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Quelle: Romanistisches Jahrbuch 37, 1986, S. 107–126.

Bandellos Realismus

Unter den vielen Autoren des Cinquecento, deren Werk weit über die Grenzen der italienischen Literatur hinaus wirkte, ist Matteo Bandello wohl einer der folgenreichsten gewesen. Betrachtet man aus komparatistischer Perspektive speziell die Novellistik, nimmt er sogar vor Straparola – dem Vorbereiter, wo nicht ‚Erfinder‘ der Gattung Kunstmärchen [1] – eindeutig den ersten Rang ein: auf ihn geht der französische wie spanische Erfolg des Novellentyps einer ,,histoire tragique“ zurück, und Stoffe, die er prägte oder die zumindest durch ihn vermittelt wurden, haben etwa Lope de Vega oder – in einem berühmten Fall – Shakespeare zu großen dramatischen Schöpfungen inspiriert [2] .
Problematischer steht es mit Bandello dagegen, wenn er nicht bloß als Spender zukunftsträchtiger Stoffe und Motive gesehen wird, sondern wenn er – um des eigenen Textes willen – als Autor eines Novellariums von nicht weniger als 214 Titeln in den Mittelpunkt kritischer Aufmerksamkeit tritt. Hier kenne ich kaum eine Stellungnahme, in der nicht Reserven oder wenigstens Äußerungen von Perplexität und Ratlosigkeit laut würden [3] . Offenbar läßt das ‚Chaos‘ der Bandelloschen Novellen [4] derart widersprüchliche Züge erkennen, daß es schwerfällt, sie durch eine – sei es noch so lockere – Charakteristik auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, der in ihnen die individuelle Handschrift eines bestimmten auktorialen Subjekts sichtbar machen könnte. Hält man sich an die Reaktionen kompetenter Leser, erscheint Bandello jedenfalls als ein Autor, der die verschiedensten Seelen beziehungsweise die verschiedensten Ecritures und Diskurse in einer Brust vereint. So nimmt Hermann H. Wetzel bei ihm in erster Linie den „erhobenen Zeigefinger des Beichtvaters“ wahr und verweist – gewiß nicht zu Unrecht – auf „vortridentinische Strömungen“, „die zu einer Moralisierung des Erzählten führen“ [5] . Francesco Flora beklagt demgegenüber Bandellos Obszönität, ein „compiacimento vizioso e grasso“, neben dem Boccaccios klassische Unanständigkeiten gleichsam den Charakter einer tieferen Keuschheit erhalten: „chi vuol intendere quale sia la differenza tra la grande arte purificatrice e la parola terrosa, compari qualche passo osceno del Bandello con altro di materia affine nel Boccaccio, e sentirà la profonda castità artistica dell’autore del Decamerone [6] .
Indessen liegt hier nicht die größte Crux der Bandello-Deutung: die phallischen Obsessionen, die manche Novellen des Dominikaners durchziehen (etwas II 2, III 46 oder III 51), könnten ja gerade in ihrem Exzeß gegenüber Boccaccio auch als eine Begleiterscheinung oder Konsequenz jener vortridentinischen Moralisierung verstanden werden, die eben im Sexuellen den zentralen Gegenstand und Anlaß ihrer Diskurse entdeckt. Schwieriger präsentiert sich das Problem dessen, was wir einigermaßen verkürzt den Bandelloschen „Realismus“ nennen wollen. Bekanntlich hat ja kein anderer italienischer Novellist je ähnlich intensiv auf dem Realitätsgehalt und der Historizität seiner Erzählungen bestanden. Indem Bandello die übliche Fiktion einer Rahmenhandlung opfert und statt dessen jede Novelle mit einem besonderen Widmungsbrief versieht, der unter anderem die oft lebensweltliche Quelle der Novelle angibt, verankert er die Erzählungen nachdrücklich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Zeit [7] und bemüht sich, sie geradezu dokumentarisch zu authentifizieren. Demgemäß spricht Flora vom ,,‚nudo‘ della storia“, das bei Bandello zum Vorschein kommt, und klassifiziert Bandellos Stil als den eines „verista“ [8] ; im gleichen Sinn hebt Fritz Schalk das „alltägliche Geschehen“ hervor: „Dieses zu beschreiben, war das Ziel Bandellos“ [9] .
Andererseits wissen wir nun aber seit den Forschungen Letterio Di Francias, daß die Stoffe der Novellen keineswegs immer so lebensweltlich authentisch waren, wie Bandello in seinen Widmungsbriefen gerne behauptet [10] . Hinter den Gesprächen, an die hier explizit erinnert wird, verbergen sich häufig implizite schriftliche Quellen, die von Livius über die Disciplina Clericalis des Petrus Alphonsus bis zum Heptaméron der Marguerite de Navarre reichen mögen. Aus der Entdeckung dieser Traditionsgebundenheit kann dann gelegentlich eine Art Enttäuschung entstehen, die nunmehr meint, Bandello jede echte Originalität absprechen zu müssen. Ein symptomatisches Beispiel dafür ist Donata Ortolanis Aufsatz Una liberazione impossibile – A proposito del ‚realismo‘ nelle „Novelle“ di Matteo Bandello [11] . Für Ortolani erweist sich Bandellos sogenannter Realismus am Ende als eine bloße ‚Maske der Literatur‘; denn alle Ereignisse, die berichtet werden, seien aus der ‚literarischen Tradition‘ abgeleitet, und schließlich heißt es mit vernichtender Kritik: „La poetica ‚realistica‘ [...] non induceva, dunque, Bandello a sfondare la barriera della letteratura per rappresentare direttamente la vita, né ad abbandonare la superficiale verità di una miriade di ‚casi‘ trasportati dalla corrente della tradizione letteraria per attingere alla dinamica profonda della storia“. Daß Bandello bei der Aufgabe scheiterte, ‚das Leben direkt darzustellen‘ und ‚die tiefe Dynamik der Geschichte zu berühren‘, hat nach Ortolani essentiell mit seiner konservativen Ideologie zu tun, „un’ideologia che di autenticamente realistico aveva ben poco, centrata com’era sulla selezione delle molteplici possibilità ed espressioni del reale in un’ansia [...] di conservazione dell’esistente“ [12] .
Soweit eine neuere, unverkennbar ideologiekritisch intonierte Stimme zu Bandellos Realismus. Wir wollen sie jetzt nicht unsererseits ideologiekritisch-analysieren und beispielsweise fragen, wie denn ein literarischer Text (zumal des Cinquecento) überhaupt ‚das Leben direkt darstellen‘ kann oder inwiefern eine konservative Sorge um das Bestehende prinzipiell der realistischen Darstellungsweise abträglich sein soll (man denke hier an das klassische Exempel Balzacs!). Klammern wir das letztlich ontologische Problem des Realismus, das ohnehin durch die typologische Unterscheidung verschiedener ‚Realismen‘ zu ersetzen wäre [13] , vielmehr vorerst aus und wenden uns statt dessen dem eher semiotisch erfaßbaren „effet de réel“ zu [14] , der augenscheinlich Bandellos Kommunikation mit dem Leser bestimmt. Das heißt: Wir fragen zunächst nicht nach dem (gewiß unterschiedlichen) Grad von Historizität, durch den sich die Novellen jeweils auszeichnen, sondern nach den narrativen Mitteln, die Bandello bewußt und oft wohl auch unbewußt einsetzt, um den Eindruck solcher Historizität zu erzeugen. Oder mit anderen Worten: Wie erklärt sich, daß bereits Stendhal, verführt vom Eindruck des kunstlos beziehungsweise ungekünstelt Authentischen, diese Erzählungen als „ces petits morceaux naïfs“ empfahl [15] und daß noch Leser wie Flora oder Schalk in dem spontanen Urteil übereinstimmten, Bandello sei es wesentlich um das „alltägliche Geschehen“ und um die ,,‚casi mirabili‘ d’ogni giorno“ gegangen?
Eine erste Antwort auf die solcherart formulierte Frage liegt natürlich auf der Hand. Bandello nimmt den Leser für die Historizität seiner Novellen ein, so wird man sagen, weil er die blanke Wahrheit des Berichteten in den Widmungsbriefen unermüdlich beteuert und durch die Authentifizierung der Novellen-Herkunft zu garantieren versucht. Doch dürften solche Beteuerungen nur wenig nützen und zumal bei literarhistorisch gewitzten Lesern eher Mißtrauen erregen [16] , wenn sie nicht durch eine besondere Strategie des Erzählens selbst unterstützt würden. Was in diesem Sinne an Bandellos Erzählverfahren eigentümlich ist, möchte ich im Folgenden skizzenhaft umreißen. Bandellos sporadische Äußerungen zu einer impliziten Poetik seines Novellenerzählens, das heißt: die in sein Werk gewissermaßen „inkorporierten“ „Realismus-Argumente“ [17] ,sind dafür der quasi selbstverständliche Ausgangspunkt.
Faßt man zusammen, was vor allem in den Widmungsbriefen über die poetologischen Absichten der Bandelloschen Novellistik mitgeteilt wird, so ergeben sich ein paar bemerkenswerte Schwerpunkte. Immer wieder unterstrichen hat die Kritik jene Äußerungen, mit denen der Novellist sich als ein früher Anhänger der „Modernes“ gegenüber den „Anciens“ präsentiert. Die Gegenwart mit ihren Kriegen und ihren religiösen Konflikten bietet nach Bandello nämlich besonders viel Erzählwürdiges: „se mai fu età ove si vedessero di mirabili e differenti cose, credo io che la nostra età sia una di quelle ne la quale, molto piú che in nessun’altra, cose degne di stupore,di compassione e di biasimo accadono“ (II, S. 567, Hervorhebung U. SB.) [18] . Indessen ist die Moderne novellenträchtig nicht allein wegen ihrer in den Folgen noch unabsehbaren Umwälzungen, wie sie Bandello hier in der Widmung von III 62 wahrnimmt: „certo [...] possiamo dire che pochissime età hanno veduto così subite mutazioni come noi veggiamo tutto il dì, né so a che fine le cose debbiano terminare“ (Il, S. 569). Sie zeichnet sich vielmehr in einem nun problemlos positiven Sinn auch durch den Reichtum an bedeutenden ‚Facta‘ und ‚Dicta‘ aus, an „opere meritevoli di lode“ und „belli e ingegnosi detti“, welche sich in ihr – wie es heißt – alle Tage zutragen (vgl. II, S. 387f.). Woran es der Moderne im Vergleich zur Antike fehle, seien lediglich tüchtige Schriftsteller, die solchen Reichtum aufzeichneten und der Nachwelt überlieferten. Dazu die berühmte Widmung von I 8: „Ma il male è che ai nostri tempi non v’è chi si diletti di scriver ciò che a la giornata avviene“ (I, S. 106f.).
Wie wir an dieser Stelle sehen, verbindet sich Bandellos Modernismus gern mit Wendungen, die auf den ersten Blick eine Art Pathos des Alltäglichen zu entwickeln scheinen. Jedenfalls mag das „scriver ciò che a la giornata avviene“ (vgl. auch II, S. 16: „cose che a la giornata accadono“) manchen Leser an Du Bellays Vorsatz erinnern, in den Regrets seine „papiers journaux“ zu führen [19] , oder auch an Guicciardinis – wenn man so will: mentalitätsgeschichtlich interessiertes – Bedauern darüber, daß die Historiker in der Regel vergäßen, das ihnen Selbstverständliche zu notieren: „Parmi che tutti gli istorici abbino [...] errato in questo: che hanno lasciato di scrivere molte cose che a tempo loro erano note, presupponendole come note“ [20] . Genauer betrachtet, erweist sich jedoch, daß die Tendenz des Passus gerade in die entgegengesetzte Richtung geht, nicht zum Alltäglichen, sondern zum Außerordentlichen und Unerhörten. Zwar soll nach Bandello berichtet werden, was täglich geschieht; doch erscheint der Mangel an solchen Berichten nur deshalb bedauerlich, weil in der Abundanz des gegenwärtigen Lebens täglich eben das Unerhörte geschieht (vgl. I, S. 107). Einerseits gilt Bandellos Aufmerksamkeit also bewußt der Moderne und ihren gleichsam. naheliegenden Ereignissen; andererseits verdient die Moderne dies Interesse aber bloß wegen der Außerordentlichkeit von Ereignissen, die bei aller Nähe doch auch „mirabili e differenti cose“, „cose degne di stupore“ sind.
Beide Begriffe, der des „mirabile“ und der des „stupore“, wiederholen sich in den Kommentaren zum Erzählgeschehen derart häufig, daß der Eindruck entsteht, Bandellos gesamtes Novellarium habe sich im Zeichen einer „Meraviglia“-Ästhetik entwickelt, welche – sozusagen präbarock – den berühmten Postulaten Giambattista Marinos nahekommt [21] . Offenkundig trägt auch Bandello zu jener insgeheim anti-aristotelischen Ausbreitung des ‚Wunderbaren‘ bei, deren allmählicher Fortschritt im Laufe des Cinquecento – wie Gerhart Schröder gezeigt hat [22] – schon durch die poetologischen Schriften J. C. Scaligers oder Giraldi Cintios eingeleitet wurde. In der Tat läßt der Erzähler nicht ab, unermüdlich die „meraviglia“ anzupreisen, die seinen Geschichten zu eigen sein soll. Natürlich gehört sich das aus einleuchtenden Gründen für jeden Novellisten; doch wirkt Bandello in diesem Punkt besonders eloquent. Um einen Beleg zu nennen, der für viele steht, zitieren wir den Anfang des Widmungsschreibens zu II 7, wo das Konzept „meraviglia“ bei der traditionellen Horazischen Verbindung von „utile“ und „dulce“ zum Inbegriff für alles aufsteigt, was ‚delektieren‘ mag (I, S. 707):
Ancor che tutto il dí si veggiano occorrer varii casi, cosí d’amore come d’ogn’altra sorte, e mille accidenti impensatamente nascere, non è perciò che di simil avvenimenti non si generi meraviglia in noi e che assai sovente non rechino profitto a chi gli vede od intende. E tanto piú è maggior la meraviglia e l’utile piú fruttuoso, quanto che le cose meno sperate avvengono.
Bestätigt wird diese „Meraviglia“-Ästhetik durch die Verdrängung der aristotelischen Zentralkategorie des Wahrscheinlichen, die dem Wunderbaren von den klassizistischen Poetiken stets mehr oder weniger kontrollierend und störend in den Weg gestellt wurde [23] . Dabei ist bezeichnend, daß Bandello die Kategorie des Wahrscheinlichen gegenüber jener des Wunderbaren nicht nur in ihrem Geltungsanspruch reduziert, sondern daß er aus diesem begrifflichen „Grundverhältnis“ klassischer Dichtung überhaupt austritt. Statt auf die Wahrscheinlichkeit als das Maß, das die aristotelischen Tragödien- und Epentheorien bereithielten, rekurriert er wiederholt auf das weitere und tolerantere Kriterium der Möglichkeit, obwohl doch eben das ‚unglaubwürdige Mögliche‘ von der Poetik des Aristoteles (vgl. XXIV 9) explizit abgewertet worden war. So heißt es einmal bei einem „caso molto mirabile“, dessen Wahrheit offenbar von vielen angezweifelt wird: „E nel vero, quando una cosa può essere, io non istarei mai a questionare ch’ella non fosse stata; onde i filosofi hanno una regola: che ogni volta che sia proposto un caso possibile, che quello si deve accettare“ (II, S. 249f. zu III 1). Das gleiche Problem ergibt sich im Widmungsbrief zu Novelle II 35 Un gentiluomo navarrese sposa una che era sua sorella e figliuola non lo sapendo. Hier räumt Bandello anfangs ein: „Spesse fiate sogliono avvenire casi cosí strani che, quando poi sono narrati, par che piú tosto favole si dicano che istorie, e nondimeno son pur avvenuti e son veri. Per questo io credo che nascesse quel volgato proverbio: che ‚il vero che ha faccia di menzogna non si deverebbe dire‘“ (I, S. 1018). Obwohl sich hinter dem „volgato proverbio“ sogar eine Dante-Stelle verbirgt, formuliert der Novellist darauf aber seinen entschiedenen Widerspruch. Das heißt: Auch gegen die Autorität von Inferno 16, 124–126 („Sempre a quel ver c’ha faccia di menzogna/de’ l’uom chiuder le labbra fin ch’el pote,/però che sanza colpa fa vergogna“) wird erneut als einzige Kontrollinstanz das Mögliche genannt:
Ma dicasi ciò che si vuole, ch’io sono di parer contrario, e parmi che chiunque prende piacer a scriver i varii accidenti che talora accader si veggiono, quando alcuno gliene vien detto da persona degna di fede, ancor che paia una favola, che per questo non deve restar di scriverlo, perciò che, secondo la regola aristotelica, ogni volta che il caso è possibile deve esser ammesso.
In beiden Fällen liegt die eigentliche, wenngleich nicht näher ausgeführte Pointe der Argumentation im Verzicht auf das Kriterium „glaubwürdiger Wahrscheinlichkeit“ [24] , welches ja gegenüber der Möglichkeit ohne Zweifel als die vorrangige „regola aristotelica“ zu gelten hat. Wenn der Begriff des Wahrscheinlichen in Bandellos poetologischer Rechtfertigung ausfällt, wird zum Ausgleich jedoch um so wichtiger die Behauptung der Wahrheit und historischen Tatsächlichkeit aller erzählten Ereignisse. Wirklich verwendet Bandello – mehr noch als etwa Marguerite de Navarre – eine auffällige Beredsamkeit auf diesen Anspruch faktischer Wahrheit, der die aristotelische Poetik, die bekanntlich nicht zuletzt die Illustration der Dichtung vor der Geschichtsschreibung betrieb [25] , in einer pointiert historiographischen Haltung gewissermaßen unterläuft. Dabei läßt sich feststellen, daß die häufigen Reklamationen der Faktizität des Erzählten eine wenigstens dreifache Rechtfertigungsfunktion besitzen. Zwei solcher Funktionen kommen in der berühmten Widmung von II 11 zum Ausdruck. Dort vertritt Bandello den Wahrheitsanspruch seiner Novellen mit dem Satz „[...] queste mie novelle, s’ingannato non sono da chi le recita, non sono favole, ma vere istorie“ (I, S. 778): einmal, um sich – als Historiograph, der auf das Gewicht der Geschichte setzt – gegen den Vorwurf zu wehren, er habe keinen literarischen Stil und sei daher kein rechter „prosatore“; zum anderen, um seine Novellen gegen die Anklage der Unmoral zu verteidigen, bezeichnenderweise kraft des nachdrücklich auf Historizität verweisenden Arguments, auch in der Heiligen Schrift gäbe es Berichte über Ehebruch, Inzest und Mord, „come chiaramente si sa“ (I, S. 779). Die dritte Funktion scheint indes die umfassendste und für Bandello am tiefsten charakteristische zu sein. Ihr wird der Wahrheitsanspruch zum letztmöglichen Gegengewicht gegen das Unerhörte von Vorfällen, die wegen ihres zugespitzten „Meraviglia“-Charakters eo ipso keinen Wahrscheinlichkeitsanspruch erheben können. Gerade weil viele Geschichten bei Bandello „casi strani“ sind, müssen sie am Ende als „pur avvenuti e [...] veri“ ausgewiesen werden, und so verlangt eben der Anschein des Unwahrscheinlichen und des Absonderlichen, alle Mittel einer Rhetorik der Historizität aufzubieten, um die scheinbaren „favole“ in wirkliche „istorie“ zu verwandeln.
Eine solche Rhetorik der Historizität, welche eine Materie von „casi strani“ und „casi mirabili“ vermittelnd kompensiert, durchzieht nun das ganze Corpus der Bandelloschen Novellen und bestimmt die Eigenart dessen, was wir als ihren spezifischen „effet de réel“ bezeichnen können. Während sie in den Widmungsbriefen vor allem als Anspruch und Behauptung laut wird, bedient sie sich in den Erzählungen selbst eines umfangreichen Repertoires narrativer Verfahren, die vom eher unauffälligen Detail bis zu den auffälligen Regelmäßigkeiten, oder besser: Unregelmäßigkeiten der größeren Erzählstrukturen reichen. Die wesentlichen rhetorischen Techniken der Authentifizierung laufen hier auf den Effekt hinaus, die erzählten Ereignisse als ein Geschehen erscheinen zu lassen, das letztlich unabhängig von der Erzählung bleibt und in sich eine objektive Wahrheit besitzt, welche immer nur partiell in den Bericht des Erzählers eingehen kann. Dazu gehört beispielsweise die bei heiklen Angelegenheiten opportune Versicherung, die ‚wahren‘ Namen der Protagonisten einer Geschichte müßten verschwiegen und in der Novelle durch ‚fingierte‘ Namen ersetzt werden. Das geschieht etwa in III 1 (vgl. II, S. 250) oder besonders suggestiv in III 35, wo der Adressatin der Novelle versprochen wird, daß sie dieselbe demnächst aus dem Munde des Protagonisten ein zweites Mal – und dann natürlich mit den wahren Namen – zu hören bekommen soll (II, S. 434):
Non m’è paruto per buoni rispetti porre i nomi proprii e massimamente quello de la donna, a ciòche messer lo dottore non perdesse il suo godimento e meco s’adirasse, avendomi più volte di questa beffa ragionato. Ma come siate ritornata a Milano, io viprometto farvela narrare da l’istesso dottore, il quale sono certissimo che vidirà il nome del marito e de la moglie, pure che voi gli promettiate di tenerlo segreto.
Ein anderes Mittel mit ähnlicher Funktion ist das Eingeständnis des Erzählers, nicht über alle Umstände der Ereignisse vollständig Bescheid zu wissen. Es erscheint als eine der hervorstechenden Eigentümlichkeiten in Bandellos Erzählstrategie, die zugleich eine Strategie der Illusionsbildung ist und – um die Termini einer neueren narratologischen Studie zu gebrauchen [26] – stets den Eindruck erzeugen möchte, „daß sich das dargestellte Geschehen selektiv zu einem nicht dargestellten, prinzipiell aber darstellbaren Wirklichkeitskontinuum verhält“. So suggeriert gerade die offen eingeräumte Unvollständigkeit von Bandellos Referat, daß die referierten Ereignisse tatsächlich Teil eines Wirklichkeitskontinuums sind, welches jenseits des Textes eine objektive Existenz besitzt. Dieser Suggestion wegen muß der Erzähler des öfteren ostentativ auf sein angestammtes ‚Privileg‘ [27] der Introspektivanalyse verzichten und seinem Bericht jene „Unbestimmtheitsstellen“ (Ingarden) einfügen, deren ausdrückliche Thematisierung – wie Franz K. Stanzel einleuchtend argumentiert [28] – durchaus im Vermögen der traditionellen „Erzählerfigur“ (und z. B. nicht der moderneren „Reflektorfigur“) liegt. Solche Unbestimmtheitsstellen, welche die Erzählung als explizit angesprochene Informationslücken in bezug auf ein objektives Wirklichkeitskontinuum präsentiert, betreffen bei Bandello in erster Linie verständlicherweise die innere Motivation der Handlungsabläufe. Diesbezüglich pflegt der Novellist statt einer einzigen Begründung gerne verschiedene Mutmaßungen anzuführen, die dem Leser dann gleichsam zur Auswahl überlassen werden.
Beispielhaft dafür sind etwa die Wendungen, welche am Beginn von I 5 das Nachlassen des sexuellen Eifers kommentieren, das sich bei einem neapolitanischen Cavaliere nach zweijähriger Ehe einstellt (I, S. 67):
Passati adunque i dui anni, o che ella gli venisse a noia, o che egli fosse de la persona mal disposto, o che sitrovasse cosí tratto il bambagio del farsetto che, pien di freddo, d’ova fresche e di malvagia avesse piú bisogno che di dar beccar a l’oca, cominciò, che che se ne fosse cagione, a porre al suo corrente cavallo un duro freno e ad allentargli in modo il corso, che con grandissimo dispiacer di Bindoccia a pena correva due o tre, a la più, poste il mese (Hervorhebung U. SB.).
Beinahe zur Manier und zur Manie getrieben erscheint das Argument solcher Motivationsunsicherheit in III 39, einer Novelle, die das später durch Schillers Ballade Der Handschuh berühmt gewordene Thema des mutigen Ritters und der kokett-eitlen Hofdame entfaltet [29] . Dort heißt es einleitend über die kühle „damigella“: „Ma ella mostrava assai poco gradire la servitù di don Giovanni, o che ella fosse di qualche altro cavaliere innamorata, o che don Giovanni non le piacesse, o che altro se ne fosse cagione“ (II, S.449, Hervorhebung U. SB.), und anschließend wiederholt sich die Formel der psychologischen Begründungsalternativen auf wenigen Seiten noch weitere drei Mal.
Nun hat es das Argument einer fehlenden Eindeutigkeit des Handlungsmotivs in Ansätzen natürlich auch schon bei Boccaccio gegeben. Doch war es im Decameron Bestandteil einer unauffälligen Modalisierung des Erzählens und drängte sich daher nie in den Vordergrund. Vor allem blieb das Verfahren stets an spezifische Situationen gebunden, in denen es bald einen leisen Zweifel am Wirken des Heiligen Geistes ausdrücken mochte [30] , bald auch die genüßliche Freude an der Schilderung einer skabrösen Liebesbegegnung verriet [31] . Dagegen tritt es bei Bandello aus dem Hintergrund des Geschehens sozusagen in die Scharniere der Handlungsentwicklung ein. Hier bietet das frappanteste Beispiel vielleicht die Novelle II 35, die mit ihren unerhörten inzestuösen Verwicklungen, welche ein sonderbar dissonantes Happy Ending gleichmütig auf sich beruhen läßt [32] , auch sonst für Bandellos Novellistik überaus symptomatisch wirkt. In dieser Erzählung koinzidiert die psychologische Unbestimmtheitsstelle nämlich ausgerechnet mit der Liebesbegegnung zwischen Mutter und Sohn, von der die Inzest-Kette ihren Ausgang nimmt (I, S. 1020):
La vedova, o ch’ella fosse disonestamente del vietato amor del figliuolo accesa, o che pure in effetto gli volesse far un gran romore in capo per fargliene una gran vergogna, o che che se ne fosse cagione, fece dar la posta al figliuolo da la donzella e in luogo suo andò e si corcò nel letto (Hervorhebung U. SB.).
Derart entzieht sich das Geschehen nebst seinen verwirrenden Folgen jeder eindeutigen Stellungnahme, die den ‚caso cosí strano‘ zu einer exemplarischen moralischen Lektion ausgestalten könnte, weshalb das merkwürdige Happy Ending weniger – wie D. Ortolani meint [33] – die Heiligkeit des Ehesakraments illustriert als vielmehr eine Art begriffsloser Perplexität angesichts der (eben auch moralisch) unfaßlichen Wechselfälle des Lebens zum Ausdruck bringt.
Womöglich noch auffälliger als die Motivationslücken erscheinen die Unbestimmtheitsstellen, die Elemente oder äußere Begleitumstände der Aktionen selbst betreffen. So schließt sich an die kurze Novelle III 3 eine verhältnismäßig lange Erörterung der Frage an, ob der berichtete Vorfall in London oder nicht eher in Rouen stattgefunden hat und ob er sich, falls Rouen sein Schauplatz war, unter der Herrschaft von François Ier oder von Henri II zutrug (vgl. II, S. 267f.). In der berühmten Novelle von der Contessa di Cellant (I 4) bleibt an einem entscheidenden Punkt der Handlung ungeklärt, weshalb die vom Tod bedrohte Gräfin die Gelegenheit zur Flucht aus dem Kerker versäumt. „Ella sapendo don Pietro esser preso, avendo spazio di poter fuggire, non so perché se ne restò“, schreibt Bandello hier ebenso nachlässig wie lakonisch (vgl. I, S. 65), und es wird damit dem Leser anheimgestellt, selber die Geschichte zu ergänzen und zu entscheiden, ob die „rea femina“ ihre Befreiungschance etwa nicht begriff oder sie aus Liebe zu don Pietro bewußt verschmähte, was ihren Charakter in durchaus neuem Licht erscheinen ließe [34] . Von zahlreichen, wenngleich weniger relevanten Unsicherheiten dieser Art ist die Novelle I 8 über eine bäuerliche Lucretia „Giulia da Gazuolo“ erfüllt. Da heißt es am Anfang, Madama Antonia Bauzia habe sie wegen ihrer anmutigen Erscheinung unter ihre Hofdamen aufnehmen wollen; doch: „perché poi si rimanesse, io non vi saperei già dire“ (I, S. 108). Der Lakai aus Ferrara, der Giulia nachstellt, hat einen Freund, „e, se ben mi ricordo, egli anco era da Ferrara“ (I, S. 111). Als der vergeblich Liebende eine Gelegenheit sieht, das Mädchen mit Hilfe seines Freundes zu vergewaltigen, wird die üble Tat folgendermaßen angekündigt: „[...] Il cameriero [...] intese un di che ella tutta sola usciva di Gazuolo. Onde, chiamato lo staffiero, lá se n’andò ove ella faceva non so che in certo campo“ (ebda.).
Solchen Informationsmängeln, welche die Geschichten von der Kompetenz und Erfindungskraft des Erzählers sozusagen unabhängig machen, entsprechen auf der anderen Seite gewisse Überinformationen, die sich dem Erzählkern gegenüber kontingent ausnehmen und häufig die Einheit der jeweiligen Stillage durchbrechen. Es handelt sich bei ihnen um jenen Überschuß an narrativ sensu strictiori funktionslosen Beschreibungen, die nach Kablitz prinzipiell am stärksten zur Wirklichkeitsillusion fiktionaler Texte beitragen [35] , während sie von den narratologisch noch unaufgeklärten (oder klassizistisch gattungsbewußteren) Bearbeitern im Seizième interessanterweise als störende Digressionen empfunden und weithin getilgt wurden [36] . Derart beginnt die Novelle I 16, die sich am Ende als eine „aventurosa beffa“ erweist, welche zu heiterem Liebesglück führt, krass dissonant mit umständlichen Betrachtungen über eine Hungersnot in Mantua, für die der ungewöhnlich strenge Winter und die Wirren des Krieges verantwortlich gemacht werden (vgl. I, S. 183ff.). Die falsche Farce (II 20) von den Amouren eines Priesters, bei der das Lächerliche zum Schluß – wie bemerkenswert oft bei Bandello – ins Brutal-Makabre umschlägt, präsentiert an ihrem Anfang eine detaillierte Einführung in die ökonomische Situation des Landpfarrers und seiner Gemeinde (vgl. I, S. 839f.). In der Novelle IV 25 ist alles so angelegt, als solle mit normativer Absicht und in gehobenem Stil von der vorbildlich gelungenen höfischen Liebe einer schönen jungen Witwe berichtet werden, die ihre Sinne befriedigt, ohne öffentlichen Anstoß zu erregen. Zweifellos bildet diese Intention auch das Bedeutungszentrum der Novelle; doch verhindert sie nicht, daß der gleichfalls exemplarische adlige Liebhaber („il quale in effetto era molto bello, forte vertuoso e ricco e di ottimi costumi dotato“), als er unter romanesken Bedingungen zum Rendezvous mit der ihm noch unbekannten Dame geladen wird, sich recht prosaische (und jedenfalls völlig unromaneske) Sorgen macht, welche weder seinem Stand noch dem Stilcharakter der gesamten Novelle angemessen scheinen; denn er stellt bezüglich der „piú gentile e [...] piú bella giovane di Lombardia“ eine Frage, die eher in die Burleske – etwa der „poesia bernesca“ – oder in die niedrige Farce gehört: „Potria anco essere alcuna piena di male francese, che mi desse la sua livvrea e tenermi storpiato tutta la vita mia, onde io non sarei mai piú uomo“ (II, S. 791). Überdies schließt die Novelle, die hier unversehens ins Farcenhafte extravagiert, ebenso inkongruent – und jetzt umgekehrt tränenreich – mit dem Tod des Liebhabers. Nachdem zunächst ein verlängertes Happy Ending von sieben Jahren glücklicher Liebe das tüchtige Verhalten der Protagonisten verdientermaßen belohnt hat, verstirbt der diskrete Edelmann plötzlich an einem Fieber, „con inestimabile e gravissimo dolore de la sua donna, che ancora con amarissime lagrime non fa che dí e notte piangerlo“ (II, S. 794).
Kontingente Einschübe und Nachsätze, wie wir sie an der Novelle IV 25 beobachten, haben bereits Teil an jenem Phänomen, das die Gestalt der Bandelloschen Novellistik wohl am nachhaltigsten prägt: ihrer Tendenz zu Brüchen im Stilregister und zur – mitunter turbulenten – Mischung der erzählerischen Gattungen [37] . Dabei will bedacht werden, daß Bandello durchaus auch Anstrengungen unternimmt, die von Boccaccio überlieferten extremen Genera der farcenhaften und der tragischen Novelle jeweils in ihren spezifischen Wirkungen auszubauen und zu steigern: die Novelle von don Faustino und seinem Vogel Greif (II 2) mag als Beispiel für die erste Gruppe stehen, die überaus emphatisch vorgetragenen blutrünstige Amplificatio der 23. Erzählung des Heptaméron (II 24) [38] als Beispiel für die zweite. Indes ist in solchen Steigerungen der tradierten Komödien- und Tragödieneffekte kaum Bandellos eigenständiger Beitrag zur Entwicklung des novellistischen Genres zu sehen, und außerdem sind die hyperkomischen und hypertragischen Novellen ja auch am wenigsten geeignet, einen „effet de réel“ zu bewirken, da die meist vielstimmige Lebenswirklichkeit in ihnen durch die Einstimmigkeit der vorgeformten Gattungsfigur unübersehbar dominiert wird. Charakteristischer und sicherlich innovativer sind die vielen anderen Novellen, die verschiedene Register und Gattungstöne mit schroffen Dissonanzen zusammenstoßen lassen, welche – vor dem Hintergrund der strikteren Gattungstrennung Boccaccios wahrgenommen – oft etwas Verblüffendes, ja zutiefst Verwirrendes haben.
Als prägnantes Beispiel dafür sei die Novelle I 47 erwähnt, in der erzählt wird, was Bandello einen ,,meraviglioso accidente d’amore“ nennt: „Il Signor Gostantino Boccali si getta ne l’Adige ed acquista l’amore de la sua donna che prima non l’amava“. Die Ankündigung des Titels erfasst allerdings – wie sich herausstellt – nicht die ganze Geschichte; sie gibt nur deren ersten Teil wieder: den Bericht einer heroischen Mutprobe, die ein junger Ritter leistet, um die Gunst seiner zunächst abweisenden Dame zu gewinnen. Darauf folgt ein unvorhersehbarer zweiter Teil, der den „accidente d’amore“ erst eigentlich „meraviglioso“ macht. Die Dame hat ein Einsehen mit ihrem Verehrer und willigt in einen nächtlichen Besuch ein. Dabei ist der Empfang, den sie Gostantino bereitet, so generös wie nur möglich; doch wird unser Ritter, einmal im Bett der Geliebten angelangt, von einem unerhörten Ereignis getroffen, unerhört nicht nur in sich selbst, sondern mehr noch in bezug auf das literarische Dekorum, das es bricht: Gostantino Boccali erscheint nämlich von Impotenz geschlagen, von jener Schwäche also, die in der Novellentradition allein den betrogenen Ehemännern zukam und daher ein essentiell lächerliches Phänomen darstellte. Folglich ereignet sich in dieser Geschichte ein Einbruch des Lächerlichen und damit auch Kontingenten in einer Erzählmaterie, die zu Beginn ausschließlich durch die Exemplarität des heroisch-epischen Registers bestimmt schien. Im übrigen wechselt die Tonalität am Ende ein zweites Mal; denn der Ritter gewinnt nach einem Selbstmordversuch wie durch ein Wunder seine Kräfte zurück und erlebt schließlich das Happy Ending des „ultimo diletto d’amore“ (vgl. I, S. 563).
Insgesamt häufiger stoßen wir freilich auf Novellen, die sozusagen den umgekehrten Weg gehen, indem sie das heitere Register der traditionellen Beffa durch den jähen Einbruch von problematischen, ernsten, ja makabren und gräßlichen Ereignissen trüben. Das ist der Fall etwa in I 53, wo es um die Amouren einer jungen, von ihrem ältlichen Ehemann vernachlässigten Bürgersfrau mit einem Bauernburschen geht, der zweimal die Woche seine landwirtschaftlichen Produkte in die Stadt bringt. Alles scheint nach den Regeln der Gattung zügig voranzuschreiten, bis der kleine Sohn der Frau, der bei der ersten Liebesbegegnung zufällig anwesend war, in seiner Naivität dem Vater das Ganze auszuplaudern droht. Darauf aber reagiert die Frau mit überraschend energischer Grausamkeit, die sich nicht über den betrogenen Ehemann, das übliche Opfer solcher Geschichten, hermacht, sondern eben über die Unschuld des nichtsahnenden Kindes: „[...] madonna Cornelia che una estrema paura aveva avuta, preso il garzonetto per mano e menatolo in una camera assai lontana da la sala, gli diede molte sferzate e lo garrí molto forte, minacciandolo di peggio se mai piú simil parole diceva“ (I, S. 619). Danach erscheint das Gleichgewicht wieder hergestellt, und die Familie beginnt in einem klassischen ménage à trois zu proliferieren. Indessen tragen die letzten Sätze der Novelle neue Elemente von Störung in die Atmosphäre des boccaccesken Abenteuers, da sie von den Drohungen der Mutter handeln, der Angst des Kindes vor Schlägen, welche sein Schweigen garantiert, schließlich von Streitigkeiten, die nach dem Tod der Eltern zwischen dem mißhandelten Sohn und seinen – genaugenommen – illegitimen Geschwistern aufkommen. Offenkundig transzendieren sie die Beffa in die Richtung der Wiedergabe einer durchaus unheiteren, lastenden Realität, deren Schwere einen evidenten Kontrast zur leichteren Stimmung der eigentlichen Beffa-Novelle bildet, wie sie der Titel Beffa fatta da un contadino a la padrona e da lei al vecchio marito che era geloso con certi argomenti ridicoli (I, S. 609, Hervorhebung U. SB.) zunächst traditionsgemäß in Aussicht gestellt hatte.
Ähnliche Störungen, Brechungen und Umkehrungen von anfangs unproblematisch scheinenden Farcensituationen ereignen sich bei Bandello nun derart häufig, daß zumindest dem niedrigen Genus des Novellenerzählens allmählich jede Stabilität und Vorhersehbarkeit verlorengeht. So wird in II 28 von einem gewissen Buonaccorsio und seiner Beatrice, die er wie Dante schon als Knabe zu lieben begonnen hat, eine sogenannte „bellissima trama“ arrangiert (vgl. I, S. 961), welche in Wahrheit – wie sich bald erweist – indes nichts anderes ist als ein Unternehmen rücksichtslosen Machtmißbrauchs zu Lasten des gehörnten Ehemanns, den Buonaccorsio als „giudice del maleficio“ durch Drohung und Simulation von Folter terrorisiert. In II 20 möchte der bereits erwähnte Landpfarrer namens „prete Giacomo“ mit einer bäuerlichen Alibech Boccaccios Eremiten Rustico nachahmen, was in der Farce ja nur recht und billig erscheint: „Come egli si vide esser in credito appo i suoi parrocchiani e che gli parve aver la grazia loro, cominciò a pensar di procacciarsi qualche donna con la quale talora egli potesse cacciar il diavolo ne l’inferno, che stranamente lo molestava“ (I, S. 840f.). Dabei stellt er sich nicht einmal ungeschickt an, und die auserwählte Bäuerin Bertolina ist mit ihrem neuen Liebhaber – wie es sich für die Farce ebenfalls gehört – auch weitaus zufriedener als mit ihrem Ehemann: „E parendo a lei che il sere lavorasse molto meglio la possessione e piú gagliardamente adacquasse il suo giardino che non faceva il marito, non averebbe mai voluto far altro che macinare“ (I, S. 842). Kaum haben sich die beiden ‚zwei oder drei Mal‘ gefunden, wird ihr sexuelles Glück jedoch plötzlich – und erneut mit gnadenloser Brutalität – unterbrochen. Der Bauer Nicolino, selber im Besitz eines Schwertes und überdies von einem gleichfalls bewaffneten Freund begleitet, ertappt prete Giacomo auf frischer Tat und zwingt den in seiner Nacktheit Wehrlosen, sich selbst zu kastrieren. So nimmt die boccacceske Farce einen grausam blutigen, endlich sogar letalen Ausgang, der uns mit dürren und allenfalls hämischen Worten abrupt mitgeteilt wird: „Il prete a cui già Nicolino aveva dato un tagliente coltello, prima che esser ucciso, con un taglio, di gallo si fece cappone. E senza linea e perpendicoli, pien d’angoscia a casa se n’andò, ove in breve senza testimonii se ne morì“ (I, S. 843).
Zu nicht weniger grausigen Konsequenzen führt in III 3 das alte Farcenmotiv der „verführten Einfalt“, also wiederum eine Situation, die eine gewisse Nähe zu Boccaccios klassischem ‚ridiculum‘ von Rustico und Alibech bewahrt [39] . Im Mittelpunkt steht hier die am Anfang komisch wirkende Ahnungslosigkeit einer Fünfzehnjährigen, die in ihrer Hochzeitsnacht dem Bräutigam Widerstand leistet, da sie nicht weiß, ‚mit welchem Horn die Männer auf die Jagd gehen‘: „[...] come la sciocca e sempliciotta Isabetta, che non sapeva con che corno gli uomini cacciassero, mise la mano per vietar al marito l’entrata, e sentendo quella cosa cosí indurata e nervosa, si dubitò non esser da quella come da un pungente pugnale di banda in banda passata, e tuttavia piangendo faceva ogni sforzo a lei possibile per ribattere il suo marito indietro“ (II, S. 265). Was hier nicht zuletzt wegen der detaillierten physiologischen Schilderung nach guter Novellentradition lachhaft erscheint, schlägt jedoch (trotz des auch eigens erwähnten Gelächters der Nachbarinnen) bald in eine Tragödie – fast darf man sagen: des schuldlosen Schuldigwerdens – um. Die geängstigte Braut verbirgt unter ihrem Kopfkissen ein scharfes Messer, und als der Bräutigam sich ihr ein weiteres Mal nähert, endet der Versuch, die ‚Einfältige‘ doch noch zu besänftigen, aufs neue in Bandellos Lieblingsmanier: mit Kastration und Tod.
Besonders verwirrend wirkt schließlich, um ein letztes Exempel für die Destruktion der Farce anzuführen, die Novelle I 59. In ihr wird ein Waffenschmied, der mit einem Mädchen „assai piú avvenente e [...] bella che a la sua bassa condizione non si conveniva“ verheiratet ist, von einem jungen Edelmann betrogen – einem „signor di Gonzaga, di quelli, dico, che sono de la casa marchionale“ (I, S. 652). Als er – „dai fieri morsi e velenose punture de la traditora gelosia morso e trafitto“ – die Liebenden zu erwischen meint, gelingt denen die Flucht, und so treffen die wütenden Schwertstreiche des Waffenschmieds statt den Ehebrecher irrtümlich die eigene Tochter: „Era nel detto letto in un lato la figliuolina de la Margarita corcata che poteva aver circa diciotto mesi; e menando il marito coltellate da orbo, avvenne che in un tratto d’una coltellata egli, non gli sovvenendo de la bambina, le tagliò via di netto tutte due le gambe. La povera creatura gemendo miserabilmente se ne mori“ (I, S. 655). Damit ist aus der farcenhaften Konstellation in einer – wie wir jetzt wissen – für Bandello typischen Wende gegen alle Gattungsregeln (man beachte zumal den gehörigen Standesunterschied zwischen Ehemann und Liebhaber) eine tragische Situation entstanden. Indessen gelangen die Ereignisse auch durch die Wende ins Tragische noch nicht zu einem gattungsmäßig eindeutigen Schlußakkord; vielmehr scheint sich die Kontingenz widersprüchlicher Geschehnisse unablässig (und unabschließbar) fortzusetzen. Einerseits ist die Rede vom Begräbnis des unschuldigen Opfers: „Fù la smembrata creatura quel dì medesimo seppellita“. Andererseits hindert das weder die Mutter noch erst recht den Galan (der – nebenbei bemerkt – möglicherweise auch der Vater der „smembrata creatura“ ist) [40] , im sicheren Versteck weiterhin ihre Liebe zu genießen: „Il signor gonzaghesco celatamente tenne la sua amante molto tempo in certa abitazione e con lei perseverava a darsi buon tempo“. Und im letzten Satz kommt es – mit einer zweiten kaum vorhersehbaren Wende – sogar zur nicht näher kommentierten Versöhnung der Eheleute: „A la fine con buon (sic) mezzi tanto si fece che al marito fu perdonato, e con questo egli anco perdonò a la moglie e per buona e bella la ripigliò“ (I, S. 655). Das heißt: der zerstörten Farce schließt sich eine Art graues Happy Ending an, das offenkundig nichts mehr mit den Übereinkünften der Literatur zu tun hat, wohl aber mit der platten Vernunft (oder Unvernunft) des Lebens.
Nun könnte man angesichts der ins Makabre gewendeten Farcen, von denen ich einige symptomatische Fälle aufgezählt habe, vielleicht behaupten, bei Bandello läge auf der einst im Decameron gefeierten Sinnenlust eben kein Segen mehr und an der oft wortwörtlichen Kastration euphorischer Sexualität zeige sich die verdunkelte vortridentinische Mentalität dieser Novellensammlung. Ein solcher Schluß wäre indessen, überschaut man Bandellos Novellarium insgesamt, ziemlich voreilig. Denn so schlecht es bei seinen Amouren z. B. prete Giacomo ergeht, so erfolgreich operiert in II 2 ein anderer Kleriker – don Faustino – und das, obwohl er sich nicht scheut, als durch und durch falscher Heiliger für eine beifällig berichtete List blasphemische Mittel einzusetzen [41] . Zwar werden die Konventionen der Farce – wie wir gesehen haben – öfters dadurch gebrochen, daß listig eingefädelte Affären gräßliche Katastrophen nach sich ziehen; doch kann der Konventionsbruch gelegentlich auch darin bestehen, daß selbst der ängstliche oder über die Maßen einfältige Tölpel, dem das nach den Gattungsregeln gemeinhin verwehrt ist, wie in III 22 oder III 51 (im letzteren Fall sogar der „tedescone ubriaco“) einen eigentlich unverdienten sexuellen Genuß erleben darf. Außerdem müssen wir berücksichtigen, daß die brutale Gewaltanwendung, welche die Farce trübt oder zerstört, in den zitierten Beispielen durchaus verschiedenartige Opfer findet. Während sie sich, was das Dreieck der ehebrecherischen Konstellation betrifft, in II 20 gegen den Liebhaber richtet (weshalb der Widmungsbrief dementsprechend über die Geistlichen „che si danno a le lascivie e piaceri“ herzieht [vgl. I, S. 838]), schüchtert sie in II 28 den betrogenen Ehemann ein (weshalb die Warnung des Vorworts hier umgekehrt betont „di quanti disordini sia cagione la gelosia [vgl. I, S. 955]) [42] .
Im übrigen fällt bei den letztgenannten Novellen auf, daß der Erzählerkommentar sie beide ohne Bedenken als ‚lachhaft‘ einstuft. Die Geschichte von der Terrorisierung des armen Fridiano Z. wird im Widmungsbrief einleitend eine „piacevol novella“ genannt, und gegen Ende applaudieren die Protagonisten selber mit Gelächter der eigenen Terrorstrategie: ,,[ ...] la notte seguente il buon giudice [...] tenne compagnia a la sua innamorata, e piú volte insieme si risero de la beffa che a Fridiano facevano, e Beatrice diceva che il pecorone n’aveva avuto troppo buon mercato“ (I, S. 974). Im Vorwort zu II 20, der unglückseligen Liebschaft Bertolinas und prete Giacomos, verspricht der Erzähler dem Adressaten „farvi intender cosa che pur vi farà ridere“; ja ihm scheint schon sicher, „come la leggete, vedervi smascellatamente ridere“ (vgl. I, S. 838f.). Nun ist es gewiß nicht erlaubt, die Legitimität solcher Stellungnahmen ohne weiteres an der moralischen Empfindlichkeit zu messen, wie sie das Privatleben in der Moderne prägt. Trotzdem läßt sich festhalten, daß die Einordnung als ‚cosa da ridere‘ die Ereignisse der Novellen auch nach den Maßstäben des Cinquecento in eine – gelinde gesagt – schiefe Perspektive rückt: in II 20 beispielsweise trifft sie wohl den durch intertextuelle Referenzen wie eine Variante von Decameron III 10präsentierten ersten Teil der Erzählung, doch eben deshalb kaum noch das von wirklicher, da folgenreicher und fataler Gewalt bestimmte Dénouement. Zwischen dem erzählten Geschehen, das sich der Einstimmigkeit des von Boccaccio her vertrauten farcenhaften Gattungsdekorums nicht mehr fügt, und dem erzählerischen Wahrnehmungsschema, das auf gerade dieser Einstimmigkeit ungerührt insistiert, entsteht eine flagrante Inkongruenz, die – wie ich finde – das letzten Endes bedeutsamste Charakteristikum der Bandelloschen Novellistik und über den „effet de réel“ hinaus ihren Realismus bildet [43] .
Dabei läßt die Inkongruenz zwischen Ereignis und Auffassung einesteils die Kommentare immer wieder merkwürdig steif, ja hilflos erscheinen, während sie anderenteils dem Geschehen nicht zuletzt durch die häufige Unangemessenheit und Vergeblichkeit der Kommentare einen vertieften Anschein des Tatsächlichen und Objektiven verleiht. Das gilt besonders für den Effekt von Bandellos moralisierenden Anmerkungen. Sie fallen bezeichnenderweise um so emphatischer aus, je weiter sich der Handlungsverlauf in seiner rohen Faktizität von ihren Besorgnissen entfernt. Derart nehmen sie stellenweise gegenüber dem Bericht einen geradezu absurd kompensatorischen Charakter an; es sind dann bloße Einsprüche, deren Pathos nicht über ihre pure Hilflosigkeit hinwegtäuschen kann [44] . Als rekurrente Formel für solchen Protest erscheint mit Vorliebe das Eingeständnis, die berichteten Ungeheuerlichkeiten hätten dem Erzähler schlichtweg die Sprache verschlagen und jeden Begriff genommen. So heißt es in III 39 über die eitle Leonora, die von ihrem Verehrer „cinque teste di mori“ verlangt: „Io non so ciò che di questa donna vi dica, in comandando cosí disonesta cosa e perigliosa, e meno quello che io mi debbia pensare di don Giovanni, che ad ubidirla si dispose“ (II, S. 450). Angesichts des ungesühnten Mordes, den in III 52 eine „scelestissima Pandora“ – „questa nuova Medea, questa dispietata Progne“ (II, S. 515) – an ihrem gerade (trotz diverser Abtreibungsversuche) geborenen Kind begeht, bleibt der fiktiven Erzählerin nur übrig auszurufen: „Io non so che dirmi di questo diavolo incarnato, e quanto piú ci penso, piú resto stordita“ (II, S. 516) – was aber überhaupt nichts daran ändert, daß die Verruchte nach vollbrachter Tat, „con un viso tutto allegro e ridente [...], quasi trionfando“, ohne Makel ins gesellschaftliche Leben zurückkehrt. Eine ganze Serie verzweifelter Äußerungen dieser Art beschließt die Novelle I 19 Faustina e Cornelia, romane, diventano meretrici, e con astuzia hanno la grazia dei mariti. Wieder einmal setzt sich hier die lebenstüchtige Unmoral durch, und es gelingt den beiden nicht nur sittenlosen, sondern verbrecherischen Damen, ihre Ehemänner zu täuschen: „E tutte due dai mariti loro erano per sante tenute, sí bene seppero queste due favole loro adornare“ (I, S. 235). Darauf reagiert der Erzähler folgendermaßen: „E per me io non so che me ne dire, se non pregare Iddio che tutti ci guardi di cascar ne le mani a simil donne, che fanno del nero bianco e del bianco nero. Non so poi che mi dire de la santa madre badessa e de le dui madri vecchie, che sí affettuosamente finsero le menzogne e santamente le confermarono“ (Hervorhebung U. SB.). Es ist das die uns mittlerweile vertraute Geste eines ohnmächtigen Moralisten, der den genauen Gegentyp zu jenem von Wayne C. Booth beschriebenen Ideal des impliziten Autors als eines so überlegt urteilenden wie gerecht handelnden „friend and guide“ darstellt [45] . Verwirrt und ratlos (und damit dem desorientierten Leser ähnlich) schlägt er die Hände über dem Kopf zusammen, bevor er gegenüber dem opaken Widerstand der Wirklichkeit als Moralist und als Literat gleichermaßen abzudanken scheint: „Ma sia come si voglia: io v’ho narrato questa istoria né piú né meno come narrar l’ho sentita“ (I, S. 235).
Solche Resignation macht nun endgültig bewußt, wie sehr sich Bandellos Realismus in einer denkbaren Typologie dieser literarischen Haltung als der Sonderfall eines – wenn man so will – „schwachen“ Realismus konstituiert. „Schwach“ mag er zum einen heißen, weil er viele Qualitäten späterer Realismen noch unausgebildet oder wenig entwickelt in sich trägt, zum anderen – und präziser – aufgrund seiner Genese aus einer Schwäche oder besser: Schwächung der Begriffe, die mit einer exuberanten Fülle der Anschauungen und Erfahrungen weithin erfolglos übereinzukommen suchen. Jedenfalls wird in Bandellos Novellarium immer wieder manifest, daß die vielgestaltige Erzählmaterie den auf sie applizierten Ordnungskategorien zu entgleiten beginnt und damit mehr und mehr aus der Façon gerät. Sie für eine exemplarische Demonstration abzurichten, scheint – wie die erschrockenen Zwischenrufe des perplexen Erzählers beweisen – kaum noch einmal zu gelingen; denn offenbar entstammt sie einer Wirklichkeit, deren Komplexität weder durch die ästhetischen noch gar durch die moralischen Begriffe, über die der Erzähler verfügt, adäquat zu erschließen und zu gliedern ist. Je steifer sich diese Kategorien bei ihren ohnmächtigen Deutungsversuchen ausnehmen und je dissonanter sie die Geschehnisse der Erzählungen begleiten, um so souveräner gewinnt das rohe Ereignis gegenüber jeglichem Begriff die Oberhand. Das heißt: Die Historizität oder zumindest deren Rhetorik wird dort ins Recht gesetzt, wo die Interpretationsparadigmen, wie sie das Herkommen von Ethos und Kunst vermittelt, augenscheinlich versagen.
Deshalb ist es trotz einiger offenkundiger Affinitäten sicherlich nicht angemessen, in Bandello – wie es manchmal geschieht – einen ‚Ariost der Prosa‘ sehen zu wollen [46] . Gewiß hat er mit Ariost die überwältigende Diversität der Themen und Töne gemein; doch während Ariosts Heiterkeit sich dem Eindruck verdankt, daß er die Vielgestaltigkeit seiner Erzählmaterie letztlich spielend beherrscht, verhält es sich bei Bandello umgekehrt: hier ist es die entfesselte Erzählmaterie, welche mit ihrem Erzähler, zumindest soweit er sie zu ordnen und zu erklären trachtet, ein oft grausames Spiel zu treiben scheint. So ist es vielleicht eher erlaubt, Bandello statt neben Ariost in einen anderen, komplexeren Zusammenhang zu stellen. Einerseits muß sein Novellenbuch ohne Zweifel als eines der repräsentativsten Dokumente jener Kunsttendenzen gelten, welche vor einiger Zeit gern unter dem Konzept des vorbarocken „Manierismus“ vereinigt wurden. Ihnen entspricht Bandello durch das Programm von „meraviglia“ und „stupore“, die implizite Ablehnung des klassisch-aristotelischen Kriteriums der Wahrscheinlichkeit sowie nicht zuletzt den rhetorischen Aufwand, mit dem er manche Situationen für Glanzstücke „tragischer“ Beschreibung ausbeutet, wobei man etwa an die Leichenporträts in II 24 (vgl. I, S. 913ff.) oder an die Schilderung von Abtreibungsversuchen und Kindesmord in III 52 (vgl. II, S. 514f.) denken kann.
Andererseits bewegt sich Bandellos ‚chaotisches‘ Erzählmaterial trotz der oftmals romanesk-heroisch gearteten Stoffe jedoch nicht eigentlich dem großen historisch-höfischen bzw. heroisch-galanten Roman des Barockzeitalters entgegen. Über diesen Romantyp ist ja nicht zu Unrecht gesagt worden, daß seine verrätselte und gleichwohl harmonische Anlage „eine Theodizee im Leibnizschen Sinne“ impliziert [47] , was übrigens indirekt die Parodie des einen wie des anderen – der Denkform wie der Erzählform – in Voltaires Candide bestätigt. Von dem Geiste solcher Theodizee kann nun aber nichts weiter entfernt sein als die Novellen Bandellos, deren verworrene Faktizität weder die Ordnungskraft ihres irdischen noch die eines außerirdischen Schöpfers zu affirmieren vermag. Was ihre Welt charakterisiert, ist eben nicht der Widerschein einer metaphysischen Notwendigkeit, sondern Kontingenz: im Hinblick auf die Konventionen der Gattung, auf die Forderungen der Moral und selbst auf die Einheitlichkeit der (ohnehin wirkungslosen) moralischen Postulate überhaupt. Denn wenn Bandello wohl unverdrossen und tatsächlich „mit dem erhobenen Zeigefinger des Beichtvaters“ in meist grotesker Vergeblichkeit gegen die „passioni“ und für die „ragione“ predigt (Stellen erübrigen sich), so bereitet es ihm doch auch keine Verlegenheit, diese Lehre, falls es ihm wie im Widmungsbrief zu II 40 opportun erscheint, beinahe in ihr Gegenteil zu verkehren und die Virtuosen der „ragione“ – „questi che cosí hanno domate e sottoposte le loro passioni ed in modo macerati e vinti gli appetiti [...] che vanamente si gloriano non far cosa alcuna senza governo de la ragione“ (II, S. 17) – vom Genuß seiner Novellen (und damit seiner Konversation) schlichtweg auszuschließen. Zur Kontingenz der erzählten Ereignisse gesellt sich als weiterer Realität garantierender oder wenigstens insinuierender Faktor demnach die Inkonsistenz der erzählerischen Perspektiven, unter denen das „vortridentinische“ Moralisieren ebensowenig allein dominiert wie die manieristische Ästhetik des „caso strano“ oder – immer noch – die Boccaccio-Tradition triumphierender Jugend und Intelligenz. Aus solcher Brüchigkeit folgt bei aller sonstigen Nähe zum Barock nicht die Theodizee der Heliodorschen Romankomposition. Dagegen mag es gestattet sein, in ihr erste Anzeichen für jenen Widerstreit verschiedener Gesichtspunkte und Diskurse wahrzunehmen, welcher die Polyphonie modernerer Erzählliteratur durchzieht: eine Analogie, die das unmittelbare historische Nacheinander überspringt und bewirkt, daß man bei Bandellos „mistura d’accidenti diversi“ (II, S. 247) gelegentlich schon an den nicht völlig andersartigen „effet de réel“ in den Realismen eines Diderot, Balzac oder Pirandello denkt.
1 Vgl. zu den Piacevoli Notti im Rahmen dieser Tradition V. Klotz, Das europäische Kunstmärchen, Stuttgart 1985, S. 31–40.
2 Vgl. dazu die Übersichten in M. Bandello, Tutte le opere, a cura di F. Flora, Mailand 31952, Bd. 1, S. XLVIIff., Bd. 2, S. 1327ff., sowie in A. C. Fiorato, Bandello entre l’histoire et l’écriture. La vie, l’expérience sociale, l’évolution culturelle d’un conteur de la Renaissance, Florenz 1979, S. 622–627; außerdem zu Detailfragen R. Sturel, Bandello en France au XVIe siècle, Genf (Slatkine Reprints) 1970 (11913–1918); E. Kohler, Lope et Bandello, in Hommage à Ernest Martinenche. Etudes hispaniques et américaines, Paris o. J. (1939), S. 116–142; R. Pruvost, M. Bandello and Elizabethan Fiction, Paris 1937; G. Bullogh, Narrative and Dramatic Sources of Shakespeare, Bd. 1, London 1957, S.271–276.
3 Dabei ist bezeichnend, daß Bandellos Geständnis „io non ho stile, e lo conosco pur troppo“ schon den frühen französischen Bearbeitern Pierre Boaistuau und François de Belleforest nahegelegt hat, seine Schreibkunst expressis verbis für gering zu erklären (vgl. R. Sturel, Bandello, S. 1f.).
4 Vom ,,caos del Bandello“ im Gegensatz zur ‚Ordnung‘ der französischen ‚Rifacimenti‘ spricht – freilich mit einschränkender und für Bandello wohlwollender Ironie – F. Flora in seinem immer noch lesenswerten Vorwort zu Tutte le opere, Bd. 1, S. XXXIX.
5 Die romanische Novelle bis Cervantes, Stuttgart 1977, S. 95.
6 Tutte le opere, Bd. 1, S. XXX.
7 Vgl. dazu L. Russo, Matteo Bandello, novellatore ‚cortegiano‘, in Belfagor 16 (1961) S.24–38.
8 Vgl. Tutte le opere, Bd. 1, S. XIff. und XXXIXff.
9 Vgl. Bandello und die Novellistik der italienischen Renaissance, RF 85 (1973) S. 96–118, hier S. 115.
10 Vgl. L. Di Francia, Alla scoperta del vero Bandello, GSLI 78 (1921) S.291–324, 80 (1922) S. 1–94, 81 (1923) S. 1–17, zur Kritik an Di Francias Schlußfolgerungen A. C. Fiorato, Bandello, S. VIIIff.
11 In L’Immagine Riflessa 6 (1983) S. 59–151.
12 Ebda., S. 150.
13 Im Sinne etwa des Versuchs, den Wayne C. Booth, „short of the major study of realisms that we so badly need“, im Abschnitt On Discriminating among Realisms seines Buchs The Rhetoric of Fiction (Chicago–London 91970 [11961], S. 53ff.) unternommen hat.
14 Vgl. zu diesem Begriff den kanonischen Aufsatz von R. Barthes, L’effet de réel, in Communications 11 (1968) S. 84–89.
15 Vgl. Correspondance, hrsg. H. Martineau–V. Del Litto, Paris 1968, Bd. 2, S. 260f.
16 Vgl. dazu das umfangreiche Material über eklatante Widersprüche zwischen erzählerischem Programm und erzählerischer Praxis in: W. Pabst, Novellentheorie und Novellendichtung. Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen, Heidelberg 21967.
17 Vgl. zu diesem Konzept und seinen „literaturpolitischen“ Implikationen K. Eibl, Das Realismus-Argument, in Poetica 15 (1983) S. 314–328, hier S. 322f.
18 Alle Bandello-Stellen werden zitiert nach der Ausgabe von F. Flora (M. Bandello, Tutte le opere). Auf sie verweisen auch die im Text angeführten Band- und Seitenzahlen.
19 Vgl. J. Du Bellay, Les Regrets et autres Oeuvres poëtiques, hrsg. J. Jolliffe/M. A. Screech, Genf 1966, S. 54f. (I, V. 14).
20 F. Guicciardini, Ricordi, hrsg. E. Pasquini, Mailand 1975, S. 170 (Nr. 14).
21 Zu den prononciert ‚anti-klassischen‘ Zügen der Bandelloschen Poetik vgl. das informative Stil-Inventar in A. C. Fiorato, Bandello, S.612–618.
22 Vgl. Logos und List. Zur Entwicklung der Ästhetik in der frühen Neuzeit, Königstein/Ts. 1985, S. 63ff.
23 Daß solche Kontrollen in Frankreich durchgreifende Wirkungen zeitigten, während sie in Italien vor der Exaltation des Wunderbaren versagten, macht bekanntlich den wesentlichen Unterschied zwischen französischem „Classicisme“ und italienischem „Secentismo“ („Barock“) aus. So kann G. Schröder von Scaliger bis Tesauro die progressive Aushöhlung und Auflösung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs nachzeichnen, in deren Gefolge der „poetische Diskurs“ sich „als potentieller Gegendiskurs zu dem des modernen Rationalismus“ konstituiert (vgl. Logos und List, S. 88 und passim); die umgekehrte Domestikation des „merveilleux“ verdeutlicht anhand der französischen Tragödie nicht weniger überzeugend W. Wehle (Eros in Ketten. Der Widerstreit von ‚Verosimile‘ und ‚Maraviglioso‘ als ein Grundverhältnis des ‚Klassischen‘, in: F. Nies/K. Stierle (Hrsg.), Französische Klassik, München 1985, S. 167–201).
24 Vgl. zu ihm W. Wehle, Novellenerzählen. Französische Renaissancenovellistik als Diskurs, München 21984, S. 185f. Wehle unterstreicht in der „glaubwürdigen Wahrscheinlichkeit“ einen „Modus zur Erweckung von Identifikationsbereitschaft beim Publikum“, der dann vor allem für eine Vertiefung der moralischen Lehre nutzbar gemacht wird. Schon anhand dieser Divergenz deutet sich im übrigen die merkwürdige Hilflosigkeit des Moralisten vor seiner widerspenstigen Erzählmaterie an, auf die wir später noch zurückkommen.
25 Vgl. dazu beispielsweise K. Maurer, Für einen neuen Fiktionsbegriff, in: E. Lämmert (Hrsg.), Erzählforschung. Ein Symposion, Stuttgart 1982, S. 527–551, hier S. 527f.
26 Vgl. A. Kablitz, Erzählung und Beschreibung – Überlegungen zu einem Merkmal fiktionaler erzählender Texte, RJb 33 (1982)S. 67–84, hier S. 80.
27 Zum wichtigen Begriff des erzählerischen „Privilege“ vgl. W. C. Booth, The Rhetoric, S. 160ff.
28 Vgl. dazu Theorie des Erzählens (UTB 904),2Göttingen 1982, S. 203–207, hier S. 205.
29 Zu einer ausgeprägt feudalaristokratisch akzentuierten Version des Themas, für welche im Sinn der „noblesse d’épée“ die Lebensgefahr überhaupt kein Problem bildet, vgl. Brantôme, Les Dames galantes, Paris 1955, S. 243f.
30 Vgl. G. Boccaccio, Decameron, Filocolo, Ameto, Fiammetta, Mailand–Neapel 1952, S. 40 (I 2): „Ecome che il giudeo fosse nella giudaica legge un gran maestro, tuttavia, l’amicizia grande che con Giannotto avea che il movesse, o forse parole, le quali lo Spirito Santo sopra la lingua dell’uomo idiota poneva, che sel facessero, al giudeo cominciarono forte a piacere le dimostrazioni di Giannotto“ (Hervorhebung U. SB.).
31 Vgl. ebda. S. 49 (I 4):„il quale (l’abate) [...], in su’l letticello del monaco salitosene, oyendo forse riguardo al grave peso della sua dignità e alla tenera età della giovane, temendo forse di non offenderla per troppa gravezza, non sopra il petto di lei salì, ma lei sopra il suo petto pose“ (Hervorhebung U. SB.).
32 Vgl. I, S. 1022: „la reina, la quale, intendendo che nessuno ci era vivo che il fatto sapesse se non il vescovo che ne l’ultima confessione de la donna inteso l’aveva, non volle che altrimenti se ne parlasse, ma che il marito e moglie, padre e figliuola, fratello e sorella, in buona fede si lasciassero, i quali forse oggidí sono ancor vivi“.
33 Vgl. Una liberazione impossibile, S. 103ff.
34 Jedenfalls suspendiert diese Unbestimmtheitsstelle für einen Moment Bandellos ansonsten offensichtliche Tendenz, den Charakter der Gräfin (unadliger Herkunft) von einem aristokratischen Klassenstandpunkt aus systematisch ‚anzuschwärzen‘. Vgl. zuden tendenziösen Zügen, welche die Bandellosche ‚Geschichtsschreibung‘ im Fall der Contessa di Cellant kennzeichnen, A. C. Fiorato, Bandello, S. 594f.,und D. Ortolani, Una liberazione impossibile, S. 146f.
35 Vgl. Erzählung und Beschreibung, S. 77f.
36 Vgl. zu den Streichungen Boaistuaus und Belleforests R. Sturel, Bandello, S.12ff.
37 Zusolchen Gattungsmischungen als Symptom einer anti-klassischen bzw. präbarocken Poetik vgl. A. C. Fiorato, Bandello, S. 612, sowie – in einem weiteren Kontext – U. Schulz-Buschhaus, Gattungsmischung – Gattungskombination – Gattungsnivellierung. Überlegungen zum Gebrauch des literarhistorischen Epochenbegriffs „Barock“, in: H.-U. Gumbrecht/U. Link-Heer (Hrsg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie (stw 486),Frankfurt 1985, S. 213–233.
38 Zudem lange umstrittenen Problem der „antériorité“ von Marguerites oder Bandellos Novellendichtung vgl. A. C. Fiorato (Bandello, S. 522f.),der mit – wie mir scheint – wohlbegründeten Argumenten für eine Filiation Marguerite – Bandello plädiert. Deren Hauptmotive haben sich nach Fiorato bei Bandello vorzüglich in dessen Aktualismus’ und in einer Haltung ,anti-literarischer‘ sprezzatura ausgewirkt (vgl. ebda., S. 525ff.).
39 Vgl. H. Petriconi, Die verführte Unschuld. Bemerkungen über ein literarisches Thema, Hamburg 1953, S. 7–13 (über Decameron III 10 als Archetyp des Themas der „verführten Einfalt“ dort S. 8).
40 Vgl. I, S. 653: „In questo tempo Margarita ingravidò, ofosse il marito il padre de la creatura o vero l’amante, perché tutti dui il poderetto di quella coltivavano“ – erneut eine charakteristische Unbestimmtheitsstelle des Bandelloschen Erzählens.
41 Vgl. dagegen in Decameron I 6Boccaccios – moralisch ernsteren – Einspruch gegen die „malvagia ipocresia de’religiosi“ (G. Boccaccio, Decameron, S. 53ff.),der hier freilich statt der „luxuria“ das im Mittelalter verächtlichere Laster der „avaritia“ attackiert.
42 Zu ähnlichen – allerdings weniger unvermittelt manifestierten – Kontrasten der moralischen Perspektive im Decameron äußert sich unter dem Gesichtspunkt einer rhetorischen Lenkung der Lesersympathie grundsätzlich W. C. Booth (The Rhetoric, S. 9–16).Booth neigt jedoch dazu, die Diversität der „moral codes“ bei Boccaccio (die jener bei Bandello noch keineswegs vergleichbar ist) zu überschätzen, da er kaum Rücksicht auf die Besonderheiten mittelalterlicher Moral und die Implikationen der Verschiedenheit von Stil- und Gattungslagen (etwa zwischen Decameron V 9 und VII 5)nimmt.
43 Dieser Realismus entspricht bis zu einem gewissen Grad dem Prinzip eines ‚Realismus‘ als Widerlegung von Literatur, wie ihn Karl Eibl am Beispiel von Lenz’ Hofmeister dargestellt hat (vgl. Poetica 6 [1974] S. 456–467).Freilich ist Bandellos Realismus als Kritik „literarisch konservierter Wirklichkeitsbilder“ zweifellos noch nicht ähnlich bewußt angelegt, wie das bei Lenz der Fall sein dürfte. Das heißt: Was bei späteren Autoren zu einem gleichsam methodisch betriebenen Falsifikationsexperiment wird, bleibt bei Bandello eine weithin bloß passiv aufgenommene Diskrepanz zwischen den Logiken der „literarischen Gattung“ und der „außerliterarischen Wirklichkeitserfahrung“ (vgl. ebda. S. 464).
44 In diesem Sinne spricht auch Fiorato (Bandello, S. 529) zutreffend von einer „moralisation [...] extérieure au récit et comme imposée par des impératifs doctrinaux“, die Bandellos Novellen – im Gegensatz zu jenen des Heptaméron – kennzeichne.
45 Vgl. The Rhetoric, S. 264ff.
46 Vgl. zu dieser Formel, die wohl auf Symonds Renaissance in Italy zurückgeht, F. Flora (M. Bandello, Tutte le opere, Bd. 1, S. IX) oder A. C. Fiorato, Bandello, S. 320,Anm. 285
47 Vgl. etwa – im Anschluß an Clemens Lugowski – H. R. Jauss, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 2Frankfurt/M. 1984, S. 453 und 311f
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