Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

TEI DownloadPermalink: http://gams.uni-graz.at/o:reko.robb.1963

Argumente für einen neuen Roman, 1963

Alain Robbe-Grillet

Quelle

Alain Robbe-Grillet: Argumente für einen neuen Roman. Essays. München: Carl Hanser 1965. "Dem Roman der Zukunft eine Bahn“ [1956], S. 16-23. Aus dem Französischen von Marie-Simon Morel. "Neuer Roman, neuer Mensch" [1961], S. 86-91. Aus dem Französischen von Werner Spiess. "Zeit und Beschreibung im heutigen Roman" [1963], S. 98-107. Aus dem Französischen von Helmut Scheffel. "Vom Realismus zur Realität" [1955, 1963], S. 109-121. Aus dem Französischen von Helmut Scheffel.

Erstausgabe

Pour un nouveau roman. Paris: Éditions de Minuit 1963. ISBN 2-7073-0062-4.

Genre

Buchkapitel

Medium

Literatur

[16] DEM ROMAN DER ZUKUNFT EINE BAHN […]

Wie soll es denn anders werden? In welchem Sinne? Und vor allem warum jetzt?

Der – von der gesamten Kritik verzeichnete und besprochene – Überdruß an der heutigen Romankunst ist aber so groß, daß man kaum zu glauben vermag, daß sich diese Kunst ohne grundlegende Änderung noch lange halten kann. Die Lösung, auf die viele verfallen, ist einfach: diese Änderung sei unmöglich, die Kunst des Ro[17]mans sei im Aussterben. – Das ist gar nicht sicher. In einigen Jahrzehnten wird die Geschichte zeigen, ob das verschiedentlich festgestellte Aufflammen ein Zeichen des Todeskampfes oder der Wiedergeburt war.

Jedenfalls darf man sich keinen Illusionen über die Schwierigkeiten einer solchen Umwälzung hingeben; sie sind beträchtlich. Die ganze für die Literatur zuständige Organisation (vom Verleger bis zum Leser über den Buchhändler und den Kritiker) kann nichts anderes tun als sich gegen die unbekannte Form, die sich aufdrängen will, wehren. Auch die dem Gedanken einer notwendigen Veränderung zuneigenden Gemüter, die am ehesten bereit sind, den Sinn eines Weiterlebens anzuerkennen, bleiben, trotz allem, Erben der Überlieferung. So wird eine unbewußt im Vergleich mit den althergebrachten Formen beurteilte neue Form immer mehr oder weniger als Mangel an Form in Erscheinung treten. Steht nicht in einem unserer berühmtesten enzyklopädischen Lexika unter dem Artikel Schönberg: „... Autor kühner, an keine Regeln gebundener Werke!“ Diese knappe Beurteilung ist unter der offenkundig von einem Sachverständigen bearbeiteten Rubrik Musik zu finden.

Der lallende Neugeborene wird immer als ein Ungeheuer betrachtet werden, selbst von denjenigen, die das Experiment reizt. Es wird immer ein gewisses Interesse und zugleich ein Vorbehalt hinsichtlich der Zukunft im Spiel sein. Von den ehrlich gemeinten Lobreden werden die meisten den Überbleibseln vergangener Zeiten gelten, all den Bindungen, mit denen das Werk noch nicht abgeschlossen hat und die es am Alten festhalten.

Denn wenn die Regeln der Vergangenheit dazu dienen, die Gegenwart zu messen, so dienen sie auch dazu, diese Gegenwart zu konstruieren. Trotz seines Willens [18] zur Unabhängigkeit ist der Schriftsteller mitten in eine fixierte und anerzogene Geisteshaltung, in eine literarische Tradition gestellt. Es ist ihm unmöglich, diese Überlieferung, aus der er hervorgegangen ist, von einem Tag auf den anderen abzustreifen. Manchmal werden gerade die Züge, um deren Bekämpfung er sich am meisten bemüht hat, in dem Werk, mit dem er ihnen den Garaus machen wollte, erst recht hervortreten; und erleichtert wird man ihm noch gratulieren, daß er sie so treu gepflegt hat. So werden die Kenner des Romans, seien es nun Romanciers, Kritiker oder beflissene Leser, zweifelsohne die größte Mühe haben, das eingefahrene Geleise zu verlassen.

Schon der am wenigsten vorbelastete Beobachter bringt es nicht fertig, die ihn umgebende Welt unvoreingenommen zu sehen. Von vornherein sei klargestellt, daß es uns hier nicht um die naive Bemühung um Objektivität geht, über die die Zergliederer der (subjektiven) Seele leicht lächeln können. Ein Hirngespinst kann zu offensichtlich Objektivität im landläufigen Sinne sein, nämlich im Sinne einer völlig unpersönlichen Beobachtungsweise. Aber Freiheit sollte wenigstens möglich sein; und auch sie ist es nicht. Immer haftet ein Gran Kultur (Psychologie, Moral, Metaphysik usw.) den Dingen an und verleiht ihnen ein vertrauteres, verständlicheres, beruhigenderes Gesicht. Manchmal ist die Tarnung perfekt: die Erinnerung an eine Gebärde entschwindet unserem Gedächtnis und gibt den unterstellten Gemütsbewegungen Raum, denen sie vielleicht entsprungen sein könnte: wir behalten, daß eine Landschaft streng oder ruhig ist, ohne jedoch auch nur eine Linie, einen ihrer Grundwesenszüge wiedergeben zu können. Denken wir auch sofort „das ist nichts als Literatur“, so sträuben wir uns nicht [19] einmal dagegen. Wir sind daran gewöhnt, daß diese Literatur (das Wort hat einen verruchten Sinn bekommen) wirkt, wie ein mit Butzenscheiben verschiedener Farben versehenes Planquadratgitter, das unser Empfindungsfeld in kleine assimilierende Felder zerlegt. Und widersteht etwas dieser systematischen Einverleibung, zersprengt ein Element der Welt das Fenster, ohne einen Platz im Dechiffriergitter der Interpretation zu finden, so bleibt uns noch als Hilfe die bequeme Kategorie des Absurden, die dieses lästige Überbleibsel einsaugen wird.

Aber die Welt ist weder sinnvoll noch absurd. Ganz einfach: sie ist. Jedenfalls ist das ihr bemerkenswertestes Zeichen. Und plötzlich stößt uns diese Evidenz mit einer Kraft, gegen die wir ohnmächtig werden. Auf einmal bricht die schöne Konstruktion zusammen: als wir unversehens die Augen öffneten, erlitten wir den Stoß dieser hartnäckigen Wirklichkeit, die wir als überwunden betrachtet haben wollten. Um uns herum, den Schwarm unserer seelenspendenden oder häuslichen Beiwörter herausfordernd, sind die Dinge da. Ihre Oberfläche ist säuberlich und glatt, unberührt, aber ohne zweideutigen Glanz und ohne Durchsichtigkeit. Unserer ganzen Dichtung gelang es noch nicht, sie auch nur eine Spur anzuritzen oder die kleinste ihrer Krümmungen abzuändern.

Die unzähligen verfilmten Romane, die unsere Leinwand immer wieder in Anspruch nehmen, bieten uns die Gelegenheit an, diese Erfahrungen immer wieder zu machen. Der Film – auch er ein Erbe der psychologischen und naturalistischen Überlieferung – will am häufigsten bloß eine Erzählung in Bilder übertragen: er zielt nur darauf, in dem Dolmetschervorgang einiger gutgewählter Szenen dem Zuschauer die Bedeutung einzuhämmern, [20] die im gedruckten Roman die Sätze dem Leser vorschlugen. Aber es kommt zu jeder Zeit vor, daß die verfilmte Erzählung uns mit einer Heftigkeit, die schwerlich in dem entsprechenden Texte, sei es Roman oder Drehbuch, zu finden ist, von unserer innerlichen konstruierten Geborgenheit losreißt und in diese dargebotene Welt hineinwirft. Die vollzogene Veränderung wird jeder empfinden können. Im ursprünglichen Roman waren die den Erzählungsstoff bildenden Gegenstände und Gebärden gänzlich verschwunden, um der einzigen Bedeutung Platz einzuräumen: der leere Stuhl war nur noch Abwesenheit oder Warten, die die Schulter drückende Hand war nur noch Sympathiezeichen, das Fenstergitter war nur noch die Unmöglichkeit zu entfliehen ... Und jetzt, plötzlich, sieht man den Stuhl, die Handbewegung, das Gittergebilde. Ihre Bedeutung bleibt offensichtlich, aber statt unsere Aufmerksamkeit gänzlich auf sich zu ziehen, erweist sie sich als das uns dazu Gegebene, sogar als das uns zum Überfluß Gegebene, denn was uns erreicht, was sich in unserem Gedächtnis bewährt, was uns als wesentlich und mit unbestimmten allgemeinen Begriffen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen unmöglich erscheint, das sind die Gebärden selbst, die Gegenstände, die Bewegungen und die Umrisse, denen das Bild auf einmal – unbewußt – ihre Wirklichkeit wiedergegeben hat. Daß diese Bruchstücke von unmittelbarer Wirklichkeit, die die filmische Erzählung erzeugen muß, so sehr ins Auge stechen, während ähnliche Szenen machtlos wären, uns im Alltag aus unserer Blindheit zu reißen, kann seltsam erscheinen. Es ist tatsächlich so, als trügen die fotografischen Konventionen (d. h. die Zweidimensionalität, das Schwarzweiß, der Rahmen, die Maßstabsunterschiede zwischen den Plänen) dazu bei, uns von den eigenen Kon[21]ventionen zu befreien. Der etwas ungewöhnliche Anblick dieser „wiedergegebenen“ Welt offenbart uns zur selben Zeit den ungewöhnlichen Charakter der uns umgebenden Welt: sie ist eine ungewöhnliche Welt, insofern sie es ablehnt, unseren Gewohnheiten und unserer Ordnung sich zu unterwerfen.

An Stelle dieses Universums der „Bedeutungen“ (sowohl psychologischer als auch sozialer und funktioneller Art) sollte man vielmehr versuchen, eine festere und unmittelbarere Welt zu bauen. Erst sollen Gegenstände und Gebärden durch ihre Gegenwart ihre Existenz beweisen, es soll dieses ständige Hiersein vorherrschen, über jede erklärende Theorie hinaus, die es versuchen würde, sie in irgendein Bezugssystem, sei es sentimental, soziologisch, freudisch, metaphysisch, einzusperren.

In dieser künftigen Welt des Romans werden Gebärden und Gegenstände erst „da“ sein, bevor sie „etwas“ sind; und nachher sollen sie noch da sein, hart, unveränderlich, auf immer anwesend, den eigenen Sinn geringachtend, der umsonst versucht, sie zwischen einer formlosen Vergangenheit und einer unbestimmten Zukunft zu prekären Werkzeugen herabzusetzen.

So sollen die Gegenstände allmählich ihre Flüchtigkeit und ihre „Heimlichkeit“ verlieren, auf ihren falschen Zauber verzichten, auf diese verdächtige Innerlichkeit, die Roland Barthes „der Dinge romantisches Herz“ genannt hat. Diese Dinge sollen nicht mehr die unbestimmte Widerspiegelung der unbestimmten Seele des Helden, das Bild seiner Pein, die Stütze seiner Wünsche sein. Vielmehr, wenn die Dinge sich dieser Tyrannei noch manchmal unterwerfen, so wird das nur noch scheinbar geschehen, um besser zu zeigen wie fremd sie ihr bleiben.

Was die Romanhelden betrifft, so mögen sie den Stoff [22] zu zahlreichen Interpretationen anbieten. Sie mögen, den jeweiligen Interessengebieten nach, zu psychologischen, psychiatrischen, religiösen oder politischen Kommentaren Anlaß geben, bald wird man ihre Gleichgültigkeit gegen diesen angeblichen Reichtum feststellen müssen. War der herkömmliche Held ständig beansprucht, überbeansprucht, zerstört durch diese „Interpretationen“, denen der Verfasser ihn unterwarf, und immerwährend in ein stoffloses, unstetes, immer entfernteres und aufgelösteres Irgendwoanders geworfen, so wird der künftige Held dagegen „hier“ bleiben. Und nur die „Kommentare“ werden „anderswo“ bleiben. Dieser nicht zu leugnenden Gegenwart gegenüber werden sie als belanglos, überflüssig, sogar unehrlich erscheinen.

Dies alles könnte theoretisch, illusorisch klingen, wenn nicht etwas in unserem Verhältnisse zum Universum im Begriffe wäre, sich auf eine sicherlich entscheidende Weise zu ändern. So spüren wir nun die Antwort auf die ironiebeladene Frage: „Warum jetzt?“ Heute ist tatsächlich ein neues Element entstanden, das uns diesmal von Balzac wie von Gide oder von Madame de La Fayette durch einen Bruch trennt: die alten Mythen der „Tiefe“ haben abgedankt.

Bekanntlich ruhte die ganze Romankunst auf diesen Mythen und auf ihnen allein. Nach der Tradition bestand die Rolle des Schriftstellers darin, der Natur nachzuforschen, sich in sie zu vertiefen, um die untersten Schichten zu erreichen und Fragmente und Bruchstücke eines verwirrenden Geheimnisses ans Tageslicht zu bringen. Von dem Abgrund der menschlichen Leidenschaften aus sandte er der scheinbar ruhigen Welt, der Welt der Oberfläche, Siegesbotschaften, die über die von ihm berührten Geheimnisse berichteten. Und die heiligen Schauer, die dann [23] den Leser ergriffen, statt daß sie Angst oder Ekel in ihm erweckt hätten, gaben ihm die Bestätigung seiner Macht über die Welt: es gab Abgründe, gewiß, aber dank den tapferen Höhlenforschern konnte man ihren Grund ermessen.

Es nimmt unter solchen Umständen nicht wunder, daß eben in jenem umfassenden und einzigartigen Adjektiv „tief“, das alle seelischen Eigenschaften und der Dinge verborgene Seele zusammenzufassen suchte, das literarische Phänomen par excellence zu finden war. So funktionierte das Wort wie eine Falle, in die der Schriftsteller das Universum einsperrte, um es der Gesellschaft auszuliefern.

Die vollzogene Revolution ist beträchtlich: wir sehen die Welt nicht mehr als unser Gut oder unser Privateigentum, als etwas Zähmbares an, und außerdem glauben wir nicht mehr an ihre „Tiefe“.

Mit dem Zusammenbruch der essentialistischen Auffassungen vom Menschen und mit der Auflösung des „Naturbegriffes“ durch den Bedingtheitsbegriff hörte für uns die Oberfläche der Dinge auf, die Maske ihres Herzens zu sein, was eine offene Tür zu den schlimmsten Jenseitsvorstellungen, „dort drüben“-Spekulationen der Metaphysik von jeher gewesen war.

So kann sich die ganze literarische Sprache ändern, und sie ändert sich schon. Von Tag zu Tag können wir den wachsenden Widerwillen derer, die sich dessen am bewußtesten sind, vor den Worten mit innerlichem, analogischem, beschwörendem Anhauch feststellen, während das optische, beschreibende Wort, dem es mit dem Messen, dem genauen Hinstellen, dem Abgrenzen, dem Bestimmen genug ist, die schwierige Bahn einer neuen Romankunst wahrscheinlich eröffnet.

(1956) […]

[86] NEUER ROMAN, NEUER MENSCH

[…] Das Ziel des Neuen Romans ist totale Subjektivität.

Da in unseren Büchern viele Gegenstände vorkamen und man irgend etwas Ungewohntes an ihnen fand, hat man sehr schnell das Wort „Gegenständlichkeit“ in die Diskussion geworfen, das von gewissen Kritikern in diesem Zusammenhang gebraucht worden war, jedoch mit einer sehr speziellen Bedeutung, nämlich: dem Gegenstand zu[87]gewandt. In seiner gewöhnlichen Bedeutung – neutral, kalt, unparteiisch – wurde das Wort widersinnig. Denn nicht nur ist es in meinen Romanen zum Beispiel ein Mensch, der jegliches Ding beschreibt, sondern es ist der am wenigsten unpersönliche, der am wenigsten unparteiische Mensch; er ist vielmehr immer durch ein Abenteuer der Gefühle und Leidenschaften von der bedrängendsten Art engagiert, und zwar in solchem Maße, daß sich dadurch seine Sicht verzerrt und daß in ihm Vorstellungen hervorgerufen werden, die an Fieberwahn grenzen.

Deshalb ist leicht zu zeigen, daß meine Romane – genau wie die von Nathalie Sarraute, die man zuweilen in diesem Punkt ihnen entgegenzusetzen gesucht hat – subjektiver sind als beispielsweise selbst diejenigen von Balzac. Wer beschreibt die Welt in den Romanen Balzacs? Wer ist dieser allwissende, allgegenwärtige Erzähler, der an allen Orten gleichzeitig ist, der gleichzeitig die Vorder- und die Kehrseite der Dinge sieht, der gleichzeitig den Bewegungen des Gesichts und des Bewußtseins nachgeht, der zugleich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft eines jeden Abenteuers kennt? Das kann nur ein Gott sein.

Gott allein kann von sich sagen, er sei objektiv. In unsern Büchern indes ist es ganz im Gegensatz dazu ein Mensch, welcher sieht, welcher fühlt und erdenkt, ein Mensch in Raum und Zeit befindlich, ganz seinen Leidenschaften ausgeliefert, ein Mensch wie du und ich. Und das Buch berichtet von nichts anderem als von seiner begrenzten und ungewissen Erfahrung. Es ist ein Mensch im Hier und Jetzt, ein Mensch, der zu aller Letzt sein eigener Erzähler ist.

Es würde ohne Zweifel genügen, vor dieser Wirklichkeit nicht mehr gewaltsam die Augen zu verschließen, [88] um zu merken, daß unsere Bücher jedem Leser zugänglich sind, sobald er bereit ist, vorgefaßte Ansichten aufzugeben, dies in der Literatur wie im Leben.

Der Neue Roman wendet sich an alle Menschen mit offenem Blick und aufrichtiger Gesinnung.

Denn es handelt sich hier um lebendige Erfahrung und nicht um beruhigende – und zugleich jede Hoffnung raubende – Rezepte, die das Ausmaß der Schäden zu begrenzen und unser Dasein, unsere Leidenschaften in eine konventionelle Ordnung zu bringen suchen. Warum die Uhrzeit in einer Erzählung feststellen, in der es nur um die Zeitlichkeit geht? Ist es nicht richtiger, an unsere eigene Erfahrung zu denken, die sich nie an der Uhr orientiert. Warum sich darauf versteifen herauszubringen, wie einer in einem Roman heißt, wenn er es nicht sagt? Begegnen wir doch täglich Leuten, deren Namen wir nicht wissen, und wir können einen ganzen Abend lang mit einem Unbekannten reden, während wir doch nicht einmal achtgegeben haben, als er uns von der Gastgeberin vorgestellt worden ist.

Unsere Bücher sind mit den allgemein üblichen Wörtern und Sätzen, in der Sprache des Alltags geschrieben. Sie zu lesen, bedeutet keine besondere Schwierigkeit für diejenigen, die auf das Klischee einer veralteten, schon seit bald fünfzig Jahren nicht mehr zureichenden Interpretation verzichten. Man kann sich sogar fragen, ob nicht gerade eine gewisse literarische Bildung ihrem Verständnis entgegensteht: diejenige nämlich, die bei 1900 stehengeblieben ist. Ob aber nicht ganz einfache Leute, [89] die Kafka vielleicht nicht kennen, deren Blick aber auch nicht von den Balzacschen Formen getrübt ist, sich in vollem Einverständnis befinden mit Büchern, in denen sie die Formen ihres Denkens und der Welt, in der sie leben, erkennen, Bücher, die, anstatt ihnen einen sogenannten Sinn ihrer Existenz vorzutäuschen, ihnen zu klarer Sicht verhelfen.

Der Neue Roman bietet keine Antwort an.

Und man kommt zur großen Frage: hat unser Leben einen Sinn? Und welchen? Welches ist die Stellung des Menschen in der Welt? Man sieht sofort, warum die Gegenstände Balzacs solche Sicherheit gaben; sie gehörten einer Welt an, in welcher der Mensch Herr war. Diese Gegenstände waren Güter, Besitztümer, die es nur zu besitzen, zu erhalten oder zu erwerben galt. Es bestand eine unumstößliche Identität zwischen diesen Gegenständen und ihrem Besitzer: eine einfache Weste war schon ein Charakter und zugleich eine gesellschaftliche Stellung. Der Mensch war der Grund aller Dinge, der Schlüssel zum Universum und dessen natürlicher Herr von Gottes Gnaden...

Von all dem ist heute nicht mehr viel übrig. Während das Bürgertum seine Berechtigung und seine Vorrechte allmählich verlor, verzichtete das Denken auf seine ontologische Fundierung, die Phänomenologie nahm nacheinander alle Gebiete der philosophischen Untersuchung ein, die Naturwissenschaften entdeckten die Herrschaft der Diskontinuität, die Psychologie selbst erfuhr in gleichlaufender Weise eine ebenso vollständige Umwandlung.

[90] Die Aussagen der uns umgebenden Welt sind nur noch teilweise gültig, vorläufig, ja widersprüchlich und immer umstritten. Wie könnte das Kunstwerk auch eine von vornherein bekannte Bedeutung irgendwelcher Art veranschaulichen? Der moderne Roman ist, wie wir zu Beginn gesagt haben, der Versuch, eine Diagnose zu stellen, eine Untersuchung, aber eine Untersuchung, die jeweils ihr Ziel in sich selbst trägt. Hat die Wirklichkeit einen Sinn? Der heutige Künstler kann auf diese Frage keine Antwort geben: er weiß es nicht. Daß diese Wirklichkeit vielleicht einen Sinn haben wird, nachdem er dagewesen, das heißt nachdem das Werk einmal zu Ende geführt ist: das ist alles, was er sagen kann.

Warum darin Pessimismus sehen? Auf jeden Fall ist es das Gegenteil von Resignation. Wir glauben nicht mehr an die vorgefertigten, starren Sinndeutungen, die dem Menschen von der alten göttlichen und in ihrer Folge von der rationalistischen Weltordnung des 19. Jahrhunderts geliefert wurden, sondern wir setzen unsere ganze Hoffnung auf den Menschen: die Formen, die er schafft, können der Welt Bedeutung geben.

Das einzig mögliche Engagement ist für den Schriftsteller die Literatur.

Daher ist es unvernünftig, daran zu denken, mit unsern Romanen einer politischen Richtung dienstbar sein zu wollen, selbst einer Richtung, deren Sache uns gerecht erscheint, selbst wenn wir in unserem politischen Leben für den Sieg dieser Sache kämpfen. Das politische Leben zwingt uns dauernd, bekannte Bedeutungen vorauszu[91]setzen: historische Bedeutungen, geistige Bedeutungen. Die Kunst ist bescheidener – oder ehrgeiziger: für sie ist nie etwas von vornherein bekannt.

Vor dem Werk gibt es nichts, keine Gewißheit, keine These, keine Botschaft. Es ist widersinnig zu glauben, der Romanautor habe „etwas zu sagen“ und er suche dann, wie er es sagen könne. Denn gerade dieses „Wie“, diese Art und Weise der Aussage hat er sich als Schriftsteller zur Aufgabe gestellt, eine in allem dunkle und schwer greifbare Aufgabe, die später der zweifelhafte Gehalt seines Buches sein wird. Aber vielleicht ist es zuguterletzt dieser schwer auszumachende Gehalt einer Aufgabe formaler Art, der am besten der Sache der Freiheit dient... Aber auf wie lange Sicht?

(1961) […]

[98] ZEIT UND BESCHREIBUNG IM HEUTIGEN ROMAN

[…] Die Bemühung um Genauigkeit, die manchmal an ein Delirium grenzt (die so wenig visuellen Notierungen von „rechts“ und „links“, das Zählen, das Messen, die geometrischen Bezugspunkte), vermag die Welt nicht daran zu hindern, bis in ihre materiellsten Aspekte und sogar bis in ihre scheinbare Unbeweglichkeit hinein beweglich zu sein. Doch handelt es sich hier nicht mehr um eine fließende Zeit, denn paradoxerweise werden die Gesten im Gegenteil gerade als im Augenblick erstarrt geliefert, die Materie selbst ist zugleich fest und labil, zugleich gegenwärtig und geträumt, dem Menschen fremd und unaufhörlich im Begriff, im Geist des Menschen erfunden zu werden. Das ganze Interesse der beschreibenden Seiten – [99] das heißt der Platz des Menschen auf diesen Seiten – liegt also nicht mehr in der beschriebenen Sache, sondern in der Bewegung der Beschreibung selbst.

Man erkennt nun, wie falsch die Feststellung ist, eine solche Schreibweise habe es auf Fotografie oder auf das filmische Bild abgesehen. Das isoliert genommene Bild kann nichts anderes tun, als nach dem Vorbild der Balzacschen Beschreibung etwas zeigen, und wäre also gerade dazu geschaffen, diese zu ersetzen, was im übrigen der naturalistische Film ja auch zur Genüge tut.

Die Anziehung, die die filmische Schöpfung auf viele neue Romanciers ausübt, muß woanders gesucht werden. Sie werden nicht von der Objektivität der Kamera angelockt, sondern von ihren Möglichkeiten im Bereich des Subjektiven, des Imaginären. Sie verstehen den Film nicht als ein Ausdrucksmittel, sondern als ein Mittel der Suche, und ihre Aufmerksamkeit wird auf ganz natürliche Weise durch das gefesselt, was der Macht der Literatur am meisten entging, das heißt weniger durch das Bild als den Ton – den Klang der Stimmen, der Geräusche, der Musik – und insbesondere durch die Möglichkeit, auf beide Sinne, auf Auge und Ohr, gleichzeitig zu wirken, außerdem schließlich durch die Möglichkeit, sowohl im Bild als im Ton mit dem ganzen Anschein der am wenigsten bezweifelbaren Objektivität das darzustellen, was ebenfalls nur Traum oder Erinnerung, in einem Wort, was Imaginäres ist.

Der Ton, den der Zuschauer hört, und das Bild, das er sieht, haben eine bevorzugte Eigenschaft: beide sind da, beide sind gegenwärtig. Die Unterbrechungen durch den Schnitt, die Wiederholungen von Szenen, die Widersprüchlichkeiten, die plötzlich wie auf Amateurfotos er[100]starrten Personen geben dieser fortdauernden Präsenz ihre ganze Kraft und Heftigkeit. Es handelt sich dann nicht mehr um die Art der Bilder, sondern um ihre Komposition, nur darin vermag der Romancier einige seiner Bemühungen beim Schreiben, wenngleich in verwandelter Form, wiederzufinden.

Diese neuen filmischen Strukturen, diese Bewegung der Bilder und Klänge erweisen sich als auch für den unvorbereiteten Zuschauer unmittelbar erfaßbar; es scheint sogar, daß für viele ihre Macht unendlich viel größer ist als die der Literatur. Allerdings lösen sie auch bei der traditionellen Kritik noch lebhaftere Abwehrreaktionen aus.

Ich habe selbst diese Erfahrung bei meinem zweiten Film (L'Immortelle) machen können. Gewiß besteht kein Anlaß, sich über die negativen Urteile der meisten Feuilletonisten zu wundern, aber es ist vielleicht interessant, einige ihrer Vorwürfe zu notieren, da sie oft aufschlußreicher sind als ein Lob es sein könnte. Hier also die Punkte, auf die die häufigsten und heftigsten Angriffe gerichtet waren: es fehlt dem Spiel der Schauspieler an „Natürlichkeit“, es ist unmöglich, klar zu unterscheiden, was „wirklich“ oder was imaginär ist (Erinnerung oder Trugbild), die Elemente mit starker leidenschaftlicher Aufladung haben die Tendenz, sich in „Postkarten“ zu verwandeln (touristischer Art für die Stadt Konstantinopel, erotischer Art für die Heldin usw.).

Man erkennt, daß die drei Vorwürfe im Grunde nur einen einzigen bilden: die Struktur des Filmes flößt nicht genug Vertrauen in die objektive Wahrheit der Dinge ein. Dazu sind zwei Anmerkungen erforderlich. Zum einen ist Konstantinopel eine wahre Stadt, und man sieht von Anfang bis Ende der Vorführung des Filmes durch[101]aus diese und keine andere Stadt, ebenso wird die Heldin auf der Leinwand von einer wahren Frau dargestellt; was zum anderen die Geschichte angeht, so ist offenkundig, daß diese falsch ist: weder der Schauspieler, noch die Schauspielerin sind im Verlaufe der Dreharbeiten gestorben, ja, nicht einmal der Hund. Die für „Realismus“ begeisterten Zuschauer werden hier dadurch verwirrt, daß man nicht mehr versucht, sie etwas glauben zu machen – ich möchte fast sagen: im Gegenteil… Das Wahre , das Falsche und das etwas Glaubenmachen sind mehr oder weniger der Gegenstand jedes modernen Werkes geworden; dieses ist nicht mehr ein angebliches Stück Wirklichkeit, sondern entwickelt sich als Reflexion über die Wirklichkeit (oder über das Wenige an Wirklichkeit, wenn man so will). Es versucht nicht mehr, seinen zwangsläufig lügenhaften Charakter dadurch zu verbergen, daß es sich als eine „erlebte Geschichte“ präsentiert. Das bedeutet, daß wir in der Schrift des Filmes eine Funktion erkennen, die der nahesteht, die in der Literatur von der Beschreibung erfüllt wird: das so behandelte Bild (die Schauspieler, das Dekor, der Schnitt, auch in seinen Beziehungen zum Ton usw.) verhindert, etwas zu glauben, während es zur gleichen Zeit etwas versichert, so wie die Beschreibung das zu sehen verhindert, was sie zeigt.

Die gleiche paradoxale Bewegung (aufbauen, indem man zerstört) findet man in der Behandlung der Zeit wieder. Film und Roman zeigen sich in erster Linie in der Form von zeitlichen Abläufen – im Gegensatz zum Beispiel zu Werken der bildenden Kunst, zu Plastiken oder Gemälden. Der Film ist sogar wie eine musikalische Komposition endgültig in seiner Dauer festgelegt [102] während die Dauer des Lesens von einer Seite zur andern, von einem Individuum zum andern unendlich variieren kann). Im Gegensatz dazu kennt der Film, wie wir gesagt haben, nur einen grammatischen Modus: das Präsens des Indikativs. Film und Roman treffen sich heute in jedem Fall in der Konstruktion von Augenblicken, von Intervallen und Abfolgen, die nichts mehr mit denen der Uhren oder Kalender zu tun haben. Versuchen wir, ihre Rolle ein wenig genauer zu beschreiben.

Man hat in den letzten Jahren sehr oft wiederholt, im modernen Roman sei die Zeit die „Hauptperson“. Seit Proust und seit Faulkner scheinen in der Tat Rückwendungen in die Vergangenheit und Unterbrechungen der zeitlichen Abfolge die Grundlage für den Aufbau des Romans und seine Architektur abzugeben. Mit dem Film verhalte es sich natürlich genauso: jedes moderne Filmwerk sei eine Reflexion über das menschliche Gedächtnis, seine Ungewißheiten, seine Beharrlichkeit, seine Tragödie usw.

Das ist alles ein bißchen rasch gesagt. Oder vielmehr, wenn auch die vergehende Zeit wirklich die wesentliche Person in vielen Werken vom Anfang unseres Jahrhunderts und in deren Nachfahren ist, wie sie es im übrigen auch schon in Werken aus dem vorigen Jahrhundert war, scheinen die gegenwärtigen Versuche doch eher geistige Strukturen zu verwirklichen, die der „Zeit“ beraubt sind. Gerade das macht diese Werke auf den ersten Blick so verwirrend. Ich nehme noch ein paar Beispiele aus meinen eigenen Büchern oder Filmen, deren Sinn von der Kritik in diesem Punkt fast immer verfälscht worden ist.

Letztes Jahr in Marienbad ist von vornherein infolge seines Titels und auch auf Grund der Filme, bei denen Alain Resnais vorher Regie geführt hat, interpretiert [103] worden als eine der psychologischen Variationen über die verlorene Liebe, das Vergessen, die Erinnerung. Die Fragen, die man sich am häufigsten vorlegte, waren: sind sich der Mann und die Frau wirklich letztes Jahr in Marienbad begegnet, haben sie sich wirklich geliebt? Erinnert sich die junge Frau und tut sie nur so, als ob sie den schönen Fremden nicht mehr erkenne? Oder hat sie wirklich alles vergessen, was zwischen ihnen geschehen ist? usw. Man muß es ganz unverblümt sagen: diese Fragen haben keinerlei Sinn. Die Welt, in der der ganze Film spielt, ist ganz eindeutig die eines ständigen Präsens, das jeden Rekurs auf das Gedächtnis unmöglich macht. Es ist eine Welt ohne Vergangenheit, die sich in jedem Augenblick selbst genügt und die in fortschreitendem Maß wieder verlöscht. Der Mann und die Frau beginnen erst zu existieren, als sie zum erstenmal auf der Leinwand erscheinen, vorher sind sie nichts, und nachdem die Vorführung des Films beendet ist, sind sie wiederum nichts. Ihre Existenz dauert nur so lange wie der Film. Außerhalb der Bilder, die man sieht, außerhalb der Worte, die man hört, kann es keine Wirklichkeit geben.

Die Dauer des modernen Werkes ist somit in keiner Weise ein Resumée oder ein Konzentrat einer ausgedehnteren und „realeren“ Dauer, die der erzählten Fabel oder Geschichte eigen wäre. Die ganze Geschichte von Marienbad geschieht nicht in zwei Jahren und nicht in drei Tagen, sondern genau in eineinhalb Stunden. Und wenn am Ende des Filmes die beiden Hauptgestalten sich treffen, um zusammen wegzugehen, so ist das, als ob die junge Frau zugäbe, daß es letztes Jahr wirklich etwas zwischen ihnen in Marienbad gegeben hat; wir aber begreifen, daß wir gerade während der ganzen Vorführung im letzten Jahr und in Marienbad waren. Die Liebes[104]geschichte, die man uns wie etwas Vergangenes erzählte, vollzog sich in Wirklichkeit hier und jetzt vor unseren Augen. Denn es ist natürlich ebensowenig ein anderswo möglich wie ein einst.

Aber was stellen unter diesen Umständen die Szenen dar, denen wir beigewohnt haben, wird man fragen. Was bedeutet insbesondere diese Aufeinanderfolge von Tages- und Nachteinstellungen oder der häufige Wechsel der Kleidung, der mit einer so kurzen Dauer unvereinbar ist? An diesem Punkt werden die Dinge natürlich schwieriger. Es kann sich hier nur um einen subjektiven, geistigen, persönlichen Ablauf handeln. Das Geschehen muß sich im Kopf vollziehen. Aber wessen? Des erzählenden Helden? Der hypnotisierten Heldin? Oder infolge eines ständigen Austauschs von Bildern zwischen ihnen in den Köpfen beider zusammen? Eine andere Lösung anzunehmen ist besser. So wie die allein wichtige Zeit die des Filmes ist, ist die einzig wichtige „Person“ der Zuschauer. In seinem Kopf läuft die ganze Geschichte ab, von ihm wird sie gedacht.

Noch einmal, das Werk ist kein Zeugnis von einer äußeren Realität, sondern stellt seine eigene Realität dar. Deshalb ist es dem Autor nicht möglich, einen besorgten Zuschauer über das Schicksal seiner Helden nach dem Wort „Ende“ zu beruhigen. Nach dem Wort „Ende“ geschieht, wie das Wort besagt, nichts mehr. Die einzige Zukunft, die das Werk haben kann, ist ein neues identisches Ablaufen dadurch, daß man die Filmspulen wieder in den Projektionsapparat einsetzt.

Ebenso absurd ist die Meinung, es gäbe in meinem zwei Jahre vorher veröffentlichten Roman Die Jalousie oder die Eifersucht eine klare und eindeutige Ordnung der Ereignisse, die nicht die der Sätze des Buches wäre, [105] als ob ich mich damit amüsiert hätte, eine vorher aufgestellte kalendarische Zeitfolge in der Art eines Kartenspiels durcheinanderzumischen. Der Bericht war im Gegenteil so angelegt, daß jeder Versuch zur Rekonstruktion einer äußeren Chronologie früher oder später zu einer Reihe von Widersprüchen, das heißt in eine Sackgasse führen mußte. Ich habe das jedoch wirklich nicht etwa mit der dummen Absicht getan, die Akademie in Verwirrung zu bringen, sondern eben weil es für mich keine andere mögliche Ordnung außerhalb der des Buches gab. Das Buch stellte keine verwickelte Erzählung einer außerhalb seiner liegenden einfachen Fabel dar, sondern auch hier abermals nur den Ablauf einer Geschichte, die keine andere Realität als die des Berichts hatte, einen Ablauf, der sich nirgends sonst als in dem Kopf des unsichtbaren Erzählers, das heißt des Schriftstellers und des Lesers, vollzog.

Wie könnte diese heutige Auffassung eines Werkes die Zeit zur Hauptperson des Buches oder des Filmes machen? Ist diese Definition nicht vielmehr auf den traditionellen Roman, etwa auf den von Balzac, anwendbar? Dort spielte die Zeit eine Rolle, und zwar die erste: sie vollendete den Menschen, sie war das Agens und das Maß seines Schicksals. Ob es sich um einen Aufstieg oder um einen Verfall handelte, sie verwirklichte ein Werden, gleichzeitig Bürgschaft für den Triumph einer Gesellschaft, die im Begriff war, die Welt zu erobern, und Schicksalhaftigkeit einer Natur: die conditio des Menschen als sterbliches Wesen. Die Leidenschaften ebenso wie die Ereignisse konnten nur in einer zeitlichen Entwicklung ins Auge gefaßt werden: Geburt, Heranwachsen, Blütezeit, Verfall und Sturz.

Während man sagen könnte, daß im modernen Roman [106] die Zeit von ihrem Zeitcharakter gerade getrennt ist. Sie fließt nicht mehr. Sie vollendet nichts mehr. Und sicher erklärt das die Enttäuschung, die auf das Lesen eines heutigen Buches oder die Betrachtung eines solchen Filmes folgt. So sehr etwas Befriedigendes in einem – selbst tragischen – „Schicksal“ lag, so sehr entlassen uns die schönsten heutigen Werke leer und verblüfft. Nicht nur beanspruchen sie keine andere Realität als die der Lektüre oder des Schauspiels, sondern sie scheinen außerdem ständig im Begriff, sich selbst zu verleugnen und zu bezweifeln, je weiter sie sich aufbauen. Der Raum zerstört die Zeit, und die Zeit unterminiert den Raum. Die Beschreibung tritt auf der Stelle, widerspricht sich, dreht sich im Kreis. Der Augenblick leugnet die Kontinuität.

Wenn nun Zeithaftigkeit die Erwartung erfüllt, so wird diese durch Augenblickhaftigkeit enttäuscht; ebenso wie räumliche Diskontinuität von der Fesselung durch die Fabel freimacht. Solche Beschreibungen, deren Bewegung jedes Vertrauen in die beschriebenen Dinge nimmt, solche Helden ohne Natürlichkeit wie auch ohne Identität, das sich unaufhörlich wie im Fluß des Schreibens erfindende Präsens, das sich wiederholt, sich verdoppelt, sich modifiziert, sich widerspricht und sich niemals anhäuft, um eine Vergangenheit zu bilden – das heißt eine Geschichte im traditionellen Sinn –, all das kann den Leser (oder Zuschauer) nur zu einer anderen als der gewohnten Teilnahme auffordern. Wenn er manchmal zur Verurteilung der Werke seiner Epoche veranlaßt wird, das heißt der, die sich doch unmittelbar an ihn wenden, wenn er sich sogar beklagt, die Autoren ließen ihn willentlich im Stich, hielten ihn abseits und verachteten ihn, so erklärt sich eine solche Auffassung einzig und allein daraus, daß er darauf besteht, in ihren Werken [107] eine Art der Kommunikation zu suchen, die schon seit langem nicht mehr die ist, die man ihm anbietet.

Der zeitgenössische Autor ist weit davon entfernt, den Leser zu vernachlässigen, er verkündet im Gegenteil, daß er seiner Mithilfe unbedingt bedarf, seiner aktiven, bewußten, schöpferischen Mithilfe. Er verlangt von ihm nicht, daß er eine abgeschlossene, sinnerfüllte, um sich selbst geschlossene Welt entgegennehme, sondern daß er an einer Schöpfung teilhabe, daß er seinerseits das Werk – und die Welt – erfinde und damit lerne, sein eigenes Leben zu erfinden.

(1963) […]

[109] VOM REALISMUS ZUR REALITÄT

Alle Schriftsteller glauben, Realisten zu sein. Nie behauptet einer, er sei abstrakt, illusionistisch, schimärisch, phantastisch, trügerisch… Der Realismus ist keine eindeutig definierte Theorie, die es ermöglicht, einige Romanciers anderen gegenüberzustellen; es ist im Gegenteil eine Fahne, unter der sich die allermeisten – wenn nicht überhaupt alle – heutigen Romanciers sammeln. Sicher muß man in diesem Punkt ihnen allen Vertrauen schenken. Die wirkliche Welt interessiert sie; jeder bemüht sich, einfach „Reales“ zu schaffen.

Doch wenn sie sich unter dieser Fahne versammeln, so durchaus nicht, um unter ihr einen gemeinsamen Kampf zu kämpfen, sondern eher um sich gegenseitig zu zerreißen, Der Realismus ist die Ideologie, die jeder gegen seinen Nachbarn ins Feld führt, die Eigenschaft, die jeder für sich allein zu besitzen glaubt. Das ist seit jeher so gewesen: aus Bemühung um Realismus hat jede neue literarische Schule die ihr vorangehende bekämpft, Realismus war die Parole der Romantiker gegenüber den Klassikern, dann die der Naturalisten gegenüber den Romantikern, und selbst die Surrealisten behaupteten, sie befaßten sich nur mit der wirklichen Welt. Am Realismus scheinen also alle Schriftsteller ebenso teilzuhaben wie nach Descartes alle Menschen am „gesunden Menschenverstand“.

Auch hier muß man die Schlußfolgerung ziehen, daß alle recht haben. Wenn sie sich nicht einig sind, so nur deshalb, weil jeder verschiedene Vorstellungen von der [110] Wirklichkeit hat. Die Klassiker glaubten, sie sei klassisch, die Romantiker, sie sei romantisch, die Surrealisten, sie sei surreal, Claudel glaubte, sie sei göttlicher Natur, Camus, sie sei absurd, die Engagierten meinen, sie sei vor allem ökonomischer Natur und bewege sich auf den Sozialismus zu. Jeder spricht von der Welt so, wie er sie sieht, doch niemand sieht sie auf dieselbe Weise.

Man versteht im übrigen sehr leicht, warum die literarischen Revolutionen sich immer im Namen des Realismus vollzogen haben. Wenn eine Weise des Schreibens ihre erste Vitalität, ihre Kraft, ihre Heftigkeit verloren hat, wenn sie zu einem vulgären Rezept, zu einem Akademismus geworden ist, den die Nachfolgenden nur noch aus Gewohnheit oder aus Trägheit respektieren, ohne sich dabei auch nur Fragen über ihre Notwendigkeit zu stellen, ist die Anklage der toten Formeln und die Suche nach neuen Formen, die in der Lage sind darüber hinauszuführen, durchaus eine Hinwendung zum Wirklichen. Die Entdeckung der Realität schreitet nur dann weiter voran, wenn man die verbrauchten Formen aufgibt. Solange man nicht der Meinung ist, daß die Welt vollkommen entdeckt ist (in diesem Falle wäre das Klügste, mit Schreiben ganz aufzuhören), kann man nur versuchen, noch ein Stückchen weiter zu gehen. Es handelt sich nicht darum, es „besser zu machen“, sondern auf noch unbekannten Wegen vorwärtszuschreiten, auf denen eine neue Schreibweise notwendig wird.

Was nützt das, könnte man fragen, wenn man damit über kurz oder lang doch nur zu einem neuen Formalismus gelangt, der bald ebenso verhärtet ist wie der alte? Das würde auf die Frage hinauslaufen: warum leben, da man sterben und anderen Lebenden den Platz überlassen muß? Die Kunst ist Leben. Nichts wird jemals auf eine [111] endgültige Weise gewonnen. Nur diese unaufhörliche Infragestellung kann existieren. Gerade die Bewegung dieser Entwicklungen und Revolutionen bewirkt ihre ständige Wiedergeburt.

Außerdem verändert sich die Welt ebenfalls. Einerseits ist sie objektiv gesehen in vielen Punkten nicht mehr dieselbe wie etwa vor hundert Jahren, das materielle, das geistige und das politische Leben haben sich beträchtlich verändert, ebenso wie das Aussehen unserer Städte, unserer Häuser, unserer Dörfer, unserer Straßen usw. Andererseits haben die Kenntnisse, die wir von dem haben, was in uns ist, und von dem, was uns umgibt (die wissenschaftlichen Kenntnisse, seien es die von der Materie oder die vom Menschen), auf die gleiche Weise außerordentliche Umwälzungen erlebt. Aus den einen und den anderen Gründen haben sich unsere subjektiven Beziehungen zur Welt grundlegend gewandelt.

Die objektiven Modifikationen der Wirklichkeit zusammen mit dem „Fortschritt“ unserer physikalischen Kenntnisse haben ihren Widerhall gefunden – und finden ihn weiter – in unseren philosophischen Vorstellungen, unserer Metaphysik und unseren Geisteswissenschaften. Selbst wenn der Roman also nichts anderes machte, als die Wirklichkeit zu reproduzieren, wäre es kaum normal, wenn die Grundlagen seines Realismus sich nicht gleichlaufend zu diesen Umwandlungen entwickelt hätten. Um von der heutigen Wirklichkeit Rechenschaft abzulegen, wäre der Roman des XIX. Jahrhunderts keineswegs das „gute Werkzeug“, von dem sich entfernen zu wollen die sowjetische Kritik – mit noch größerer Selbstsicherheit als die bürgerliche Kritik – dem Nouveau Roman so lebhaft vorwirft, während dieser Roman doch noch (wie man uns versichert) dazu dienen könne, dem [112] Volk die Übel der gegenwärtigen Welt und die in Mode stehenden Heilmittel darzustellen, versehen allenfalls mit ein paar Detailverbesserungen, als ob es darum ginge, einen Hammer oder eine Sichel zu vervollkommnen. Um bei diesem Bild vom Werkzeug zu bleiben: niemand betrachtet einen Mähdrescher als eine Vervollkommnung der Sichel, um so weniger gilt dieses Bild für eine Maschine, die zu einer Ernte dient, die nichts mit der des Weizens zu tun hat.

Doch es gibt noch Schwerwiegenderes. Wie wir schon im Verlaufe dieses Buches präzisiert haben, ist der Roman durchaus kein Werkzeug. Er ist nicht im Hinblick auf eine vorher definierte Arbeit konzipiert. Er dient nicht dazu, vor ihm und außerhalb seiner bestehende Dinge darzulegen oder zu übersetzen. Er drückt nicht aus, er sucht, und zwar sucht er sich selbst.

Die akademische Kritik im Westen ebenso wie in den kommunistischen Ländern gebraucht das Wort Realismus, als ob die Realität beim Auftreten der Schriftsteller bereits voll und ganz konstituiert wäre (sei es für immer oder nicht). Daher ist sie der Meinung, daß seine Rolle sich darauf beschränke, die Realität seiner Epoche zu „erforschen“ oder sie „auszudrücken“.

In dieser Sicht würde der Realismus vom Roman nur verlangen, daß er die Wahrheit respektiere. Die Qualitäten des Autors wären insbesondere Scharfsinn bei der Beobachtung und die ständige Bemühung um Offenheit (verbündet zumeist mit freimütiger Rede). Wenn man den absoluten Widerwillen des sozialistischen Realismus gegen den Ehebruch oder gegen sexuelle Ausschweifungen einmal beiseite läßt, würde es sich also um die unverschleierte Darstellung von harten und schmerzlichen [113] Szenen handeln (ohne die Befürchtung – o Ironie – den Leser zu schockieren!), natürlich mit einer besonderen Aufmerksamkeit für die Probleme des materiellen Lebens und insbesondere für die häuslichen Schwierigkeiten der armen Klassen. Die Fabrik und die Elendsviertel werden damit von Natur aus „realistischer“ als das nichtstuerische Leben oder der Luxus, und Not und Elend werden es mehr als das Glück. Es handelt sich im ganzen gesehen nur darum, nach einer mehr oder weniger entarteten Formel Emile Zolas der Welt Farben zu geben und eine von Ziererei befreite Bedeutung.

Nun hat das alles kaum noch einen Sinn von dem Augenblick an, da man erkennt, daß nicht nur jeder in der Welt seine eigene Realität sieht, sondern daß der Roman gerade etwas ist, wodurch sie geschaffen wird. Die Schreibweise des Romans ist nicht darauf angelegt zu informieren, wie es die Chronik, der Augenzeugenbericht oder der wissenschaftliche Bericht tut, sie konstituiert die Realität. Sie weiß niemals, was sie sucht, sie weiß nicht, was sie zu sagen hat; sie ist Erfindung, Erfindung der Welt und des Menschen, ständige Erfindung und unaufhörliche Infragestellung. All jene – Politiker oder andere –, die vom Buch nur stereotype Muster verlangen und nichts mehr fürchten als den kritischen Geist, können der Literatur nur mißtrauen.

Wie jedermann ist es auch mir passiert, für einen Augenblick Opfer der realistischen Illusion zu werden. Während ich am Augenzeugen arbeitete und mich dabei bemühte, mit Genauigkeit den Flug der Möwen und die Bewegung der Wellen zu beschreiben, hatte ich Gelegenheit, eine kurze winterliche Reise an die bretonische Küste zu machen. Unterwegs sagte ich mir: eine gute Gelegenheit, die Dinge in der Natur zu beobachten und [114] mein Gedächtnis aufzufrischen… Doch in dem Augenblick, als ich die erste Möwe wahrnahm, begriff ich meinen Irrtum: zum einen hatten die Möwen, die ich nun sah, nur sehr unbestimmte Beziehungen zu denen, die ich gerade in meinem Buch beschrieb, und zum andern war mir das sehr gleichgültig. Die einzigen Möwen, die für mich in diesem Augenblick Bedeutung hatten, waren die in meinem Kopf. Wahrscheinlich stammten auch sie auf die eine oder andere Weise von der Außenwelt und wahrscheinlich sogar aus der Bretagne, aber sie hatten sich verwandelt und waren gleichzeitig wirklicher geworden, weil sie jetzt imaginär waren.

Gereizt durch Einwände von der Art: „Die Dinge spielen sich im Leben nicht so ab“, „Ein eifersüchtiger Ehemann verhält sich nicht so wie Ihrer in der Jalousie“, „Die türkischen Abenteuer Ihres Franzosen in der Immortelle sind unwahrscheinlich“, „Ihr verirrter Soldat in der Niederlage von Reichenfels trägt seine militärischen Abzeichen nicht an der richtigen Stelle“ usw. versuche ich manchmal auch auf der realistischen Ebene zu argumentieren und spreche von der subjektiven Existenz dieses Hotels oder der direkten (also nicht mit der Analyse übereinstimmenden) psychologischen Wahrheit dieses beunruhigten, durch das verdächtige (oder zu natürliche) Verhalten seiner Frau faszinierten Ehemannes, und gewiß hoffe ich, daß meine Romane und meine Filme auch unter diesem Gesichtspunkt zu verteidigen sind; aber ich weiß sehr wohl, daß meine Absichten woanders liegen. Ich übersetze nicht, ich konstruiere. Das war schon Flauberts alter Ehrgeiz: von nichts aus etwas bauen, das sich ganz allein aufrechterhält, ohne sich auf etwas außerhalb des Werkes Liegendes stützen zu müssen. Heute ist das der Ehrgeiz des gesamten Romans.

[115] Man ermißt, wie wenig die „Wahrscheinlichkeit“ und das mit dem „Typus Übereinstimmende“ noch als Kriterien dienen können. Alles geschieht sogar, als ob das Falsche – das heißt zugleich das Mögliche und das Unmögliche, die Hypothese, die Lüge usw. – eines der privilegierten Themen der modernen Fiktion geworden wäre. Eine neue Art von Erzähler ist dabei entstanden: es ist nicht mehr nur ein Mensch, der die Dinge beschreibt, die er sieht, sondern gleichzeitig der, der die Dinge um sich herum erfindet und die sieht, die er erfindet. Sobald diese Erzählerhelden anfangen, auch nur ein wenig „Personen“ zu ähneln, werden sie unverzüglich zu Lügnern, Schizophrenen oder von Halluzinationen Heimgesuchten (oder sogar zu Schriftstellern, die ihre eigene Geschichte schaffen). Man muß in dieser Perspektive die Bedeutung der Romane von Raymond Queneau hervorheben (insbesondere Le Chiendent und Loin de Reuil), deren Muster oft und deren Bewegung immer sehr streng die der Imagination sind.

In diesem neuen Realismus geht es also nicht im geringsten mehr um Verismus. Das kleine Detail, das den Eindruck des „Wahren“ verstärkt, fesselt die Aufmerksamkeit des Romanciers nicht mehr, weder im Schauspiel der Welt noch in der Literatur; was ihn fesselt – und was man nach vielen Umwandlungen in dem wiederfindet, was er schreibt – wäre viel eher im Gegenteil das kleine Detail, das den Eindruck des „Falschen“ bewirkt.

Schon Kafka hält in seinem Tagebuch, wenn er Dinge notiert, die er während des Tages auf einem Spaziergang gesehen hat, kaum etwas anderes fest als Bruchstücke, die nicht nur unwichtig sind, sondern die ihm auch von ihrer Bedeutung – das heißt von ihrer Wahr- [116] scheinlichkeit – losgelöst erscheinen, von dem Stein, der, ohne daß man wüßte warum, mitten auf der Straße liegengeblieben ist, bis zu der bizarren, unvollendeten, ungeschickten Geste eines Passanten, die keiner bestimmten Funktion oder Absicht zu entsprechen scheint. Teilobjekte oder Gegenstände, die von ihrem Gebrauch abgeschnitten sind, erstarrte Augenblicke, aus ihrem Zusammenhang gerissene Wörter oder auch miteinander vermischte Unterhaltungen, gerade alles, was ein wenig falsch klingt, alles, dem die Natürlichkeit fehlt, gibt für das Ohr des Romanciers den richtigsten Ton wieder.

Handelt es sich hier um das sogenannte Absurde? Gewiß nicht. Denn an anderer Stelle zwingt sich ein vollkommen rationales und allgemein verbreitetes Element plötzlich mit der gleichen Evidenz auf, mit der gleichen unmotivierten Präsenz, der gleichen grundlosen Notwendigkeit. Es ist, das ist alles. Doch ein Risiko besteht für den Schriftsteller: mit dem Verdacht der Absurdität kehrt die Gefahr der Metaphysik zurück. Der Nicht-Sinn, die Nicht-Kausalität, die Leere ziehen unweigerlich „dahinter liegende Welten“ und „Über-Naturen“ an.

Das Mißgeschick Kafkas auf diesem Gebiet ist beispielhaft. Dieser realistische Autor (in der neuen Bedeutung, die wir zu definieren versuchen: Schöpfer einer materiellen Welt, mit visionärer Präsenz) ist auch der Autor, dem seine Bewunderer und Exegeten die meiste „tiefe“ Bedeutung aufgeladen haben. Sehr rasch ist er in den Augen des Publikums vor allem zu einem Schriftsteller geworden, der nur scheinbar von den Dingen dieser Welt spricht, in Wirklichkeit aber nur das Ziel hat, die problematische Existenz eines Jenseits erkennen zu lassen. Er beschreibt uns zwar die Drangsal seines beharrlichen (falschen) Landvermessers unter den Bewoh[117]nern des Dorfes, doch sein Roman habe keinen anderen Sinn als den, uns über das nahe oder ferne Leben eines geheimnisvollen Schlosses nachdenken zu lassen. Wenn er uns die Büros, die Treppen und die Flure zeigt, wo Joseph K. Gerechtigkeit sucht, so sei es einzig und allein, um zu uns von dem theologischen Begriff der „Gnade“ zu sprechen, und so fort.

Kafkas Romane wären dann nur Allegorien. Nicht nur verlangten sie nach einer Erklärung (die sie vollkommen zusammenfassen würde, so daß ihr ganzer Gehalt damit ausgeschöpft wäre), diese Bedeutung würde außerdem radikal das tastbare Universum zerstören, das ihren Raster ausmacht. Die Literatur bestünde im übrigen also immer und zwar ganz systematisch darin, von etwas anderem zu sprechen. Es gäbe eine gegenwärtige und eine wirkliche Welt; die erste wäre allein sichtbar und die zweite die allein bedeutsame. Die Rolle des Romanciers wäre die eines Vermittlers: durch eine schwindlerische Beschreibung der sichtbaren Dinge – die selbst vollkommen bedeutungslos wären – evozierte er das sich dahinter verbergende „Reale“.

Wir werden durch eine unbefangene Lektüre Kafkas aber im Gegenteil gerade von der absoluten Realität der Dinge überzeugt, die er beschreibt. Die sichtbare Welt seiner Romane ist für ihn durchaus die wirkliche Welt, und was dahinter liegt (falls es da etwas gibt), scheint ohne Wert gegenüber der Evidenz der Objekte, Gesten, Wörter usw. Die halluzinatorische Wirkung rührt von ihrer außerordentlichen Schärfe her, und nicht vom Verschwimmen oder vom Nebel. Im Endeffekt ist nichts phantastischer als die Genauigkeit. Vielleicht führen Kafkas Treppen anderswohin, aber sie sind da, man betrachtet sie, Stufe für Stufe, und man folgt allen Einzelheiten [118] der Gitterstäbe und des Geländers. Vielleicht verbergen seine grauen Wände etwas, doch das Gedächtnis verhält bei ihnen, bei ihrem abblätternden Anstrich und ihren Rissen. Selbst das, wonach der Held sucht, verschwindet angesichts der Beharrlichkeit, die er auf seine Suche verwendet, auf seine Wege und seine Bewegungen, die als einziges sichtbar gemacht werden und allein wahr sind. In dem ganzen Werk haben die Beziehungen des Menschen zur Welt keineswegs einen symbolischen Charakter, sondern sind ständig direkt und unmittelbar.

Es verhält sich mit den tiefen metaphysischen Bedeutungen genauso wie mit den politischen, psychologischen oder moralischen. Solche auszudrücken, die bereits bekannt sind, verstößt gegen die Hauptforderung der Literatur. Und was jene betrifft, die später als solche gelten, die vom Roman für die zukünftige Welt beigebracht worden sind, so ist das Klügste (zugleich das Ehrlichste und Angemessenste), sich heute darum nicht zu kümmern. Man hat seit zwanzig Jahren beurteilen können, wie wenig von Kafkas Welt in den Werken seiner angeblichen Nachfolger übrigblieb, als diese nur deren metaphysischen Gehalt reproduzierten und dabei den Realismus des Meisters vergaßen.

Es bleibt also die unmittelbare Bedeutung der Dinge (die deskriptive, partielle, immer wieder angezweifelte Bedeutung), das heißt die innerhalb der Geschichte und des Buches liegende, so wie die tiefe (transzendente) Bedeutung jenseits von ihm liegt. Auf diese unmittelbare Bedeutung ist von nun an das Suchen und das Schaffen des Schriftstellers gerichtet. Von ihr kann es sich in keinem Fall befreien, bei Strafe, die Fabel die Oberhand gewinnen zu sehen und bald sogar die Transzendenz (die [119] Metaphysik liebt das Leere, sie stürzt sich hinein und breitet sich darin aus wie der Rauch in einem Kamin); denn diesseits der unmittelbaren Bedeutung findet man das Absurde, das theoretisch die „Nullbedeutung“ ist, doch das in Wirklichkeit durch eine bekannte metaphysische Zurückgewinnung zu einer neuen Transzendenz führt; die endlose Zertrümmerung des Sinnes gründet so eine neue Totalität, die ebenso gefährlich und ebenso nutzlos ist. Diesseits von ihr gibt es außerdem nichts mehr als das Geräusch der Wörter.

Doch die verschiedenen Bedeutungsebenen der Sprache, auf die wir hingewiesen haben, besitzen untereinander vielfältige Überschneidungen. Wahrscheinlich wird der neue Realismus einige dieser theoretischen Gegenüberstellungen zerstören. Das heutige Leben und die heutige Wissenschaften führen zur Aufhebung vieler Kategorienantinomien, die der Rationalismus der vergangenen Jahrhunderte aufgestellt hatte. Es ist nur natürlich, daß der Roman, der wie jede Kunst den Anspruch erhebt, den Denksystemen vorauszugehen, nicht aber ihnen zu folgen, bereits im Begriff ist, zwischen ihnen andere Gegensatzpaare zu setzen: Inhalt-Form, Objektivität-Subjektivität, Bedeutung-Absurdität, Konstruktion-Zerstörung, Gedächtnis-Gegenwart, Imagination-Realität usw.

Man wiederholt von der äußersten Rechten bis zur äußersten Linken, die neue Kunst sei krankhaft, dekadent inhuman und finster. Doch die gute Gesundheit, auf die dieses Urteil anspielt, ist die der Scheuklappen, des Formalins und des Todes. Im Verhältnis zu den Dingen der Vergangenheit ist man immer dekadent: Der Eisenbeton ist es gegenüber dem Naturstein, der Sozialismus gegenüber der väterlichen Monarchie, Proust gegenüber Balzac. Und es ist kaum inhuman, für den Menschen ein [120] neues Leben schaffen zu wollen; dieses Leben erscheint nur dann finster, wenn man – weil man ständig damit beschäftigt ist, den alten Farben nachzuweinen – nicht versucht, die neuen Schönheiten zu sehen, die es erhellen. Was die heutige Kunst dem Leser oder dem Beschauer darbietet, ist auf alle Fälle eine Art und Weise in der gegenwärtigen Welt zu leben und an der ständigen Schaffung der Welt von morgen teilzunehmen. Damit das gelingt, erbittet der neue Roman vom Publikum lediglich, daß es noch Vertrauen in die Macht der Literatur habe und den Romancier bittet er, sich nicht zu schämen, welche zu schaffen.

Eine verbreitete Vorstellung in bezug auf den Nouveau Roman – und zwar seit man ihm Artikel und Aufsätze widmet – besteht darin zu glauben, es handele sich dabei um eine „vorübergehende Mode“. Sobald man ein wenig darüber nachdenkt, erscheint diese Meinung als eine doppelte Ungereimtheit. Selbst wenn man diese oder jene Schreibweise mit einer Mode verbindet (es gibt allerdings immer Mitläufer, die rasch begreifen, woher der Wind weht, und die moderne Formen kopieren, ohne deren Notwendigkeit zu spüren und ohne auch nur ihr Funktionieren zu verstehen, und natürlich auch, ohne zu sehen, daß ihre Handhabung zumindest einige Strenge verlangt), wäre der Nouveau Roman allenfalls die Bewegung der Moden, die will, daß sie einander immer wieder zerstören, um ständig neue zu gebären. Daß die Formen des Romans vergänglich sind, gerade das sagt der Nouveau Roman!

Man darf in dergleichen Feststellungen – über die vorübergehenden Moden, über die Besänftigung der Revoltierenden, über die Rückkehr zur gesunden Tradition und andere Albernheiten – nur den guten alten Versuch [121] sehen, beharrlich und verzweifelt zu beweisen, daß „sich im Grunde nichts ändert“ und daß „es nie etwas Neues unter der Sonne gibt“, während in Wahrheit sich doch alles unaufhörlich verändert und es immer etwas Neues gibt. Die akademische Kritik möchte das Publikum sogar glauben machen, daß die neuen Techniken schlicht und einfach vom „ewigen“ Roman absorbiert und nur dazu dienen werden, ein paar Einzelheiten des Balzacschen Helden, der chronologisch geordneten Handlung und des transzendenten Humanismus zu vervollkommnen.

Es ist möglich, daß dieser Tag wirklich und sogar ziemlich schnell kommt. Doch sobald der Nouveau Roman anfängt, einer Sache „zu dienen“, sei es der psychologischen Analyse, dem katholischen Roman oder dem sozialistischen Realismus, wird das für die schöpferischen Erfinder das Signal dafür sein, daß ein Nouveau Nouveau Roman danach verlangt, das Licht der Welt zu erblicken, ein Roman, von dem man dann noch nicht wissen wird, wem er dienen könnte – außer der Literatur.

(1955 und 1963)

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Alain Robbe-Grillet: Argumente für einen neuen Roman, 1963

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