« zurück
Permalink: http://gams.uni-graz.at/o:usb-063-12 | Druckversion | Metadaten
Quelle: Romanistisches Jahrbuch 19 (1968), S. 90–96.
Permalink: http://gams.uni-graz.at/o:usb-063-12 | Druckversion | Metadaten
Quelle: Romanistisches Jahrbuch 19 (1968), S. 90–96.
Antipetrarkismus und barocke Lyrik
Bemerkungen zu einer Studie Jörg-Ulrich Fechners
In einem materialreichen Aufsatz hat gegen Ende des vergangenen
Jahrhunderts der italienische Literarhistoriker und Dichter Arturo Graf
verschiedene Texte des Cinquecento zusammengestellt, die in erklärter Opposition
zur geläufigen Petrarca-Imitatio der volkssprachlichen Liebeslyrik stehen. Es
sind Parodien und Travestien petrarkistischer Dichtung oder auch Äußerungen
direkter Kritik und offenen Hohns, als deren Autoren zumeist die literarischen
Bohémiens („scapigliati“) der Spätrenaissance erscheinen: Pietro Aretino,
Niccolò Franco, Francesco Berni, Anton Francesco Grazzini (genannt „Il Lasca“).
Um diese Zeugnisse einer vielstimmigen Opposition gegen den Petrarkismus mit
einem allgemeinen Begriff in die Geschichte der italienischen Literatur
einzuordnen, bediente sich Graf des Terminus „Antipetrarchismo“
[1]
.
Wesentliche Motive des antipetrarkistischen Protests waren nach Grafs
Übersicht zunächst die unirdisch spiritualisierende Auffassung von der Liebe,
wie sie sich in den platonisch beeinflußten Canzonieri des frühen 16.
Jahrhunderts darstellte; die Attitüde der sterbensnahen Verzweiflung, welche der
tragisch entflammte Liebhaber mit konventioneller Regelmäßigkeit vor der eisigen
Sprödheit der Geliebten einzunehmen pflegte; die Idealisierung der Geliebten zur
erbarmungslosen Herrin und Feindin des Liebenden. Fast mehr noch aber entzündete
sich der Unwille an gewissen stilistischen Eigentümlichkeiten petrarkistischer
Lyrik, vor allem an den auffälligen lexikalischen Archaismen (dem „uopo“ und
„unquanco“ der Petrarca-Imitatoren)
[2]
und an der stilisierenden Einschränkung des dichtungswürdigen Vokabulars
auf wenige erlesene Wörter und Wortverbindungen.
[3]
Bemerkenswert ist nun, daß die meisten der von Graf zitierten
Antipetrarkisten Autoren prononciert antihumanistischer Haltung oder
Burleskdichter sind. Bis auf wenige Ausnahmen entstammen die Belege der
Petrarca-Kritik nicht der „großen“, offiziellen Literatur, der Lyrik des „genus
medium“ oder dem seriösen poetologischen Traktat, sondern den niederen, eher
unernsten Gattungen: der „lettera familiare“, der Komödie, dem bernesken
Capitolo. Offensichtlich entsteht der antipetrarkistische Protest in enger
Bindung an ein bestimmtes literarisches Genus: das der „poesia burlesca“, die im
16. Jahrhundert so durchgehend antipetrarkistisch akzentuiert ist wie sie einst
bei Cecco Angiolieri antistilnovistisch geprägt war. Pointiert
antipetrarkistische Dichtungen sind etwa die witzig-obszönen Madrigale, die
Pietro Aretino in seine Ragionamenti eingefügt hat; die
Priapea-Sonette Niccolò Francos mit ihren zahllosen parodistischen
Petrarca-Zitaten; vor allem aber gewisse Capitoli Francesco Bernis und der
sogenannten „Berneschi“, die sich durch mancherlei Anspielungen als Verspottung
petrarkistischer Schemata zu erkennen geben. Besonders erwähnenswert unter ihnen
erscheinen Giovanni Mauros einst außerordentlich berühmte Priapeen In lode della Fava und In lode del
Priapo; Francesco Maria Molzas Capitolo In lode delle
Fiche, dem Annibal Caro unter dem Akademiker-Pseudonym „Ser Agresto da
Ficaruolo“ einen umfangreichen Kommentar voller Petrarca-Laura-Blasphemien
widmete; Lodovico Dolces Capitolo In lode dello Sputo, in
dem der Urheber des orthodoxen Petrarkismus, Pietro Bembo, verspottet wird:
| ||
| ||
|
schließlich Luigi Tansillos Capriccio partito in due
satire, nel quale si prova che non si debba amar donna accorta, ein
Capitolo, welches das einfache, ungebildete und erotisch gefügige Mädchen gegen
die elegante, doch spröde Petrarca-Leserin ausspielt, die „in der Hand den
,Trionfo di Petrarca‘ trägt“,
| ||
| ||
|
Von Anton Francesco Grazzini, der 1548 eine große Anthologie bernesker
Lyrik herausgab, wird dieser Dichtungsart überhaupt ein antipetrarkistischer
Sinn gegeben. Sie erscheint in seinen Augen als Rettung vor den monotonen
Reimereien im Stile Petrarcas und Bembos, als „stil burlesco, giocondo, lieto,
amorevole, e [...] buon compagno, [...] avuto in tanta stima, e tenuto in tanta
riputazione, e non mica da plebei, ma da uomini Nobili, e da Signori, avendo le
Petrarcherie, le squisitezze, e le Bemberie, anzi che nò, mezzo ristucco, e
infastidito il mondo, perciocchè ogni cosa è quasi ripieno di fiori, frondi,
erbe, ombre, antri, onde, aure soavi“
[6]
. Und in der Tat behandelt die burleske Lyrik des Cinquecento in zäher
Ausschließlichkeit fast nur das, was man – nach einer hübschen Formulierung
Dolces – „auf petrarkistische Art nicht sagen kann“ („che non può dirsi
Petrarchevolmente“). Sie entwickelt sich – bei den Nachahmern Bernis noch
deutlicher als bei dem Meister selbst – als komische Umkehrung der Dichtung des
Petrarkismus, deren Konventionen beharrlich auf den Kopf gestellt werden, deren
erlesenes Vokabular idyllischer oder psychologischer Allgemeinheit von einem
nicht weniger erlesenen Vokabular niedrig-konkreter Dinglichkeit und deren
vergeistigte platonische Liebe von derber Obszönität kontrapunktiert wird. Als
Gegenstück zum petrarkesken Manierismus des hohen Stils bildet die italienische
Literatur in fast vollkommener Synchronie den bernesken Manierismus des niederen
Stils aus: ein Phänomen, das verständlich macht, wie Autoren von der Art
Giovanni della Casas, Benedetto Varchis oder Luigi Tansillos sich beliebig bald
der „maniera“ des Petrarkismus, bald der „maniera“ des Antipetrarkismus bedienen
können
Für die moderne Literaturwissenschaft ist die antipetrarkistische
„maniera“ des burlesken Genus trotz der Hinweise Arturo Grafs insgesamt eine
unerforschte Region geblieben. Wir wissen zum Beispiel noch nicht genau, in
welchem Ausmaß sich diese Manier gleich dem Petrarkismus in den Literaturen
Westeuropas ausgebreitet hat. Das heißt: Sind von den Werken Bernis, Mauros und
Francos in Deutschland, Frankreich oder Spanien ähnlich intensive Wirkungen
ausgegangen wie von denen Bembos und Navageros? Desgleichen bleibt nachzuprüfen,
ob der burleske Antipetrarkismus etwa direkt oder indirekt die seriöse
petrarkistische Lyrik des „genus medium“ beeinflußt hat, ob seine
Neigung zu Wortspielen und rauhem Witz vielleicht die „acutezze“ barocker
Dichtung mitzuprägen vermochte.
Die letztere Frage erscheint uns besonders wichtig, da erst 1966 eine
Schrift mit dem verheißungsvollen Titel Der Antipetrarkismus –
Studien zur Liebessatire in barocker Lyrik
[7]
veröffentlicht wurde, welche ihre Zentralbegriffe „barocke Lyrik“ und
„Antipetrarkismus“ nur auf Grund eines bemerkenswerten Mißverständnisses
zusammenführt. Es ist in dieser Arbeit zwar viel von der Dichtung des deutschen
Barock die Rede, kaum jedoch von „Antipetrarchismo“ im Sinne Grafs
[8]
. Den „Antipetrarkismus“ im Fechnerschen Sinne machen hauptsächlich eine
Reihe von Epigrammen und Epithalamien aus: so werden zum Beispiel zahlreiche
Übersetzungen Opitzens aus Martial und Ausonius oder ein langes Hochzeitslied
des Schlesiers Wenzel Scherffer von Scherfferstein präsentiert. Diese Texte
stehen zweifellos außerhalb der petrarkistischen Tradition, die sie im Grunde
aber auch gar nicht mehr berühren, weder als petrarkistische Imitatio noch als
antipetrarkistische Opposition. Sowohl das Epigramm als auch das Epithalamion
besitzt nämlich seine eigene, antik-humanistische Überlieferung, welche die
petrarkistische Tradition der volkssprachlichen Lyrik nicht bekämpft, sondern
auf einem anderen Gebiet – dem des lateinischen Dichtens – in einer stilistisch
und motivlich allerdings ganz verschiedenen Haltung ergänzt. Es ist eine Überlieferung, die auf die griechische Anthologie mit ihren
zahllosen erotischen und satirischen Epigrammen, auf Catull und Martial
zurückgeht und die ihre dichterischen Höhepunkte etwa bei Pontanus, Marullus
oder Johannes Secundus findet. Innerhalb dieser humanistischen Tradition
schreibt ein Sannazaro mit natürlicher Selbstverständlichkeit Catull-inspirierte
lateinische Basia
[9]
, die nur sehr wenig seinen eigenen
volkssprachlichen Versen nach Art des Petrarca gleichen, wohl aber bereits der
berühmten barocken Canzone de’ baci des Cavalier Marino.
Ohne leichtfertig zu vereinfachen, kann man sogar sagen, daß dem italienischen
Lyriker während des frühen Cinquecento drei verschiedene Manieren des Dichtens
zur Verfügung stehen: in der Volkssprache verfaßt er auf der einen Seite
petrarkistische Sonette und Kanzonen, auf der anderen Seite antipetrarkistische
Capitoli und Sonetti caudati, im Latein dagegen feilt er an Epigrammen, Elegien
oder Epithalamien, die weder pro- noch antipetrarkistisch, sondern allenfalls
„a-petrarkistisch“ genannt werden dürfen
[10]
.
Wie die Nähe von Marinos Kußkanzone und Sannazaros lateinischen Basiationes schon andeutete, ereignet sich nun die
Auflösung des petrarkistischen Systems zur geistreich-erotischen Barocklyrik hin
vor allem aus den Kräften der lateinischen Dichtung des späten Humanismus.
Marinos ingeniös pointierte Madrigale und Sonette oder seine Epitalami mit ihren wollüstig detaillierten, doch alles
Burlesk-Obszöne meidenden Liebesanweisungen sind dem rüden Antipetrarkismus
eines Berni so fern wie dem blassen Petrarkismus eines Bembo. Deutlich jedoch
weisen sie auf „a-petrarkistische“ Dichtung zurück, auf die „brevitas“ und
„argutia“ der Epigrammatik von Martial bis Julius Cäsar Scaliger oder auf das
„lepos“ der „carmina nuptialia“ aus Pontanos De amore
coniugali. Die traditionellen volkssprachlichen Formen des Sonetts, der
Kanzone und des Madrigals werden schon im Laufe des 16. Jahrhunderts immer mehr
zu inneren Wandlungen gezwungen, um sich dem Vorbild antik-humanistischer Formen
anzupassen: der Ode zum Beispiel und vor allem dem Epigramm, das einen
außerordentlichen Einfluß auf die kleineren lyrischen Genera ausübt. Fechner
stellt diesen Prozeß der Epigrammatisierung, der mit dem Begriff des
„Antipetrarkismus“ überhaupt nichts mehr zu tun hat, in einem erstaunlich
fehlerhaften Kapitel
[11]
als eine „Vermischung der Formen“ zwischen
„Sonett-Epigramm-Madrigal“ dar, ja sogar als eine „Durchbrechung der normativen
Gattungsgrenzen“, wie sie für den barocken „Antipetrarkismus“ typisch sei.
Voraussetzung für eine solche „Mischung“ der Gattungen wäre, daß Epigramm,
Sonett und Madrigal in den Volkssprachen als alternative metrische Formen
nebeneinander stünden, die auf gleicher Ebene getrennt oder gemischt werden
könnten. In Wahrheit sieht das Verhältnis dieser Formen untereinander aber ganz
anders aus. Das Epigramm auf der einen Seite ist eine metrisch nicht festgelegte
Form
[12]
antiker Herkunft, die in den Volkssprachen durch verschiedene metrisch
festgelegte Formen wiedergegeben werden kann. Sonett und Madrigal auf der
anderen Seite sind metrisch mehr oder weniger festgelegte Formen
volkssprachlicher Herkunft, die sich wegen ihrer Kürze zur Aufnahme des Epigramms in die volkssprachliche Lyrik besonders gut eignen. Wenn
Madrigal und Sonett als italienische oder französische Epigramme aufgefaßt
werden, so bedeutet das folglich nicht Formen- oder Gattungsmischung. Es handelt
sich vielmehr um die neuartige Ausrichtung volkssprachlicher Formen an einem
antik-humanistischen Gattungsmodell, das durch seinen „Argutia“-Charakter auf
die präbarocke und barocke Lyrik außerordentlich attraktiv wirken mußte.
So läßt sich die Auflösung des Petrarkismus und die Ausbildung des
Marinismus in Italien durchaus darstellen als die allmähliche Einschmelzung der
lateinischen Dichtungstradition in die zuvor ganz von Petrarca und Bembo
geprägte volkssprachliche Lyrik. Die lateinische Dichtung, a-petrarkistisch in
ihrer bewußt agnostischen Haltung dem großen Trecentisten gegenüber, vermacht
der volkssprachlichen Lyrik sowohl ihre Form als auch ihren Sinn; das
epigrammatische Ideal der „acutezza“ und den erotischen Hedonismus. Von der
antipetrarkistischen Literatur des burlesken Genus dagegen gehen – verglichen
mit der lateinischen Lyrik – nur sehr wenig präbarocke Wirkungen auf die seriöse
Dichtung des „genus medium“ aus. Die Kunst Francesco Bernis betrachtet Marino
lediglich als eine verächtliche „Musa sudicia e buffona“
[13]
. Ihre Bedeutung für die barocke Lyrik scheint allenfalls indirekter, nicht
direkter Natur zu sein; sie ist schon zur Zeit der höchsten Geltung Pietro
Bembos und seiner Schule ein erstes Symptom für Erschöpfung und Überdruß an den
abstrakten Formeln des Petrarkismus, nicht aber selbst eine formende Kraft, die
zur Genesis der neuen Liebesdichtung Wesentliches beitrüge.
1 |
Vgl. Arturo Graf, Petrarchismo e
Antipetrarchismo, in: ders., Attraverso
il Cinquecento, Torino 21926, S. 3–86. |
2 |
In einem Brief vom 28. August 1537 warnt Aretino Giovanni
Pollastra vor allzu serviler Petrarca-Nachahmung (Pietro Aretino,
Il primo libro delle lettere, Bari 1913,
S. 215): „Sterpate da le composizioni vostre i ternali del Petrarca;
e, poiché non vi piace di caminare per sí fatte strade, non tenete
in casa vostra i suoi ,unquanchi‘, i suoi ‚soventi‘ e il suo
‚ancide‘, stitiche superstizioni de la lingua nostra, e, nel
replicare l’istorie e i nomi discritti da lui, alontanativigli più
che potete, perché son cose troppo trite.“ Das archaische
„unquanco“, „uopo“ und „ancide“ wird gleichfalls lächerlich gemacht
in dem parodistischen Fatras, den der Prologo zu Aretinos Komödie
Il Marescalco verlauten läßt (Pietro
Aretino, Teatro, Bd. I, Lanciano 1914, S. 6):
„Spettatori, snello ama unquanco, e per mezzo di scaltro a sé
sottragge quinci e quindi uopo, in guisa che a le aurette estive
gode de lo amore di invoglia, facendo restio sovente, che su le
fresche erbette al suono de’liquidi cristalli cantava l’oro, le
perle e l’ostro di colei che lo ancide.“ Auch in Bernis berühmtem
Capitolo über Michelangelo wird die Kritik an den Petrarkisten mit
einem parodistischen „unquanco“ eingeleitet (Francesco Berni, Poesie e prose, Genève–Firenze 1934, S. 168):
„Tacete unquanco, pallide viole,/ E liquidi cristalli e fiere
snelle;/ E’ dice cose, e voi dite parole.“ |
3 |
Besonders häufig fällt um die Mitte des 16. Jahrhunderts
das idyllische Vokabular des Petrarkismus, „fiori, frondi, erbe,
ombre, antri, onde, aure soavi“, der Lächerlichkeit anheim. So heißt
es etwa in Niccolò Francos Risposta della Lucerna
von 1538 (zitiert nach A. Sorrentino, Francesco Berni – Poeta della
Scapigliatura del Rinascimento, Firenze 1933, S. 7): „Me ne
vo ai Librai, per sollazzarmi, perché sempre rido quando leggo le
cose altrui [...] Veggo il Petrarca commentato [...] il Petrarca
imbrodolato, il Petrarca tutto rubato. II Petrarca temporale, il
Petrarca spirituale [...] Veggo, in un batter d’occhio, monti,
colli, poggi, campagne, pianure, mari, fiumi, fonti, onde, rivi,
gorghi, prati, fiori, fioretti, rose, erbe, frondi, sterpi, valli,
piagge, aure, venti, liti, scogli, sponde, cristalli, fiere,
augelli, pesci, serpi, greggi, armenti, spelunche, tronchi, uomini,
dei, stelle, paradiso, cielo, luna, aurora, sole, angeli, ombre e
nebbie.“ – Eine ganz ähnliche Aufzählung des preziösen Vokabulars
der petrarkistischen Idylle bietet Anton Francesco Doni in einer
Szene seiner Mondi. Vgl. A. Graf, a.a.O.
S. 57f. |
4 |
Il primo libro dell’opere burlesche,
Usecht al Reno (appresso Jacopo Broedelet) 1771,
S. 371. |
5 |
Luigi Tansillo, Capitoli giocosi
e satirici, Napoli 1870, S. 163. |
6 |
Il primo libro, a.a.O. S. VIIf. |
7 |
Jörg-Ulrich Fechner, Der Antipetrarkismus –
Studien zur Liebessatire in barocker Lyrik (Beiträge zur
neueren Literaturgeschichte, Dritte Folge, Band 2), Heidelberg,
1966. |
8 |
Der am Antipetrarkismus interessierte Leser beginnt bereits
nach der Lektüre der ersten drei Seiten zu stutzen, auf denen
Fechner, dem es erklärtermaßen um die „Westeuropäische Einheit des
Antipetrarkismus“ zu tun ist, Opitzens berühmtes parodistisches
Sonett Du schöne Tyndaris, wer findet deines
gleichen vorstellt, ohne zu vermerken, daß es sich hierbei
um eine Abwandlung von Bernis Sonetto alla sua
Donna („Chiome d’argento fino, irte e attorte“)“ und dessen
französischer Imitatio, Du Bellays
beaux cheveux d’argent mignonnement retors!
(Les Regrets 91), handelt. Francesco
Berni, die Zentralfigur des italienischen Antipetrarkismus, wird in
dem Buch rätselhafterweise sogar nicht ein einziges Mal erwähnt.
Offenbar hat Fechner Berni erst nach Vollendung seiner Dissertation
kennengelernt, denn in einem neueren Aufsatz (Von
Petrarca zum Antipetrarkismus. Bemerkungen zu Opitz’ „An eine
Jungfraw“, in Euphorion 62 [1968]
S. 54–71) macht er sowohl auf Bernis burleskes Sonett als auch auf
die französischen Nachbildungen von Mellin de Saint-Gelais und
Joachim du Bellay aufmerksam (ebda. S. 70). Obwohl dieser Aufsatz –
eine sehr exakte Quellenstudie zu Opitz’ tatsächlich
antipetrarkistischem „carmen“ VMb alles Gut und
Gelt in diesem gantzen Lande – unvergleichlich sorgfältiger
dokumentiert ist als das Antipetrarkismus-Buch, bleiben auffällige
literarhistorische Mißverständnisse auch hier bestehen. Vor allem
scheint in Fechners Sicht das „gleichzeitige Nebeneinander
petrarkistischer und antipetrarkistischer Inhalte“ als ein Phänomen
aufgefaßt zu werden, das in besonderem Maße die deutschte Dichtung
des 17. Jahrhunderts charakterisiert (vgl. ebda. S. 54), während es
in Wahrheit doch schon viel ausgeprägter in der volkssprachlichen
Lyrik des Cinquecento, in ihrer Dichotomie von „maniera
petrarchesca“ und „maniera bernesca“, vorgeformt ist. |
9 |
So z. B. die lesenswerten Hendecasyllabi Ad Ninam: „Sexcentas, Nina, da, precor roganti“. Vgl. Poeti latini del Quattrocento, a cura di
Francesco Arnaldi, Lucia Gualdo Rosa, Liliana Monti Sabia,
Milano–Napoli, o. J., S. 1150f. |
10 |
Ein stilgewandter Autor wie Francesco Maria Molza schrieb
auch wirklich in allen drei Manieren mit gleicher Glätte und
Eleganz. |
11 |
Ungenauigkeiten und Mißverständnisse häufen sich in fast
kurioser Weise auf den Seiten 110–112. Da erfährt der verdutzte
Leser, daß das Sonett im Italien des ausgehenden 15. Jahrhunderts
„formalen Wandlungen“ unterworfen worden sei und bei Cariteo und
Serafino eine „Strambotto-Form“ ausgebildet habe. In Wahrheit
existieren in der Dichtung des späten Quattrocento Sonett und
Strambotto selbstverständlich als zwei klar unterschiedene Formen
nebeneinander, ohne sich zu einer „Strambotto-Form“ des Sonetts zu
vermengen. Von Bembo sei dann die „Mode der Strambottisten“ –
offenbar also das imaginäre Strambotto-Sonett – wieder rückgängig
gemacht worden; geblieben sei dem Sonett aber – schon bei Bembo! –
die pointierende Ausrichtung auf das Acumen des Schlusses, „eine
Form, die es in die Nähe des Epigramms rückte“. In Wahrheit jedoch
ereignet sich die strukturelle Epigrammatisierung des Sonetts gewiß
noch nicht in der orthodoxen Petrarca-Imitation Bembos, sondern erst
allmählich im weiteren Verlauf des 16. Jahrhunderts, in Italien etwa
bei den Neapolitanern Angelo di Costanzo und Luigi Tansillo oder
später bei Luigi Groto und Battista Guarini, in Spanien bei Herrera
und dem jungen Góngora. Unerfindlich bleibt, weshalb das dem
epigrammatischen Formideal von „brevitas“ und „argutia“ (Scaliger)
angeglichene Sonett europäische Bedeutung speziell „durch die
Dichtung und Schule des Du Bellay“ erhalten haben soll. Ronsard
könnte dies Verdienst ebensogut zugeschrieben werden wie manchen
italienischen Lyrikern der Jahrhundertmitte. Ganz abwegig erscheint
uns die Behauptung, daß das „Vordringen des Madrigals“ in die
deutsche Dichtung und Dichtungslehre „dem Nachlassen des
italienischen Einflusses entspricht“. Gerade in der spärlichen
Madrigalistik des schlesischen Spätbarock zeigt sich deutlich und
überdeutlich die ungeschmälerte Wirkung eines Guarini oder Marino,
und es genügt, einmal flüchtig die alte Cysarzsche Anthologie zu
durchblättern, um auf Madrigale zu stoßen, die peinlich genau
italienischen Vorbildern nachgeschrieben sind. Man vergleiche zum
Beispiel Gottlieb Stolles Madrigal Es satzte
Flavia sich in das grüne gras (Hoch- und
Spätbarock, hrsgg. v. Herbert Cysarz, Leipzig 1937, S. 269)
mit Marinos Mentre Lidia premea (Marino e i Marinisti, a cura di G. G.
Ferrero, Milano–Napoli 1954, S. 361). Nicht weniger verwunderlich
mutet die Definition des Madrigals an, die Fechner ausgerechnet dem
Art poétique français des P. de Laudun
d’Aigaliers entnimmt: sie trifft auf keines der vielen tausend
Cinquecentomadrigale von Bembo bis Marino, Sablière und Stolle zu,
sondern gilt ausschließlich für das Sonett-Madrigal Pierre de
Ronsards, eine sonderbare, in ihrer Genesis noch nicht geklärte
metrische Form, deren literarhistorische Bedeutung im Vergleich zum
normalen Cinquecentomadrigal verschwindend gering bleibt. Die
vielfältigen Probleme, die Gestalt und Geschichte des Madrigals
aufgeben, werden im übrigen in unserer Dissertation Das Madrigal – Zur
Stilgeschichte der italienischen Lyrik zwischen Renaissance und
Barock behandelt, die 1969 im Verlag Gehlen, Bad Homburg v.
d. H.–Berlin–Zürich, erscheinen wird. |
12 |
Alle Dichtungstheoretiker des 16. und 17. Jahrhunderts
erklären einmütig, daß die Wahl des Metrums im Epigramm frei bleibt.
Vgl. z. B. J. C. Scaliger, Poetices libri septem,
Lugduni 1561, S. 170: „tot versuum generibus [epigrammata]
explicantur, quot sunt versuum genera.“ Oder T. Correa, De toto eo Poematis genere, Venetiis 1569,
S. 29: „Nullum est versuum genus quo epigramma non constet.“ |
13 |
G. B. Marino, La Galeria, Venezia
31630, S. 245. |