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Quelle: Opern und Opernfiguren. Festschrift für Joachim Herz, hg. U. Müller, Anif/Salzburg, Müller-Speiser, 1989 (Wort und Musik, 2), S. 161–173.

‚Ernani‘ und ‚Hernani‘

Zum ‚Familialismus‘ der verdischen Oper

Nicht immer, aber häufig handelt es sich bei Opernlibretti um gewissermaßen potenzierte Übersetzungen, die einerseits den Abstand zwischen verschiedenen Nationalliteraturen, andererseits jenen zwischen verschiedenen Genera überwinden müssen. Deshalb sind sie noch weniger als einfache Übersetzungen allein nach dem Kriterium der ‚Treue‘ zum Original zu bewerten: ja die Gestalt der ‚belle infidèle‘ kann hier durchaus zur Regel werden, und je treuloser sich der Übersetzungstext von seiner dramatischen oder (seltener) romanesken Vorlage entfernt, um so schöner fällt oft das ‚Gesamtkunstwerk‘ aus, an dem das Libretto als bloße Komponente neben anderen Anteil hat.
Opernlibretti mit den literarischen Werken, durch die sie inspiriert wurden, zu vergleichen, bildet daher im allgemeinen eine Übung von begrenztem Erkenntniswert, zumal wenn die Wahrnehmung der unvermeidlichen Differenzen unter dem Gesichtspunkt ästhetischer Defekte erfolgt. [1] Allzu verschiedenartig wirken die semiotischen Prämissen der Vergleichsgrößen. als daß ihr von vornherein evidenter Kontrast wirklich spezifische Auskünfte versprechen könnte. Nur wo in Sonderfällen Libretto und Vorlage, Übersetzungstext und übersetzter Text, historisch wie generisch nahe beieinander liegen, mag man aus dem konstrastiven Vergleich die Kennzeichnung von Merkmalen gewinnen, welche einem Blick auf das jeweilige Einzelwerk nicht ohne weiteres manifest werden.
Sonderfälle solcher Art sind etwa jene Verdischen Opern, die sich der Sujets von mehr oder weniger rezenten romantischen Dramen bedienen. Dabei denke ich in erster Linie an die Stoffe, die Verdi und sein venezianischer Librettist Francesco Maria Piave dem Theater Victor Hugos entlehnt haben. Hier bleibt zunächst die historische Distanz – zwischen Hernani (1830) und Ernani (1844), Le Roi s’amuse (1832) und Rigoletto (1851) – verhältnismäßig gering. Hinzu kommt als wesentlicheres Moment noch die immer wieder hervorgehobene generische Affinität. Bekanntlich sind in Hugos Stücke charakteristische Züge des populären ‚mélodrame‘ eingegangen, [2] und Harald Wentzlaff-Eggebert hat Hugos Theaterpraxis überhaupt als eine „Dramaturgie der ‚szenisch erschlossenen Konstellation‘“ beschrieben, welche schon im Schauspiel zur ‚Wortoper‘ tendiert. [3]
In diesem Sinn war insbesondere Hernani, das Kampfstück des romantischen Theaters, mit seiner dramaturgischen Konstellation der „Tres para una“ zur Oper geradezu prädestiniert, um dort – nach einer glücklichen Formulierung Gabriele Baldinis [4] – in die musikalische Konstellation der ‚Belagerung einer weiblichen Stimme durch drei männliche Stimmen‘ übersetzt zu werden. Wo Hugo die ‚Regeln‘ klassischer Dramaturgie am entschiedensten und plakativsten kontestierte, kam er gleichsam zwangsläufig der Operndramaturgie nahe, die ihr strukturbildendes Prinzip ja auf ähnliche Weise in der Einheit des einzelnen Tableaus sah, während sie dem Kriterium psychologischer Handlungslogik womöglich noch weniger Wert beimaß als das ‚drame romantique‘. [5] Berücksichtigt man überdies, daß in Hernani eine ‚spanische Welt der Leidenschaft‘ verklärt wird, präsentiert sich der Dramentext tatsächlich bereits als eine halbe Oper. Jedenfalls hat Gioacchino Lanza Tornasi seine guten Gründe, wenn er im Hinblick auf die Dramaturgie des Hernani behauptet:
Questa è appunto una tipica costruzione melodrammatica: un teatro cioè montato su una sequenza di posizioni affettive e di pezzi chiusi. Hugo raccorcia il dialogo, trascura l’introspezione analitica, fa declamare all’attore amore disperazione o vendetta. [6]
Angesichts einer solchen dramaturgischen Nähe, bei welcher Oper und Drama in der Konzentration auf das (ausdrucksmäßig) ‚Deklamatorische‘ und (inhaltlich) ‚Affektive‘ zu konvergieren scheinen, nimmt der intermediale Vergleich nun doch ein gesteigertes Interesse an. Trotz aller Neigung zu gewissen „forme operistiche“ (Lanza Tomasi), die Hugo gemeinhin zugeschrieben werden, stellt sich nämlich heraus, daß zwischen seinem Hernani und Piaves (Verdis) Ernani bestimmte Unterschiede existieren, welche sich der sonstigen Affinität nicht fügen und in einigen Momenten auch über die selbstverständlichen Gattungsdifferenzen hinausgehen. Dabei möchte ich nicht weiter vertiefen, was sich als generische (mediale) Divergenz sozusagen unvermeidlich ergibt. Von selbst versteht sich beispielsweise der Zwang zur Kürzung, dem die Opernhandlung unterworfen ist, solange sie sich noch nicht die Dimension einer Tetralogie erobert hat. Derart streicht Piave etwa einen großen Teil der Ereignisse und ‚Coups de théâtre‘ die in den ersten beiden Akten des Hernani stattfinden, um stattdessen sehr rasch zur Exposition der Ausgangslage, eben der Konstellation „Tres para una“, zu gelangen. So werden im Ablauf weniger Szenen die Rivalen um die Liebe Doña Sols (von Piave aus Gründen der Kantabilität in „Elvira“ umgetauft) vor- und zugleich gegeneinandergestellt: zum einen die Konkurrenz zwischen Ernani, dem Banditen (fürstlicher Herkunft), und Carlo, dem König, zum andern der Besitzanspruch des ‚alten Silva‘ (so heißt nun, ebenfalls aus phonischen Motiven, Hugos Ruy Gomez), über dessen unmittelbar bevorstehende Hochzeit mit Elvira uns schon Ernanis Auftrittsarie unterrichtet:
Il vecchio Silva stendere
osa su lei la mano ...
Domani trarla al talamo
confida l’inumano ... (S. 52) [7]
Die drei Prätendenten, deren Rivalität Hugo anhand verschiedener Episoden entfaltet, sind einander in der Oper demnach von Beginn an konfrontiert, und zwar derart, daß ihre Gestalten im wesentlichen nur gerade so viel Relief erhalten, wie es bei Hugo den Abbreviaturen der episierenden Akttitel entspricht: „Le Roi“ – „Le Bandit“ – „Le Vieillard“. Ihnen gegenüber bekleidet Elvira (klarer noch als Doña Sol in Hugos Schauspiel) die Rolle der verfolgten Unschuld des Melodrams. Den Konventionen dieser Rolle folgen bereits die zitierten Wendungen aus Ernanis „aria di sortita“: nach ihnen ‚wagt‘ Silva, ‚Hand an Elvira zu legen‘ und sie – als ‚Unmensch‘, der er ist – ‚zum Brautbett zu schleppen‘. Explizit wird die idealtypische erotische Verfolgungssituation des Melodrams formuliert, wenn Elvira in ihrem bejahrten Verlobten „quest’odïato veglio“ erblickt, „che quale immondo spettro (!) ognor m’insegue (!)/ col favellar d’amore“ (S. 53). Bald darauf wiederholt und aktualisiert sich die Situation erotischer Verfolgung durch Carlo. Zwar wirbt er um Elvira in der siebten Szene (vgl. S. 56f.) mit betörender Zärtlichkeit (wie Verdi für Carlo überhaupt die schmelzendsten Töne findet), welche bis zu den Harmonien eines Duetts gesteigert wird: doch reagiert er dann auf Elviras tugendstarke Verweigerung („L’amor vostro, o sire, è un dono/ troppo grande o vil per me“) mit – wenngleich galanter – Energie, „afferrandole un braccio“, was die verfolgte Unschuld zu der ‚würdig entrüsteten‘ Frage provoziert: „Il re dov’è? ...“ (Wo bleibt da der König?).
Die rigorosen Kürzungen und Vereinfachungen. welche den ersten und zweiten Akt des Hernani betreffen, dienen nicht zuletzt der Absicht, den Handlungsverlauf des vierten und fünften Akts möglichst vollständig zu bewahren. Diese Absicht geht auf den ausdrücklichen Wunsch von Verdi selbst zurück, der Piave am 2. Oktober 1843 schrieb: „I cambiamenti fatti nei primi atti vanno bene, ma negli ultimi due quanto piú staremo attaccati a Hugo tanto piú avranno effetto. Per me quei due atti sono divini“. [8] Was Verdi keinesfalls missen möchte, ist zunächst die Verschwörungsszene, an deren Ende Carlo sich nach der Entdeckung der Verschwörer zu kaiserlicher „Clemenza“ erhebt: eine aus der Tradition der ‚Grand Opéra‘ vertraute Szene, die musikalisch nach den Modellen Meyerbeers und Rossinis, insbesondere nach dem zweiten Finale des Guillaume Tell gestaltet werden konnte. [9] Außerdem war natürlich der tragische Schlußeffekt unverzichtbar, zumal er durch das Hornsignal, mit dem Ruy Gomez (Silva) das Leben Hernanis einklagt, schon bei Hugo auf die Ausdrucksmittel der Oper vorauswies. Freilich kamen Verdi und Piave nicht umhin, den Exzess ‚schwarzer‘ Romantik, der in Hernani die Hochzeit („La Noce“ im Akttitel) mit einem gleich dreifachen Tod enden ließ, deutlich abzumildern. In der Oper trifft der Tod allein den Banditen; die Didascalia lautet „Ernani spira ed Elvira sviene“, während Silva nach vollzogener Rache triumphiert: „Della vendetta il demone/ qui venga ad esultar!“ (vgl. S. 88).
Was aber geht nun von Hugos Hernani verloren, wenn Komponist und Librettist sich bei ihrer zwangsläufig verkürzenden Bearbeitung für die letzten und gegen die ersten Akte entscheiden? Hier bedarf es kaum einer näheren Analyse um festzustellen, daß die Oper vor allem anderen das poetologische Programm einer eklatanten Mischung der Genera reduziert. An den Anfang seines Dramas hatte Hugo ja mit Bedacht typische Komödieneffekte gesetzt. Wie in einem Vaudeville verbarg sich Don Carlos als unerwünschter Zeuge eines Rendezvous im Schrank; wie in einem Vaudeville erschien Ruy Gomez zu eben jenem Zeitpunkt auf der Bühne, an dem ihm die lächerliche Rolle des betrogenen Ehemanns aus der Farce zufallen mußte. Bei diesen und anderen Komödieneffekten war es Hugo offensichtlich in einem doppelten, syntagmatischen und paradigmatischen Sinn um die Gattungsmischung des „grotesque“ und des „sublime“ gegangen. Zum einen bot der Dramenbeginn Episoden, die sich als Phasen der Komödie syntagmatisch von der geballten Tragik des Dramenschlusses abhoben: zum anderen umriß er in der Gestalt des Ruy Gomez eine Figur. die auch paradigmatisch den ‚grotesken‘ Part des Cocu und die ‚sublime‘ Repräsentation der feudalen Traditionswerte Ehre und Treue zu widersprüchlicher Einheit verband, Von solcher Überlagerung der herkömmlich getrennten Theatersphären ist in Verdis und Piaves Oper so gut wie nichts übrig geblieben. Silva erscheint anfangs (wie dann auch wieder am Ende) eher schrecklich als lächerlich, und selbst das einleitende Trinklied der Banditen. das die Komödienphasen der Vorlage immerhin pars pro toto vertreten könnte, schlägt – obwohl instrumentiert „con la tecnica brillante e bandistica della musica da ballo“ [10] – zumindest textlich sofort düster wilde Töne an.
Im Gegensatz zu Hugos Drama bemüht sich die Oper also, eine insgesamt homogene Stimmung zu erzeugen. Indem sie zugunsten der Evidenz einer durchgängig leidenschaftsbetonten Atmosphäre die Elemente von Komik und „grotesque“ beseitigt, verzichtet sie selbstverständlich auch auf den Wortwitz und die konzeptistischen Pointen. mit denen Hugo insbesondere die Dialoge des ersten Aktes versehen hat. Solche Pointen ergeben sich etwa, wenn Don Carlos seinen Schrank mit dem Ausruf „Ma foi, je sors“ verläßt und darauf von Hernani die Antwort bekommt: „Ma dague aussi n’est pas à l’aise. Et veut sortir“. Oder wenn Hernani, von Don Carlos nach seinem Namen gefragt, eine Replik formuliert, die auf einen zeugmatisch zugespitzten syntaktischen Parallelismus hinausläuft:
Je le (le nom, U.SB.) garde, secret et fatal, pour un autre
Qui doit un jour sentir sous mon genou vainqueur,
Mon nom à son oreille, et ma dague à son coeur! [11]
Dabei hängen diese Pointen nicht allein mit der Intention zusammen, am Beginn des Dramas für Komik zu sorgen. Gleichzeitig stehen sie auch im Dienst eines Stil-Pastiche, der an den Konzeptismus der ‚Comedia de capa y espada‘ erinnern soll, welche sich – bei historisch einigermaßen großräumigem Denken – von Ort und Zeit der Handlung her assoziieren läßt. Somit gehorcht selbst die sprachliche Gestaltung in Hugos Hernani recht weitgehend den romantischen Postulaten der „couleur locale“ und der „couleur historique“. Die Sprache des Dramas beschränkt sich nicht darauf, mit fremdartigen Eigennamen einzelne lexikalische Farbflecke zu verteilen, sondern dringt stellenweise bereits zu jenem Spiel historisierender Stilfügungen vor, das seinen Höhepunkt später im literarischen Historismus des Fin-de-Siècle, beispielsweise in Edmond Rostands Cyrano de Bergerac, [12] erreichen wird.
Daß die Oper im Jahr 1844 den Passagen eines solchen Stil-Pastiche nicht folgen mag, ist wohl noch leichter zu verstehen als ihr Verzicht auf die gegenüber dem Hauptgeschehen dissonanten Neben- und Untertöne des ‚Grotesken‘. In der einen wie der anderen Hinsicht manifestieren sich hier Abweichungen im Sinne struktureller Glättungen, die in hohem Maße vorhersehbar sind, ja man würde sich wundern, wenn Verdi und Piave bei ihrer Textreduktion anders vorgegangen wären. Weniger vorhersehbar wirkt indessen eine weitere Veränderung, oder besser: Akzentverschiebung, welche die Gestalt des Protagonisten betrifft. Um sie recht zu erfassen, muß man sich erinnern, daß Hernani – „le bandit“ – bei Hugo ja einen ‚Charakter‘ in der Tradition des ‚Byronschen Heldentypus‘ dargestellt hatte. [13] Er war – wenn man so will – der Typ des ‚sublimen Verbrechers‘, der, vom Schicksal getrieben, unwillentlich Unglück vor allem über die bringt, die ihn lieben. Da der Hugosche Hernani sich offenbar auch selbst als jemand, der durch diese Tradition gezeichnet ist, identifiziert, warnt er die geliebte Doña Sol in einer langen Tirade, die nicht zufällig im Zentrum des Dramas (3. Akt, 4. Szene) gesprochen wird:
Oh! par pitié pour toi, fuis! – Tu me crois, peut-être.
Un homme comme sont tous les autres, un être
Intelligent, qui court droit au but qu’il rêva.
Détrompe-toi. Je suis une force qui va!
Agent aveugle et sourd de mystères funèbres!
Une âme de malheur faite avec des ténèbres!
Où vais-je? je ne sais. Mais je me sens poussé
D’un souffle impétueux, d’un destin insensé. [14]
Und wie Byrons Manfred im Hinblick auf Astarte sagen konnte „My embrace was fatal [...] I loved her, and destroy’d her“, läßt Hernani seine Warnung in der Formel „Malheur à qui me touche!“ gipfeln:
Oh! fuis! détourne-toi de mon chemin fatal,
Hélas! sans le vouloir. je te ferais du mal! [15]
Von Piave und Verdi werden diese Aspekte ‚schwarzer‘ Romantik, welche, an sich auch musikalisch durchaus ergiebig sein könnten, dagegen nicht einmal andeutungsweise aufgegriffen. Ihnen entspricht in Ernani allenfalls der knappe Satz „Sono il bandito Ernani,/ odio me stesso e il dí“ (S. 64), mit dem Ernani im zweiten Akt seine Verkleidung abwirft und sich als Bandit zu erkennen gibt. Eine weitere Entwicklung ist dem Motiv des Selbsthasses in der Oper jedoch nicht gestattet, und schon in der nächsten Szene kehren die Affekte zum vertrauteren Bereich der schlichten Eifersucht zurück, die sich dann wiederum in dem Liebesduett „Ah, morir potessi adesso!“ auflöst. Wie an dieser Stelle das „Odio me stesso“ ohne Konsequenzen bleibt, so hat Ernani aber überhaupt den Charakter des „beau ténébreux“, der Hernani auszeichnete, weithin eingebüßt. Beim ersten Auftritt präsentiert er sich als ein Tenor, der seine Arie unter das Thema „del mio cor gli affanni“ stellt (vgl. S. 52), das heißt: er ist wie üblich der Liebende in einer Situation äußerst gefährdeter Liebe. Die Hugoschen Themen der Revolte, der gesellschaftlichen Ächtung und des schicksalhaften Getriebenseins erscheinen demgegenüber gänzlich marginal. [16]
Stattdessen tritt neben jener des Liebenden eine andere Qualität in den Vordergrund, welche in Hugos Drama nur wenig Relief besaß: die Rolle des Sohnes, der – vaterlos geworden – den Tod des Vaters an Carlos Geschlecht zu rächen hat. Von diesem Part war in Hernani meistens in allgemeinen Wendungen (z. B. „Ma race en moi poursuit en toi ta race“ oder „Le meurtre est entre nous affaire de famille“) und relativ selten mit Hinweisen auf die speziellen Sohnespflichten gesprochen worden. In Ernani ist der insgesamt ungleich blassere Protagonist dagegen essentiell durch die Identität eines Sohnes ohne Vater bestimmt. Wie er dem König zum ersten Mal gegenübersteht, formuliert er die Gründe seines Hasses in der folgenden Steigerung (S. 57):
Beni, onori rapito tu m’hai.
dal tuo morto fu il mio genitore.
Perché l’ira s’accresca ambi amiamo
questa donna insidiata da te.
Es ist das zwar die gleiche triadisch gegliederte Motivation, die auch Hernani anführt, doch lag in dessen Tirade auf dem Tod des Vaters der schwächste Akzent, während verhältnismäßig stärker in zweiter Position der Punkt „Beni, onori“ betont wurde:
Ecoutez. Votre père a fait mourir le mien,
Je vous hais. Vous avez pris mon titre et mon bien,
Je vous hais. Nous aimons tous deux la même femme,
Je vous hais, je vous hais, – oui, je te hais dans l’âme! [17]
Am Ende des ersten Aktes haben sich Ernanis Haß- und Rachemotive bezeichnenderweise völlig auf die Perspektive des Sohnes reduziert. Als Carlo ihn generös als seinen Vertrauten („fido“) ausgibt und da durch vor Silvas Zorn schützt, bemerkt Ernani a parte (S. 60):
Io tuo fido? ... il sarò a tutte l’ore
come spettro che cerca vendetta.
Dal tuo ucciso il mio padre l’aspetta:
l’ombra irata placare saprò.
Am bezeichnendsten aber wirkt schließlich der Moment, an dem Ernani bei der Verschwörung durch Losentscheid zum Mörder Don Carlos bestellt wird und daraufhin in einen Jubelruf ausbricht, der – wenigstens graphisch – mit der größtmöglichen Emphase versehen ist (S. 78):
O, qual gaudio m’è concesso!!!
Padre!!! Padre!!! [18]
Wird der Typus des Byronschen Helden demnach sowohl vereinfacht als auch in seinen Äußerungen (selbst rein quantitativ) beschränkt, so nimmt zum Ausgleich die Gestalt des Königs und nachmaligen Kaisers ein dementsprechend größeres moralisches Volumen an. Auffällig ist hier, daß die Milde, die Don Carlos bei Hugo erst mit der Kaiserwürde im vierten Akt zuwächst, bei Piave und Verdi schon am Ende des ersten Akts manifest wird: da das Libretto die Episode streicht, in der Hernani Don Carlos in seiner Gewalt hat und sich ihm gegenüber großmütig erweist, [19] kann der Herrscher die „clemenza“ jetzt gewissermaßen monopolisieren. Nachdem er von Elvira an seine Herrscherpflichten erinnert worden ist („Il re dov’è“), stellt sich Carlo bereits im ersten Finale in die Tradition der Clemenza di Tito, um als aufgeklärter Monarch außer dem selbstverständlichen „valore“ eine „clemente giustizia“ zu versprechen (S. 61):
Più d’ogni astro vagheggio il fulgore
di che splende cesarea corona;
se al mio capo il destino la dona,
d’essa degno mostrarmi saprò.
La clemente giustizia e il valore
meco ascendere in trono farò.
Zwar entspricht dieser Ankündigung kaum Carlos Verhalten im zweiten Akt, wenn er den widerspenstigen Silva, der das Gesetz der Gastfreundschaft einhalten muß, durch die Entführung Elviras straft (was in Anbetracht des gesamten Handlungsgefüges freilich nicht zu umgehen war), doch ist die herrscherliche Milde als Grundmotiv des zum Kaiser bestimmten Königs in der Oper immerhin deutlich früher und entschiedener angelegt als in Hugos Drama. Suggeriert wird sie im übrigen ebenfalls durch die verführerische Süße der melodischen Artikulation, Carlos Privileg im Andantino „Da quel di che t’ho veduta“ (S. 56) oder in der Arie „Vieni meco“ (S. 70), Gewiß dient sie mit ihrem „sussurro suadente“ – wie Lanza Tomasi betont [20] – zunächst vorwiegend dem Ausdruck standesgemäßer Galanterie. Zugleich läßt sie aber ahnen, daß sich solche Galanterie, sobald es an der Zeit ist, auch in eine standesgemäße Großmut verwandeln kann, welche der Kaiser im dritten Finale dann in der Tat aufs vorbildlichste unter Beweis stellt.
Hier entwickelt sich, von Elviras Flehen um das Leben ihres Geliebten ausgelöst, ein wahrer Triumph der erhabenen Tugend („virtú augusta“). Dabei läßt die Tugend, auf deren ‚Schwingen‘ Carlo sich zum ‚Kaiserthron erhob‘ (so die Arie „Oh de ‚verd‘ anni miei“, S. 76), es nicht mit der Vergebung genug sein. Als Höhepunkt ihrer Taten folgt in der Oper wie im Drama eine Ehestiftung, durch welche der Kaiser die von ihm selbst geliebte Frau und seinen Todfeind zusammenführt. Bei dieser Apotheose höchster moralischer Virtuosität hatte Hugo den Akzent vor allem auf Don Carlos’ erotische Entsagung gelegt. [21] Die Opernszene evoziert Carlos und Ernanis einstige Liebesrivalität dagegen allenfalls noch in der kurzen A-parte-Bemerkung „Mie brame ho dome“. Ansonsten demonstriert der Kaiser gegenüber den Liebenden die Gestik eines Vaters, unterstrichen zunächst durch die Didascalia „Guidando Elvira tra le braccia di Ernani“, dann durch die an Ernani und Elvira gerichteten Worte „Sposi voi siate. – v’amate ognor“ (vgl. S. 81).
Damit tritt Carlo sozusagen an die Stelle von Ernanis ermordetem leiblichen Vater. Das heißt: Ernani findet beim – leider nur provisorischen – Happy End des dritten Finales nicht bloß die Geliebte und die Verheißung des Eheglücks. sondern darüber hinaus im Kaiser auch den Repräsentanten ‚erhabener Tugend‘, der ihm ein gütiger Idealvater zu werden verspricht, weshalb sich die Rachepflicht nun in einem doppelten Sinn erledigt hat. Daß dies Happy End provisorisch bleibt, liegt – wie man aus Hugos Drama weiß – an der Gestalt Silvas (Ruy Gomez’), des anderen Rivalen in der Konstellation „Tres para una“, der im Gegensatz zum Kaiser nicht bereit ist zu verzeihen. Das Verhalten beider Rivalen wird vom Opernlibretto indes weit nachdrücklicher als vom Drama in die Relation einer pointierten Antithese gebracht. Stand der dritte Akt dank Carlos Vergebung und Ehestiftung im Zeichen der Devise „Virtú augusta è la pietà“, so beherrscht den vierten Akt umgekehrt Silvas verhängnisvoller Entschluß „io non perdono“ (vgl. S. 87). Durch die Gegenbildlichkeit, welche das Verhalten des alten Feudalherrn antithetisch auf jenes des Kaisers bezieht, tritt jetzt aber auch Silva in eine gleichsam pervertierte Vaterrolle ein.
War es Carlo gelungen, den peinlichen Status des erfolglosen Rivalen in der Rolle eines Idealvaters zu überwinden und zu sublimieren, macht sich Silva demgegenüber den Part eines Vaters zu eigen, der mit unerbittlicher Eifersucht auf der Bestrafung der widerspenstigen Kinder besteht. Wie er in schwarzer Maske die Hochzeitsfeier stört und ‚Myrthe‘ in ‚Zypresse‘ zu ‚verwandeln‘ droht (vgl. S. 86), wird er von Ernani essentiell als ‚der Alte‘ wahrgenommen (S. 85 : „È il vecchio! ... il vecchio! ... mira! ...“). Symptomatisch wirkt vor allem die Formulierung von Elviras Bitten um Gnade. Nachdem Silva sein fatales „io non perdono“ gesprochen hat, erinnert Elvira daran, daß sie doch selber zum Geschlecht der Silva gehöre. Die Wendung, die sie dabei gebraucht, lautet: „Figlia d’un Silva io sono“ (S. 87) – ein Satz. der die Braut in ähnlicher Weise als Tocher präsentiert, wie Ernani von Anfang an den Sohn par excellence darstellte, während Silva durch die Formulierung – zumindest konnotativ – ein weiteres Mal mit der Symbolfunktion des eifersüchtig rächenden Vaters belastet wird.
Es ist also festzuhalten, daß Verdis / Piaves Oper an der Konstellation des Dramas gerade in den Momenten höchster Spannung mit Nachdruck die Familienrelationen hervorkehrt. Ernani und Elvira sind nicht nur Liebende, sondern kaum weniger vorrangig auch Sohn und Tochter, Carlo und Silva erscheinen zunächst als Rivalen bei der Liebeskonkurrenz, um dann in zwei gegensätzlichen Varianten die Rollen von Vätern zu übernehmen: die Rolle des gütigen Vaters, der – die eigenen Triebe sublimierend – das Glück der Kinder stiftet, und die Rolle des eifersüchtigen Vaters, der – zur Sublimation unfähig – als ‚Dämon der Rache‘ zerstört, was der gütige Vater begründet hat. [22] Dem entspricht es, wenn die Referenz auf familiale Bindungen im Text von Verdi und Piave auch jenseits der zentralen Vater-Kind-Beziehung bemerkenswert häufig vorkommt. So spricht Carlo den Rivalen Silva als „Cugino“ an (vgl. S. 67), Silva gewährt jedem Gast „i dritti d’un fratello“ (S. 65); als „noi fratelli“ betrachten sich gleichfalls die Verschwörer, die im berühmten Unisono-Chor „Si ridesti il Leon di Castiglia“ schließlich in den begeisterten Ruf ausbrechen: „Siamo tutti una sola famiglia“ (S. 79).
Dieser Ruf läßt sich geradezu als eine Art Programm für das verstehen, was die Dramaturgie und gleichzeitig die Ideologie zumal der frühen Verdischen Opern ausmacht. Von Luigi Baldacci ist Verdis Dramaturgie treffend als eine ‚volkstümlich-bürgerliche‘ beschrieben und in einen signifikanten Gegensatz zur ‚aristokratischen Dramaturgie‘ Donizettis gebracht worden: „Alla drammaturgia donizettiana, fondamentalmente aristocratica, Verdi sostituisce una drammaturgia popolare-borghese; cioè inerente alle situazioni reali che la famiglia italiana, in quanto istituto morale e sociale, viene a porre intorno alla metà del secolo“. [23] Zu einer solchen „drammaturgia popolare-borghese“ gehört unter anderem die moralische Zentralität der Vaterfigur, die in Donizettis Dramaturgie noch hinter dem Primat rein amouröser Konkurrenzsituationen zurückstand: „[...] se in Verdi il fulcro drammatico è rappresentato dalla figura del padre, depositario di ogni fondamento morale, Donizetti, più ‚francese‘, lontano da un’etica risorgimentale, imposta prevalentemente la sua drammaturgia sul triangolo d’amore, proiettando quel rapporto su un fondale storico (e contribuendo cioè all’incremento della ‚storia per tutti‘)“. [24]
Nun ist im Falle des Ernani unverkennbar, daß seine Vorlage, Hugos Hernani, an sich durchaus stärker in die Richtung der idealtypischen „drammaturgia donizettiana“ als in jene der „drammaturgia verdiana“ wies: dafür sprach das Schema der dreifachen Liebeskonkurrenz ebenso wie das romantische Interesse an der „couleur historique“, das Element von ‚storia per tutti‘, um Baldaccis Wendung aufzunehmen. Alle Modifikationen, die Piave und Verdi an ihrer Vorlage anbringen, gehorchen jedoch mit erstaunlicher Konsequenz dem Ideal des „popolare-borghese“, und gerade hier, wo sich dies Ideal an einem nicht unbedingt adäquaten Stoff reibt, kann seine Identität vielleicht am deutlichsten erfaßt werden. Indem der Librettist versucht, den vorgegebenen Plot eines romantischen Dramas so weit wie möglich in vertraute Familiensituationen zu übersetzen, entscheidet er sich nämlich nicht nur für eine prononciert ‚bürgerliche‘ Dramaturgie. Mit der Übersetzung ins bewußt Bürgerliche, das heißt: ins familial Vertraute, ist auch die Absicht verbunden, eine Dramaturgie größter und breitester Publikumsnähe und folglich quasi unmittelbarer Evidenz zu entwickeln.
Deshalb drängt die Verdische Oper zurück, was immer bei Victor Hugo der „couleur historique“ diente und daher den Eindruck des Fremden hervorrufen mußte. Solche Suggestionen geschichtlicher Ferne bleiben in der Oper auf wenige Äußerlichkeiten, sozusagen auf den Bereich der Kostümierung, beschränkt. Energisch betont wird dagegen alles, was an die Affekte appelliert, wie sie im Innern der Familie, zumal auf der Linie zwischen Vätern und Kindern wirken. In diesem Appell wird stets das Versprechen impliziert, jede Ferne als scheinhaft zu erweisen und in die Präsenz affektiver Nähe zu verwandeln. Es ist dies – wenn man so will – das seitdem unablässig wiederholte Versprechen jener Massenkultur, die ihr Ziel darin sieht, Entfernung auch im Sinn kognitiver und ästhetischer Distanz zu beseitigen: gewissermaßen als Kompensation des Fortschritts an Wissen und Bewußtsein, durch den sich gleichzeitig immer neue, verunsichernde Entfernungen öffnen. Mit solcher Massenkultur haben Verdis frühe Opern schon durchaus zu tun; ja man könnte sagen, daß sie – in einer noch relativ unschuldigen Phase – deren insgesamt strahlendsten Ausdruck bilden. Eben dafür benötigen sie neben der – mitunter ein wenig rohen – Volkstümlichkeit ihrer kompositorischen Faktur indes nicht zuletzt auch den Nähe und Gegenwart schaffenden „Familialismus“ ihrer Libretti.
1 Zur grundsätzlichen „Inadäquanz der einsamen Lektüre des Literaturwissenschaftlers“ angesichts von Texten des Musiktheaters vgl. die triftigen Überlegungen von Hans Ulrich Gumbrecht, Musikpragmatik – Gestrichelte Linie zur Konstitution eines Objektbereichs. In: Albert Gier (Hrsg.), Oper als Text. Heidelberg 1986. S. 15–23.
2 Sie werden besonders prägnant herausgearbeitet in der Interpretation von Rainer Warning, Victor Hugo – Ruy Blas. In: Jürgen von Stackelberg (Hrsg.), Das französische Theater. Düsseldorf 1968, Bd. 2, S. 139–164.
3 Vgl. Le Roi s’amuse und Rigoletto. Zum Verhältnis zwischen romantischem Drama und dramatischer Oper. In: Romanische Literaturbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Franz Rauhut. Tübingen 1986. S. 335–349.
4 Vgl. Abitare la Battaglia. Mailand 1970. S. 82.
5 Vgl. H. Wentzlaff-Eggebert, in der in Anm. 3 angegebenen Festschrift, S. 339 und 347.
6 „Ernani“ di Giuseppe Verdi. Guida all’Opera. Mailand 1982. S. 38.
7 Der Libretto-Text wird zitiert nach der Ausgabe: Il teatro italiano V. Il libretto del melodramma dell’Ottocento, Tomo secondo, a cura di Cesare Dapino, introduzione di Folco Portinari. Turin 1984 (= Gli struzzi 286).
8 Zitiert nach Il teatro. a.a.0. (Anm. 7), dort unpaginiert.
9 Vgl. G. Lanza Tomasi, a.a.0. (Anm. 6), S. 75. Zu den Problemen des eigentümlich kompositen Tell-Librettos vgl. die ebenso genaue wie strenge Analyse von Ulrich Weisstein. Der Apfel fiel recht weit vom Stamme: Rossinis Guillaume Tell, eine musikalische Schweizerreise. In: Oper als Text. a.a.0. (Anm. 1), S. 147–184.
10 Vgl. G. Lanza Tomasi, a.a.0. (Anm. 6), S. 49.
11 Vgl. Victor Hugo, Hernani – Ruy Blas. Paris 1969 (= Le Livre de poche 2434), S. 52f.
12 Vgl. zu diesem Drama, einem der formal virtuosesten Stücke der französischen Theatergeschichte, meine Interpretation in: Walter Pabst (Hrsg.), Das moderne französische Drama. Berlin 1971. S. 70–80.
13 Vgl, dazu das Kapitel „Le metamorfosi di Satana“ in Mario Praz, La carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica, Florenz 1966. S. 49–82.
14 V. Hugo, a.a.O. (Anm. 11), S. 115.
15 Ebenda.
16 Es trifft daher nicht eigentlich den Sachverhalt, wenn Folco Portinari Ernani als „romantico bandito“ und „eroe ribelle“ zum „primo vero grande personaggio verdiano“ erklärt; vgl. Il teatro, a.a.O. (Anm. 7), S. XXV.
17 V. Hugo, a.a.O. (Anm. 11), S. 84.
18 An der gleichen Stelle feiert Hernani den bloßen Begriff der ‚Rache‘: „[...] J’ai gagné!/ Je te tiens, toi que j’ai si longtemps poursuivie,/ Vengeance! [...]“ Diesem Begriff der Rache bleibt die Evokation des Vaters als ein Anlaß neben anderen auch untergeordnet, wenn es wenig später heißt: „[...] Non, je tiens ma vengeance!/ Avec Dieu, dans ceci, je suis d’intelligence./ J’ai mon père à venger! [...] peut-être plus encor!“ Vgl. V. Hugo, a.a.O. (Anm. 11), S. 159f.
19 Diese Episode hatte freilich schon in Frankreich Anstoß bei der Zensur erregt, vgl. V. Hugo, a.a.O. (Anm. 11), S. 568f.
20 Vgl. a.a.0. (Anm. 6), S. 54 und 72.
21 Vgl. Hugo, a.a.O. (Anm. 11), S. 169f.
22 Von symbolischer Bedeutung ist dabei im Finale des dritten Akts die Wiederholung des Reimworts „dome“, als Silva durch sein „Oh mie speranze – vinte, non dome,/ tutte appagarvi – saprò ben io“ auf Carlos „mie brame ho dome“ antwortet (vgl. S. 82).
23 Luigi Baldacci, Libretti d’opera e altri saggi. Florenz 1974. S. 178.
24 Ebenda.
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