Die „rime sacre“ der italienischen Barockliteratur genießen bei
Literarhistorikern und Literaturkritikern seit langem einen denkbar schlechten
Ruf. So heißt es in einer einschlägigen Epochendarstellung über Marinos
religiöse Gedichte, sie behandelten ‚konventionelle Themen‘ und bedienten sich
dabei ‚rein äußerlicher Rhetorik‘, hohler ‚Emphase‘ sowie eines ‚Bildmaterials
von dekorativer Banalität‘
[1]
. Echtes „sentimento religioso“ habe Marino nicht gekannt; vielmehr müsse
sein Werk als symptomatisch gelten für den Mangel an Innerlichkeit, welcher die
nachtridentinische, gegenreformatorische Religiosität kennzeichne: „Il
sentimento religioso nel Marino non c’è [...]. C’è bensí l’attitudine ad
appigliarsi al tema religioso o genericamente moraleggiante per costruirsi un
involontario alibi, oppure una religiosità distorta che ignora ogni intimità e
pudore del sentire religioso per viverne le sole forme esterne“
[2]
.
Ganz ähnlich lautet das Urteil Hugo Friedrichs. Nach ihm bleibt im
italienischen Barock auch das Religiöse eine pure Stilfrage: „Gedichte mit
sakralen Stoffen verfehlen im allzu Schönen die Heiligkeit“; „eine echte
Transzendenz tritt nicht hervor“
[3]
. Das zeige sich umso deutlicher, wenn man die italienischen Dichtungen mit
der spanischen Literatur des 17. Jahrhunderts vergleiche. Von deren „rimas
sacras“ wird im Blick auf Italien festgestellt: „Ihre Metaphernreihen, ihr
conceptistisches Geflirr begnügen sich nicht mit einem formalen
Verblüffungseffekt, sondern verschärfen den harten Weltbegriff in Paradoxien,
die als Erkenntnisse gemeint sind. Italien hat davon nichts übernommen. Was die
spanische Metaphern- und Periphrasensprache im hohen Maße besitzt, nämlich die
symbolische Kraft, geht der italienischen völlig ab“
[4]
.
Gegen die schneidende Negativität dieser Wertungen zu protestieren,
erscheint – wenigstens im gegenwärtigen Zeitpunkt – kaum sinnvoll. Es genügt,
einige von Marinos sakralen Sonetten und Madrigalen oder Ausschnitte aus dem
ehrgeizigen ‚sakralen‘ Epos La strage degli innocenti zu
lesen, um sich zu überzeugen, daß ein Literaturkritiker des 20. Jahrhunderts in
der Tat nicht anders urteilen kann, jedenfalls dann nicht, wenn er es mit dem
Thema der „rime sacre“, eben dem Sakralen, ernst meint. Indessen weckt gerade
das Schneidende, Uneingeschränkte der Ablehnung auch ein gewisses Befremden.
Werden Texte, die Spuren unverkennbarer literarischer Anstrengung tragen und
somit einen bedeutenden, repräsentativen Anspruch erheben, entweder ohne
Einschränkung gelobt oder ohne Einschränkung verworfen, muß es mit ihnen und
ihrem Verhältnis zu Publikum und Kritik etwas Besonderes auf sich haben. Man
kann vermuten, daß aus den Extremfällen des Lobs oder der Verwerfung sowohl über
die historische Eigenart des Textes als auch über die des ihn beurteilenden
ästhetischen Bewußtseins Aufschlüsse von außergewöhnlicher Deutlichkeit zu
gewinnen sind. Deshalb wollen wir das Kapitel religiöser Barocklyrik in Italien,
so traurig es auf den ersten und zweiten Blick auch immer wirken mag, in einigen
stilistischen Aspekten neu durchdenken, nicht um die Urteile Friedrichs,
Iannacos und vieler anderer zu korrigieren, sondern um mit einem Beitrag zur
historischen Poetologie zu explizieren, weshalb und unter welchen Bedingungen es
zu ihnen kommen mußte.
Eines nämlich fällt angesichts der einstimmigen modernen Ablehnung auf.
In der Epoche ihrer Publikation erfreuten sich die barocken „rime sacre“, zumal
die Marinos, einer Wertschätzung, die ebenso prononciert war wie die heutige
Nichtachtung.. Und bezeichnenderweise blieb sie nicht auf Italien beschränkt,
sondern umfaßte gleichfalls jenen Bereich des spanischen Konzeptismus, den
Friedrich mit so eindringlich positiven Akzenten vom ‚flachen‘ italienischen
Konzeptismus abhebt. Kein geringerer als Baltasar Gracián zum Beispiel hat
Marinos religiöse Lyrik mit bemerkenswerter Aufmerksamkeit rezipiert, ja ihr in
seinem Traktat über die konzeptistische Schreibweise, der
Agudeza y Arte de Ingenio, geradezu eine Art Denkmal errichtet.
Während Hugo Friedrich die Marino-Anthologie in den
Epochen
der italienischen Lyrik so weit wie möglich auf die „rime amorose“
konzentriert und nur ein einziges Exempel der „rime morali“, das seinerzeit
berühmte Sonett „Apre l’huomo infelice allor che nasce“, aufnimmt, trifft
Gracián eine genau umgekehrte Auswahl. Alle neun Gedichte, die er mit kurzem
Kommentar präsentiert, gehören der Gruppe der „rime sacre“ bez. „rime
spirituali“ an, und eben dieser Gedichtgruppe gilt sein höchstes Lob. Gewiß ist
für Gracián „el Marino, célebre poeta italiano“ in jeglicher Gattung „no menos
dulce que ingenioso“, „culto“ und „conceptuoso“; denn er wird ja gerühmt als „El
Góngora de Italia“
[5]
. In vorzüglichster Weise wirken diese Qualitäten nach Graciáns Urteil
jedoch bei den heutzutage verschmähten Gedichten religiöser Thematik. Als das
Maria-Sonett „Stella di Dio, che non sí chiaro albore“ vorgestellt wird, wobei
Gracián neben der im betreffenden Kapitel speziell behandelten „correspondencia
nominal“ noch „la agradable semejanza, la alusión misteriosa y la aplicación
erudita“ hervorhebt, gelangt die Rühmung Marinos zum Höhepunkt der folgenden
Formel: „el delicado Marino, que, cuando sacro más ingenioso“
[6]
. Das muß wohl heißen: je heiliger beim feinsinnigen („delicado“) Marino
das Thema, desto konzeptistisch ingeniöser erweist sich sein Stil. Und es setzt
als Lobargument voraus die Überzeugung, daß ein konzeptistisch ingeniöser Stil
der Heiligkeit des Themas zumindest nicht schaden kann, sie vielmehr, im Sinne
eines delikaten Autors, durchaus angemessen unterstützt und illustriert.
In ebendieser Überzeugung, der Idee harmonischer Korrespondenz zwischen
thematischer Heiligkeit und stilistischer Ingeniosität, scheint mir indessen
einer der wesentlichen Gründe für die eklatante hermeneutische Differenz zu
liegen, welche die Einschätzung von Marinos „rime sacre“ im 17. und 20.
Jahrhundert unüberbrückbar scheidet. Das, was in den Augen Graciáns und der
konzeptistischen Poetik überhaupt einen außerordentlichen Vorzug bildet,
degradiert die einst berühmten Texte in den Augen des modernen Betrachters.
Freilich müssen wir, um eine solche exemplarische Verwandlung der ästhetischen
Größe (immerhin befand Gracián über Marinos Sonett „Qui per altri lavar di
sangue tinse“ mit lapidarer Sicherheit: „Es gran soneto“)
[7]
in den ästhetischen Defekt einsichtig zu machen, weiter ausholen und
zunächst der Konstitution des eigentümlichen, von anderen Themenbereichen
separierten Genus „rime sacre“ eine kurze historische Betrachtung widmen.
Genaugenommen ist die Distinktion der „rime sacre“ als thematischer
Sonderbereich ein für die barocke Lyrik zugleich neuartiges und
charakteristisches Phänomen. Sie gehört einem Prozeß zunehmender
Gattungsdifferenzierung an, welche die Canzonieri des späten Cinquecento und des
frühen Seicento in zahlreiche, vor allem nach Themenkomplexen organisierte
Unterabschnitte gliedert. Beispielhaft dafür erscheint die Gliederung von
Marinos ersten
Rime
[8]
. Sie sind einmal nach metrischen Formen geordnet in
eine „Parte Prima“, die Sonette, und eine „Parte Seconda“, die Madrigale und
Kanzonen umfaßt. Zum anderen – und das ist in unserem Zusammenhang das
wichtigere Gliederungsprinzip – spaltet sich die Parte Prima nach thematischen
Kriterien auf in eine Folge von „Rime Amorose, Marittime, Boscherecce, Heroiche,
Lugubri, Morali, Sacre & Varie“. Eine solche Ausdifferenzierung
verschiedener Themenbereiche, zumal von „Rime amorose“ und „Rime sacre“, war der
petrarkistischen Tradition fremd gewesen. In ihr wurden das Amouröse und das
Sakrale nicht als von vornherein getrennte Genera nebeneinandergestellt, sondern
beides wirkte – wenigstens der Prätention nach – in einer Figur autobiographisch
gestalteter Erfahrung zusammen. So erwuchsen die religiösen Gedichte von Reue
und Gebet bei Pietro Bembo oder Giovanni della Casa wie beim Vorbild Petrarca in
unmittelbarer Konsequenz aus den Gedichten schmerzlichen Liebeserlebens. Deshalb
konzentrierten sie sich zumeist am Ende des „Canzoniere“, wenn es galt, Buße zu
tun und die Enttäuschungen der irdischen durch eine Hinwendung zur himmlischen
Welt zu überwinden. Dazu lese man die letzten Sonette der
Rerum vulgarium fragmenta, in denen schon vor der abschließenden
Kanzonenanrufung der „Vergine“ die Schmerzensklage des Liebenden in das
Reuegebet des Gläubigen übergeht („Tennemi Amor anni ventuno ardendo“; „I’vo
piangendo i miei passati tempi“)
[9]
. Ähnlich enden die
Rime Bembos mit zwei
Gebetssonetten und einer Gebetskanzone („O Sol, di cui questo bel Sole è
raggio“; „Se già nell’età mia piú verde e calda“; „Signor, quella pietà, che ti
costrinse“)
[10]
, während Della Casa seine
Rime mit dem berühmten,
unter anderem von Torquato Tasso scharfsinnig analysierten Gebetssonett „Questa
vita mortal, che ‘n una o ‘n due“ abschließen läßt
[11]
.
In solcher Schlußposition kam den Gedichten der Petrarkisten jeweils
eine besondere Dignität zu. Sie entstand aus dem Umstand, daß sie gegenüber den
„rime amorose“ gleichsam das letzte Wort behielten. Sie ordneten das, was die
Liebesgedichte weltlich machte, in eine geistliche Perspektive ein, zogen aus
ihr das wertende Fazit und erhoben sich solcherart über den irdischen Bereich
der „rime amorose“ – ohne von ihm doch prinzipiell getrennt zu sein – auf eine
Ebene höherer Sinngebung. Diese besondere Dignität reflektiert sich auch im Stil
der religiösen Gedichte. Da sie ja – mit den anderen Gedichten sozusagen
syntagmatisch verbunden – über das hinausweisen, woraus sie selber entstanden
sind, müssen sie vor den „rime amorose“ durch einen getragen feierlichen Ton
ausgezeichnet sein. Wie sehr die Feierlichkeit des Tons der Würde des
Gegenstands entspricht, hat vor allem Torquato Tasso in seiner „Lezione“ über
Della Casas Sonett „Questa vita mortal che ‘n una o ‘n due“ herausgearbeitet,
indem er die durch ein „rompimento di versi“ (beständiges Enjambement)
begründete ,,gravità“ dieses Sonetts von der „soavità“ mancher Liebessonette,
etwa des „Dolci son le quadrella, ond’Amor punge“, unterscheidet
[12]
.
In der barocken Lyrik ist nun nach einem langwierigen Umformungsprozeß,
dessen einzelne Stationen hier nicht nachgezeichnet werden sollen
[13]
, der Zusammenhang autobiographischer Fiktion, welcher die petrarkistischen
Gedichtsammlungen verband, aufgelöst zugunsten einer Serie thematisch autonomer
Gegenstände. Unter ihnen entsteht nicht mehr eine Hierarchie des Sinns
dergestalt, daß die eine Erfahrung die andere deuten und folglich auch die eine
Gedichtgruppe über die andere hinausweisen könnte. Sie reihen sich vielmehr in
vielgliedriger Juxtaposition auf der gleichen Ebene aneinander, und ihr
Organisationsprinzip ist nicht die – wie auch immer topische – Erfahrungsfigur
des lyrischen Ich, sondern das Inventar der vorhandenen Genera. So greifen zumal
die
Rime Marinos alles auf, was das Repertoire seriöser
Lyrik am Ende des Cinquecento hergab. In den „rime amorose“ setzen sie,
wenngleich mit einschneidenden stilistischen Modifikationen, die Hauptmaterie
der petrarkistischen Canzonieri fort; die „rime marittime“ knüpfen an eine
neapolitanische Spezialität, die Fischereklogen Sannazaros oder später Berardino
Rotas, an; die „rime boscherecce“ variieren die üblichere pastorale Landidylle;
speziell enkomiastische Sonette sind unter dem Titel „rime heroiche“ vereint;
der Titel „rime lugubri“ meint eine Sammlung von Epitaphien, und mit den „rime
morali“ werden Sonett-Epigramme von allgemeiner lebensphilosophischer Thematik
bezeichnet, wie sie in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunehmend Einlaß
in die petrarkistischen Gedichtbücher gefunden hatten. Im Rahmen dieses
Gattungsinventars stellen die „rime sacre“ nicht eine letzte Überhöhung der
übrigen, weltlichen Materien dar, sondern lediglich deren siebte Sparte, was
umso krasser auffällt, als ihnen noch eine achte Sparte, die „rime varie“,
nachfolgt: wie um deutlich zu machen, daß es sich hier um die rein horizontale
systematische Ordnung eines Repertoires, nicht um den vertikalen Aufbau einer
Sinnhierarchie handelt.
Mit der Ausdifferenzierung der „rime sacre“ als separiertem Genus ist
daher paradoxerweise zugleich eine gewisse Nivellierung verbunden. Zwar wird das
Genus selbständig und überdies im Laufe des Seicento immer kompakter; doch steht
es jetzt in lockerer Beziehung neben den anderen Genera, nicht mehr im engen
Zusammenhang autobiographischer Fiktion hinter und über ihnen. Zu diesem ersten
Grad thematischer Nivellierung kommt indessen noch ein zweiter Grad
stilistischer Nivellierung, der – wie ich finde – epochale Bedeutung hat, d. h.
an einem Phänomen partizipiert, welches weit über den speziellen Bereich der
„rime sacre“ hinausreicht. Um dies Phänomen zu kennzeichnen, wenden wir uns
einem selbst in seiner Extremität typischen Beispiel von Marinos religiöser
Lyrik zu
[14]
:
| | e di chiome e di lagrime confonde, |
| | sparse in lucide stille e ‘n tepid’onde, |
| | costei, torrenti e fiumi. |
| | | Due piogge: una d’argento e l’altra d’oro. |
|
|
Liest man das Madrigal, sicher eines der virtuosesten seines Autors,
unvoreingenommen und ohne Wissen um den Kontext, fällt es schwer, in ihm
überhaupt irgendein Merkmal religiöser Lyrik festzustellen. Trotzdem gehört das
Gedicht – in seinem gleichsam offiziellen Status betrachtet – zum Genus der
„rime sacre“; denn es ist Teil einer Serie von elf Madrigalen über dasMotiv der „Maddalena ai piedi di Cristo“. Im Rahmen
dieser Serie soll es veranschaulichen, wie sich Haar und Tränen der reuigen
Sünderin über die Füße Christi ergießen: „Lachrymis coepit rigare pedes eius et
capillis capitis sui tergebat“.
Der Ausgangspunkt des Madrigals – die erniedrigte und demütige Büßerin
im Angesicht des Erlösers – ist also durchaus religiöser Natur. Nur geht die
religiöse Natur des Themas in der Durchführung des Madrigals fast vollständig
verloren. Wie sie sich auflöst, ist dabei bezeichnend. Marino ergreift das, was
an seinem Thema gegenständlich und sinnlich faßbar erscheint: die Tränen und die
Haare, und hebt diese Konkreta von ihrem spirituellen Hintergrund ab. Freilich
geschieht das nicht so sehr, um die Konkreta zu beschreiben, sondern um aus
ihnen das Concetto einer metaphorischen Konstruktion zu gewinnen. Zu diesem
Zweck werden Haar („chiome“) und Tränen („lagrime“), die sich zunächst durch die
Angabe ihrer Herkunft („Dalla testa e da’ lumi“) als ganz verschiedene
Substanzen präsentieren, einander angenähert und schließlich miteinander
identifiziert. Stufen solcher Verwandlung sind – den Konkreta noch
verhältnismäßig nah – die ,,lucide stille“ und „tepid’onde“, darauf – mit
hyperbolischem Aufschwung – die „torrenti e fiumi“, bis sich in den „due piogge“
die Identifikation vollzieht, welche unter dem Zeichen der kostbarsten Metalle
gleichzeitig eine äußerste Illustration („Oh ricchezza, oh tesoro!“) des
zunächst alltäglich trivialen Materials bedeutet.
Die Prozedur der verblüffend illustrierenden Verwandlung von Haar und
Tränen in Gold- und Silberregen ist nun eine jener „Meraviglia“-Wirkungen, wie
sie für den barocken Konzeptismus typisch sind. Aus welchem literarischen
Bereich solche Wirkungen ursprünglich hervorgingen, lassen Art und Richtung der
Verwandlung deutlich erkennen. Sie verweist in der Wahl der Gegenstände und in
der Tendenz, sie ins möglichst Preziose umzuformen, auf die Liebeslyrik des
späten Cinquecento, die ihre Sonette und zumal ihre Madrigale zur besonderen
Domäne der „Meraviglie“ gemacht hatte. Dem wird bei Marino auch das religiöse
Thema angepaßt: gleich dem amourösen Thema reduziert es sich auf einen Anlaß,
dessen eigentliches Ereignis gemäß der Poetik des epigrammatischen Madrigals das
Concetto einer metaphorischen Konstruktion darstellt.
Wie leicht einzusehen ist, besitzt das Motiv der „Maddalena ai piedi di
Cristo“ unter diesem Aspekt ein besonders reiches Assoziationspotential, und
deshalb, wegen der konzeptistischen Entfaltungsmöglichkeiten von „chiome“ und
„lagrime“, wird es in der Tat zu einem Lieblingsthema der „rime sacre“ im
Seicento. Als Beleg für seine weitere Fortüne soll ein durch den Schlußvers
berühmt gewordenes Sonett des spätbarocken Sizilianers Giuseppe Artale dienen
[15]
, ein Sonett, das – wenn man so will – den Moment der extremsten
konzeptistischen Ausbeutung des Motivs bezeichnet:
| Gradir Cristo ben dèe di pianto un rio, |
| | torrente ov’egli bee, d’alme assetato; |
| | se su l’acque vagò spirito e Dio, |
| | su l’acque a passeggiar torna incarnato; |
| | | e se la pace a chi l’offese offrio, |
| | giusto ben fu, poiché pietoso e grato |
| | videsi a’ piè di chi piagarlo ardio |
| | l’aureo crin, che l’insegna è del peccato. |
| | | L’occhio e la chioma in amorosa arsura |
| | se ‘l bagna e ‘l terge, avvien ch’amante allumi |
| | stupefatto il fattor di sua fattura; |
| | | ché il crin s’è un Tago e son due Soli i lumi; |
| | prodigio tal non rimirò natura: |
| | bagnar coi soli e rasciugar coi fiumi. |
|
|
Nach G. G. Ferreros mißmutigem Kommentar haben wir es hier zu tun mit
dem „tipico esempio di frigido barocchismo, che si fa goffo nella chiusa“
[16]
. Das klingt, als handle es sich um ein insgesamt mäßiges Gedicht, das zu
allem Überfluß in der Schlußformel noch total verunglücke. Nun mag man die
ästhetischen Qualitäten des Sonetts einschätzen, wie man will; für die Erfassung
seiner Struktur ist es wichtig festzuhalten, daß die „chiusa“ keineswegs als
mißratenes Anhängsel gelten darf, sondern die wesentliche raison d’être des
Gedichtes ausmacht. Auf sie hin wird nämlich von Anfang an alles zugeordnet; ihr
dienen als Vorbereitung der ‚Tränenstrom‘ („di pianto un rio“), das Thema des
ersten Quartetts, und das ‚Goldhaar‘ („l’aureo crin“), das Thema des zweiten
Quartetts. Indem die Augen, die Quelle des Tränenstroms, nach geläufiger
Metaphorik in ,Sonnen‘, das Goldhaar mit Anspielung auf den goldführenden Tajo
in ‚Flüsse‘ verwandelt werden, läßt sich für den Schlußvers ein Concetto finden,
das ein „prodigio“, also der Exzess einer „meraviglia“, ist: das prädikative
Oxymoron ,mit Sonnen benetzen und mit Flüssen trocknen‘. Dabei wird die
Virtuosität dieser „chiusa“ nur dann ganz verständlich, wenn man das Motiv von
Magdalenas Haar und Tränen, wie es in Marinos Madrigal erscheint, als bekannt
voraussetzt. Was Artale an ihm reizte, war zweifellos nicht der lediglich en
passant angedeutete Kontrast von Gott und Sünderin, sondern die Aufgabe einer
doppelten Überbietung bislang erreichter Concetti. Einmal wird das Concetto
selbst zugespitzt: statt der noch relativ einfachen metaphorischen
Identifikation von „chiome“ und „lagrime“ entwickelt Artale eine schwierige,
,prodigiöse‘ oxymorische Prädikation; zum anderen wird dem Concetto ein ganzes
Sonett unterworfen, nicht bloß die ohnehin epigrammatisch biegsame Form des
anspruchsloseren Madrigals.
Damit ist der Anlaß des religiösen Themas bei Artales
Überbietungsversuch, obwohl in ihm einiges Sakrale („Cristo“, „Dio“, „fattor“,
„fattura“, ,,peccato“) immerhin genannt wird, im Grunde noch radikaler verdrängt
als bei Marino. Gerade weil Artale den religiösen Ausgangspunkt klarer erkennbar
läßt, wird auch dessen Verdrängung durch die metaphorische Konstruktion, vor der
alles Thematische letztlich gleichgültig wirkt, skandalöser offenkundig.
Skandalöse Aspekte hat solche Verdrängung indessen bloß für ein moderneres, in
religiösen Dingen heikleres Bewußtsein; für die Poetik des Konzeptismus war sie
nichts Anstößiges. Wie das literarische Bewußtsein des Seicento reagierte,
verrät neben Graciáns
Agudeza y arte de ingenio mit sehr
plastischen Formulierungen Tesauros
Filosofia Morale,
deren dreizehntes Buch das Phänomen der „agudeza“, das vom gleichen Autor im
Cannocchiale Aristotelico detailliert behandelt worden
war, in einen größeren moralphilosophischen Zusammenhang einfügt. Die „arguta et
ingeniosa elocutione“, für die das
Cannocchiale Aristotelico
eine Unzahl von Formeln bereitstellt, heißt dort „Facetudine“ und bildet
nach aristotelischer Manier die Tugend der Mitte zwischen den extremen Vitia von
„Rustichezza“ und „Scurrilità“. Keineswegs sind die „Facetudine“ und ihre
Produkte, die „Facetie“ oder „Urbanità“, im Sinne Tesauros mit der späteren
Bedeutung von lächerlichem Witz zu identifizieren; denn es gibt für Tesauro
sowohl „Facetie Ridicole“ als auch „Facetie Gravi“, ja sogar „Facetie Morali“
und „Dottrinali“, und ihre allgemeinste Definition lautet: „La Facetia, ò sia
Urbanità,
è una Operatione dell’Intelletto, che insegna alcuna
cosa con maniera Ingegnosa“. ,,
Maniera
ingegnosa“ wiederum bedeutet ,,quella, che significa le cose, non per gli
mezzi propri e communi: ma per mezzi figurati, e finti dall’Ingegno, &
perciò nuoui, & inaspettati; come i Concetti Poetici, che non son veri,
ma imitano il vero“
[17]
.
Über diese „Facetie“ oder „Motti faceti“, die aus der „Maniera
ingegnosa“ hervorgehen, wird nun in rühmender Distinktion gegenüber den planen
„Motti seriosi“ Folgendes gesagt: „Sicome l’Otio è il riposo del Corpo; cosí la
FACETIA è il riposo dell’Animo; ma non riposo otioso, spensierato: perche
l’Intelletto è facoltà spirituale; e lo spirito, se non è legato dal sonno,
tant’opera quanto viue, perche la sua vita è operare. Anzi se ne’ Motti seriosi
è più di sodezza; ne Motti faceti è più di acutezza; in quegli è più di
giudicio; in questi è più d’ingegno, peroche quelli nascono dalla Verità delle
cose; questi si partoriscone della fecondità dell’Intelletto; il qual
riconoscendoli per propri parti, maggiormente ne gode; e nella stessa Operatione
troua il riposo“
[18]
. Bemerkenswert sind an dieser Passage vor allem die Antithesen des zweiten
Teils. Auf der einen Seite stehen – leicht, aber deutlich abgewertet – die
„Motti seriosi“. Sie werden ausgezeichnet durch „sodezza“ und „giudicio“ und
entstammen der „Verità delle cose“. Auf der anderen Seite erheben sich – ebenso
klar aufgewertet – die „Motti faceti“. Ihnen sind „acutezza“ und „ingegno“ zu
eigen, und als Urheber haben sie statt der „Verità delle cose“ die ,,fecondità
dell’Intelletto“. Indem solcherart die ‚Wahrheit der Dinge‘ hinter der
,Fruchtbarkeit des Intellekts‘ zurücktritt, verschwindet in der Literatur aber
auch das Eigengewicht jeglichen Themas zugunsten der Autonomie ingeniöser
Operationen, die den verschiedensten Themen, unbekümmert um deren ursprüngliche
Beschaffenheit, unterschiedslos appliziert werden können. So befördert die
konzeptistische Poetik eine eigentümlich negative Auflösung der klassischen
Stil- und Gattungstrennung. In ihr wird das niedrige Thema nicht, wie später im
Verlauf der bürgerlichen Literaturrevolution, durch stilistische Pathetisierung
erhöht; vielmehr tendieren alle Themen, gleichgültig ob niedrigen oder hohen
Genres, dazu, angesichts der ,,fecondità dell’Intelletto“, die ihre eigenen
Konstrukte genießen möchte, indifferent zu werden.
Mit der tendenziellen Indifferenz von Thematik und „Verità delle cose“
ebnet sich der Unterschied sowohl zwischen hohem und niedrigem Genus als auch
zwischen sakralem und profanem Gegenstand ein; denn die nunmehr dominierende
‚Fruchtbarkeit des Intellekts‘ kann – wenigstens prinzipiell – am einen so
produktiv werden wie am anderen. Die Nivellierung klassischer Stil- und
Gattungstrennung, wie Tesauro sie zumindest implizit vollzieht, wird im übrigen
durch die Konsequenzen von Graciáns
Agudeza y arte de ingenio
aufs eindrucksvollste bestätigt. Zwar führt Graciàn nach humanistischer
Tradition gelegentlich auch einmal die Lehre vom unterschiedlichen Decorum der
Gattungen an, etwa im Discurso LX: „Tienen sus engastes los pensamientos, y no
se deben barajar las crisis y ponderaciones de un grave historiador con los
encarecimientos y paronomasias de un poeta. Pide muy diferentes pensamientos, y
aun palabras, una carta familiar que una oración; ni merece ser asunto principal
de un sermón el concepto que es brillante para un soneto“
[19]
. Solche traditionsgeprägten Stellen bleiben jedoch isoliert gegenüber
anderen, bei denen Gracián die Skala der Gattungsdignitäten entschieden und
bewußt ignoriert. Um unter vielen nur das krasseste Beispiel zu nennen, sei etwa
hingewiesen auf den für einen Humanisten unerhörten Einfall, Vergil und Martial
als Verfasser ,ewiger‘, da stilistisch höchst konzentrierter, Werke im gleichen
Atemzug zu erwähnen: „Elige el verbo entre mil Cornelio Tácito; no se casa con
cualquiera Valerio, y con los muchos borrones iluminaron Virgilio y Marcial sus
eternas obras“
[20]
. Ähnlich frappant zeigt sich die Gattungsnivellierung bei Graciáns
Inventar erzählerischer Genera. Gewiß wird es eingeleitet mit der
konventionellen Feststellung: ,,Merecen el primer grado, y aun agrado, entre las
ingeniosas invenciones las graves epopeyas“. Wenig später aber erscheinen auf
ein und derselben Stilstufe Vergils
Aeneis und Heliodors
„trágicos sucesos de
Theagenes y Clariquea (sic)“,bevor als Krönung aller Erzählliteratur, ungeachtet
seines ‚niedrigen Gegenstands‘, Mateo Alemáns
Guzmán de
Alfarache auftritt: ,,Aunque de sujeto humilde, Mateo Alemán, o el que
fue el verdadero autor de la
Atalaya de la vida humana,
fue tan superior en el artificio y estilo, que abarcó en sí la invención griega,
la elocuencia italiana, la erudición francesa y la agudeza española“
[21]
. Die Gegenständlichkeit der erzählten Dinge hat hier offenkundig ihr altes
Prestige eingebüßt, und dafür gilt umso mehr, was allein im „Intelletto“ des
Autors liegt: „invención“, „elocuencia“, „erdición“ und – höchster und letzter
Wert – „agudeza española“.
Nun bietet sich die konzeptistische Ablösung der „Verità delle cose“
durch die ,,fecondità dell’Intelletto“ dem modernen Betrachter auf den ersten
Blick verhältnismäßig unproblematisch und akzeptabel dar, wenn in ihr das
Niedrige und Profane gewissermaßen entmaterialisiert wird. Dagegen berührt es
unser Bewußtsein peinlich, vom gleichen Entmaterialisierungsprozeß das Hohe und
Sakrale betroffen zu sehen. Oder allgemeiner gesprochen: der Vorgang wirkt
irritierend, sobald die ,,Verità delle cose“, welche durch die ingenösen
Operationen des konzeptistischen Autors verdrängt wird, auch für das
gegenwärtige Empfinden einen ungeminderten oder sogar gesteigerten Ernst
bewahrt. Eben das ist aber in aller Regel der Fall bei den religiösen
Gegenständen der „rime sacre“. Geht es wie bei Artales Sonett um die Begegnung
zwischen Sünderin und Erlöser, vermerkt ein Bewußtsein, dem die
propagandistisch-allumfassende Heiterkeit gegenreformatorischer Religiosität
fremd geworden ist, als absonderlich den Umstand, daß das Prodigium, das in der
Sache selbst liegt, anscheinend nicht mehr genügt. Statt der Begegnung von „Dio“
und „peccato“ konstruiert der Verfasser ein eigenes „prodigio“, ‚wie es die
Natur noch nie sah‘, ein „prodigio“, das gerade dank seines Eclat insgeheim
entwertet, was ihm als Anlaß und Vorbereitung vorausging.
So kommt es in den „rime sacre“ des Seicento zu einer verstörenden
Konkurrenz zwischen gegenstandsspezifischen „meraviglie“ der Offenbarung und
stilspezifischen „meraviglie“ auktorialer Konstruktion. Je nach deren innerem
Verhältnis reagiert der Leser, der die religiöse Offenbarung ernst nimmt, wohl
mehr oder weniger befremdet und sucht seinen Ernst durch die Disqualifikation
der „goffa argutezza“ zu schützen
[22]
. Indessen ist es – recht betrachtet – eigentlich nicht die „argutezza“
selber, die als „goffa“ zu disqualifizieren wäre: auf sie konzentrieren sich ja,
wie zahlreiche weitere Madrigale und Sonette zumal Marinos belegen könnten,
äußerste Anstrengung und oft auch äußerstes Geschick des Autors. Was verquer
erscheint, ist vielmehr ihre ,Unangemessenheit‘, der Umstand, daß die an sich
eklatante Pointe ein thematisches Decorum verletzt, welches sich bei
nachlassender Verbindlichkeit religiöser Überzeugungen nicht aufgelöst, sondern
eher noch bestärkt hat. Offenbar spricht manches – nicht zuletzt eben die neuere
Marino-Kritik – dafür, daß die Religiosität, je mehr sie aus dem Öffentlichen
ins Innerliche zurückgeht, umso weniger geneigt wird, mit sich spaßen zu lassen,
und sei es auch nur im Sinn von Tesauros „facetia grave“. Jedenfalls wehrt sie
es als sonderbar prätentiös ab, wenn ein barocker Autor – unbefangen, ja
ungerührt – die paradoxen Concetti Gottes mit den eigenen zu unterstützen, zu
vermischen und endlich zu überbieten sucht.