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Quelle: Romanistisches Jahrbuch 43, 1992, S. 318–335.

Verrätselung und Ambivalenz

Funktionen des Kriminalroman-Schemas bei Mario Vargas Llosa (insbesondere in La ciudad y los perros)

Mit ¿Quién mató a Palomino Molero? hat Mario Vargas Llosa 1986 einen Roman veröffentlicht, der bereits durch seinen Titel zu verstehen gibt, daß er dem Whodunit-Typusdes klassischen Detektivromans angehört oder zumindest nahesteht. Es gibt in diesem Roman zwei Detektive – den ‚Scharfsinnshelden‘ Silva und seinen ‚Watson’, die eher naiv bewundernde Reflektor-Gestalt Lituma – und ein Mordrätsel, das die Detektive auch zu lösen wissen, obwohl sie auf beträchtliche institutionelle Widerstände stoßen. Dabei sorgen die Widerstände dafür, daß die Erzählung am Ende eine zur Gesellschaftskritik provozierende Wendung nimmt, wie man sie in ähnlicher Form aus Leonardo Sciascias Mafia-Romanen kennt [1] . Zum einen erhalten die beiden Polizisten von den Autoritäten keinen Dank, sondem eine Maßregelung: Sie werden zur Strafe für ihre Aufklärungsarbeit in die unwirtlichste Andenprovinz („a un puestecito medio fantasma, en el departamento de Junín“) versetzt [2] . Zum anderen ist aber auch die Bevölkerung nicht bereit, dem Ergebnis der Aufklärung Glauben zu schenken, und so muß der Leser erleben, wie die – ohnehin prekäre – Wahrheit zum Schluß durch eine Lawine lokaler Mythen und landesüblicher idées reçues gleichsam verschüttet wird.
Trotz seiner offen deklarierten Genrehaftigkeit erlaubt der Roman mannigfache Assoziationen mit den größeren und gewichtigeren Werken seines Autors [3] . Zum Beispiel ist der gutwillige „guardia“ Lituma dem Leser schon aus La casa verde vertraut, was zur Folge hat, daß ¿Quién mató a Palomino Molero? gelegentlich wie eine Nebenepisode des (im übrigen weit anspruchsvolleren) früheren Romans wirkt [4] . Daneben existieren auffällige Züge thematischer Gemeinsamkeit, welche zu anderen Texten Vargas Llosas zurückführen. Wie in La casa verde oder Conversación en la Catedral geht es auch bei der Kriminalaffäre in einer im Norden Perus gelegenen Luftwaffenbasis um Konflikte, die aus Klassen- und Rassenunterschieden entspringen, und eine zentrale Rolle spielt hier wie in La ciudad y los perros der gewissermaßen außergesetzliche Sonderstatus, den die peruanische Armee als ein Staat im Staate beansprucht. Das vielleicht wichtigste Verbindungsglied stellt indes – auf den ersten Blick überraschend – die Romanform selbst dar. Wenn Vargas Llosa nunmehr ohne weitere Umstände das prominenteste Genus moderner Unterhaltungsliteratur adaptiert, dann hat diese Übernahme offenkundig mit seiner Abneigung gegen die asketische Prosa einer kunstautonomen Avantgarde zu tun. Solche avantgardistische Prosa – zumal des Nouveau Roman und mehr noch des Nouveau Nouveau Roman – pflegt Vargas ja seit langem als eine „literatura de catacumbas, experimental y esotérica“ zurückzuweisen [5] , um statt dessen für eine Erzählpraxis zu plädieren, welche die Kommunikation mit breiteren Leserschichten sucht. Ausdrücklich, ja mit Lust sind dafür auch kräftigere Effekte vorgesehen: Spannungsmomente wie im Feuilletonroman, melodramatische Konstellationen und ein Gran Pornographie. Jedenfalls hat der Autor in einer bemerkenswert scharfsichtigen Flaubert-Studie einmal eingeräumt, daß ihn an Madame Bovary nicht zuletzt die „materiales melodramáticos“, die „coincidencias folletinescas“ sowie die „dosificación y distribución de lo erótico“ („en ningún otro tema es tan patente la maestra de Flaubert“) faszinieren [6] .
Zum Repertoire dieser Effekte, die einerseits das Interesse des Lesers gewinnen und festhalten, andererseits aber auch der Totalisierungsambition von Vargas Llosas „fijación realista“ dienen sollen [7] , zählen nun ganz wesentlich typische Elemente des Kriminalromans. In ¿Quién mató a Palomino Molero? haben sie sich – wenn man so will – zur Gattungseindeutigkeit verselbständigt, während sie in früheren Romanen als Bestandteil jeweils komplexerer Erzählprojekte präsent waren. Dabei kann man beobachten, daß ihre Präsenz wohl die angestrebten melodramatischen Wirkungen befördert, jedoch darüber hinaus auch subtilere Funktionen erfüllt. Was es mit den letzteren auf sich hat, soll im folgenden an drei Beispielen gezeigt werden, und zwar im chronologischen Rückgang vom eindeutigen Kriminalroman des Jahres 1986 zu den komplizierter strukturierten Romanen der sechziger Jahre. Zwei Beispiele – Historia de Mayta und Conversación en la Catedral – möchte ich unter dem Aspekt des in diesen Texten verwendeten Kriminalroman-Schemas zunächst eher skizzenartig behandeln, um darauf das dritte – La ciudad y los perros, wodas Schema erstmals (und mit besonders raffiniertem Kalkül) eingesetzt wird – etwas detaillierter zu untersuchen.
Die 1984, also zwei Jahre vor ¿Quién mató a Palomino Molero? publizierte Historia de Mayta hat vom Kriminalroman vor allem das Element der detektivischen Enquête übernommen [8] . In einer Tradition, die an Poes The Mystery of Marie Rogêt oder Sciascias L’affaire Moro anknüpft, nimmt sich die Detektion hier ein – wenngleich marginales – realhistorisches Ereignis vor: einen kläglich gescheiterten Revolutionsversuch, der 1962 in der kleinen Andenstadt Jauja stattfand und von Vargas Llosa nun kraft der „verdad de las mentiras“ auf das Jahr 1958 umdatiert wird [9] . Seinerzeit blieb dies Ereignis folgenlos und weitgehend unbeachtet; doch ist leicht einzusehen, daß es in der Epoche des Sendero luminoso ein neues und tieferes Interesse gewinnen kann. Vor dem Horizont späterer Entwicklungen gesehen, empfängt die einst rasch vergessene Episode den Sinn des prägnanten Vorzeichens, das jetzt aufschlußreich genug erscheint, um die Anstrengungen einer teils zeitgeschichtlichen, teils literarisch-fiktionalen Rekonstruktion zu rechtfertigen [10] .
Dabei ist für die Anlage des Buchs der Umstand charakteristisch, daß die literarisch-fiktionale Komponente der Rekonstruktion erst am Ende manifest gemacht wird. Dort stellt sich insbesondere heraus, daß das Hic et Nunc des Ich-Erzählers, der bei dieser Affäre als Detektiv und Romancier agiert, nicht im gegenwärtigen Peru zu situieren ist. Der Erzähler befindet sich vielmehr in einem zukünftigen, sozusagen anti-utopischen Peru, das von der Apokalypse des Bürgerkriegs und der Aggression fremder, imperialer Mächte heimgesucht wird. Derart schildert die Erzählung Geschehnisse, welche die Genese des Sendero luminoso deuten sollen, aus einer Perspektive, die eine der möglichen Konsequenzen des Sendero luminoso zur Voraussetzung hat. Solange diese perspektivische Verschiebung nicht offenbar geworden ist [11] , muß der Leser jedoch den Eindruck bekommen, daß die Rekonstruktion, wie sie die Historia de Mayta vollzieht, ganz und gar auf die Fortschritte einer authentischen Investigation zurückgeht.
Allerdings hat es mit dieser Investigation, auch wenn man sie noch für authentisch hält, eine eigentümliche Bewandtnis. Das zentrale Moment der Romanstruktur besteht nämlich darin, daß der Gang der Investigation auf einer scheinbar präsentischen (und in Wahrheit futurischen) Zeitebene den Gang der rekonstruierten Handlung auf der Zeitebene der späten fünfziger Jahre nicht nur hervorbringt und begleitet, sondern sich mit ihm immer wieder interferierend vermischt. Aus solchen Interferenzen beziehen die Gespräche, die der Ich-Erzähler – quasi als ein Phil Marlowe zeitgeschichtlicher Forschung – mit zahlreichen Zeitzeugen führt, einen höchst dramatischen Charakter. Für ihn gilt, daß sich die Suspense-Effekte der Interviews um so mehr steigern, je kurzfristiger und abrupter die Zeitebenen zwischen der rekonstruierten Handlung und dem Rekonstruktionsvorgang alternieren [12] . Gerade bei den Übergängen von der einen zur anderen Ebene, die sich häufig als scharfe filmische Schnitte innerhalb eines Absatzes, ja innerhalb eines Satzes ereignen, ist es Vargas Llosa offensichtlich um verblüffende Pointenwirkungen zu tun. Sie bestehen oft aus der Offenbarung eklatanter Analogie- oder Konstrast-Verhältnisse, und manchmal wird die Pointe auch – wie im Finale eines Detektivromans – durch die Enthüllung unvorhersehbarer Identitäten ausgelöst. So ist es eine Überraschung, wenn im zweiten Kapitel der Gesprächspartner Moisés Barbi Leyva, die „espina dorsal“ des von den USA bestimmten „Centro Acción para el Desarrollo“, sich unversehens als identisch mit Maytas ehemaligem trotzkistischen ‚Genossen Medardo‘ erweist [13] . Womöglich noch überraschender wirkt die Identitätspointe des vierten Kapitels. Sie kommt dadurch zustande, daß die Gestalt des ‚Genossen Anatolio‘ in eben dem Moment mit jener des – gegenüber Mayta unversöhnlichen und von tiefer Ranküne erfüllten – Senators Campos verschmilzt, als berichtet wird, wie der junge Anatolio Campos einst schüchtern auf Maytas homosexuelle Avancen einging [14] .
Natürlich haben diese und ähnliche erzählerische Arrangements, die durch die Überlagerung der Zeitebenen gewonnen werden, in erster Linie mit dem Eklat der „coincidencias folletinescas“ zu tun, welche Vargas Llosa in La orgía perpetua so überzeugend zu rühmen wußte. Indessen erzeugen sie jenseits ihres romanesken Knalleffekts noch eine andere und tiefer beunruhigende Wirkung. Es ist das der Eindruck der Gegenwart einer gespenstisch lebendigen Vergangenheit, die beständig in die aktuelle Reportage der Interviews eindringt, ohne daß der bewußt unregelmäßige Rhythmus der Zeitwechsel gestatten würde, den jeweiligen Schnittpunkt vorauszuahnen. Aus dieser Technik des unvorhersehbaren Alternierens erwächst vor allem eine merkwürdige Annäherung an die Gedanken- und Gefühlswelt der Hauptgestalt Mayta. Sie wird insbesondere dann zur Einfühlung, wenn die Wahrnehmungen Maytas wie zumal im sechsten oder siebten Kapitel bald in der Er-Form des style indirect libre, bald in der Ich-Form des monologue intérieur erscheinen; das heißt: wenn durch die jähe Folge solcher Schnitte für den Leser die Möglichkeit, ja die Unvermeidlichkeit gegeben ist, das Ich Maytas mit dem Ich des Erzählers wenigstens momentan zu verwechseln [15] .
Demnach sorgt die Erzählstruktur mit ihren Verrätselungen und Pointierungen hier unter anderem dafür, daß sich die Distanz und Fremdheit des Lesers gegenüber der Gestalt des einsamen Revolutionärs bis zu einem gewissen Grad aufhebt [16] . Diese Tendenz zur Einfühlung in die Hauptgestalt wirkt um so bemerkenswerter, als insgesamt ja kein Zweifel an Vargas’ Absicht bestehen kann, die Historia de Mayta als einen Roman der Distanzierung von der Revolution und zumal vom revolutionären Terror zu erzählen [17] . Dabei sind die politisch-moralischen Prinzipien des Romanciers, sobald er sich als Leitartikler und Essayist äußert, von großer, mitunter plakativer Eindeutigkeit und Entschiedenheit. Sie dokumentiert, um ein Beispiel unter vielen zu nennen, der Aufsatz El homicida indelicado. Von Camus’ Les justes,Malraux’ La condition humaine und der Gestalt des ‚Professors‘ in Joseph Conrads The Secret Agent ausgehend, greift er schon 1977 unter dem Eindruck von „Hitler’s Children“ (J. Becker) Baader und Meinhof oder des Terroristen Carlos die „gangsterización de la acción política“ an, erklärt sie zu einer Konsequenz des (Sorelschen, aber auch Leninschen) ‚Mythos von der revolutionären Gewalt‘, um zu schließen: „[...] perseverar en la creencia es empujar a la sociedad contemporánea hacia la catástrofe final“ [18] .
Dagegen erhält die literarisierte Figur des Erz-Revolutionärs Mayta eine Ambivalenz, welche dem politisch engagierten Essay unbekannt ist. Was das Engagement des Leitartikels mitteilen möchte, wird zwar auch im Roman – speziell durch den fiktiv realhistorischen Hintergrund der Investigationshandlung – angedeutet. In dem anti-utopischen Bild des zukünftigen Peru, das sie zeichnet, findet tatsächlich eine Distanznahme von der Revolution statt, die sich hier als fataler Weg zur – zumindest. peruanischen – „catástrofe final“ darstellt. Der Revolutionär selbst jedoch, den die Erzählweise eher mit den Mitteln der Einfühlung als mit jenen der Distanzierung begleitet, ist keineswegs ein „homicida indelicado“, wie ihn der Essay postuliert, um die „concepción romántica del terrorista“ zu durchbrechen [19] .Je mehr sich das eigentümliche narrative Verfahren des Romans entfaltet, um so stärker wird der Leser zur Teilnahme an Maytas verzweifelter Einsamkeit bewegt, und am Ende erscheint der ambivalente Romanheld kaum noch als Agent, sondern lediglich als ein Opfer, ja als ein Märtyrer revolutionärer Ideologie. Und sogar die Ideologie bewahrt bei aller Fatalität ihrer Folgen, auf denen die Erzählebene der Investigation insistiert, einen Rest von paradoxalem Pathos, sobald man sie mit den Diskursen der Normalpolitik konfrontiert, die im gleichen Kontext den politischen ‚Realisten‘ jenes Typs kennzeichnen „que llegó a diputado“ [20] .
Ein weiteres Beispiel für den Rekurs auf Elemente des Kriminalromans bietet Conversación en la Catedral (1969), Vargas Llosas strukturell kompliziertestes und meines Erachtens in seiner literarhistorischen Umgebung auch originellstes Erzählwerk. In ihm erscheint die Präsenz des traditionellen Schemas insofern kompakter, als es wie der orthodoxe Detective Novel ¿Quién mató a Palomino Molero? einen Mordfall in den Mittelpunkt seiner Handlung stellt. Dabei ist der Begriff Mittelpunkt hier wortwörtlich zu nehmen; denn in der Tat wird der Mord an Hortensia, der „Musa“, ja genau in der Mitte der Romankomposition – am Anfang des dritten von vier Teilen – bekannt, nachdem eine Art von unscheinbarer mise en abyme (Ana lädt Santiago ins Kino ein zu „una policial de ésas que te gustan“) den kriminalistischen Charakter des Ganzen. bereits am Ende des ersten Kapitels (I,1) suggeriert hatte [21] .
Wie sich der Mordfall zu Beginn des dritten Teils präsentiert, ist dem Kriminalroman in seiner moderneren, ‚realistischen‘ Variante offenkundig bis in die Einzelheiten nachgebildet. Der Bericht wird in einer personalen Erzählsituation entwickelt, die ihren Fokus in der Gestalt des jungen Journalisten Santiago Zavala hat. Aus Santiagos Perspektive nimmt der Leser den Tatort und die gräßlich zugerichtete Leiche der heruntergekommenen Chansonsängerin wahr; ein Kriminalinspektor tritt mit seinem Mitarbeiter auf, und bald zeichnet sich auch – allerdings nicht durch das Verdienst der Polizei, sondern im Gefolge der Investigation eines älteren Journalisten – die Identität des Mörders ab: wie es sich für das Genre gehört, mit dem Eklat einer Sensation.
Anders als im normalen Kriminalroman liegt der Zeitpunkt des Mordfalls im Jahr 1958 [22] jedoch näher beim chronologischen Ende als beim chronologischen Anfang der histoire des Romans. Daraus folgt, daß dem Leser die in den Fall involvierten Personen bereits als zentrale Figuren der aktuellen Handlung vertraut sind. Die Ermordete war bis zum Ende der Diktatur Odría die Mätresse des ‚starken Mannes‘ in diesem Regime, und der Leser hat im zweiten Teil erfahren, wie sie in der „casita de San Miguel“ für Cayo Bermúdez’ politische Intrigen und zugleich für seine etwas verwickelten sexuellen Bedürfnisse eingesetzt wurde. Santiago Zavala, aus dessen Sicht der Befund am Tatort und während der kurzen Enquête perspektiviert wird, ist eine der beiden Hauptgestalten des Romans: ein Sohn aus gutem Hause jener peruanischen Oligarchie, von der er sich zunächst als revolutionärer Student, dann in einer glanzlosen Berufstätigkeit zu lösen versucht; seine studentische éducation sentimentale hatte den wesentlichen Gegenstand des ersten Romanteils gebildet.
In der Identität des Mörders besteht – wie gesagt – die sensationelle Pointe der Affäre. Es handelt sich bei dem Übeltäter um die zweite Hauptgestalt des Romans: den unglücklichen Neger Ambrosio Pardo, Chauffeur und Diener bald im Hause Bermúdez, bald im Hause Zavala und schließlich Santiagos Partner bei jenem Gespräch in der Kneipe „La Catedral“, das dem Roman den Titel und den Rahmen gibt. Sensationell wirkt die Identifikation vor allem deshalb, weil sie für Santiago Zavala eine verstörende Enthüllung über seinen Vater Don Fermín nach sich zieht. Die Aufklärung, die Santiago widerfährt, betrifft nämlich nicht nur die Identität des Mörders, sondern darüber hinaus den skandalösen Tatbestand, daß sein Vater mit dem Mörder eine homosexuelle Beziehung unterhielt, ja daß der Mord selbst auf vorerst ungeklärte Weise mit dieser Beziehung zu tun hatte. So muß Santiago vermuten und fürchten, daß der Mord – wie Queta, die Freundin Hortensias, behauptet („ – Bola de Oro la mandó matar – dijo Queta –. El matón es su cachero. Se llama Ambrosio“: S. 395) – sogar direkt im Auftrag Don Fermíns begangen wurde.
Demnach wirkt der Mordfall in der Mitte der Romankomposition und gegen Ende der Handlungschronologie als ein zentripetales Moment, welches garantiert, daß die auseinanderlaufenden Fäden der Erzählung sich noch einmal zu einer Art Knoten verbinden und daß die Repräsentanten verschiedener Klassen und Generationen zu einem panoramatischen Bild der peruanischen Gesellschaft um 1960 zusammentreten. Für diese Funktion ist nicht zuletzt die Richtung der Fragen charakteristisch, welche die Affäre aufwirft. Sie betreffen weniger das relativ schnell entschiedene Problem der Identität des Mörders als vielmehr jenes der psychologischen und sozialen Motivation des Mordes. Von dem Einblick, den Santiago und mit ihm der Leser in die Motive des Verbrechens erhalten, hängt nämlich in entscheidendem Maß das moralische Urteil ab, das wir nicht nur über Ambrosio und Don Fermín abzugeben geneigt sind, sondern zugleich über die in ihrer Beziehung sichtbar werdenden gesellschaftlichen (Macht)Strukturen, zumal die Verhältnisse zwischen (lumpen)proletarischer Unterschicht und sozusagen feudal-kapitalistischer Oberschicht.
Dabei ergibt sich in Conversación en la Catedral ein Phänomen, welches der Verwirrung von Eindeutigkeiten, wie wir sie in Historia de Mayta beobachtet haben, durchaus ähnlich ist, und zwar ungeachtet der evidenten politischen Differenz öffentlicher Stellungnahmen, die Vargas Llosa als Essayist während der Entstehung der beiden Romane formuliert hat. Zunächst ist festzuhalten, daß dem Leser ein gewissermaßen abschließendes Urteil nicht leichtgemacht wird. Vielmehr verfolgt der Romancier hier eine eigentümliche Technik der (wiederum kriminalromanhaften) Suspension, welche dem Leser signifikante Auskünfte über die Motivation des Mordes bis zum vorletzten Kapitel vorenthält. Erst in Kapitel IV,7 werden wir Zeugen eines Gesprächs zwischen Ambrosio und Queta, in dem Ambrosio – offensichtlich von Wut und panischem Schrecken erfüllt – flehentlich bittet, Hortensia möge Don Fermín nicht weiter erpressen (S. 641–67). Es handelt sich also um ein Gespräch, das chronologisch – in der histoire des Romans – vor der Ermordung Hortensias stattgefunden hat, im discours jedoch, damit Informationen von wesentlicher Bedeutung lange verborgen bleiben, ans Ende der Erzählung verschoben wird.
Freilich sind die Auskünfte, welche die Szene erteilt, nicht erschöpfend, wie ja in diesem Roman überhaupt nichts als definitiv verläßlich gelten kann, da der Romancier keine Äußerung oder Wahrnehmung mit einer über den personalen Fokus hinausgehenden auktorialen Garantie versieht. Eine irritierende Unsicherheit entsteht für den Leser insbesondere durch den Umstand, daß Ambrosios Bindung an Don Fermín in der eigenen Sicht und in Quetas Perspektive völlig verschieden, ja gegensätzlich bewertet wird: Wo Ambrosio so etwas wie einen Prozeß der Menschwerdung erfährt [23] , nimmt Queta ein Phänomen ekelerregender ‚Servilität‘ wahr [24] , das sie – chronologisch gesehen: späterhin – von Ambrosio als einem gedungenen Killer sprechen läßt. So bleibt dem Leser zum Schluß nichts anderes übrig, als selber die Rolle des Detektivs zu übernehmen und nach weiteren Indizien zu suchen. Und in der Tat enthält die Welt des Textes, die sich als ein Labyrinth ineinander verschachtelter Gespräche präsentiert, solche Indizien, welche vom detektivischen Leser allerdings erst bei einer zweiten Lektüre entdeckt und – wenigstens partiell – gedeutet werden können.
Gemeint sind jene Fragmente von Gesprächen zwischen Ambrosio und Don Fermín, die im ersten und zweiten Teil wie verstreute Stücke eines Puzzle in andere Gespräche eingefügt erscheinen, ohne daß die Identität der Gesprächspartner sofort enthüllt würde. Bei der ersten Lektüre wirken diese Gesprächsfragmente um so rätselhafter, als ihr Hauptthema der Mord ist, von dessen Ereignis der linear avancierende Leser an den jeweiligen Stellen noch keine Kenntnis hat. Erst wenn er bei einer zweiten Lektüre gleichsam die Romanstruktur selbst als kriminalistisches Rätsel begreift [25] , vermag er das anfangs sinnlos Scheinende zu dechiffrieren und zur Beantwortung der Fragen einzusetzen, welche die linear erschlossene Textgestalt zunächst ohne Antwort ließ. Zu eindeutigen Lösungen kann freilich auch ein solches detektivisches Lesen nicht führen; denn die Indizien, die über den ersten und zweiten Teil verstreut sind, werden ja ebensowenig durch eine verläßliche erzählerische Autorität beglaubigt wie jene, denen der Leser nach der Information über den Mordfall begegnet. Immerhin besitzen sie aufgrund ihrer Entlegenheit und der daraus folgenden Mühe, die ihre Auffindung kostet, ein größeres semiotisches Gewicht, so daß der Leser angehalten ist, ihnen gewissermaßen den Rang des ‚letzten Wortes‘ zuzuschreiben.
Dieses ‚letzte Wort‘ hat nun insofern etwas Überraschendes, als es dazu tendiert, die beiden Gestalten, welche am tiefsten in den Mordfall verstrickt sind und derart den Zusammenhang des gesellschaftlichen Unheils repräsentieren, zwar nicht zu entlasten, aber doch – in einer zu ihrer Repräsentationsfunktion gegenläufigen Bewegung – zu enttypisieren. Jedenfalls ergibt sich das Paradox, daß eben die Beziehung, die dem Kritiker José Miguel Oviedo zufolge „toda la degradación de Fermín“ manifestiert [26] , den beiden Anti-Helden – in erneut subtil vermittelter Ambivalenz – zugleich auch einen Restbestand von Generosität einräumt. Offenbar wird das vor allem in den Gesprächsfragmenten, die am Ende des Kapitels I,9 stehen (S. 188ff.), bezeichnenderweise nicht allzu weit von den Passagen des Kapitels I,10 entfernt, in denen es mit der Beziehung zwischen Santiago und der Studentin Aida ebenso kritisch wird wie hier mit der Beziehung zwischen Santiagos Vater und dem Chauffeur. Wie immer auch von den sozialen Abhängigkeiten verzerrt und degradiert, treten in diesen Momenten Züge von Leidenschaft und Leiden zutage, welche nicht zuletzt durch den Rhythmus ihrer Äußerung plausibel wirken und für sich einnehmen. Dabei bezeugen Wortlosigkeit und Tränen Ambrosios Hingabe, während Don Fermíns Obsession durch die von Anfang an fast manisch wiederholte Frage „¿Lo hiciste por mí?“ zum Ausdruck kommt (S. 52, 73, 90), eine Frage, der später das ebenso intensiv wiederholte „Está bien“ korrespondiert (S. 190). Auf jeden Fall ist Don Fermín bei diesen Fragen und bei diesem Trost alles andere als der „típico burgués acomodado“, den Oviedo in ihm sieht [27] , und auch Ambrosio gewinnt ein Pathos, das mit der (unglücklichen) Formel vom „grado cero de las posibilidades humanas que un proletario del Perú tiene frente a las vallas de su clase“ [28] keineswegs auf den Begriff zu bringen ist. Gewiß geht es gerade in den Gesprächen zwischen Ambrosio und Santiagos Vater um die Verblendung, die aus den falschen Werten der sozialen Hierarchie resultiert; doch zeigen sich die objektiven Faktoren des Unheils nur um so bedrängender, je weniger der Subjektivität seiner Opfer oder Agenten die pietas einer enttypisierenden Anteilnahme verweigert wird.
In Conversación en la Catedral und Historia de Mayta tragen die Strukturen des Kriminalromans, das heißt: die Zonen von Halbdunkel und Rätselhaftigkeit, die sie erzeugen, folglich dazu bei, daß sich das moralische wie das politische Urteil des Lesers vertieft und problematisiert. Solche Vertiefung wird zumal in Conversación en la Catedral provoziert, indem die Romanform ein definitives Verdikt durch die Kombination typisierender mit enttypisierenden Zügen erschwert und den Leser zwingt, gewissermaßen eine detektivische Anstrengung zu unternehmen, bevor er seine Schlüsse zieht. Aus diesem Verfahren spricht – wie gesagt – eine Sorge um die Herstellung von Ambivalenz, die gleichzeitig eine Sorge um hermeneutische Gerechtigkeit ist und in Vargas Llosas fiktionalem Œuvre insgesamt zu den auffälligsten Konstanten zählt.
Als Konstante prägt sich die bisher beschriebene Funktionalisierung des Kriminalroman-Schemas nun vor allem deshalb ein, weil sie vielleicht am nachdrücklichsten bereits in Vargas’ erstem Roman La ciudad y los perros (1963) verwirklicht ist. Carlos Fuentes hat ihn als „una primera novela de radical modernidad“ bezeichnet [29] , und die Kritik pflegt einstimmig seine „elaborate structure“ hervorzuheben, hinter der sich indes eine „story“ verberge „which is itself quite simple and in essence rather trite“ [30] .Da wir uns mit dem Roman an dieser Stelle etwas ausführlicher als mit den späteren Werken befassen wollen, sei zunächst einführend resümiert, was den nach Standish ‚ziemlich einfachen‘ Plot der Handlung ausmacht, deren zentrale Episoden sich bekanntlich unter den Schülern einer Kadettenanstalt abspielen. In der Zusammenfassung Oviedos [31] enthält die „anécdota [...] nítida“ von La ciudad y los perros folgendes:
El cadete Porfirio Cava roba un examen de Química antes de que sea rendido, siguiendo el mandato de el Círculo, secta que impone el terror y la violencia en el Colegio Leoncio Prado, y cuyo jefe indiscutido es el temible Jaguar. Se descubre el delito por un vidrio roto y las autoridades consignan a los encargados de la vigilancia. El más afectado es el muchacho al que llaman el Esclavo (su verdadero nombre es Ricardo Arana), que no puede salir a ver a su imposible novia Teresa. El Esclavo denuncia a Cava, que es expulsado de la institución. La sospecha de que hay un soplón en el grupo es general, pero obsesiona y enerva sobre todo al Jaguar, cuyo imperio exige el secreto y un „código de honor“ en toda circunstancia. En unas maniobras militares, el Esclavo recibe un balazo en la cabeza y muere poco después. Ahora todos sospechan del Jaguar. Para el Colegio, que teme las perjudiciales consecuencias del escándalo, la versión oficial establece que se trata de un accidente. Alberto (llamado el Poeta, hipócrita niño bien, amigo del Esclavo) rompe con los pactos que lo unen al Círculo y acusa el crimen del Jaguar al teniente Gamboa, el hombre aparentemente más recto y más duro de la institución. Pero ahora los pactos del silencio incluyen también al colegio, a los profesores militares y a las mismas fuerzas armadas; por lo tanto, el caso se da por cerrado y la investigación no se reabre. El propio Alberto se ve impedido de seguir adelante porque las autoridades lo amenazan con mostrar a sus padres las novelitas pornográficas que escribía y vendia a sus compañeros. Alberto cede y Gamboa también, tras un apoyo inicial que le cuesta un ascenso. En el epílogo de la novela, que sigue al egreso de los cadetes del colegio, vemos a los protagonistas readaptándose a la brumosa vida corriente: Gamboa parte a ocupar un puesto en una guarnición perdida en la sierra, tras escuchar la confesión del Jaguar, a quien se niega a creer; Alberto reinicia su vida de burgués miraflorino con nuevas amistades; el Jaguar, despojado de todo su antiguo poder, se restituye a la sociedad como un simple empleado de banco y como esposo de Teresa.
Wie in Conversación en la Catedral kommt es also auch schon in La ciudad y los perros zu einem Mordfall, der überdies wiederum den Mittelpunkt der Romankomposition einnimmt. Er beschließt den ersten von zwei Teilen, wobei die Präsentation des Ereignisses noch stärker pointiert wird als im späteren Roman; denn es sind hier just die letzten Worte der „primera parte“, welche dem Leser die Identität des Ermordeten (bzw. tödlich Verletzten), eines wegen seiner mangelnden ‚Männlichkeit‘ von den Klassenkameraden seit langem grausam malträtierten Schülers, mitteilen. Das heißt: Auf die Frage „– ¿Cómo se llama?“ erfolgt vor dem strukturbestimmenden Einschnitt zwischen den beiden Romanteilen eine Auskunft, die durch ihre Namensdopplung noch einmal die – für den gesamten Roman thematische – Diskrepanz zwischen ziviler und militärischer Identität festhält: „ – Ricardo Arana, mi capitán. – Vaciló un instante y añadió: – Le dicen el Esclavo“ (S. 190) [32] .
Indem die „primera parte“ von La ciudad y los perros soendet, wie sonst ein Kriminalroman – zumal in der Variante des klassischen Detektivromans – zu beginnen pflegt, wird das Leserinteresse gegenüber dem zweiten Teil nachdrücklich unter die Perspektive der Frage nach dem Whodunit gelenkt. Tatsächlich entsprechen viele Momente der „segunda parte“ durchaus dieser Perspektive und entwickeln eine Spannungslinie, wie sie für die Durchführung des Kriminalromans konstitutiv ist. Zu den typischen Zügen der Gattung gehört beispielsweise die opportunistische Verständigung über eine offizielle Version des Tathergangs, welche den Mord zu einem Unfall erklärt („se había disparado él mismo“: S. 234), dann aber bei der ersten seriösen Untersuchung als unhaltbar erwiesen wird („No hay ninguna duda, la bala vino de atrás“: S. 243). Auf der gleichen gattungsgerechten Spannungslinie liegt die effektvolle Inszenierung von Albertos Anklage, bei der zunächst offenbleibt, ob es sich eher um ein authentisches Geständnis oder eher um eine Denunziation handelt. Wie der Protagonist eines Detektivromans kündigt Alberto dem Teniente Gamboa telefonisch an: „A Arana lo mataron [...]. Yo sé quién fue“ (S. 274), ohne den Namen dessen, ‚der es war‘, gleich publik zu machen. Erst im persönlichen Gespräch mit Gamboa wird die Frage nach dem Whodunit beantwortet, bezeichnenderweise mit der spannungssteigernden Approximation eines wenigstens dreifachen Anlaufs. Dessen erster Versuch lautet: „ – La muerte del cadete Arana no fue casual – dice –. Lo mataron. Ha sido una venganza, mi teniente“ (S. 277). Darauf folgt in einem zweiten Versuch die Spezifikation der Gruppe: „ – Lo han asesinado – añade –. Ha sido el Círculo“ (S. 278), schließlich in einer dritten Version die endgültige Nennung des Namens: „Lo mató el Jaguar, para vengar a Cava“ (S. 279).
Indessen ist das detektivische Problem, das La ciudad y los perros als Kriminalroman bietet, damit noch keineswegs gelöst. Zwar erscheint Jaguar, gewissermaßen der Caudillo der Klasse des „quinto año“, wie er bis dahin aus der Perspektive Albertos und Boas wahrgenommen wird, als eine ganz und gar plausible Mördergestalt, der man das Verbrechen ohne weiteres zutraut. Jedoch bestreitet er selbst mit großer Hartnäckigkeit jede Schuld, gegenüber Gamboa nicht unbedingt überzeugend (vgl. S. 312f.), gegenüber Alberto indes in einer Haltung, die den Ankläger (der freilich zuvor schon durch eine Erpressung von den militärischen Autoritäten zur Zurücknahme der Anklage gezwungen wurde) bewegt, ihm Glauben zu schenken und ihn für die ‚Denunziation‘ um Entschuldigung zu bitten (vgl. S. 352). Als die Affäre endlich ohne offizielles Ergebnis geblieben und sozusagen im Sande verlaufen ist, bringt der ‚Epilog‘ des Romans dann aber doch noch Jaguars nunmehr überraschendes Geständnis, das den Mord als Racheakt an einem Verräter im Dienste der Klassensolidarität deklariert (vgl. S. 373: „Y yo lo hice por ellos [...]. Todo lo hice por la sección“). Daß Gamboa dies Geständnis – wie Oviedo in seinem Resümee behauptet – für falsch hält („tras escuchar la confesión del Jaguar, a quien se niega a creer“) [33] , geht aus dem Dialog nicht eindeutig hervor (Gamboas Zweifel scheinen eher die Motive als den Inhalt der verspäteten Konfession zu betreffen). Was dagegen feststeht, ist die Folgenlosigkeit von Jaguars Erklärungen, eine Folgenlosigkeit, auf die sich der Befund des bitteren Fazits gründet, das Gamboa zieht: „ – El caso Arana está liquidado – dijo Gamboa –. El Ejército no quiere saber una palabra más del asunto. [...] Más fácil sería resucitar al cadete Arana que convencer al Ejército de que ha cometido un error“ (S. 374).
Ein solches Fazit spricht an sich mit Nachdruck für Jaguars Täterschaft; denn nur wenn Jaguar den Mord begangen hat, kann ein ‚Irrtum‘ der Armee, wie Gamboa ihn im Sinne der kritischen Botschaft des Romans andeutet, ja wirklich als erwiesen gelten. Trotzdem erlangt der Leser, was die Antwort auf das Whodunit angeht, auch hier keine Gewißheit, und es ist bezeichnend, daß die Kritiker diesbezüglich immer wieder ihre Perplexität kundgetan haben [34] . Die in gewisser Weise unvermeidliche, da bewußt hervorgerufene Ratlosigkeit hängt in erster Linie natürlich mit dem Umstand zusammen, daß La ciudad y los perros ebensowenig wie Conversación en la Catedral irgendeine auktoriale oder an eine Gestalt von auktorialer Verläßlichkeit delegierte Aussage über das Mordgeschehen kennt. Anders als im orthodoxen Kriminalroman ¿Quién mató a Palomino Molero? fehlt in der „novela de radical modernidad“ eben die Instanz des Detektivs, von dessen Spruch der Leser Wahrheit und Ordnung erwarten darf. Statt dessen sind in La ciudad y los perros alle Äußerungen über den Mord (oder doch über den Unfall?) an jeweils personal beschränkte Perspektiven gebunden, unter denen keine derart ausgezeichnet wird, daß man ihr eine unanzweifelbare Kompetenz der Wirklichkeitsexpertise zutrauen möchte [35] .
Zu dem prinzipiellen Sachverhalt der Abwesenheit einer auktorialen Instanz treten in Vargas Llosas erstem Roman indes noch weitere und speziellere Komplikationen, die offenkundig auf das Arrangement eines Falls scharf konturierter Unentscheidbarkeit hinauslaufen. Um sie genau zu erfassen, muß man sich klarmachen, daß der Roman zum Problem von Jaguars Täterschaft ein besonders irritierendes Verhältnis des Einerseits-Andererseits vorsieht. Dabei überwiegt deutlichdas Einerseits, will sagen: das Ensemble der Argumente, die Jaguar als den Mörder des Esclavo identifizieren. Zu diesem Einerseits ist selbstverständlich Jaguars Geständnis am Romanende zu zählen, außerdem die als objektiver ärztlicher Befund festgestellte Tatsache „la bala vino de atrás“. Noch gewichtiger wirken die Argumente, die eher indirekt von den spezifischen Akzenten der Erzählstruktur ausgehen. So wird die Armee wie gesagt – ja dann am eklatantesten durch einen arrogant aufrechterhaltenen Irrtum blamiert, wenn Alberto mit seiner niedergeschlagenen Anklage Recht hat und Jaguar wirklich der Mörder ist. Überdies behauptet Albertos Anklage, daß Jaguar Esclavo erschossen habe, um Cava an einem Verräter zu ‚rächen‘, und eben das Konzept der Rache spielt in Jaguars Vorstellungswelt nun tatsächlich eine fundamentale Rolle, ja es stellt geradezu sein Leitmotiv dar, das ihn von Anfang (vgl. S. 57: „Hay que defenderse. Nos vengaremos“) bis Ende (vgl. S. 336: „A mí ya me han jodido. Pero tengo que vengarme“) kontinuierlich begleitet. Derart ist Jaguar schließlich selber bereit, Albertos Denunziation zu entschuldigen, insofern er sie als einen – legitimen – Racheakt anerkennt: „Los otros me traicionaron de pura cobardía. Él quería vengar al Esclavo. [...]era por vengar a un amigo, ¿no ve la diferencia, mi teniente?» (S. 373). Im übrigen sind es die gleichen Vorstellungen, die Jaguars Verhalten außerhalb des Colegio Leoncio Prado orientieren (vgl. etwa S. 345: „pensé ‚ha llegado la hora de la venganza‘“) und im Epilog auch das Urteil der anderen, hier sogar jenes der Braut, bestimmen: „ – Eres un vengativo – dijo Teresa“ (S. 391).
All diesen direkten und indirekten Hinweisen, die das Whodunit stimmig zu klären scheinen, steht indessen ein scharf dissonantes Andererseits gegenüber [36] . Es handelt sich um die Szene am Ende von II,7, in der Alberto und dem Leser mitgeteilt wird, daß jenes Motiv der Rache, welches den Mord bewirkt haben soll, im Augenblick von Esclavos Tod noch nicht virulent gewesen sein kann. Jedenfalls versichert Jaguar, über Esclavos Denunziation seines Freundes Cava bis zu eben diesem Gespräch nichts gewußt zu haben. Dabei versteht sich von selbst, daß Jaguars Versicherung hier grundsätzlich keine größere Glaubwürdigkeit besitzt als die anderer Romanfiguren. Immerhin wird sie aber mit einer besonders intensiven Authentizitätsrhetorik bedacht, für die zumindest drei Gesichtspunkte ins Feld zu führen sind. Zum einen beschwört Jaguar die Wahrheit seiner Aussage beim höchsten Wert, den er kennt („Jura si eres hombre“). Zum anderen zeigt sich Alberto deshalb auch prompt überzeugt, gibt einen Irrtum zu und entschuldigt sich („Si de veras no sabías, me equivoqué. Discúlpame, Jaguar“). Und schließlich werden die äußeren Symptome von Jaguars Erstaunen, wenngleich nur in diskretesten Andeutungen, auktorial unterstrichen (vgl. S. 352: „ – ¿Qué? – dijo el Jaguar, deteniéndose y mirando a Alberto a los ojos [...] – El esclavo denunció al serrano Cava? – Bajo las vendas, las pupilas del Jaguar centelleaban“).
Dabei läßt dieselbe Szene keinen Zweifel an der insgesamt bedeutsameren Tatsache, daß Jaguar sich mit dem Mord an einem Verräter (wenn es denn ein Mord war) rückhaltlos identifiziert; denn auf die Beteuerung „No sabía que denunció a Cava“ folgt das Urteil: „Bien hecho que esté muerto. Todos los soplones deberían morirse“ (S. 352). Auf jeden Fall würde also gelten, daß Jaguar den Mord als Racheakt in einem quasi Sartreschen Verständnis ‚gewählt‘ hat [37] und daß er ihn zu büßen bereit ist, wie er selbst Esclavos Schicksal der Emargination, des „vivir aplastado“ (S. 374), erfährt. Dagegen ist ungewiß, ob er das Verbrechen seiner Wahl auch faktisch begangen hat: hier sind in der Erzählstruktur die Spuren offenbar mit Absicht widersprüchlich gelegt worden, so daß jegliche Entscheidung blockiert bleibt [38] .
Die – wenn man so will – distinkte Vieldeutigkeit, welche in La ciudad y los perros der Präsentation des Mordfalls anhaftet, beschränkt sich indes nicht auf die traditionelle Kriminalroman-Frage nach einem empirisch dingfest zu machenden Täter. Fast noch verstörender wirkt eine umfassendere Ambivalenz, in der die Unentscheidbarkeit des Whodunit-Problemslediglich als Pars pro toto im Rahmen weiterer Irritationen anzusehen ist. Bei ihnen geht es wie gleichfalls in Conversación en la Catedral um eine Art Subversion dessen, was man das klassische romaneske Charakterbild nennen könnte. Damit meinen wir jenen für den Leser so beunruhigenden wie fesselnden Entzug der Möglichkeit, von der charakterologischen Statur der Romangestalten und der moralischen Legitimität ihres Handelns eine gültige Gesamtansicht zu gewinnen.
Besonders manifest erscheint diese Technik, die sich einer von Flaubert bis Faulkner wirksamen Traditionslinie verdankt, im Fall des Protagonisten Alberto. Mit dem Spitznamen „Poeta“ versehen, bietet er sich dem Leser zunächst als perspektivierende Identifikationsfigur an: als Autor – wenngleich eher dubioser Schriften – ist er gewissermaßen der ‚Bote aus der Fremde‘ [39] ,dessen feinere Empfindungen dazu dienen, die Alterität einer in ihrer elementaren Rohheit fremdartigen Welt für den Leser zu vermitteln und akzeptabel zu machen. Durch diese Funktion wird Alberto gegenüber seiner finsteren Umgebung eingangs zu einer – wie auch immer relativierten – Lichtgestalt profiliert, mit der man um so freudiger kommuniziert, als er allein es ist, der Esclavo, dem Opfer kollektiver Verfolgung, Beistand gewährt und schließlich den Kampf gegen Opportunismus und Unmoral der militärischen Institutionen aufnimmt. Hat sich der Leser aber einmal bereit gefunden, die Sicht und Erfahrung Albertos zu seiner eigenen zu machen, gerät er auf eine abschüssige Bahn. Tatsächlich endet Albertos Erziehungsgeschichte ja mit einer Annäherung an die Parabel von Sartres L’enfance dun chef. Das heißt: Sie läuft hinaus auf das Resultat erfolgreicher Integration in die vorgeschriebene Oberschicht-Karriere, einer Integration, die als Lebensplan immer schon von der leitmotivisch bedeutsamen Maxime des „conocer la vida“ angedeutet wurde. In deren Sinn rühmt Alberto bereits im ersten Kapitel, spätere Entwicklungen – noch kaum bewußt – vorwegnehmend, gegenüber Esclavo (Ricardo) die Abhärtung der militärischen Erziehung: „[...] aquí uno se hace más hombre. Aprende a defenderse y a conocer la vida“ (S. 26). Die gleiche Formel kehrt – mit größerem Relief hervorgehoben – im Epilog wieder, als der Anpassungsprozeß vollzogen ist und Albertos Einverständnis mit der Welt seines Vaters durch das Geschenk einer goldenen Uhr gratifiziert und gleichsam besiegelt wird. Dabei lauten die lobenden Worte des Vaters: „Al fin comienzas a estar a la altura de tu apellido“, während die einverständige Reaktion des Sohnes bezeichnenderweise im inneren Monolog erfolgt und somit die Verinnerlichung der väterlichen Worte doppelt bekräftigt: „‚Mi padre conoce la vida‘, pensó Alberto“ (S. 376).
Genau umgekehrt verläuft die Lenkung der Lesersympathie im Fall von Albertos Gegenspieler, dem Jaguar [40] . Sie stellt für Jaguar im Hinblick auf die Gestalt des – wie sich zeigt – falschen „Poeta“ ein sozusagen chiastisches Verhältnis her. Zunächst gilt der Caudillo der Klasse, wann immer er namentlich identifiziert wird, als Verkörperung des – faschistoid – Bösen, und als Leser ist man geneigt, Jaguars Kumpan Boa beizupflichten, der einmal bemerkt: „No creo que exista el diablo pero el Jaguar me hace dudar a veces“ (S. 159). Nun besteht eine wesentliche narrative Trouvaille des Romans aber darin, daß er Jaguar dem Leser nicht nur namentlich identifiziert, sondern auch gewissermaßen inkognito vorstellt. Das geschieht in Abschnitten, die vom dritten Kapitel an in der Ich-Form die Erfahrungen eines Jugendlichen niedrigster sozialer Herkunft schildern, ohne daß das – ganz und gar nicht teuflisch wirkende – Subjekt dieser Ich-Erzählung einen Namen erhielte. Die Geheimhaltung des Subjekts dieser Passagen, welche der Erzählstruktur ein weiteres Moment kriminalromanhafter Verrätselung und Spannung mitteilt, ist gelegentlich als überflüssige Komplikation getadelt worden [41] . Indessen besitzt sie eine präzise Funktion, die Suspense erzeugt und gleichzeitig einer weiterreichenden, über die Erzeugung von Spannung hinausgehenden Strategie entspricht.
Was die hier implizierte Strategie vor allem im Auge hat, ist – wie später bei den womöglich noch raffinierteren Verrätselungsverfahren in Conversación en la Catedral – erneut das Ziel einer Enttypisierung und einer ambivalenten moralischen Konnotation der Romanfiguren. Für den Leser ergibt sich durch die Dopplung von Jaguars (einmal identifizierten und ein andermal nicht-identifizierten) Auftritten das Paradox, daß er die gleiche Gestalt, die er einmal – von außen gesehen – als Ausbund bösartiger Aggressivität ablehnen möchte, ein andermal – von innen gesehen – in ihrer Vorgeschichte einfühlend begleiten muß. Dazu kommt der wohlkalkulierte Zeitpunkt der Enthüllung von Jaguars doppeltem Erscheinen. Es wird (obgleich vom Leser möglicherweise seit langem geahnt) unabweisbar erst dann manifest, wenn Albertos Prestige als Romanheld schwindet. In dem Moment, in dem der Leser den jungen Mann aus der Oberschicht nach Anflügen eines Episode bleibenden Idealismus zum Opportunisten degradiert sieht, vollzieht sich gegenüber Jaguar ein komplementärer – und nunmehr positivierender – Wandel der Einstellung. Wir erfahren, daß Jaguar keineswegs nur der ‚Teufel‘ ist, als den ihn das Leben in der Kadettenanstalt gezeigt hat, sondern ebensosehr ein durch die Sozialisation der Unterschicht geprägter und verwundeter Mensch, mit dem eine Identifikation durchaus möglich war, sobald uns Einblicke in seine spezifische Welterfahrung gewährt wurden. Diese Einblicke in das Erleben eines anfänglich namenlosen Ich nötigen dem Leser zwangsläufig einen Pakt des Verständnisses und der Sympathie ab, den er auch und gerade dann nicht mehr aufkündigen kann, wenn Jaguar sich in einer Volte des Romanendes als Esclavos Mörder deklariert oder zumindest die Täterschaft des Mordes stellvertretend auf sich nimmt.
Im übrigen spricht für die Bewußtheit solcher, Ambivalenz schaffender Erzählverfahren der Umstand, daß ähnliche Vieldeutigkeiten sich auf der Gegenseite, das heißt: unter den Offizieren der Kadettenanstalt, wiederholen. Hier erscheint die Paradoxie der moralischen Konnotationen sogar noch zugespitzt. So gibt es, wenn die Zucht – und damit auch die ‚Unmenschlichkeit‘ – militärischer Ordnung auf dem Spiel steht, keinen fanatischeren Verfechter der Disziplin als den Leutnant Gamboa. Von ihm wird – ausnahmsweise einmal auktorial verbürgt – gesagt: „Él amaba la vida militar precisamente por lo que otros la odiaban: la disciplina, la jerarquía, las campañas“ (S. 174), und an ihn werden jene Redeweisen delegiert, die gemeinhin als die typischen und daher kompromittierenden Diskurse des Militärs gelten: „El orden y la disciplina se obtienen adecuando la realidad a las leyes“ (S. 360). Gleichzeitig ist aber eben Gamboa auf der Offiziersseite der einzige, der im Glauben an die Verbindlichkeit der Gesetze nach Aufklärung strebt und der allgemeinen Korruption zu widerstehen sucht [42] .
Dagegen werden Gamboas Vorgesetztem und Antagonisten, dem Hauptmann Garrido, die scheinbar freundlicheren Worte in den Mund gelegt. Wie Gamboa die Strenge des Reglements vertritt, plädiert Garrido für das Leben. Meint der Leutnant die Realität den Gesetzen anpassen zu müssen, hält der Hauptmann es im vorhergehenden Kapitel genau umgekehrt: „No hay que forzar las cosas para que coincidan con las leyes, Gamboa, sino al revés, adaptar las leyes a las cosas“ (S. 340). Derart stellt sich heraus, daß die auf den ersten Blick wohlwollende und anti-militaristische Rhetorik der Lebenspraxis die gleiche Korruption verbirgt, welche am Ende in Albertos oligarchischer Normalexistenz triumphiert. Und so erhält das Eingeständnis „Mi padre conoce la vida“, das zum guten oder vielmehr schlechten Schluß der lebenspraktisch erfolgreiche Bürgersohn spricht, sein trauriges Äquivalent in Garridos weitherzig ‚aufgeklärter‘ Maxime: „[...] en la vida hay que ser práctico. A veces, es preferible olvidarse del reglamento y valerse sólo del sentido común“ (S. 340). Demnach entsteht auch im Verhältnis der beiden Offiziere eine chiastische Figur, die jetzt aus der eigentümlich verschränkten Konnotation von Reden und Handlungen – der korrupten Aufgeklärtheit und der bornierten Integrität – erwächst. Es ist dies eine Figur, welche im Moralischen wie im Sozialen gewiß etwas Irritierendes besitzt [43] , doch eben deshalb von jener tieferen Gerechtigkeit (und Bedenklichkeit) zeugt, die immer schon – jenseits des leitartikelnden Engagements – das Metier eines großen Romanciers ausgemacht hat.
1 Vgl. zu diesem Motiv der Bestrafung des Detektivs, das vor allem Il giorno della civetta und A ciascuno il suo entwickeln, U. Schulz-Buschhaus, Sciascias beunruhigende Kriminalromane,in Italienische Studien 1 (1978) S. 48f.
2 Vgl. M. Vargas Llosa, ¿Quién mató a Palomino Molero?, Barcelona 1986, S. 188f.
3 Daß speziell ¿Quién mató a Palomino Molero? – wie der Klappentext meiner Ausgabe behauptet – „uno de los logros mayores del arte de narrador de Mario Vargas Llosa“ darstellen soll, scheint mir bei allen Meriten des Buchs übertrieben. Eine Tendenz wohlwollender Hoch-Interpretation verfolgt wohl auch die geistreiche Besprechung, die J. Jessen dem Roman in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5. November 1988 gewidmet hat. Dort geht es nach dem Willen des Rezensenten um die „schmerzliche Erfahrung vom Scheitern der Aufklärung“ sowie um die Intention, „das Genre des Detektivromans selbst zu entlarven und mit ihm zugleich den männlichen, den aufklärerischen Zugriff auf die Wirklichkeit“: interessante Argumente, die im Herbst 1988gewiß auf der ideologischen Tagesordnung standen, doch gerade auf diesen Text mit seiner relativ einfachen Gattungsstruktur nur mit großen Mühen applizierbar sind.
4 Vgl. etwa das Treffen mit den alten Kumpanen (den „Inconquistables“) „en el barcito de la Chunga“ (Vargas Llosa, ¿Quién mató?, S. 9) oder die direkte sehnsuchtsvolle Erwähnung der „Casa verde“, welche für Lituma die Hauptattraktion des Wochenendurlaubs in Piura bildet (S. 112).
5 Vgl. M. Vargas Llosa, La orgía perpetua (Flaubert y Madame Bovary),Madrid-Barcelona 1975, S. 268ff.Auch in seinen Essays betreffen mannigfache Unmutsmäußerungen die Nouveaux Romanciers („los ingeniosos experimentos a que se dedican muestran cada vez mayores síntomas de atonía“) oder die „soporífera revista Tel Quel“ (vgl. M. Vargas Llosa, Contra viento y marea, Barcelona 1983, S. 121und 279).
6 Vgl. Vargas Llosa, La orgía, S. 26ff
7 Vgl. zu Vargas’ Ideal einer „novela totalizadora“ etwa Contra viento, S. 181f. und 389f.,oder La orgía, wo die folgende Formulierung geradezu an Victor Hugos Poetik der Synthesen erinnert: „[...] el elemento melodramático me conmueve porque el melodrama está más cerca de lo real que el drama, la tragicomedia que la comedia o la tragedia“ (S. 28).
8 Dem widerspricht es keineswegs, wenn sich Vargas Llosa gerade in diesem Buch einmal explizit von der „irrealidad del género policial“ distanziert (vgl. Historia de Mayta,Barcelona 1984, S. 102). Worauf Vargas’ Poetik eines ‚totalisierenden Realismus‘ den größten Wert legt, ist nämlich die Verschmelzung von Elementen einer bestimmten Gattung mit jeweils anderen Gattungselementen: eine Gattungsmischung, die ihr thematologisches Analogon in der Empfehlung hat, auch das Element des Erotischen nicht à la Sade ‚monothematisch‘, sondern als Komponente umfassender Wirklichkeitsbilder gewissermaßen polythematisch zu verwenden; vgl. La orgía: „He comprobado que la excitación es más profunda en la medida en que lo sexual no es exclusivo ni dominante, sino se complementa con otras materias, se halla integrado en un contexto vital complejo y diverso, como ocurre en la realidad: me excita menos un libro de Sade, donde el monotematismo desvitaliza el sexo y lo convierte en algo mental, que, por ejemplo, los episodios eróticos (muy escasos) de Splendeurs et misères des courtisanes,de Balzac [...]“ (S. 35).
9 Zu den Motiven und Konsequenzen dieser Umdatierung vgl. die (sehr kritisch akzentuierten) Bemerkungen von Th. M. Scheerer, Mario Vargas Llosa – Leben und Werk,Frankfurt/M. 1991, S. 130ff.
10 Zum Erzählprogramm dieser neuartigen novela-testimonio vgl. Historia de Mayta: „[...] explico una vez más que no pretendo escribir la ‚verdadera historia‘ de Mayta. Sólo recopilar la mayor cantidad de datos y opiniones sobre él, para, luego, añadiendo copiosas dosis de invención a esos materiales, construir algo que será una versión irreconocible de lo sucedido“ (S. 93).
11 Wie es dann explizit in dem Eingeständnis (Historia de Mayta, S.321) geschieht: „Además, inventé un Perú de apocalipsis, devastado por la guerra, el terrorismo y las intervenciones extranjeras.“
12 Diese Suspense-Effekte haben das ausgesprochene Mißfallen des Rezensenten J. Drews erregt (vgl. Süddeutsche Zeitung,7./8. Juni 1986). Drews nimmt bei ihnen Anstoß an „einem routinierten, intelligenten Konstrukt“ und „einem geradezu kurzweiligen Ineinander von Gegenwart und Vergangenheit“ (wobei das Epitheton „kurzweilig“ bezeichnenderweise kein Lob, sondern Tadel impliziert). Meine folgenden Notizen versuchen zu zeigen, daß dies Verdikt auf eine einigermaßen oberflächliche Lektüre zurückgehen muß.
13 Vgl. Historia de Mayta, S. 45.
14 Vgl. Historia de Mayta, S. 118.
15 Wie der Aufsatzband La verdad de las mentiras (Barcelona 1990)nahelegt, hat die Technik solcher „‚mudas‘ de narrador“ Vargas Llosa offenbar seit langem beschäftigt. Anregungen scheinen dabei – außer von Faulkner – vor allem von Virginia Woolf, Günter Grass oder Saul Bellow ausgegangen zu sein (vgl. La verdad, S. 57f., 197 oder 243).
16 Vgl. Vargas’ prinzipielle Abneigung gegen die Ästhetik des Brechtschen Verfremdungseffekts: „Toda buena novela dice la verdad y toda mala novela miente. Porque ‚decir la verdad‘ para una novela significa hacer vivir al lector una ilusión y ‚mentir‘ ser incapaz de lograr esa superchería. La novela es, pues, un género amoral [...]. Arte ‚enajenante‘, es de constitución anti-brechtiana: si no hay ‚ilusión‘ no hay novela“ (La verdad, S. 10).Die hier zitierte Formulierung, welche gleichzeitig den schärfsten Widerspruch gegen die avantgardistische Poetik einer Zerstörung der „illusion référentielle“ bedeutet, ist im übrigen eine Reprise aus dem wichtigen Aufsatz El arte de mentir von 1984 (vgl. Contra viento y marea, Bd. 2,Barcelona 1986, S. 422).
17 Scheerer spricht sogar von einer programmatischen „Abrechnung mit der politischen Linken Lateinamerikas“, welche die „politische Botschaft des Romans“ ausmache (Mario Vargas Llosa, S. 129).
18 Vgl. Contra viento, Bd. 2, S. 57f.
19 Vgl. Contra viento,Bd. 2, S. 48.
20 Vgl. Historia de Mayta, S. 343.
21 Vgl. M. Vargas Llosa, Conversación en la Catedral, Barcelona 131981, S. 32 (alle weiteren Verweise beziehen sich auf diese Ausgabe). Zur Ironie der Stelle gehört, daß es sich bei dieser Einladung um den chronologisch letzten Moment der histoire-Ebene des Romans handelt.
22 Das Datum läßt sich leicht aus den Gesprächen am Tatort erschließen: „ – Fue Reina de la Farándula el año que entré a ‚La Crónica‘ – dijo Periquito –. El cuarenta y cuatro. Catorce años ya, carambolas“ (S. 374).
23 Vgl. etwa: „– Por su manera de tratarme a mí, también – dijo Ambrosio –. Por la forma como me oye, como me pregunta, como conversamos. Por la confianza que me da. Mi vida cambió desde que entré a trabajar con usted, don“ (S. 320). Diese Äußerung ist als Antwort auf eine Frage Don Fermíns zu verstehen, die Ambrosio kurz zuvor zusammenfaßt: „ – ¿Qué por qué me parece usted tan honrado y tan decente? – dijo Ambrosio –“ (S. 319).
24 Auffällig ist, daß J. M. Oviedo bei dem Bild, das er in seiner Interpretation des Romans von Ambrosio entwirft, beinahe ausschließlich auf Quetas Perspektive rekurriert, so als sei sie mit jener des Erzählers schlechthin identisch (J. M. O., Mario Vargas Llosa: la invención de una realidad,Barcelona 31982, S. 220–27).
25 Und den Roman demnach als eine Variante jenes Typs von Anti-Detektivroman behandelt, den Tani „Metafictional Anti-Detective Novel“ nennt. Vgl. dazu S. Tani, The Doomed Detective – The Contribution of the Detective Novel to Postmodern American and Italian Fiction,Carbondale-Edwardsville 1984, S. 113: „By now the detective is the reader who has to make sense out of an unfinished fiction that has been distorted or cut short by a playful and perverse ‚criminal‘, the writer“.
26 Oviedo, Maria Vargas Llosa, S. 234.
27 Oviedo, Mario Vargas Llosa, S. 230.
28 Oviedo, Mario Vargas Llosa, S. 223.
29 C. Fuentes, La nueva novela hispanoamericana, México 61980, S. 36.
30 So P. Standish in seinem „Critica Guide“ zu Vargas Llosa: „La ciudad y los perros“,London 1982, S. 23.
31 Oviedo, Mario Vargas Llosa, S. 97f.
32 Die Seitenangaben nach den Zitaten beziehen sich jeweils auf die Ausgabe: Mario Vargas Llosa, La ciudad y los perros (Biblioteca Breve), Barcelona 151983.
33 Oviedo, Mario Vargas Llosa, S. 98.
34 So besonders Standish, Vargas Llosa: „La ciudad y los perros“, S. 55ff. Mit einer ganzen Reihe unbeantworteter Fragen endet das Resümee, das Fuentes von der „novela de radical modernidad“ gibt, darunter auch der Frage: „¿Asesinó realmente el Jaguar al Esclavo, como lo confiesa finalmente a Gamboa, para vengar una denuncia anterior, o sólo quiere asumir el papel terrible que la justicia y el azar le ofrecieron?“ (La nueva novela, S. 41).
35 Zur zentralen Bedeutung der Gestalt eines „Wirklichkeitsexperten“ in den Romanen des traditionellen Realismus vgl. H. Pfeiffer, Roman und historischer Kontext,München 1984, bes. S. 138f.
36 Die Anerkennung dieses Andererseits bedeutet auch eine Selbstkorrektur, die ich an dem nicht hinlänglich differenzierten Votum meiner Rezension von Standish’ „Critical Guide“ vornehmen muß; vgl. RJb. 35 (1984) S. 343.
37 Die gedankliche Nähe zu Sartre, die später gegenüber ebenso ausgeprägten Flaubert-Affinitäten zurücktritt, ist für Vargas’ Frühwerk überhaupt charakteristisch, wie ja bereits der Titel einer Sammlung von Aufsätzen aus den sechziger Jahren (Entre Sartre y Camus, Puerto Rico 1981)erkennen läßt. In der kritischen Literatur über Vargas Llosa haben die wechselnden Referenzen auf Sartre und Flaubert bekanntlich zu einer vielstimmigen Debatte über das Verhältnis von ‚Existentialismus‘ und ‚Determinismus‘ in Vargas’ Romanen geführt. Freilich scheint mir diese Debatte durch ein exzessives Maß an Begriffsrealismus geprägt zu sein und überdies darunter zu leiden, daß ihrem (wesentlich moralisierenden) Raisonnement das ‚existentialistische‘ Moment immer schon als das erwünschte, das ‚deterministische‘ dagegen als das unerwünschte gilt. Vgl. dazu beispielsweise Oviedo, Mario Vargas Llosa, S. 110–16,oder M. A. Lewis, From Lima to Leticia – The Peruvian Novels of Mario Vargas Llosa,Lanham-New York-London 1983, S.53–102(„Determinism and Existentialism: A Difficult Amalgam“).
38 Widersprüchlich erscheinen daher auch die Lösungsvorschläge des Whodunit- bzw. Whydunit-Problemsin der kritischen Literatur zu La ciudad y los perros. Über einige signifikante Hypothesen, die bis zur (freilich abwegigen) Identifikation des Mörders in Alberto gehen, unterrichtet Oviedo, Maria Vargas Llosa, S. 115f.
39 Vgl. zu diesem Begriff, der seinen Ursprung in der Naturalismus-Forschung hat, E.-H. Bleich, Der Bote aus der Fremde als formbedingter Kompositionsfaktor im Drama des deutschen Naturalismus, Berlin 1936, sowie Y. Chevrel, Le Naturalisme, Paris 1982, bes. S. 120ff.
40 In welchem Ausmaß die Widersacher Alberto und Jaguar durch die Erzählstruktur des Romans als dessen „main characters“ privilegiert sind, wird plausibel von Standish herausgearbeitet (vgl. Vargas Llosa: „La ciudad y los perros“,bes. S. 36).
41 Vgl. etwa L. Harss, Los nuestros,Buenos Aires 1966, S. 436. Dagegen erkennt S. Magnarelli, daß eben in der Verrätselung „a great deal of the novel’s force“ beschlossen liegt; vgl. The Time of the Hero: Liberty Enslaved,LALR 8 (1976) S. 43.
42 Zur Problematik der Gestalt Gamboas, die gleichzeitig „a model soldier“ und „a failure“ darstelle, vgl.ausführlicher Standish, Vargas Llosa: „La ciudad y los perros“, S. 59ff.
43 Bezeichnenderweise gilt die Figur manchen Kritikern, die offenbar nach plakativen Wirkungen verlangen, als „indeseable“. Vgl. dazu Oviedo, der die verbreitete Kritik am ‚Epilog‘ des Romans folgendermaßen zusammenfaßt: „El desenlace no sólo parecería débil o incierto narrativamente, sino que daría a la problemática planteada en la novela una conclusión indeseable: la de que el único personaje finalmente <puro> sea Gamboa, representante del sistema que la novela condena» (Mario Vargas Llosa, S. 135).
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