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Quelle: Die Presse, 30./31. Juli 1983.

Calvinos neuestes Leseabenteuer

„Wenn ein Reisender in der Winternacht“, ein aufsehnerregender Roman aus dem Italienischen.

Der links unten abgedruckte Textausschnitt entstammt einem der faszinierendsten und merkwürdigsten Werke gegenwärtiger Weltliteratur: Italo Calvinos 1979 erschienener Roman „Se una notte d’inverno un viaggiatore“, der nun dank Burkhart Kroebers Übersetzung auch in Deutsch zu lesen ist. Nach jener Technik, die man seit André Gide als „mise en abyme“ zu bezeichnen pflegt, bildet die zitierte Passage einen Teil des Romans und hat ihn zugleich ihrerseits in seiner Gänze zum Gegenstand. Tatsächlich resümiert das Fragment „aus dem Tagebuch des Silas Flannery“, das heißt: dem achten Kapitel von „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“, so etwas wie die Grundidee des Buches, der Calvinos Durchführung dann – bis auf eine Ausnahme – getreu entspricht: der Unterschied betrifft das Happy-Ending, das die Leserin schließlich doch in den Armen des Lesers und nicht in denen des fiktiven Autors Silas Flannery landen läßt.
Als Protagonisten der Erzählung nennt die mise en abyme einen Leser, eine Leserin, deren Schwester, einen fälschenden Übersetzer und einen alten Schriftsteller. Demnach haben wir es offenkundig mit einem Text zu tun, der an einer charakteristischen Tendenz prononciert moderner Literatur insofern partizipiert, als er in erster Linie autoreflexiv von sich selbst handelt. Oder genauer gesagt: sein primäres Thema ist der Prozeß von Kommunikation, Erfahrung und Erkenntnis, den er einerseits begründet, durch den er aber andererseits auch erst Gestalt gewinnt (emblematische Bedeutung besitzt unter diesem Aspekt die Episode, in der Flannery mit dem Fernrohr die Erwartungen der Leserin beim „Akt des Lesens“ studiert).
Pointiert deutlich wird das vor allem am Anfang und Ende der Erzählung, die gleichzeitig den (wenn man so will) hyperrealistischen Anfang und das utopische Ende der Lektüre markieren. So beginnt der Roman mit den Sätzen: „Du schickst dich an, den neuen Roman ‚Wenn ein Reisender in einer Winternacht‘ von Italo Calvino zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Laß deine Umwelt im ungewissen verschwimmen. Mach lieber die Tür zu, drüben läuft immer das Fernsehen.“ Und er schließt, nachdem sich der Leser vom bloßen Adressaten des Textes in den Akteur eines eigenen Lese- und Liebesromans verwandelt hat, mit einer – freilich allegorisch hintergründigen – ehelichen Genreszene: „Ludmilla klappt ihr Buch zu, macht ihr Licht aus, legt ihren Kopf auf das Kissen, sagt: ‚Mach du auch aus. Bist du nicht lesemüde?‘ Und du: ‚Einen Moment noch. Ich beende grad „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ von Italo Calvino‘.“
Texte, die solcherart auf sich selbst bezogen sind, begegnen gemeinhin einem zweifachen und sicher nicht unbegründeten Verdacht. Einmal vermutet man (wohl unter dem Eindruck mancher Nouveaux oder Nouveaux Nouveaux Romans), daß sie, fernab der Sphäre des Unterhaltenden oder gar Fesselnden, eine gewisse vis dormitiva ausstrahlen. Zum anderen besteht der Argwohn, die Selbstbezogenheit des Textes bedeute stets auch die Abwehr der außertextlichen Realität, deren drängenden Problemen sich die formal engagierte Ecriture ebenso selbstgenügsam wie selbstbezogen verweigere. Beide Vermutungen widerlegt Calvinos „Reisender in einer Winternacht“ auf eklatante Weise. Zunächst ist kaum ein Roman vorstellbar, der – ganz elementar verstanden – „spannender“ wirkte als dieser. Solche Spannung hängt damit zusammen, daß Calvino im Gegensatz zu vielen Vertretern der französischen Avantgarde die sozusagen logozentristische Kohärenz der erzählerischen Ereignisfolge nie völlig durchbricht, doch in der traditionell gewahrten Kohärenz gleichwohl ein Höchstmaß an Unvorhersehbarkeit von Handlungssequenzen und Erzählstrukturen erreicht.
Gewiß gehört „Se una notte“ zu jener Gruppe ausgesprochen avantgardistischer Romane, die wie Butors „La modification“ oder wichtige Partien in Fuentes’ „La muerte de Artemio Cruz“ gegen alle narrative „Natürlichkeit“ in der zweiten Person erzählt sind, im wesentlichen also von einem „Du“ und weniger von einem „Er (Sie)“ oder „Ich“ berichten. Indessen wird dieses Du, das am Anfang niemand anders als den real angesprochenen Leser meint, bald zu einem fiktiven Du, das eben durch seine Lektüre in eine Serie der turbulentesten Abenteuer gerät.
Das heißt: Der Leser beginnt die Lektüre eines Romans, sieht sich am spannendsten Moment kraft eines mysteriösen Zufalls gestört, bricht auf, um die Fortsetzung seines Buches zu finden, beginnt die Lektüre eines zweiten Romans, der ein anderer ist als der gesuchte, aber trotzdem zu fesseln weiß, wird am spannendsten Moment wiederum gestört, bricht erneut auf usw., bis er zehn verschiedene Romananfänge sowie die Liebe der Idealleserein Ludmilla kennengelernt hat.
Dabei besteht der Reiz dieser Leseabenteuer in der enormen Spannweite, die sich in der engen Alltäglichkeit des anfänglichen Lesens zu einer Reise um die Welt ausdehnt, in deren Verlauf unser Leser und Abenteurer nicht nur die Agenturen des Literaturbetriebes, sondern auch die unterschiedlichsten weltpolitischen Sphären berührt: die „klare und dünne Bergluft“ eines offenbar neutralen Landes, in dem sich das Chalet des zerquälten Erfolgschriftstellers Silas Flannery befindet; den westlichen Bereich einer von ununterscheidbar ineinander verwickelten Revolutionen und Konterrevolutionen heimgesuchten südamerikanischen Diktatur; den östlichen Bereich einer Volksrepublik, für die Arkadian Porphyritsch, „einer der feinsinnigen Intellektuellen Irkamens“, so lesefreudig wie unerbittlich die Funktionen der literarischen Zensur organisiert.
Unverkennbar erinnert die zunehmende Turbulenz solcher Ereignisse, welche den Leser der entspannten Behaglichkeit seiner Lektüre entreißen, an die Traditionen des mehr oder minder volkstümlichen europäischen Abenteuerromans. Was zunächst wie ein Essay über die Komplexität des Lesens und des Schreibens erscheint, geht in der Folge zu Episoden über, die Elemente des Agenten-Thrillers verwenden. An anderen Stellen variiert der Roman Verfahrensweisen des Roman-Feuilleton eines Eugène Sue oder Alexandre Dumas, Techniken also, die ihrerseits wiederum auf die Erzählhaltung von Calvinos Lieblingsklassiker Ariost verweisen. Damit trägt auch der „Reisende in der Winternacht“ zu jener eigentümlichen Konvergenz zwischen Avantgarde und Unterhaltungsliteratur bei, welche seit einigen Jahren zu verfolgen ist: Man denke etwa an Umberto Ecos mittelalterlichen Detektivroman, Carlos Fuentes’ Spy-Novel, Mario Vargas Llosas’ historisches Epos von der „Guerra del fin del mundo“, selbst an Robbe-Grillets „Projet pour une révolution à New-York“ oder neuerdings Philippe Sollers’ „Femmes“.
Dazu kommt die ebenfalls höchst unterhaltsame und immer aufs neue überraschende Vielfalt der zehn Romananfänge, durch deren Unabgeschlossenheit der Leser erregt, verärgert und vor allem, in (explorierende) Bewegung versetzt wird. Sie ergeben eine Art Kaleidoskop der modernen Weltliteratur, eine Serie überaus virtuoser Stilübungen gewissermaßen in zweiter Potenz, welche den Eindruck hinterlassen, als habe Calvino mit ihnen zehn verschiedene Autoren parodieren, oder besser: pastichieren, und ihre Schreibweise zugleich auf die merkwürdig spiralförmigen Handlungsschemata eines Jorge Borges übertragen wollen.
Dabei dürfte die Identifikation der pastichierten Autoren – eine Aufgabe, welche die literaturwissenschaftlichen Seminare in Atem halten sollte – auch für den erfahrenen Leser nicht ganz leicht sein; denn offensichtlich hat Calvino in jedem Fragment die Züge untereinander verwandter Schriftsteller zu einem Idealtyp zusammengefügt. So rekonstruiert das erste, anscheinend in der französischen Provinz situierte Fragment gleichsam den des Nouveau Roman, den man Robbe-Grillet, Butor oder Claude Simon zuschreiben könnte, während die neunte Episode („Rings um eine leere Grube“) aus verschiedenartigen Lektüreerinnerungen so etwas wie das Urbild des südamerikanischen Romans entwirft. Daß seine Grundsituation eine Hommage an Juan Rulfos „Pedro Paramo“ darstellt, wurde bereits von Cesare Segre bemerkt: doch glaube ich, hier außerdem auch noch Erinnerungen an Garcia Marquez’ „Hundert Jahre Einsamkeit“ und zumal an das erste Kapitel von Jose María Arguedas’ „Los rios profundos“ wahrnehmen zu können.
Da man im deutschen Sprachraum gegenüber schriftstellerischer Virtuosität ein besonderes Mißtrauen hegt, ist es wohl an der Zeit zu betonen, daß Calvinos neuer Roman freilich bei aller Artistik weit mehr sein will als ein Exercice de style mit traditionellen Erzählstrukturen und gegenwärtigen Spielarten der Ecriture. Auf seine Weise, was bedeutet: So diskret wie möglich und nicht ohne die Vorsichtsmaßnahmen selbstironischer Distanzierung, bietet er sich gleichfalls für eine Lektüre im Modus des „Conte philosophique“ an. Wie vieles in diesem Buch allmählich mehrdeutig wird und zwischen diversen Sinnebenen oszilliert, erscheint nämlich auch der Begriff des Lesens immer wieder auf verschiedene Weise auslegbar.
Lesen kann hier beispielsweise Lieben meinen, wenn es heißt „Leserin, nun wirst du gelesen. Dein Körper wird einer systematischen Lektüre unterzogen, vermittelt durch die Informationskanäle der Tast-, Gesichts- und Geruchssinne, nicht ohne Mitwirkung der Geschmackspapillen“. Oder (denn Calvino ist keineswegs ein Male Chauvinist): „Aber auch du, Leser, bist unterdessen ein Leseobjekt für die Leserin: Bald überfliegt sie deinen Körper wie ein Inhaltsverzeichnis, bald schaut sie irgendwo nah wie erfaßt von einer plötzlichen und präzisen Wißbegier, bald hält sie forschend inne und wartet, daß ihr eine stumme Antwort gegeben werde, als interessiere sie jede Teilbesichtigung nur im Hinblick auf eine weiträumigere Erkundung.“
Dergestalt erweist sich das Lesen als Metonymie, die für jegliche Art von Erfahrung einsteht. Wenn der Roman eine ganze Galerie verschiedener Lesertypen (die Idealleserin, die schlechte Leserin, den Nicht-Leser) präsentiert, geht es ihm daher stets auch um den Begriff der rechten Wahrnehmung. Zu ihr ist etwa Ludmilla fähig, wie ihr – gerade zitiertes – „Lesen“ des Lesers beweist; nicht aber ihre Schwester Lotaria, die Allegorie des erfahrungsfeindlichen, da präpotent sinnzuweisenden Lesens. Zu ihr notiert Flannerys Tagebuch: „Habe Besuch bekommen von einer jungen Dane, die eine Dissertation über meine Romane schreibt [...] Wie ich sehe, kommt ihr mein Werk zur Demonstration ihrer Theorien äußerst gelegen [...] Ich will nicht bezweifeln, daß diese Lotaria meine Bücher gewissenhaft gelesen hat, aber ich glaube, sie hat es nur getan, um darin zu finden, was sie schon vorher zu wissen glaubte.“ Dagegen hält Flannery an einem vertieften Ideal des Lesens fest, dessen Bedeutung den Bereich Lektüre wiederum entschieden transzendiert: „Von den Lesern erwarte ich, daß sie in meinen Bücher etwas lesen, was ich nicht wußte, aber das kann ich nur von denen erwarten, die etwas lesen wollen, was sie noch nicht wissen.“
So führt das virtuose Spiel mit mannigfachen Versatzstücken aus dem Repertoire von Erzählung und Ecriture nicht selten zu einer Reflexion über die Dialektik der Lektüre wie der Erfahrung überhaupt: unter anderem ist der „Reisende in einer Winternacht“ gleichsam die Skizzensammlung für eine allgemeine Hermeneutik in Romanform.
Mit der Apologie des Lesens, welche zugleich die individuelle Erfahrung „gegenüber dem kollektiven Zwang der Medien“ (so Calvino in einem Interview) verteidigt, verbindet sich indessen auch die – wenngleich gedämpfter vorgetragene – Rettung des Autors vor den Mystifikationen des Universalfälschers Ermes Marana. Und in der Gestalt Maranas, der von einer „durch und durch apokryptischen Literatur aus lauter falschen Zuweisungen, Imitationen, Unterschiebungen und Pastiches“ träumt, darf man wohl den Schatten Borges’ sehen. Ihm, dem Großmeister aller modernen Fiktion, gegenüber wirkt Calvinos Roman als Reverenz und Kritik in einem: als Reverenz, die vielerlei Fragestellungen und Anregungen aufgreift; als Kritik, die mit sanftem Nachdruck – und durch die Ironisierung der Ironie – den umfassenden Agnostizismus zu korrigieren sucht, der bei Marana wie Borges jeden Realitäts- oder Wahrheitsbegriff leugnet.
Überdies ist kaum zu verkennen, daß „Se una notte“ in einem sehr speziellen Sinn auch ein Roman des Jahres 1979 ist. Er bezeichnet eine Epoche, in der auf der Linken, der Calvino ja wenigstens durch seine ideologische Herkunft verbunden bleibt, nach dem Zusammenbruch kulturrevolutionärer Euphorien eine enttäuschte Ernüchterung mehr und mehr der begründeten Angst um das Überleben Europas Platz macht. Aus dieser Situation – und nicht aus bloßem Caprice – erwächst dem Buch ein Paradoxon, das mich bei der Lektüre am meisten frappiert hat. Es besteht in der Diskrepanz zwischen dem Erzählton, der besonders in der Haupthandlung eine schwer zu beschreibende kristalline Grazie erreicht, und den Gegenständen der Erzählung, die in den eingeschobenen Fragmenten eben nicht zufällig auf der Thematik von Revolution und Weltende beharrt. Dabei hat es seine Bedeutung , daß diese Thematik etwa mit den Episoden „Über den Steilhand gebeugt“ und „Ohne Furcht vor Schwindel und Wind“ statt utopischer Züge, die hier immerhin möglich wären, eindeutig apokalyptische Wendungen nimmt.
Deren letzte und tödlich ernste Pointe liefert das Fragment „Welche Geschichte erwartet dort unten ihr Ende!“, sozusagen die Engführung der Motive Apokalypse und Revolution. Sie ergibt eine Parabel, die verstörend unheimlich wirkt, wenn man sie liest, wie ich sie verstehen möchte. Also folgendermaßen: Ein mit der Kraft zur unkomplizierten Zerstörung ausgestattetes Ich löscht in anarchischem Mißmut aus, was es „kaputt macht“. Doch, fast ans Ende seines „befreienden“ Werkes gelangt, muß es überrascht feststellen, daß ihm bei der Weltvernichtung eine Behörde bereits zuvorgekommen ist – die Sektion D, welche die „Transformationsphase“ des Universums planvoll zu nutzen versteht; denn „Wichtig ist jetzt, wo die neuen kommen, daß sie die Sektion D voll einsatzbereit vorfinden, mit der kompletten Belegschaft und funktionierenden Strukturen […].“
Um die Präsentation des deutschen Calvino abzuschließen, zuletzt noch ein Wort zu seinem „Ko-Autor“, dem Übersetzer Burkhart Kroeber, der – wenn ich recht sehe – schon am sensationellen Erfolg Ecos „Namen der Rose“ beträchtlichen Anteil gehabt hat. Gerade bei einem Text, der voller Pastiches, Anspielungen, Ironien und Gegen-Ironien steckt, kommt ja alles darauf an, daß der zweite, übersetzende Autor in der Sprache, die ihm zur Verfügung steht, ungefähr gleichwertige Wirkung zu erzielen weiß wie der erste Autor in der seinen, ohne vom Wortsinn der Textvorlage allzu weit abzuweichen. Wie Kroeber dies heikle Gleichgewicht wahrt, ist erstaunlich und ein Glücksfall für die bekannt schwierige Vermittlung italienischer Literatur im deutschen Sprachraum. Jedenfalls habe ich beim Beginn der Lektüre Übersetzungstext und Textvorlage einigermaßen pedantisch nebeneinandergehalten, mir immer wieder bei brillanten Lösungen spontan ein Bravo an den Buchrand notiert, eine einzige – im übrigen recht glückliche – Zugabe des Übersetzers („Und die Landwirtschaft? Weg damit, ist sowieso vergiftet!“) vermerkt, um dann nach kurzer Zeit überhaupt das Gefühl zu verlieren, hier noch eine Übersetzung und keinen originalen Text zu lesen.
Ob Calvino damit endlich in die deutschsprachige Literatur eingetreten ist? Wünschen wir ihm, daß sein abenteuernder Leser möglichst viele Nachfolger erhält! Wie wir umgekehrt auch jedem Leser dieses abenteuerliche Buch wünschen: Den „plaisir du texte“, den es bereitet, und vor allem das Happy-Ending, das es gegen alle Widrigkeit der Zeitläufe erprobt – ein gutes Ende, das in der modernen Literatur wohl nicht seinesgleichen hat.
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