmal bewußt inkohärent, so als hätte man hier bei der Literaturgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts (der alten „Literärgeschichte“) wiederanknüpfen wollen. Trotzdem ergibt sich solcherart natürlich eine stark verfremdende Perspektive auf die italienische Literatur: eine Perspektive, die einerseits in der Tradition des italienischen Literaturhistorikers Carlo Dionisotti steht (der schon in den fünfziger Jahren für eine ‚geografie‘ der italienischen Literatur plädierte), und die andererseits einem Philosophen wie Lyotard gefallen müßte (obwohl hier – soweit ich sehe – kaum ein direkter geistesgeschichtlicher Zusammenhang besteht).
Die literarhistorische Option, die in Asor Rosas Letteratura italiana zum Ausdruck kommt, läßt sich im übrigen in vielen ähnlichen Unternehmungen neueren Datums beobachten. So sind mir selbst in einer alphabetisch geordneten Enzyklopädie wie dem soeben erschienenen ersten Band des „Historischen Wörterbuchs der Rhetorik“ (A-Bib, Hrsg. Gerd Ueding) verschiedene Artikel aufgefallen, welche durchaus den Charakter von Partial-Literaturgeschichten in nuce haben und dann auch gelegentlich einen energisch strukturierten Plot à la De Sanctis aufweisen. Ein gutes und – wie ich finde –schönes Beispiel dafür ist etwa der Artikel „Argumentation“ in diesem Lexikon (Vf. Ekkehard Eggs; Umfang über 80 Seiten). Gegenstand des Artikels ist in der Tat eine narrativ durchgegliederte Geschichte des Argumentationsaspekts der Rhetorik von Aristoteles bis Chaim Perelman, deren Plot von weitem an den der Storia della letteratura italiana von De Sanctis erinnert. Zunächst erfahren wir, wie die Topik bei Aristoteles als eine Argumentationslehre ernstgenommen wird, um darauf seit der Renaissance und insbesondere seit Descartes zu zerfallen, da sie offenkundig in geringerem Maß szientifizierbar erscheint als die beiden anderen Komponenten des Triviums, die Grammatik und die Dialektik alias Logik. Wir erleben also den Triumph der Grammatik (à la Port-Royal) und der Logik, durch den die Argumentationstopik immer mehr ins wissenschaftliche Abseits gerät, bis schließlich im 20. Jahrhundert der Mythos des Szientismus seine bannende Kraft verliert und auch der Argumentationslehre (siehe Perelman und siehe Habermas) neue Chancen gewährt.
Durch diese beiden Beispiele, die das Fortleben von Historiographie im Rahmen einer übergeordneten enzyklopädischen Struktur zeigen, wird deutlich, daß solche Literaturgeschichten die alte National-Literaturgeschichte sowohl in der Richtung des Supra-Nationalen (Europäischen) als auch in die Richtung des Sub-Nationalen (Regionalen) ersetzen können. Dabei folgt aus der Partialisierung der Gegenstandsbereiche keineswegs, daß solche Literaturgeschichten auch auf einen narrativen Plot verzichten (wie man das nach der langjährigen Tabuisierung des Narrativen aus dem Bereich von Wissenschaft meinen könnte). Eher habe ich den Eindruck, daß ein Plot, besser: die Strukturierung nach Art eines Plot oder einer Minimal-Sequenz allegorischer Narration, sich immer dann aufdrängt, wenn ein dichtes, in evident fassbaren Traditionen geordnetes Material vorliegt. Dagegen fehlen Ansätze zum historiographischen Plot, wenn das Material – wie bei der Literaturgeschichte der italienischen Regionen – diskontinuierlich erscheint. Im übrigen bin ich selber geneigt, solche Plot-Strukturen literarhistorischer Erzählungen (seien es nun große oder kleine) durchaus zu begrüßen. Sie weisen nämlich auf Regelmäßigkeiten und Großtendenzen hin, mit denen wir gerade auch dann umgehen müssen, wenn wir das Einzelne beschreiben wollen (dem Plot gegenüber als Ausnahme oder als Falsifikation).
Dabei ist der Begriff „Falsifikation“ an dieser Stelle natürlich nicht exakt. Wie bei allen Fragen historiographischer Gliederung, vor allem bei Periodisierungsentscheidungen, geht es nicht um die Kriterien ‚Wahr‘-‚Falsch‘, sondern um den Code ‚Praktisch‘-‚Unpraktisch‘ bzw. ‚Anschlußfähig‘-‚Borniert‘. Oder wie ein hinlänglich distanzierter Theoretiker des Post-Modernism (Brian Mc Hale) formuliert: „But if all our stories [...] are fictions, if all our categories are constructions, this does not mean that they are all equally good stories, equally sound constructions. It makes a difference which story or variant we choose to tell, and there are criteria for preferring certain stories or variants over others“. Solche Kriterien, um eine ‚gute‘ Geschichte – mangels eines ‚Wahrheits‘-Kriteriums – zu beurteilen, wären nach Brian Mc Hale etwa: „internal consistency or coherence; appropriateness of scope; richness of interconnections; fineness of detail; and productivity, a story’s capacity to generate other stories, to stimulate lively conversation, to keep the discursive ball rolling“ (S. 21).
In diesem Sinne meine ich, daß es weniger darauf ankommt, Narrativität in der Vermittlung von literarhistorischem Wissen strikt szientifisch zu eliminieren oder sie – koste es, was es wolle – zu restaurieren, sondern poetologisch über die Art ihrer Verwendung nachzudenken. Wofür ich plädieren möchte, wäre so etwas wie eine Poetik (oder auch Poietik) der Literaturgeschichte (Literaturwissenschaft): also das Element, der Aspekt, der in der berühmten Methodendiskussion der siebziger Jahre mit fanatischer Hartnäckigkeit verdrängt worden ist. Gemeint ist das Bewußtsein, ein notwendiges Bewußtsein, daß alle unsere methodologischen und epistemologischen Entscheidungen auch von dem Typ des Textes abhängig sind, den wir jeweils zu schreiben gedenken. Daß ein bestimmter Texttyp aus bestimmten Begründungstexten hervorgeht, die uns bestimmen, oder umgekehrt: daß wir nach bestimmten Begründungs-, Legitimationstexten auch suchen, um die Absicht bestimmter eigener Texte rechtfertigen zu können. Ein möglicher Texttyp ist meines Erachtens indessen immer noch derjenige einer Literaturgeschichte sensu strictiori, wie sie immer noch im Rahmen einer Nationalkultur erzählt werden kann. Ganz unvorhersehbar gibt es dafür manchmal überraschende Beispiele, eines der bemerkenswertesten stammt von einem großen Ex-Siegener, Hans Ulrich Gumbrecht, und heißt bezeichnenderweise: Eine Geschichte der spanischen Literatur.
In diesem Falle erscheint mir der unbestimmte Artikel der Titelformulierung symptomatisch. Zum einen soll er – wohl in erster Linie – auf den Umstand hinweisen, daß diese Literaturgeschichte eine unter verschiedenen möglichen der spanischen Literatur darstellt (so jedenfalls äußert sich der Autor im Vorwort). Zum anderen läßt sich der unbestimmte Artikel aber auch quasi als Adjektiv lesen und dann kommt ihm offensichtlich eine stärkere Bedeutung zu: eine Geschichte würde dann heißen, daß hier eine Geschichte eines Verfassers in eben einem Buch vorgelegt wird, was die Geschichte vom neueren Typus der Kollektiv-Geschichten bzw. Kollektiv-Enzyklopädien mit Nachdruck unterscheidet.
Tatsächlich fällt ja auf, daß Gumbrechts Geschichte der spanischen Literatur strukturell insofern an die Tradition eines De Sanctis anschließt, als auch sie über einen – freilich skeptischer präsentierten – Plot verfügt. Wo sich bei De Sanctis „forma“ und „contenuto“ bald begegneten und bald auseinanderlebten, da entwickelt sich auch Gumbrechts Erzählung um das problematische Verhältnis von zwei Sinnfiguren, deren eine „Subjektivität“ und deren andere „kosmologisch fundiertes Weltbild“ heißt. Der Plot, der sich hieraus ergibt, kann um so leichter resümiert werden, als er in der Großerzählung der Inhaltsübersicht dem gesamten Buch vorangestellt ist. Danach kommt es in Spanien einerseits zu „besonders früh subjektzentrierten Rollen der Sinnbildung“ (S. 23), denen andererseits ein besonders fest gegründetes „kosmologisches Ordnungsdenken“ entgegensteht. So wird über die Epoche des frühen 16. Jahrhunderts auf der Ebene des „métarécit“ gesagt: „Zwischen der zu erhaltenden christlichen Kosmologie und der bereits entfalteten Subjektivität aber lud sich eine Spannung in den Strukturen des Alltags auf, aus deren Verdichtung die spanische Literatur des ‚Goldenen Zeitalters‘ entstehen sollte.“ (24).
Nun macht es aber die Besonderheit der spanischen Entwicklung, wie sie von Gumbrechts Geschichte nacherzählt wird, aus, daß diese Spannung zwischen „Subjektivität“ und „kosmologischem Weltbild“ alias „Individualität“ und „Gesellschaft“ in ihr nicht wirklich ausgetragen wird, jedenfalls nicht bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Gelöst wird sie – das ist die Hauptthese des Métarécit – durch Arrangements „wechselseitiger Ausblendung“ (S. 18). Das folgenreichste solcher Arrangements vollzieht sich im Zeitalter des spanischen Barock, wo die „wechselseitige Ausblendung“ zur „Entwirklichung alltäglicher [...] Welten“ und zur „Ontologisierung imaginärer Welten“ führt (vgl. S. 25). Diese „Entwirklichung“ zieht sich – wie ausdrücklich festgehalten wird (S. 18) – „über Jahrhunderte“ hin und bestimmt noch die Lage eines Nebeneinanders von „zwei Spanien“ im 19. Jahrhundert. Ich zitiere: „Doch die Leiden des Individuums erschienen gemildert durch ein literarisches Jenseits, das alle Spannungen zwischen Norm und Bedürfnis neutralisierte. Dieselbe Weltbild-Harmonie konstituierte aber auch eine Grenze für die politische Liberalisierung, an der in den siebziger Jahren des XIX. Jahrhunderts die erste spanische Republik scheiterte“ (S. 26). So wird der Leser noch im Abschnitt über Claríns La Regenta an das Hauptthema der Erzählung erinnert: „Wir spielen an auf den Gestus ‚individueller Entwirklichung gesellschaftlicher Wirklichkeit‘, dessen Habitualisierung und dessen verschiedene Ausprägungen seit der Mitte des XVI. Jahrhunderts wir in den vorausgegangenen Kapiteln immer wieder thematisiert haben“ (S. 754). Und noch zu einem Essay des „unvermeidlichen“ Pedro Laín Entralgo meint der Erzähler: „Auch dieser Aufruf zur Konvergenz des Verschiedenen implizierte die Beobachtung, daß es den Spaniern noch an jener Toleranz mangelte, mittels derer (dies jedenfalls war der historische Traum des Bürgertums gewesen) die Instanzen ‚Individualität‘ und ‚Gesellschaft‘ in ein produktives Spannungsverhältnis gebracht werden könnten“ (S. 1040). Gelöst wird die spanische Dauerkrise erst durch einen „säkularen Einstellungswandel“, dessen Resultate „nach Francos Tod im Jahr 1975“ sichtbar wurden: „In Jahrzehnten ‚ohne Ereignisse‘ hatte sich ein säkularer Einstellungs-Wandel vollzogen: Auch in Spanien waren nun Individualität und Gesellschaft in ein Verhältnis produktiver Spannung getreten“ (S. 28).
Die Zitate, die ich hier pars pro toto aneinandergereiht habe, sind keineswegs als Kritik gedacht. Sie wollen lediglich auf den Plot bzw. Métarécit, die große allegorische Erzählung, aufmerksam machen, welche Einer Geschichte der spanischen Literatur zugrunde liegt. Mit einem solchen Plot setzt der Verfasser einen narrativen Usus fort, der zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Literaturgeschichte wohl kaum noch den Rang einer wirklichen Tradition behauptete und jedenfalls weit ins 19. Jahrhundert, eben in die Glanz- und Blütezeit der Literaturgeschichtsschreibung, zurückreicht. Demnach könnten wir hier mit großem Recht von einer ‚postmodernen‘ Literaturgeschichtsschreibung sprechen, welche – im Sinne Nietzsches – Verfahren und Anschauungen zurückholt, die prononciert unzeitgemäß geworden waren. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Hegelsche Atmosphäre, welche sich gegen Ende des Buches einstellt, eine Stimmung, in der die Eule der Minerva zum Flug anzusetzen scheint. Für ihre Normalisierung – den Umstand, daß nun auch in Spanien „Individualität“ und „Gesellschaft“ in ein „Verhältnis produktiver Spannung“ getreten sind – bezahlt die spanische Literatur nämlich den Preis, daß sie dadurch eben als unterscheidbar spanische zuende gehen muß. Überdies wird ihr Eintritt in die okzidentale Normalität begleitet und sozusagen besiegelt von dem, was der Verfasser – erneut mit einem Hegelianischen Gestus – den „Tod der Literatur“ nennt. Damit erhält die Narration einen ausgesprochen starken Schlußakkord, der gleichsam die Konklusionen von De Sanctis und Nisard (über die ich gesprochen habe) ineins setzt. Das heißt: wir begegnen einem Aufstieg im Sinne der ‚Zivilgesellschaft‘, einem Parcours, der die spanische Literatur zur Normalität führt, welche Glück, aber auch Unscheinbarkeit in petto hält. Zugleich bedeutet dies unscheinbare Glück aber auch ein Hegelsches Ende der Kunst, den Tod der Literatur im emphatischen Verständnis und den Verlust einer spanischen Spezifizität.
Damit ein solcher Geschichtseffekt zustande kommt, verlangt die Erzählung vom beziehungslosen Nebeneinander der Subjektivität und der christlichen Kosmologie, welche erst spät zu einer produktiven Spannungsbeziehung findet, eine bewußte Konzentration auf den Bereich des sozusagen Kern-Spanischen (in Analogie zum „Kern-Deutschen“ gebildet). Daß die spanische Literaturgeschichte, wie Gumbrecht sie präsentiert, sich als eine hochgradig kastilische Literaturgeschichte versteht, kündigt bereits das Vorwort an (S. 16f.). Nur unter dieser Prämisse können nämlich die Konturen ihres Plot plausibel bzw. anschlußfähig bleiben. Damit postiert sich die Gumbrechtsche Literaturgeschichte idealtypisch in der äußersten Gegenposition zu den Regionalgeschichten, durch die Asor Rosa in seiner Letteratura Italiana das Historische an der italienischen Literatur in einer Proliferation von fragmentierten Mikrogeschichten zu fassen sucht. Das Mikrogeschichtliche verläuft bei Gumbrecht dagegen weniger neben dem strukturierenden Métarécit als vielmehr unterhalb des Niveaus der umfassenden Erzählfügung. Gemeint sind damit die zahllosen, oft anekdotenhaft zugespitzten Anekdoten, in denen es immer wieder um Todesfälle, Körperlichkeit und körperliche wie intellektuelle Stilisierungen geht. Wie diese kleinen Ereignisse unterhalb des Niveaus des großen mentalitätsgeschichtlichen Plot erzählt werden und wie sie – mit den verschiedensten, orthodoxen wie heterodoxen Mitteln der Hermeneutik – mit dem oberen Niveau der narrativen Großfigur immer wieder neu verflochten werden, macht im übrigen das größte Lesevergnügen dieser Literaturgeschichte aus. Tatsächlich ist sie aufs neue, was Literaturgeschichten im 19. Jahrhundert häufig waren, aber dann lange nicht mehr zu sein wagten: ein Roman einer Nationalliteratur, erzählt mit neuen Begriffen und neuen Diskursen, aber durch Mittel narrativer Verknüpfung, die ihr paradoxes Novum eben darin besitzen, daß sie an wissenschaftlich Verdrängtes und Vergessenes anschließen.
1 Übersetzung USB (handschriftliche Ergänzung; Anm. d. Hg.): ‚Die alphabetische Ordnung macht gerade wegen ihres arbiträren Charakters die Bestätigung etablierter Werte u.[nd] Hierarchien schwieriger. Sie tendiert dazu, alle Daten auf dem gleichen Niveau zu vereinen: (Frantz) Fanon folgt auf Noël du Fail und steht vor den ‚Fantaisistes‘ (den Clowns)… Außerdem begünstigt das Lexikon – durch den (konsultierenden) Gebrauch, den man von ihm als Buch macht – kaum die Entwicklung einer ‚finalistischen‘ (teleologischen) Sicht der Lit.[eratur]gesch.[ichte]. Es lädt vielmehr dazu ein, literarische ‚Phänomene‘ oder ‚Funktionen‘ in Betracht zu ziehen, und so kann die alphabet[ische] Ordnung wohl als Ausdruck einer Verweigerung oder einer Unmöglichkeit der Lit.[eratur]gesch.[ichte] gesehen werden.‘
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