Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Die Wirklichkeit der historischen Vergangenheit, 1985

Paul Ricœur

Quelle

Paul Ricœur: "Die Wirklichkeit der historischen Vergangenheit", in: Zeit und Erzählung. Bd. III. Die erzählte Zeit. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München: Fink 1991. (= Übergänge. Texte und Studien zu Handlung, Sprache und Lebenswelt. Bd. 18/III.), S. 222-252. ISBN: 3-7705-2608-2.

Erstausgabe

Temps et récit. Tome III: Le temps raconté. Paris: Éditions du Seuil 1985. ISBN: 2-02-008981-5.

Genre

Buchkapitel

Medium

Literatur

[222] Mit diesem Kapitel leiten wir einen neuen Schritt in unserer Untersuchung ein, die der Refiguration der Zeit durch überkreuzte Referenz gewidmet ist. In einem ersten Schritt war der Akzent auf die Dichotomie in der Zielrichtung der beiden großen narrativen Modi gelegt worden, eine Dichotomie, die sich zusammenfassen läßt in dem globalen Gegensatz zwischen der Wiedereinschreibung der erlebten Zeit in die Zeit der Welt und den Phantasievariationen, die die Weise betreffen, wie die erstere an die letztere zurückgebunden wird. Der neue Schritt enthüllt eine gewisse Konvergenz zwischen dem, was wir bereits in der Einleitung zu diesem Abschnitt die Repräsentanzfunktion nannten, die die historische Erkenntnis im Hinblick auf die „wirkliche“ Vergangenheit erfüllt, und der Signifikanzfunktion, die die Fiktionserzählung bekommt, sobald die Lektüre die Welt des Textes mit der Welt des Lesers in Beziehung setzt. Es versteht sich von selbst, daß die erste Bestimmung der überkreuzten Refiguration den Hintergrund abgibt, vor dem sich diese zweite Bestimmung abhebt, um die es in den beiden folgenden Kapiteln geht.

Die Frage nach der Repräsentanz der „wirklichen“ Vergangenheit durch die historische Erkenntnis entspringt der einfachen Frage: Was bedeutet der Ausdruck „wirklich“, wenn er auf die historische Vergangenheit angewandt wird? Was sagen wir überhaupt, wenn wir sagen, daß etwas „wirklich“ geschehen ist?

Diese Frage ist die verwickelste von allen, vor die die Geschichtsschreibung das Geschichtsdenken stellt. Aber mag die Antwort auch schwer zu finden sein, die Frage läßt sich nicht umgehen: sie markiert einen zweiten Unterschied zwischen Geschichte und Fiktion, deren Interferenzen kein Problem darstellten, läge ihnen nicht eine fundamentale Dissymmetrie zugrunde.

Der Historiker ist in diesem Punkt von einer unerschütterlichen Überzeugung erfüllt: was auch immer man über den selektiven Charakter des Zusammentragens, Aufbewahrens und Heranziehens der Dokumente sagen mag, über das Verhältnis, in dem sie zu den Fragen stehen, die der Historiker an sie richtet, und selbst über die ideologischen Implikationen, die all diese Operationen aufweisen – der Rekurs auf die Dokumente macht eine Trennlinie zwischen Geschichte und Fiktion sichtbar: im Unterschied zum Roman wollen die Konstruktio[223]nen der Geschichte Rekonstruktionen der Vergangenheit sein. Mit dem Dokument und dem dokumentarischen Beweis unterwirft sich der Historiker dem, was einmal war. Er hat eine Schuld gegenüber der Vergangenheit abzutragen, ist also den Toten etwas schuldig, was ihn zu einem zahlungsunfähigen Schuldner werden läßt.

Damit stellt sich das Problem, begrifflich zu artikulieren, was unter dem Namen der Schuld bislang nicht mehr als ein Gefühl ist.

Zu diesem Zweck machen wir das zum Ausgangspunkt, was in der vorhergehenden Analyse unser Endpunkt war – der Spurbegriff –, und versuchen herauszuarbeiten, worin seine mimetische Funktion bestehen mag, mit anderen Worten seine Refigurationsfunktion, folgt man der Analyse, die wir in unserem I. Band für die mimēsis III vorgeschlagen haben.

Mit Karl Heussi bin ich der Ansicht, „daß das vom Historiker Gedachte eine zutreffende Entsprechung des im ‚Gegenüber‘ Gewesenen ist“1. Von ihm übernehme ich auch die Unterscheidung zwischen Repräsentieren im Sinne von etwas vertreten und Repräsentieren im Sinne von sich vorstellen, sich eine mentales Bild von etwas Abwesendem machen2. Tatsächlich stellt die Spur, sofern sie von der Vergangenheit hinterlassen wurde, diese vor: sie erfüllt ihr gegenüber eine Vertretungs- oder Repräsentanzfunktion3. Diese Funktion kennzeichnet die indirekte Referenz, die typisch ist für eine Erkenntnis durch Spuren, und macht den referentiellen Modus, in dem die Geschichte [224] zur Vergangenheit steht, zu einem einzigartigen. Doch selbstverständlich ist dieser referentielle Modus untrennbar mit der Arbeit der Konfiguration verbunden: denn nur durch die endlose Rektifikation unserer Konfigurationen entsteht in uns der Gedanke von der unerschöpflichen Quelle der Vergangenheit.

Diese Problematik der Vertretung oder Repräsentanz der Historie hinsichtlich der Vergangenheit betrifft eher das Geschichtsdenken als die historische Erkenntnis. Denn für letztere ist der Spurbegriff eine Art Endpunkt in der Folge von Rückverweisen, die vom Archiv zum Dokument und vom Dokument zur Spur führen. Aber für gewöhnlich hält sie sich mit dem Rätsel der historischen Referenz, mit deren wesenhaft indirektem Charakter nicht lange auf. Die ontologische Frage, die im Spurbegriff augenfällig enthalten ist, wird für sie unmittelbar überdeckt von der epistemologischen Frage nach dem Dokument, das heißt nach dessen Bedeutung als Garant, Beleg oder Beweisstück bei der Erklärung der Vergangenheit4.

[225] Mit dem Begriff des Gegenüber sowie dem der Vertretung oder Repräsentanz haben wir dem Problem der mimetischen Funktion der Spur und, jenseits davon, dem Schuldgefühl gegenüber der Vergangenheit bislang nur einen Namen, keineswegs aber eine Lösung gegeben.

Um dieses Rätsel aufzuhellen, lege ich eine Gliederung zugrunde, die sich an der Dialektik der „großen Gattungen“ orientiert, die Platon im Sophistes (254 b-259 d) ausarbeitet. Aus Gründen, die im weiteren Verlauf der Analyse deutlicher werden, habe ich die drei „großen Gattungen“ des Selben, des Anderen und des Analogen gewählt. Ich beanspruche freilich nicht, die Idee der Vergangenheit allein aus diesen drei „großen Gattungen“ und ihren inneren Verbindungen zu konstruieren; ich behaupte nur, daß sich etwas Sinnvolles über die Vergangenheit sagen läßt, wenn man sie nacheinander im Zeichen des Selben, des Anderen und des Analogen denkt. Um dem möglichen Einwand des Erkünstelten zu begegnen, werde ich zeigen, daß jedem dieser drei Momente eine oder mehrere höchst respektable geschichtsphilosophische Bemühungen entsprechen. Der Übergang von einer dieser philosophischen Positionen zur anderen wird sich dabei aus der Unfähigkeit jeder einzelnen ergeben, für sich allein das Rätsel der Repräsentanz vollständig zu lösen.

1. Im Zeichen des Selben: Der „Nachvollzug“ der Vergangenheit in der Gegenwart

Die erste Art, das Vergangensein der Vergangenheit zu denken, besteht darin, ihr den Stachel der zeitlichen Distanz zu nehmen. Die historische Operation erweist sich in diesem Fall als eine De-distanzierung, als eine Identifizierung mit dem, was einst war. Diese Auffassung hat durchaus ein Fundament in der historischen Praxis. Ist nicht die Spur als solche selbst gegenwärtig? Heißt die Spur zurückverfolgen nicht, die vergangenen Ereignisse, zu denen sie führt, in die Zeit ihrer eigenen Spur zu holen? Werden wir selbst als Leser der Geschichte nicht zu Zeitgenossen der vergangenen Ereignisse gemacht, wenn wir der lebendigen Rekonstruktion ihres Zusammenhangs folgen? Kurz, ist die Vergangenheit überhaupt anders begreiflich denn als fortdauernd in der Gegenwart?

Um das, was diese Fragen bloß andeuten, in den Rang einer Theorie zu erheben und um eine ausschließlich identitäre Auffassung des Denkens der Vergangenheit zu formulieren, ist es nötig: a) den Ereignisbegriff einer radikalen Revision zu unterziehen, nämlich seine „innere“ [226] Seite, die man Gedanken nennen kann, von seiner „äußeren“ Seite zu trennen, zu der alles gehört, was die Körper und ihre physikalischen Veränderungen betrifft; b) alsdann muß das Denken des Historikers, der eine Ereigniskette rekonstruiert, als ein Nach-denken dessen behandelt werden, was einstmals gedacht wurde; c) und schließlich muß dieses Nach-denken als numerisch identisch mit dem ersten Denken aufgefaßt werden.

Diese identitäre Auffassung wird aufs deutlichste sichtbar in der Auffassung der Geschichte als eines „Nachvollzugs“ (reenactment) der Vergangenheit, wie sie Collingwood in The Idea of History vertritt5.

Den drei oben genannten Komponenten einer identitären Auffassung des Vergangenseins der Vergangenheit entsprechen die drei Phasen, die die Collingwoodsche Analyse des historischen Denkens durchläuft, als da sind: a) der dokumentarische Charakter des historischen Denkens, b) die Arbeit der Einbildungskraft bei der Interpretation des dokumentarischen Materials, c) schließlich der „Nachvollzug“ der Vergangenheit, den die Konstruktionen der Einbildungskraft herbeiführen sollen. Das Thema des „Nachvollzugs“ muß an dritter Stelle stehen, damit deutlich wird, daß es sich bei ihm nicht um irgendeine spezielle Methode handelt, sondern um das Resultat, auf das die Interpretation der Dokumente und die Konstruktionen der Einbildungskraft hinarbeiten6.

[227] a) Der Begriff des dokumentarischen Beweises, der unter dem Titel „evidence“ am Eingang der Untersuchung steht, markiert von Anfang an den radikalen Unterschied zwischen der Geschichte des menschlichen Handelns und der Erforschung von Naturvorgängen, zu denen auch die Evolution gehört7. Nur ein historisches Ereignis läßt eine Trennung zu zwischen der „inneren“ Seite der Ereignisse, die man „Denken“ (thought) nennen muß, und der „äußeren“ Seite, die zu den Naturvorgängen gehört8. Um dieses radikale Vorgehen plausibel zu machen, nimmt Collingwood zwei Präzisierungen vor: zunächst einmal ist die äußere Seite alles andere als unwesentlich, sofern nämlich die Handlung die Vereinigung der äußeren und der inneren Seite des Ereignisses ist; zudem darf der Ausdruck „Denken“ nicht auf das rationale Denken eingeengt werden; er deckt das gesamte Feld der Intentionen und Motivationen ab. So ist auch der Wunsch ein Denken, [228] durch seinen Bezug aufs Gewollte und das, was E. Anscombe später dessen „Charakterisierung-als-begehrenswert“ (desirability characterisation) nennen sollte9, die in eine Hypothese eingehen kann und es einer Wunschaussage erlaubt, im Obersatz eines praktischen Syllogismus aufzutreten.

b) Von hier aus ist es nicht weit zur zweiten Komponente einer identitären Auffassung vom Vergangensein der Vergangenheit: Von dem Begriff des als „Denken“ verstandenen Inneren eines Ereignisses kann man zur Not direkt zu dem des reenactment übergehen als dem Akt des Nachdenkens dessen, was bereits ein erstes Mal gedacht wurde; in der Tat kommt es allein dem Historiker zu, nicht aber dem Physiker oder Biologen, „sich in diese Handlung hineinzudenken und das Denken des Handlungsträgers zu erkennen“10 (S. 213, dt. S. 224). „Die ganze Geschichte“, wird kurz darauf behauptet, „ist Geschichte von Gedanken“. Der Historiker „muß sie in seinem Denken nachvollziehen, in seinem Geist nochmals denken“. Diese abrupte Überleitung zum reenactment könnte jedoch dazu verführen, im reenactment eine Methode zu sehen. Das zu rasch eingeführte reenactment läuft Gefahr, als eine Art Anschauung aufgefaßt zu werden. Nach-denken heißt aber nicht nach-leben. Im Nach-denken liegt bereits das Moment der Kritik, das uns zu dem Umweg über die historische Einbildungskraft zwingt11.

Das Dokument nämlich wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis das historische Denken zur Vergangenheit als solcher steht. Es wirft [229] sie allerdings nur auf: die Antwort liefert die Rolle der historischen Einbildungskraft, durch die sich die Geschichte von jeder wahrnehmungsmäßigen Beobachtung von Präsentem unterscheidet12. Der Abschnitt über die „historische Einbildungskraft“ überrascht durch seine gewagten Thesen. Mit Blick auf die Autorität des Quellenmaterials wird vom Historiker gesagt, er sei „seine eigene Quelle, seine eigene Autorität“ (S. 236, dt. S. 248, modifiziert). Seine Autonomie vereinigt in sich den Auswahlcharakter der gedanklichen Arbeit mit dem Wagnis der „historischen Konstruktion“ und dem argwöhnischen Fragen dessen, der nach dem Worte Bacons „die Natur auf die Folterbank zwingt“. Collingwood trägt auch keine Bedenken, von einer „Einbildungskraft a priori“ zu sprechen, um klarzumachen, daß der Historiker über seine Quellen urteilt und ihnen nicht unterworfen ist; das Kriterium seines Urteils ist die Kohärenz seiner Konstruktion13.

[230] Jede intuitionistische Interpretation, die den Begriff des reenactment methodologisch fassen wollte, ist ausgeschlossen: der angeblich der Anschauung gebührende Platz wird von der Einbildungskraft eingenommen14.

c) Nun muß noch der entscheidende Schritt getan werden, der darin besteht, den Nachvollzug für numerisch identisch mit dem erstmaligen Denken zu erklären. Dieser gewagte Schritt wird von Collingwood in dem Moment vollzogen, wo die historische Konstruktion, das Werk der apriorischen Einbildungskraft, ihren Wahrheitsanspruch geltend macht. Herausgelöst aus dem Kontext des reenactment könnte die Einbildungskraft des Historikers mit der des Romanschriftstellers verwechselt werden. Doch im Unterschied zum Romanschriftsteller hat der Historiker eine doppelte Aufgabe: auch er muß ein kohärentes und sinnvolles Bild konstruieren, zugleich aber muß er „ein wirklichkeitsgetreues Bild von den Dingen und Ereignissen rekonstruieren“ (S. 246, dt. S. 258). Diese zweite Aufgabe wird nur zum Teil erfüllt, wenn man die „methodischen Regeln“ beachtet, die die Arbeit des Historikers von der des Romanschriftstellers unterscheiden: alle historischen Erzählungen in dem einen Raum und in der einen Zeit zu lokalisieren; alle historischen Erzählungen mit der einen einzigen Welt der Geschichte in Beziehung setzen zu können; das Bild der Vergangenheit mit den Dokumenten in Einklang zu bringen, sowohl mit den längst vertrauten wie mit denen, die der Historiker erst als solche zu benutzen lernt.

Wenn man es dabei bewenden ließe, wäre dem Wahrheitsanspruch der imaginierten Konstruktionen nicht Genüge getan. Das „in der Imagination lebende Bild der Vergangenheit“ (S. 248, dt. S. 260) bliebe ein anderes, wäre von der Vergangenheit verschieden. Damit es das selbe ist, muß es mit ihr numerisch identisch sein, und zu diesem Zweck muß das Nach-denken die zeitliche Distanz aufheben. Diese Aufhebung macht die philosophische, das heißt transepistemologische Bedeutung des Nachvollzugs aus.

Die These wird in allgemeiner, aber unzweideutiger Form erstmals im ersten Abschnitt der Epilegomena („Die menschliche Natur und [231] die menschliche Geschichte“) ausgesprochen. Die Gedanken, wird gesagt, sind in gewissem Sinne zweifellos Ereignisse, die in der Zeit ablaufen; aber in einem anderen Sinne sind die Gedanken keineswegs in der Zeit, dann nämlich wenn man sich bemüht, sie im eigenen Denken nachzuvollziehen (S. 217, dt. S. 228)15. Daß diese These anläßlich eines Vergleichs der Ideen zur menschlichen Geschichte mit denen zur menschlichen Natur verfochten wird, ist leicht zu begreifen. Die Natur nämlich ist das Gebiet, wo die Vergangenheit von der Gegenwart getrennt ist: „Die Vergangenheit im Prozeß der Natur ist eine tote Vergangenheit, die von einer neuen Epoche abgelöst wird“ (S. 225, dt. S. 236). In der Natur sterben die Jetzte und werden durch neue ersetzt, während die der historischen Erkenntnis zugängliche Vergangenheit „nicht stirbt, sondern in der Gegenwart weiterlebt“ (ebd.)16.

Was aber heißt hier weiterleben? Nichts, wenn nicht der Akt des Nachvollzugs hinzukommt. Vernunft selber gibt es letzten Endes nur im aktuellen Besitz vergangener Denktätigkeit. Wird man einwenden, daß die Vergangenheit durch das Hinterlassen einer Spur weiterleben mußte und daß wir ihre Erben werden mußten, damit wir die vergangenen Gedanken überhaupt nachvollziehen können? Doch Weiterleben und Erbschaft sind Naturprozesse. Die historische Erkenntnis beginnt mit der spezifischen Weise, wie wir in ihren Besitz gelangen. Paradox formuliert, könnte man sagen, daß eine Spur erst dann zur Spur der Vergangenheit wird, wenn ihr Vergangenheitscharakter aufgehoben wird durch den zeitlosen Akt, der die gedankliche Innenseite des Ereignisses nach-denkt. Durch den so verstandenen Nachvollzug wird das Paradox der Spur rein identitär gelöst, sofern das Phänomen der Markierung oder des Abdrucks sowie das seiner Fortdauer schlicht [232] und einfach der Naturerkenntnis überantwortet wird. Die bereits im Begriff einer Einbildungskraft a priori sichtbare idealistische These von der Selbsterzeugung des Geistes findet in der Idee des Nachvollzugs also bloß ihre innere Vollendung17.

Diese maximalistische Interpretation der identitären These ruft Einwände hervor, die nach und nach die identitäre These selbst wieder in Frage stellen.

Führt man die Analyse konsequent zu Ende, fühlt man sich versucht zu sagen, daß der Historiker keineswegs die Vergangenheit erkennt, sondern bloß sein eigenes Denken über die Vergangenheit; die Geschichte hat indes nur dann einen Sinn, wenn der Historiker weiß, daß er einen Akt nachvollzieht, der nicht der seine ist. Für Collingwood mag das Denken zwar die Kraft haben, gegenüber sich selbst auf Distanz zu gehen. Doch diese Selbstdistanzierung kommt niemals der Distanz zwischen Selbst und Anderem gleich. Das ganze Unternehmen Collingwoods zerschellt an der Unmöglichkeit, vom Denken der Vergangenheit als meiner zum Denken der Vergangenheit als anderer zu gelangen. Die Identität der Reflexion vermag der Alterität der Wiederholung nicht gerecht zu werden.

Geht man von der dritten zur zweiten Komponente der identitären These zurück, kann man sich fragen, ob der Nachvollzug der Vergangenheit wirklich in ihrem Nach-denken besteht. Angesichts der Tatsache, daß kein Bewußtsein sich selbst durchsichtig ist, ist es da überhaupt vorstellbar, daß der Nachvollzug bis in die opaken Schichten hinabreicht, die sowohl der ursprüngliche Akt der Vergangenheit als auch der reflexive Akt der Gegenwart aufweisen? Was soll man noch unter Begriffen wie Prozeß, Erwerb, Aneignung, Entwicklung oder [233] Kritik verstehen, wenn der Nachvollzug selber kein Ereignis mehr ist, in dem andere Ereignisse zur Darstellung kommen? Und wie soll man einen Akt noch Nach-Bildung nennen, der seine Differenz zur ursprünglichen Bildung beseitigt hat? Das Nach- im Ausdruck Nachvollzug widerstrebt auf vielfältige Weise der Operation, die die zeitliche Distanz aufheben möchte.

Gehen wir noch einen Schritt zurück, so müssen wir auch die Zerlegung der Handlung in eine Außenseite, die nur physikalische Bewegung sein soll, und eine Innenseite, die nur Denken sein soll, in Frage stellen. Diese Zerlegung steht am Ursprung der Aufspaltung des Begriffs der historischen Zeit in zwei Begriffe, die beide deren Negation darstellen: da ist zum einen die Veränderung, in der ein Ereignis ein anderes ablöst, und da ist zum anderen die Zeitlosigkeit des Akts des Denkens; ausgespart werden gerade die Vermittlungen, die aus der historischen Zeit einen Mischbegriff machen: das Weiterleben der Vergangenheit, das so etwas wie die Spur ermöglicht, die Tradition, die uns zu Erben macht, und die Erhaltung, die den erneuten Besitz ermöglicht.

Diese Vermittlungen lassen sich nicht unter die „große Gattung“ des Selben bringen.

2. Im Zeichen des Anderen: eine negative Ontologie der Vergangenheit?

Dialektischer Umschlag: Wenn die Vergangenheit nicht unter der „großen Gattung“ des Selben gedacht werden kann, dann vielleicht eher unter der des Anderen?

Man findet bei Historikern, die sich einen Sinn für philosophische Fragestellungen bewahrt haben, einige Anregungen, die bei all ihrer Unterschiedlichkeit in die Richtung dessen zielen, was man eine negative Ontologie der Vergangenheit nennen könnte.

Im Gegensatz zu Collingwood versteht eine Anzahl zeitgenössischer Historiker unter Geschichte ein Bekenntnis zur Alterität, eine Wiederherstellung der zeitlichen Distanz, ja eine Apologie der Differenz, die soweit geht, daß man sich am zeitlich Exotischen delektiert. Doch nur sehr wenige haben es auf sich genommen, diesen Vorrang des Anderen im Denken der Geschichte theoretisch zu fundieren.

Mein kurzer Überblick über die diesbezüglichen Versuche orientiert sich am steigenden Grad ihrer Radikalität.

[234] Das Bemühen, der zeitlichen Distanz ihre Bedeutung wiederzugeben, wendet sich in dem Moment gegen das Ideal eines Nachvollzugs, wo der Hauptakzent bei der Untersuchung auf die Distanznahme gegenüber allen Versuchungen und Versuchen von „Einfühlung“ gelegt wird; alsdann wird die Problematisierung bedeutsamer als die überkommenen Traditionen und die Konzeptualisierung wichtiger als die bloße Niederschrift des Erlebten in seiner eigenen Sprache; die Geschichte bekommt dann eine starke Tendenz, die Vergangenheit von der Gegenwart zu entfernen. Im Gegenzug zu jedem Wunsch einer Vertrautmachung des Unvertrauten, um mit Hayden White zu sprechen, dem wir weiter unten wiederbegegnen werden, kann sie sogar geradezu darauf aus sein, einen Fremdheitseffekt zu erzielen. Und warum sollte dieser Fremdheitseffekt uns nicht in die wirkliche Fremde führen? Es genügt, daß der Historiker sich zum Ethnologen der Vergangenheit macht. Dadurch wird die Strategie der Distanzierung in den Dienst der Bemühung um eine geistige Dezentrierung gestellt, wie sie jene Historiker praktizieren, die am stärksten darauf aus sind, vom okzidentalen Ethnozentrismus der traditionellen Geschichte loszukommen18.

Unter welcher Kategorie soll man sich diese Distanznahme denken?

Es dürfte nicht überflüssig sein, mit der zu beginnen, die den Autoren am vertrautesten ist, die von der deutschen Tradition des Verstehens * beeinflußt sind: das Fremdverstehen ist für diese Tradition das beste Analogon zum historischen Verstehen. Dilthey hat als erster versucht, alle Geisteswissenschaften – einschließlich der Geschichte – in dem Vermögen des Geistes zu begründen, sich in ein fremdes Seelenleben hineinzuversetzen, auf der Basis von Zeichen, die die innere Erfahrung des anderen „ausdrücken“ und so von außen zugänglich machen. Entsprechend ist das Urmodell für die Transzendenz der Vergangenheit das durch sein „zeichengebendes“ Verhalten von [235] außen zugängliche fremde Seelenleben. Auf diese Weise kommt es zu einem doppelten Brückenschlag: einerseits überbrückt der Ausdruck den Abstand zwischen dem Innen und dem Außen; andererseits überbrückt das phantasiemäßige Sichhineinversetzen in ein fremdes Leben den Abstand zwischem [sic] dem Selbst und seinem Anderen. Diese doppelte Bewegung nach außen erlaubt es einem je einzelnen Leben, sich einem fremden Leben zu öffnen, noch bevor sich an diese Veräußerlichung die alles entscheidende Objektivierung anschließt, nämlich die, die aus der Einschreibung des Ausdrucks in dauerhafte Zeichen resultiert, worunter an erster Stelle die Schrift zu nennen ist19.

Das Modell des Fremdverstehens ist gewiß ein sehr starkes Modell, sofern es nicht bloß die Alterität ins Spiel bringt, sondern das Selbe mit dem Anderen zusammenschließt. Das Paradox aber ist, daß dies Modell, indem es die Differenz zwischem [sic] dem aktuellen anderen und dem anderen von einst aufhebt, die Problematik der zeitlichen Distanz verwischt und die spezifische Schwierigkeit umgeht, die mit dem Weiterleben der Vergangenheit in der Gegenwart zusammenhängt – eine [236] Schwierigkeit, die den Unterschied ausmacht zwischen Fremderkenntnis und Erkenntnis der Vergangenheit20.

Ein anderes logisches Äquivalent für die Alterität der historischen Vergangenheit gegenüber der Gegenwart hat man im Begriff der Differenz gesucht, der seinerseits vielfältige Interpretationen zuläßt. Von dem Paar selbst-anders geht man zum Paar identisch-different über, ohne daß es, abgesehen vom Kontext, spürbare Bedeutungsunterschiede gäbe. Allerdings läßt der Begriff der Differenz sehr unterschiedliche Verwendungsweisen zu. Zwei davon, die ich bei Fachhistorikern fand, die sich um eine theoretische Fundierung ihrer Arbeit bemühen, werde ich näher betrachten.

Eine erste Weise, den Differenzbegriff im historischen Kontext zu verwenden, besteht darin, ihn mit dem der Individualität oder besser Individualisierung zu verkoppeln, ein Begriff, dem der Historiker in Korrelation zu dem der historischen „Konzeptualisierung“, dessen Gegenpol er darstellt, zwangsläufig begegnet: denn so wie die Konzeptualisierung zu immer umfassenderen Abstraktionen neigt (Krieg, Revolution, Krise usw.), neigt die Individualisierung zum Eigennamen (Namen von Personen, Orten, singulären Ereignissen)21. Dieser an [237] den Individualitätsbegriff anknüpfende Gebrauch des Ausdrucks Differenz wird von Paul Veyne im Inventaire des différences stark gemacht. Damit sich die Individualität als Differenz offenbart, muß die historische Konzeptualisierung als das Aufsuchen und Feststellen von Invarianten begriffen werden, unter denen man sich eine in sich unveränderliche Korrelation einiger weniger Variablen vorzustellen hat, die imstande sind, ihre eigenen Modifikationen zu erzeugen. Das historische Faktum wäre dann näher zu bezeichnen als eine Variante, die durch Individualisation dieser Invarianten erzeugt worden ist22.

Doch kommt eine logische Differenz einer zeitlichen gleich? Paul Veyne scheint zunächst davon auszugehen, denn er ersetzt die Erforschung der zeitlichen Ferne durch die des Ereignisses, das durch seine Individualität so unzeitlich wie möglich charakterisiert wird23. Dies aber erweckt den Eindruck, daß die Ontologie der Vergangenheit unter einer Epistemologie des Individuums begraben wird. Wenn demnach das Erklären durch Invarianten das Gegenteil von Erzählen ist, so deshalb, weil die Ereignisse in einem Maße entzeitlicht wurden, daß sie von jetzt ab weder nah noch fern sind24.

Tatsächlich deckt sich die Individualisierung durch Variation einer Invarianten nicht mit der Individuation durch die Zeit. Die erste ist abhängig vom Spezifikationsgrad der gewählten Invarianten. In diesem [238] logischen Sinne trifft es sicherlich zu, daß der historische Individualitätsbegriff nur selten mit dem Individuum im strengen Sinne zusammenfällt: die Ehe in der Bauernklasse unter Ludwig XIV. ist eine von der gewählten Problematik abhängige Individualität, die sich beschreiben läßt, ohne daß man deshalb das Leben jedes einzelnen Bauern nacherzählen müßte. Die Individuation durch die Zeit ist etwas anderes: sie hat zur Folge, daß das Inventar der Differenzen keine unzeitliche Klassifizierung ist, sondern sich in Erzählungen niederschlägt.

So wird man auf das Rätsel der zeitlichen Distanz zurückgeführt, ein Rätsel, das überdeterminiert ist durch die axiologische Entfernung, die uns die Sitten der Vergangenheit so sehr hat fremd werden lassen, daß die Alterität der Vergangenheit gegenüber der Gegenwart das Weiterleben der Vergangenheit in der Gegenwart völlig in den Schatten stellt. Wenn aber die Neugier über die Sympathie siegt, wird das Fremde befremdlich. Die Differenz, die trennt, tritt an die Stelle der Differenz, die eint. In eins damit verliert der Differenzbegriff durch die genannte Überdeterminierung seine transzendentale Reinheit einer „großen Gattung“. Und mit seiner transzendentalen Reinheit verliert er auch seine Univozität, sofern die zeitliche Distanz zwei entgegengesetzten Deutungen offensteht, je nachdem ob die Ethik der Freundschaft (Marrou) oder die Poesie der Ferne (Veyne) überwiegt.

Ich beschließe diesen Überblick über die Figuren der Alterität mit dem Beitrag von Michel de Certeau, der mir am weitesten in die Richtung einer negativen Ontologie der Vergangenheit zu gehen scheint25. Auch hier wieder handelt es sich um eine Apologie der Differenz, aber in einem gedanklichen Kontext, der ihr eine Richtung gibt, die der vorhergehenden fast diametral entgegengesetzt ist. Dieser Kontext ist der einer „Soziologie der Geschichtsschreibung“, in der nicht mehr der Gegenstand oder die Methode der Geschichte problematisiert werden, sondern der Historiker selbst, bzw. das Geschäft (opération) des Historikers. Geschichte schreiben, heißt etwas produzieren. Damit stellt sich die Frage nach dem gesellschaftlichen Ort des historischen Geschäfts26.

Dieser Ort aber ist nach de Certeau das Ungesagte par excellence der Geschichtsschreibung; tatsächlich meint – oder beansprucht – die Geschichte ihrem wissenschaftlichen Anspruch nach, im gesellschaftli[239]chen Niemandsland produziert zu werden. Das Argument, halten wir das fest, wendet sich ebensosehr gegen die kritische wie gegen die positivistische Schule, wenn es darum geht zu wissen: Wo eigentlich hat das Gericht der historischen Urteilssprechung seinen Sitz?

Das ist der Kontext von Fragen, in dem eine neue Interpretation des Ereignisses als Differenz ans Licht tritt. Wie jedoch? Nachdem der falsche Anspruch des Historikers, Geschichte in einer Art soziokultureller Schwerelosigkeit zu produzieren, erst einmal demaskiert worden ist, regt sich der Verdacht, daß sämtliche Geschichte wissenschaftlichen Anspruchs korrumpiert ist durch den Wunsch nach Herrschaft, die den Historiker zum unumschränkten Herrn über die Bedeutung macht. Dieser Herrschaftswunsch macht die implizite Ideologie der Geschichte aus27.

Auf welchem Wege führt diese Form von Ideologiekritik zu einer neuen Interpretation des Ereignisses als Differenz? Wenn es stimmt, daß der wissenschaftlichen Historiographie ein Traum von Herrschaft innewohnt, stehen auch die Konstruktion von Modellen und die Suche nach Invarianten – und folglich auch die Konzeption der Differenz als individualisierter Variante einer Invariante – unter Ideologieverdacht. Damit stellt sich die Frage, wie eine Geschichte beschaffen sein müßte, um weniger ideologisch zu sein. Es müßte eine Geschichte sein, die nicht bloß Modelle konstruierte, sondern zugleich die von diesen Modellen abweichenden Differenzen deutlich machte. Hier entsteht eine neue Spielart der Differenz aus ihrer Identifizierung mit dem Begriff der Abweichung (écart), der aus der strukturalen Linguistik und der Semiologie stammt (von Ferdinand de Saussure bis Roland Barthes), die beide wiederum Eingang fanden in gewisse zeitgenössi[240]sche Philosophien (von Gilles Deleuze bis Jacques Derrida). Doch bei de Certeau bleibt die als Abweichung verstandene Differenz fest in der zeitgenössischen Epistemologie der Geschichte verankert, sofern es gerade die fortschreitende Modellbildung selber ist, die die Auffindung der Abweichungen ermöglicht: die Abweichungen sind – wie die Varianten von Veyne – „abhängig von Modellen“ (S. 25). Nur sind, während die als Varianten verstandenen Differenzen den Invarianten homogen sind, die Abweichungs-Differenzen ihnen heterogen. Die Kohärenz macht den Anfang, „die Differenz spielt an den Grenzen“ (S. 27)28.

Bietet diese Version des Differenzbegriffs als Abweichung eine bessere Annäherung an das Ereignis als einem gewesenen? Ja, bis zu einem gewissen Grad. Was de Certeau die Arbeit an der Grenze nennt, bringt das Ereignis selbst dem historischen Diskurs gegenüber in eine Position der Abweichung, und in diesem Sinne trägt die Abweichungs-Differenz zu einer negativen Ontologie der Vergangenheit bei. Für eine Philosophie der Geschichte, die dem Gedanken der Abweichungs-Differenz verpflichtet ist, ist die Vergangenheit das, was fehlt – eine wesentliche Abwesenheit“.

Warum sollte man es also nicht bei dieser Charakterisierung des vergangenen Ereignisses bewenden lassen? Aus zwei Gründen. Zunächst einmal ist die Abweichung ebensosehr von einem Systematisierungsversuch abhängig wie die Modifikation einer Invarianten. Gewiß, die Abweichung steht außerhalb des Modells, während sich die Modifikation an der Peripherie des Modells einschreibt. Doch der Abweichungsbegriff bleibt genauso zeitlos wie der der Modifikation, insofern eine Abweichung von dem jeweils herangezogenen Modell abhängig bleibt. Zudem sieht man nicht, inwiefern die Abweichungs-Differenz geeigneter sein sollte, die Gewesenheit der Vergangenheit zu signifizieren als die Varianten-Differenz. Die vergangene Wirklichkeit bleibt das Rätsel, für das der Begriff der Abweichungs-Differenz – Frucht der Arbeit an der Grenze – bloß eine Art Negativ anbietet, das zudem einer im eigentlichen Sinne zeitlichen Zielrichtung entbehrt.

[241] Gewiß, eine Kritik der Totalitätsbestrebungen der Geschichte, in eins mit einem Exorzismus der substantiellen Vergangenheit, ja mit einer Verabschiedung der Repräsentationsidee im Sinne einer geistigen Reduplikation der Präsenz, sind ebensoviele Reinigungsoperationen, die stets von neuem durchgeführt werden müssen; um ihnen eine Richtung zu geben, ist der Begriff der Abweichungs-Differenz ein willkommener Führer. Aber das sind alles nur vorbereitende Maßnahmen: letzten Endes wird der Differenzbegriff dem nicht gerecht, was es in dem Fortdauern der Vergangenheit in der Gegenwart an Positivem zu geben scheint. Und deshalb scheint das Rätsel der zeitlichen Distanz am Ende dieses Großreinemachens paradoxerweise dunkler zu sein als je zuvor. Denn wie sollte eine Differenz, die stets von einem abstrakten System abhängig und so entzeitlicht wie nur möglich ist, dasjenige vertreten, das – heute tot und abwesend – einst wirklich und lebendig war?

3. Im Zeichen des Analogen: ein tropologischer Zugang?

Die beiden Gruppen von Bemühungen, die im vorstehenden untersucht wurden, sind trotz ihres einseitigen Charakters nicht nutzlos.

Eine Weise, ihre jeweiligen Beiträge zur Frage nach dem letzten Referenten der Geschichte zu „retten“, besteht darin, ihre Anstrengungen im Zeichen einer „großen Gattung“ zu vereinen, die selbst das Selbe mit dem Anderen verbindet. Das Ähnliche ist eine solche große Gattung. Oder besser: das Analoge, das eher eine Ähnlichkeit zwischen Relationen als zwischen einfachen Gliedern ist.

Es war nicht allein die dialektische oder auch bloß didaktische Kraft der Reihe „das Selbe, das Andere, das Analoge“, die mich dazu trieb, die Lösung zu dem gestellten Problem gerade in der Richtung zu suchen, die nun näher erkundet werden soll. Was mich zunächst hellhörig werden ließ, waren die verhüllten Vordeutungen auf diese Kategorisierung der Vertretungs- oder Repräsentanzbeziehung in den vorhergehenden Analysen, wo immer wieder Ausdrücke der Form „so wie“ (so wie es gewesen ist) vorkamen. Hier denkt jeder sogleich an die Formulierung Leopold von Rankes: wie es eigentlich gewesen29 . [242] Sobald man den Unterschied zwischen Fiktion und Geschichte deutlich machen will, appelliert man unweigerlich an die Idee einer gewissen Übereinstimmung der Erzählung mit dem, was wirklich geschehen ist. Zugleich aber ist man sich völlig bewußt, daß diese Re-konstruktion eine Konstruktion ist, die sich vom Ablauf der berichteten Ereignisse unterscheidet. Einige Autoren lehnen deshalb den Ausdruck „Repräsentation“ ab, der ihnen zu sehr gezeichnet zu sein scheint vom Mythos einer Eins-zu-Eins-Reduplikation der Wirklichkeit im Bild, das man sich von ihr macht. Aber das Problem der Übereinstimmung mit der Vergangenheit läßt sich nicht durch eine Änderung des Vokabulars aus der Welt schaffen. Mag die Geschichte eine Konstruktion sein, instinktiv wünscht sich der Historiker, daß sie eine Rekonstruktion sei. Diese Absicht, beim Konstruieren zu rekonstruieren scheint dem guten Historiker ins Stammbuch geschrieben zu sein. Ob sein Unternehmen im Zeichen der Freundschaft oder in dem der Neugier steht, bewegt wird er von dem Wunsch, der Vergangenheit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sein Verhältnis zur Vergangenheit ist zunächst das einer unbezahlten Schuld, und insofern steht er für uns alle, für uns, die Leser seines Werks. Dieser zuerst befremdlich wirkende Schuldgedanke scheint sich mir hinter einer Ausdrucksweise abzuzeichnen, die dem Maler und dem Historiker gemeinsam ist: beide wollen eine Landschaft, einen Ablauf von Ereignissen „wiedergeben“. Aus diesem Wort „wiedergeben“ lese ich die Absicht heraus, dem, was ist, und dem, was war, „das Seine wiederzugeben“.

Genau diese Absicht ist die Triebfeder der mitunter abstrusen Untersuchungen, die folgen.

Noch ein zweites Motiv hat mich geleitet: so kommt zwar das Analoge in keiner Liste „großer Gattungen“ bei Platon vor, dafür hat es jedoch einen Platz in der Rhetorik des Aristoteles gefunden, wo es unter dem Titel der „Proportionalmetapher“, die auch analogia [243] genannt wird, auftritt. Damit drängt sich die Frage auf, ob nicht eine Theorie der Tropen, eine Tropologie, an dem kritischen Punkt, zu dem uns die beiden vorhergehenden Analysen geführt haben, die begriffliche Artikulation der Repräsentanz weiter vorantreiben könnte. Hier stoße ich nun auf den Versuch, den Hayden White in Metahistory und in Tropics of Discourse30 unternommen hat, eine Theorie der „Fabelbildung“ [emplotment, in der dt. Ü. der Tropics, S. 21: Plotstrukturierung] durch eine Theorie der „Tropen“ (Metapher, Metonymie, Synekdoche, Ironie) zu ergänzen. Dieser Rekurs auf die Tropologie wird hervorgerufen durch die – im Kontrast zur bloßen Fiktion – einzigartige Struktur des historischen Diskurses. Dieser Diskurs nämlich scheint doppelt gebunden zu sein: einerseits an die Notwendigkeiten, die zu dem bevorzugten Fabeltyp gehören, andererseits an die Vergangenheit selbst, über die zu einem bestimmten Zeitpunkt zugängliche dokumentarische Information. Die Aufgabe des Historikers besteht dann darin, aus der narrativen Struktur ein „Modell“, ein „Ikon“ der Vergangenheit zu machen, das in der Lage ist, sie zu „repräsentieren“31.

[244] Wie begegnet die Tropologie dieser zweiten Herausforderung, die aus der Bindung an die wirkliche Vergangenheit resultiert? Antwort: „Bevor ein bestimmtes Gebiet überhaupt interpretiert werden kann, muß es zunächst wie ein Stück Bauland durch unterscheidbare Figuren vorstrukturiert werden“ (Metahistory, S. 30). Um das zu figurieren, was in der Vergangenheit „wirklich geschehen ist“, muß der Historiker zunächst sämtliche Ereignisse, von denen in den Dokumenten berichtet wird, vorstrukturieren oder präfigurieren (ebd.). Diese poetische Operation hat die Funktion, im „historischen Feld“ mögliche Wege vorzuzeichnen und den möglichen Erkenntnisgegenständen erste Umrisse zu verleihen. Der eigentliche Zielpunkt dabei ist sicherlich das, was in der Vergangenheit wirklich geschehen ist; das Paradox ist aber, daß sich dies aller Erzählung Vorausliegende sprachlich nur erfassen läßt, indem man es präfiguriert32.

Den vier Haupttropen der klassischen Rhetorik kommt das Privileg zu, für diese Präfigurationsarbeit Redefiguren anzubieten und derart den Bedeutungsreichtum des historischen Gegenstands zu wahren – einmal durch die für jede Trope charakteristische Äquivozität, zum andern durch die Vielfalt der verfügbaren Figuren33.

[245] Unter den vier berücksichtigten Tropen – Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie – fällt nun allerdings die eigentliche Aufgabe der Repräsentation der ersten zu. Doch Hayden White scheint sagen zu wollen, daß die anderen Tropen, obwohl von ihr unterschieden, Varianten der Metapher sind34 und die Funktion haben, der Naivität der Metapher gegenzusteuern, die dazu neigt, die behauptete Ähnlichkeit (my love, a rose) für sachlich begründet zu halten. So soll die Metonymie, indem sie Teil und Ganzes jeweils aufeinander zurückführt, die reduktive Tendenz haben, aus einem historischen Faktor die bloße Manifestation eines anderen zu machen. Die Synekdoche soll dadurch, daß sie die äußerliche Beziehung zwischen zwei Phänomenbereichen durch eine innere Beziehung zwischen gemeinsamen Eigenschaften ersetzt, eine Integration ohne Reduktion darstellen. Und die Ironie schließlich soll eine negative Note in diese Präfigurationsarbeit einführen, etwas wie einen „Hintergedanken“ (second thought) oder ein „Spannungsmoment“ (suspense). Um sie von der Metapher, die das tropologische Gebiet begründet und in gewisser Weise in sich vereint, abzuheben, nennt Hayden White die Ironie „metatropisch“, da sie den möglichen Mißbrauch der figurativen Sprache bewußt machen kann und ständig an die problematische Natur der Sprache im ganzen erinnert. Keine dieser Strukturierungsmöglichkeiten stellt eine logische Notwendigkeit dar, und die figurative Operation kann im ersten Stadium, dem der metaphorischen Charakterisierung, haltmachen. Doch nur in dem Maße, wie die ganze Strecke vom naivsten Erfassen (Metapher) bis zum reflektiertesten (Ironie) durchlaufen wird, darf man von einer tropologischen Struktur des Bewußtseins reden35. Alles in allem kann man sagen, daß die Theorie der [246] Tropen durch ihren betont sprachlichen Charakter mit zu den Bedingungen der historischen Einbildungskraft gerechnet werden kann, auch wenn sie deren eigentlich erklärende Dimension unangetastet läßt. Sie stellt gewissermaßen die Tiefenstruktur der historischen Einbildungskraft dar36.

An diesen tropologischen Aufbau des Bewußtseins werden mit Blick auf die Repräsentationsbestrebungen der Geschichte immense Erwartungen geknüpft: Die Rhetorik soll die Beschreibung des historischen Feldes so leiten wie die Logik die erklärende Argumentation leitet: „Denn durch die figurative Rede konstituiert der Historiker regelrecht den Gegenstand des Diskurses“37. So gesehen hängt die Identifikation des Fabeltyps von der Logik ab, die jeweilige Richtung jedoch, in die eine Menge von Ereignissen dadurch zielt, daß die als ein Zeichensystem verstandene Geschichte sie zu beschreiben versucht, hängt von der Tropologie ab. Sofern nun die Erklärung durch Fabelbildung der Ebene der Gattung zugeschlagen wird, geht die Tropologie mehr aufs einzelne38.

[247] Man darf also die Ikonizität der Repräsentation der Vergangenheit nicht mit einem Modell ähnlich dem maßstabsgetreuen Modell etwa einer Landkarte verwechseln, denn es gibt kein fertiges Original, mit dem man das Modell vergleichen könnte; die Fremdheit des Originals, wie es sich in den Dokumenten darbietet, ruft gerade die Anstrengung der Geschichte hervor, es stilistisch zu präfigurieren39. Und deshalb gibt es zwischen einer Erzählung und einem Ablauf von Ereignissen keine Beziehung der Reproduktion, Reduplikation oder Äquivalenz, sondern eine metaphorische Beziehung: Der Leser wird auf die Figur gelenkt, die die berichteten Ereignisse einer narrativen Form angleicht (liken), wie sie ihm aus seiner eigenen Kultur vertraut ist.

Ich möchte nun kurz darstellen, was ich von den subtilen und oft dunklen Analysen Hayden Whites halte. Fest steht für mich zunächst, daß sie einen entscheidenden Beitrag zur Erforschung des dritten dialektischen Moments in der Idee der Vertretung oder Repäsentanz [sic] bilden, durch die ich das Verhältnis der historischen Erzählung zur „wirklichen“ Vergangenheit auszudrücken versuche. Indem sie die gegenseitige Anpassung (matching up) einer bestimmten Fabel und eines bestimmten Ereignisablaufs durch tropologische Mittel fundieren, erhärten sie in wertvoller Weise unseren Vorschlag, der besagt, [248] daß der Bezug zur Wirklichkeit der Vergangenheit nacheinander das Raster des Selben, des Anderen und des Analogen durchlaufen muß. Die tropologische Analyse ist die gesuchte Explikation für die Kategorie des Analogen. Und sie sagt nur eins: daß nämlich die Dinge sich haben so ereignen müssen wie in der Erzählung gesagt wird, daß sie sich ereignet haben; dank des tropologischen Rasters kommt das Sein wie des vergangenen Ereignisses zur Sprache.

Doch andererseits muß man natürlich auch sehen, daß der Rekurs auf die Tropologie Gefahr läuft, die Grenze zwischen Fiktion und Geschichte zu verwischen, wenn man ihn aus dem Kontext der beiden anderen großen Gattungen – des Selben und des Anderen – herausreißt und vor allem dann, wenn er sich der Zwänge entledigt, die das Gegenüber auf den Diskurs ausübt, denn sie machen gerade die Gewesenheit des vergangenen Ereignisses aus40.

Indem man den Akzent fast ausschließlich auf das rhetorische Verfahren legt, läuft man Gefahr, die Intentionalität, die durch die „Tropik des Diskurses“ hindurch auf vergangene Ereignisse zielt, zu verdunkeln. Doch ohne diesen Primat der referentiellen Zielrichtung wiederherzustellen, könnte man nicht – mit Hayden White selber – sagen, daß die Geschichtsschreibung „immer im Wettbewerb mit konkurrierenden dichterischen Figurationen dessen, worin die Vergangenheit bestehen könnte, geschrieben [wird]“ (S. 60, dt. S. 120). Sehr schön wird gesagt, daß wir „das Tatsächliche nur erkennen, wenn wir es mit dem Vorstellbaren kontrastieren oder vergleichen“ (S. 61, dt. S. 121). Wenn diese Formulierung ihr ganzes Gewicht behalten soll, darf es nicht soweit kommen, daß das Bemühen, „die Historiographie wieder stärker an ihre Ursprünge in einem literarischen Bewußtsein zurück[zubinden]“ (S. 61, dt. S. 121.) zur Folge hat, daß dem sprachlichen Vermögen, das in unsere Neubeschreibungen eingeht, mehr Bedeu[249]tung zugemessen wird als den Anreizen zur Neubeschreibung, die von der Vergangenheit selber ausgehen. Anders gesagt, es darf nicht soweit kommen, daß eine gewisse tropologische Willkür41 einen den Zwang vergessen läßt, den das vergangene Ereignis über die bekannten Dokumente auf den historischen Diskurs ausübt, dem es so eine endlose Rektifikation abverlangt. Die Beziehungen zwischen Fiktion und Geschichte sind sicherlich komplexer als sich überhaupt je sagen läßt. Und gewiß gilt es, das Vorurteil zu bekämpfen, wonach die Sprache des Historikers völlig transparent gemacht werden könnte, derart, daß schließlich die Fakten selber sprächen: gleichsam als genügte es schon, die Verzierungen der Prosa zu beseitigen, um mit den Figuren der Poesie Schluß zu machen. Aber man kann dieses erste Vorurteil nicht bekämpfen, ohne auch das zweite zu bekämpfen, wonach der aus der Einbildungskraft erwachsenden Literatur, weil sie ständig von der Fiktion Gebrauch macht, die Realität entgleiten muß. Beide Vorurteile sind gemeinsam zu bekämpfen42.

Um nun die Rolle zu verdeutlichen, die der Tropologie bei der inneren Artikulation des Repräsentanzbegriffs zugewiesen wird, muß man, wie mir scheint, auf das „wie“ zurückkommen, das in dem Ausdruck von Ranke enthalten ist, der die ganze Zeit über den eigentlichen Antrieb zu unseren Überlegungen gab: die Tatsachen, wie sie eigentlich oder wirklich gewesen sind. Gemäß der analogischen Interpretation des Vertretungs- oder Repräsentanzverhältnisses ist das „wirklich“ nur über das „wie...“ erreichbar. Doch auf welche Weise ist dies möglich? Der Schlüssel zum Problem scheint mir in der nicht bloß rhetorischen, sondern ontologischen Funktionsweise des „wie“ zu liegen, so wie ich sie in der Siebten und Achten Studie der Métaphore vive (dt. Die lebendige Metapher, Fünfte und Sechste Studie) [250] analysiert habe. Was meines Erachtens der Metapher eine referentielle Tragweite gibt, die selbst wiederum einen ontologischen Anspruch beinhaltet, das ist das Abzielen auf ein Sein-wie... (être-comme), das dem Sehen-als... (voir-comme) korreliert, das auf der Ebene der Sprache die Arbeit der Metapher in sich zusammenfaßt. Anders gesagt, das Sein selbst muß jeweils als Sein-wie metaphorisiert werden, damit sich der Metapher eine ontologische Funktion zuschreiben läßt, die nicht dem lebendigen Charakter der Metapher auf sprachlicher Ebene widerspricht, das heißt ihrem Vermögen, die ursprüngliche Polysemie unserer Worte zu steigern. Die Korrespondenz zwischen dem Sehen-als und dem Sein-wie tut dieser Forderung genüge.

Wegen dieses Vermögens nun, das ich auch Neubeschreibung genannt habe, darf man die Tropologie zu Recht heranziehen, damit sie die Dialektik der „großen Gattungen“ durch eine Rhetorik der „master tropes“ ergänzt. Ohnehin klingt in unserem Begriff einer Refiguration der Zeit durch die Erzählung, der aus dem Begriff der metaphorischen Neubeschreibung hervorging, bereits der Figurbegriff an, der den Kern der Tropologie ausmacht.

Doch so sehr wir der rhetorischen und ontologischen Funktionsweise der Metapher eine völlige Autonomie zusprechen durften, um die poetische Sprache aufzuklären, wie sie in erster Linie von der lyrischen Dichtung illustriert wird, so sehr ist es andererseits nötig, das Analoge wieder in das komplexe Spiel des Selben und des Anderen einzubinden, um die wesensmäßig verzeitlichende Funktion der Repräsentanz aufzuklären. Die Analogie macht sich nicht im Alleingang auf die Jagd nach der Gewesenheit, sondern in Verbindung mit der Identität und Alterität. Zunächst ist die Vergangenheit durchaus das, was in identitärer Weise nachzuvollziehen ist: dies aber nur in dem Maße, wie sie zugleich das Abwesende in all unseren Konstruktionen ist. Das Analoge nun ist genau das, was die Kraft des Nachvollzugs und der Distanznahme in sich vereint, sofern Sein-wie soviel heißt wie sein und doch wieder nicht zu sein.

Das Analoge muß jedoch nicht nur wie in diesem Kapitel mit dem Selben und dem Anderen in Beziehung gesetzt werden, sondern auch mit der Problematik des vorletzten Kapitels und der der folgenden.

Richten wir unseren Blick zurück, so müssen wir die enge Verwandtschaft zwischen der Problematik der Spur und der der Repräsentanz in den Blick fassen. Durch das „wie“ der Analogie setzt die Analyse der Repräsentanz die der Spur fort. Im vorletzten Kapitel wurde die Spur unter dem Blickwinkel der Wiedereinschreibung der phänomenologischen in die kosmische Zeit interpretiert; wir sahen in [251] ihr die Vereinigung einer physikalischen Kausal- mit einer semiologischen Signifikanzbeziehung; von daher konnten wir von ihr sagen, sie sie [sic] Zeichen und Wirkung in eins. Wir dachten allerdings nicht einen Augenblick lang daran, damit das Phänomen der Spur erschöpfend behandelt zu haben. Der Anregung eines Levinasschen Textes folgend, beschlossen wir unsere Betrachtung mit einer absichtlich dunklen Bemerkung. Die Spur sagten wir, signifiziert, ohne erscheinen zu lassen. Genau an diesem Punkt greift die Analyse der Repräsentanz ein: Die Aporie der Spur, ihr „Stehen für“ die Vergangenheit, findet eine partielle Lösung im „Sehen-als“. Diese Artikulation resultiert aus der Tatsache, daß die Analyse der Repräsentanz im ganzen – also mit ihren drei Momenten des Selben, Anderen und Analogen – zur Problematik der Wiedereinschreibung der phänomenologischen in die kosmische Zeit diejenige der zeitlichen Distanz hinzufügt. Doch sie fügt sie nicht äußerlich hinzu, denn letztlich ist die zeitliche Distanz ja das, was die Spur aufspannt, durchquert und durchmißt. Die Repräsentanzbeziehung macht dieses Durchmessen der Zeit durch die Spur bloß explizit. Genauer gesagt, sie macht die dialektische Struktur des Durchmessens explizit, das den Abstand zur Vermittlung werden läßt.

Wenn wir abschließend unseren Blick nach vorn richten, auf die Ganzheitsproblematik oder den Totalisierungsprozeß, dem wir die folgenden Analysen widmen, ahnen wir, warum die Untersuchung bislang unvollkommen bleiben mußte – unvollkommen weil abstrakt. Wie uns die Phänomenologie und vor allem diejenige Heideggers gelehrt hat, ist die aus der Dialektik von Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart herausgerissene Vergangenheit unweigerlich eine Abstraktion. Deshalb stellt das Kapitel, das hier zu Ende geht, nur einen ersten Versuch dar, besser zu begreifen, was an dem Vergangensein der Vergangenheit als solcher rätselhaft bleibt. Indem wir dieses Vergangensein nacheinander unter den drei „großen Gattungen“ des Selben, Anderen und Analogen betrachtet haben, haben wir wenigstens vermieden, den geheimnisvollen Schuldcharakter preiszugeben, der den Herrn der Fabeln zum Diener am Gedächtnis der Menschen der Vergangenheit macht43.

1 Karl Heussi, Die Krisis des Historismus, Tübingen 1932, S. 48.

2 „Die historischen Gedanken sind Vertretungen mit dem Anspruch zu bedeuten, was in sehr viel komplizierterer und unmöglich erschöpfend zu beschreibender Weise einst war“ (S. 48). Im Gegensatz zu Theodor Lessing, für den die Geschichte bloß Sinngebung des Sinnlosen ist, übernimmt hier das Gegenüber* eine leitende und korrigierende Funktion für die historische Forschung und bewahrt sie vor der Willkür, die auf den ersten Blick mit der Selektions- und Organisationsarbeit des Historikers einherzugehen scheint: Wie auch sonst sollte die Arbeit eines bestimmten Historikers die eines anderen korrigieren können, wie könnte sie behaupten, eher als sie das Richtige zu treffen? Karl Heussi hat überdies auch jene Aspekte des Gegenüber* wahrgenommen, die aus der Repräsentanz ein Rätsel machen, das spezifisch ist für die historische Erkenntnis: da ist einerseits, wie Troeltsch sagt, der gewaltige Strom des Gegenüber, der die Vergangenheit in die Nähe des Sinnlosen bringt, und da sind andererseits die vieldeutigen Strukturen der Vergangenheit, die sie zum Sinnvollen zurückführen; insgesamt besteht die Vergangenheit in der „Fülle der möglichen Anreize zu historischer Gestaltung [configuration in Ricœurs Übers.; A.d.Ü.]“ (S. 49).

3 Der Ausdruck „Repräsentanz“ findet sich bei François Wahl in Qu'est-ce que le structuralisme?, Paris 1968, S. 11, dt. Einführung in den Strukturalismus, Frankfurt/M 1973, S. 11.

4 Das Beispiel von Marc Bloch, in Apologie der Geschichte oder der Beruf des Historikers, ist in dieser Hinsicht aufschlußreich; ihm ist die Problematik der Spur wohlbekannt: sie ergibt sich für ihn aus der des Dokuments („Was sonst verstehen wir unter Dokumenten, wenn nicht eine ‚Spur‘, das heißt eine durch die Sinne wahrnehmbare Markierung, die uns ein Phänomen hinterlassen hat, das selber als solches nicht faßbar ist“ (S. 56, dt. S. 67). Aber die rätselhafte Referenz, die der Spur anhaftet, wird unverzüglich dem Begriff der indirekten Beobachtung untergeordnet, der den empirischen Wissenschaften insofern vertraut ist, als sich zum Beispiel der Physiker oder der Geograph auf Beobachtungen stützen, die andere gemacht haben (ebd.). Gewiß kann der Historiker im Unterschied zum Physiker das Auftreten der Spur nicht hervorrufen. Aber diese Schwäche der historischen Beobachtung wird auf zwei Weisen kompensiert: Der Historiker kann eine Vielzahl von Zeugenberichten heranziehen und er kann sie miteinander vergleichen; Marc Bloch spricht in dieser Hinsicht vom „Gebrauch sehr verschiedenartiger Zeugnisse“ (S. 65, dt. S. 78). Vor allem kann er den „Zeugen wider Willen“ den Vorzug geben, das heißt denjenigen Dokumenten, die nicht dazu bestimmt waren, die Zeitgenossen oder gar künftige Historiker zu informieren oder über etwas zu unterrichten (S. 62, dt. S. 72 f.). Für eine philosophische Untersuchung indes, der es um den ontologischen Gehalt des Spurbegriffs geht, hat das Bemühen, die Erkenntnis durch Spuren dem Feld der Beobachtung zuzuschlagen, die Tendenz, den Rätselcharakter des Begriffs einer Spur der Vergangenheit zu verbergen. Das beglaubigte Zeugnis verfährt nach dem Muster einer delegierten Augenzeugenschaft: ich beobachte etwas mit den Augen eines anderen. Dadurch entsteht eine Illusion von Gleichzeitigkeit, die es erlaubt, die Erkenntnis durch Spuren in die Nähe derjenigen zu rücken, die auf indirekter Beobachtung beruht. Und doch hat niemand so vortrefflich wie Marc Bloch den Zusammenhang zwischen Geschichte und Zeit betont, wenn er sie als die Wissenschaft „von den Menschen in der Zeit“ definiert (S. 36, dt. S. 44).

5 The Idea of History, Oxford 1946, dt. Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1955, wurde posthum von T.M. Knox herausgegeben, auf der Basis von Vortragsmanuskripten, die Collingwood 1936 nach seiner Berufung auf den Oxforder Lehrstuhl für metaphysische Philosophie verfaßt hat, und die von ihm bis ins Jahr 1940 teilweise revidiert wurden. Im Fünften Teil, der den Titel Epilegomena trägt, S. 205-324, dt. S. 216-349 hat der Herausgeber die systematischen Teile des unvollendeten Werks von Collingwood zusammengestellt.

6 In dem Plan, an den der Herausgeber von The Idea of History sich gehalten hat, folgt denn auch der Abschnitt über „Die Geschichtsforschung als Nachvollzug der Erfahrung der Vergangenheit“ (282-302, dt. 294-315) auf den über „Die historische Einbildungskraft“ (231-249, dt. 243-261), (dies war die Oxforder Antrittsvorlesung), sowie auf den über „Das historische Quellenmaterial“ oder den „dokumentarischen Beweis“, wo die menschliche Natur von der menschlichen Geschichte unterschieden wird und unmittelbar, daß heißt ohne Einbeziehung der Einbildungskraft, vom reenactment gehandelt wird. Diese Ordnung der Exposition wird verständlich, wenn man bedenkt, daß das reenactment, ohne die spezifische Methode der Geschichte darzustellen, gleichwohl deren telos definiert sowie ihren Platz im Bereich des Wissen. Ich folge der Ordnung: dokumentarischer Beweis, historische Einbildungskraft, Geschichte als Nachvollzug der Erfahrung der Vergangenheit, um so den eher philosophischen als epistemologischen Charakter des Begriffs des Nachvollzugs deutlich zu machen.

7 Für Collingwood ist nicht so sehr die Frage wichtig, inwiefern die Geschichte sich von den Naturwissenschaften unterscheidet, als vielmehr die, ob überhaupt eine andere Erkenntnis des Menschen möglich ist als die historische. Diese Frage wird von ihm klar verneint, schon allein deshalb, weil der Begriff der menschlichen Geschichte den Platz einnehmen soll, den Locke und Hume dem der menschlichen Natur zugewiesen haben: „Ich möchte die These aufstellen, daß die Wissenschaft von der menschlichen Natur ein unrichtiger Versuch war..., und daß... der richtige Weg zur Erforschung des Geistes durch die Methoden der Geschichte bezeichnet ist“ (S. 209, dt. S. 220). „Die Geschichte ist das, was die Wissenschaft von der menschlichen Natur sein wollte“ (ebd.). „Alle Erkenntnis des Geistes [ist] geschichtlich“ (S. 219, dt. S. 230). „So löst sich die sogenannte Wissenschaft von der menschlichen Natur oder vom menschlichen Geist in Geschichte auf“ (S. 220, dt. S. 231). Anzumerken ist noch, daß das, was wir hier „dokumentarischen Beweis“ nennen, bei Collingwood „interpretation of evidence“ (S. 9 f., dt. S. 16) heißt, doch der englische Ausdruck „evidence“ läßt sich nur selten mit „Evidenz“ übersetzen, schon gar nicht in den juristischen Zusammenhängen, von wo die Theorie der Geschichte ihn übernimmt: „evidence“, sagt er, „ist ein Sammelname für Dinge, die im einzelnen als Dokumente bezeichnet werden, und ein Dokument ist etwas, was hier und jetzt existiert. Durch das Nachdenken über das Dokument erhält der Historiker Auskunft über die Probleme der Vergangenheit, die ihn beschäftigen“ (ebd.).

8 Der semiologische Charakter des Problems ist offenkundig, obwohl Collingwood selbst diesen Ausdruck nicht gebraucht: die äußeren Vorgänge sind nicht das, was der Historiker betrachtet, sondern das, durch das sein Blick hindurch dringt, um den in ihnen enthaltenen Gedanken zu erkennen (S. 214, dt. S. 225). Diese Beziehung zwischen dem Äußeren und Inneren entspricht dem, was Dilthey Ausdruck nennt.

9 G.E.M. Anscombe, Intention, Oxford 1957, S. 72, dt. Absicht, Freiburg München 1986, S. 114.

10 „Philosophie ist Reflexion. Der philosophierende Geist denkt niemals nur über ein Objekt nach, sondern immer zugleich über sein eigenes Denken“ (S. 1, dt. S. 7). Der historische Beweis hat zum Gegenüber „die Vergangenheit, eine Summe räumlich und zeitlich bedingter Begebenheiten“ (S. 5, dt. S. 11). Oder anders gesagt: „Taten von Menschen, die in der Vergangenheit vollbracht worden sind“ (S. 9, dt. S. 15). Hier stellt sich nun die Frage: „Wie ist historische Erkenntnis möglich? Wie kommen die Historiker zur Erkenntnis der Vergangenheit?“ (S. 3, dt. S. 9). Die Akzentuierung des Vergangenheitsaspekts bringt es mit sich, daß diese Frage nur von jemandem behandelt werden kann, der doppelt qualifiziert ist: einmal als Historiker, der Erfahrung im historischen Denken hat, dann aber auch als Philosoph, der über diese Erfahrung nachdenkt.

11 „Alles Denken ist kritisches Denken; das Denken, das Gedanken der Vergangenheit nachvollzieht, kritisiert daher diese Gedanken im Nachvollzug“ (S. 216, dt. S. 226). In der Tat, wenn die Ursache die innere Seite des Ereignisses selbst ist, kann man sich nur durch eine mühevolle Interpretationsarbeit die Situation vergegenwärtigen und die Gedanken nach-denken, die eine historische Gestalt bewogen haben, so und nicht anders zu handeln.

12 Die Beziehung zwischen dokumentarischem Beweis („historical evidence“) und Einbildungskraft unterstellt die gesamte historische Forschung der Logik von Frage und Antwort. Diese wird dargelegt in An Autobiography (Oxford 1939, dt. Denken – Eine Autobiographie, Stuttgart 1955, mit einer Einleitung von H.-G. Gadamer). Gadamer würdigt sie aufs wärmste bei seinem eigenen Versuch, diese Logik – nach dem Scheitern Hegels – zum Äquivalent der dialogischen Methode Platons zu machen (Wahrheit und Methode, Tübingen 1973, S. 352). Collingwood ist hierfür ein Vorläufer: „Fragestellung und Beweis stehen in der Geschichte zueinander in Wechselbeziehung. Als Beweis dient alles Material, das dem Forscher die Möglichkeit gibt, Antwort zu finden auf die Frage, die er gerade in diesem Augenblick hat“ (S. 281, dt. S. 293, Übers. modifiziert).

13 Collingwood scheut nicht davor zurück, sich auf Kant zu berufen: „Die Einbildungskraft, jene blinde aber unerläßliche Fähigkeit, ohne die wir, wie Kant gezeigt hat, niemals die Welt um uns wahrnehmen könnten, ist auch für die Geschichte unerläßlich: Sie wirkt nicht als willkürliche Phantasie, sondern in ihrer apriorischen Form und vollbringt so ganz, allein die Leistung der historischen Konstruktion“ (S. 241, dt. S. 253). Nur die historische Einbildungskraft „stellt die Vergangenheit vor“ (S. 242, dt. S. 254, modifiziert). Hier haben wir also die Gegenposition zur Idee einer Augenzeugenschaft, die durch verbürgte Quellen überliefert wird: „In der Geschichte [gibt es] keine Gegebenheiten (no data) im eigentlichen Sinn“ (S. 243, dt. S. 255). Der Idealismus, der der These von der Einbildungskraft a priori innewohnt, kommt in den abschließenden Zeilen des ihr gewidmeten Abschnitts deutlich zum Vorschein: zugrunde liegt hier „die Idee, daß die historische Einbildungskraft eine selbständige Form des Denkens ist, die sich selbst bestimmt und selbst verantwortet“ (S. 249, dt. S. 261). Am Ende muß man dann die Arbeit des Historikers fast mit der des Romanschriftstellers identifizieren: „Sowohl der Roman als auch die historische Darstellung verantworten und rechtfertigen sich selbst; sie sind beide das Ergebnis einer autononem [sic] oder selbsttätigen Aktivität, und bei beiden ist diese Aktivität die apriorische Einbildungskraft“ (S. 246, dt. S. 258).

14 In dieser Hinsicht stellt der Vergleich zwischen reenactment und praktischer Schlußfolgerung, den Rex Martin in Historical Explanation, Reenactment und Practical Inference (Ithaca und London 1977) durchgeführt hat, den erfolgreichsten Versuch dar, Collingwood in die Nähe der Philosophie der Geschichte eines A. Danto, W. Walsh und vor allem eines von Wright zu rücken. Einbildungskraft, praktische Schlußfolgerung und Nachvollzug gehören zusammen.

15 Die Römische Verfassung oder ihre Modifizierung durch Augustus ist, wenn sie einmal nach-gedacht wird, ebensosehr ein ewiges Objekt wie das Dreieck bei Whitehead: „Was dieses Objekt zu einem historischen macht, ist nicht der Umstand, daß es sich innerhalb des zeitlichen Ablaufs ereignet, sondern daß es uns dadurch bekannt wird, daß wir den gleichen Gedanken, der die von uns erforschte historische Situation geschaffen hat, von neuem denken und so zu einem Verständnis dieser Situation kommen“ (S. 218, dt. S. 229).

16 „So ist der Prozeß der Geschichte ein Prozeß, in dem sich der Mensch diese oder jene Art menschlicher Natur schafft, dadurch, daß er in seinem eigenen Denken die Vergangenheit nachvollzieht, deren Erbe er ist“ (S. 226, dt. S. 237). „Der Historiker muß die Vergangenheit in seinem eigenen Geist nachvollziehen“ (S. 282, dt. S. 295). Die Idee des Nachvollzugs hat demnach die Tendenz, die des Zeugnisses zu verdrängen, deren Stärke es ist, die Alterität sowohl des bezeugenden Dokuments als auch die des darin Bezeugten zu wahren.

17 The Idea of History bietet mehrere äquivalente Formulierungen hierfür an: „Der Historiker kann den einzelnen Denkakt in seiner Besonderheit und Einmaligkeit, also so, wie er sich tatsächlich vollzogen hat, nicht erfassen“, wohl aber den „Denkakt selbst, wie er zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Personen fortlebt und wieder auflebt“ (S. 303, S. 317). Dies impliziert, daß man „die Aktivität des Selbst als eine einzelne einheitliche Aktivität [erkennt], die durch die Mannigfaltigkeit ihrer eigenen Akte hindurch bestehen bleibt“ (S. 306, dt. S. 319 f.). Oder, wie auch gesagt wird: „Einerseits muß das Objekt so beschaffen sein, daß es im Geist des Historikers von neuem entstehen kann, andererseits muß der Geist des Historikers so beschaffen sein, daß sich in ihm diese Wiedergeburt vollziehen kann“ (S. 304, dt. S. 318). „Der eigentliche Gegenstand historischer Forschung ist also im Denken selbst zu erblicken: nicht in den Objekten, über die nachgedacht wird, sondern im Akt des Denkens als solchem“ (S. 305, dt. S. 319, modifiziert).

18 Diese Distanzierungsbestrebungen sind bei den französischen Historikern besonders stark ausgeprägt; François Furet verlangt zu Beginn von Penser la Révolution française (dt. 1789 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Frankfurt/M Berlin Wien 1980), daß die intellektuelle Neugier mit dem Geist der Verherrlichung oder der Verabscheuung brechen soll. J. Le Goff spricht sich bereits im Titel Für ein anderes Mittelalter aus. Für Paul Veyne, in L'Inventaire des différences, Paris 1976, haben die Römer „in einer ebenso exotischen und alltäglichen Art und Weise existiert wie etwa die Tibeter oder die Nambicuaras, weder mehr, noch weniger; so daß es umöglich [sic] ist, sie länger als eine Art exemplarisches Volk zu betrachten“ (S. 8, dt. „Ein Inventar der Differenzen“, in P. Veyne, Die Originalität des Unbekannten, Frankfurt/M 1988, S. 7).

19 Dies Modell war stark genug, um selbst noch R. Aron und H. Marrou zu inspirieren: der Erste Teil der Introduction à la philosophie de l'histoire geht von der Selbsterkenntnis zur Fremderkenntnis über und von dieser zur historischen Erkenntnis. Es stimmt allerdings, daß die Beweisführung im einzelnen dazu tendiert, die durch den Plan suggerierte scheinbare Progression außer Kraft zu setzen: da eine Selbstkoinzidenz unmöglich ist (S. 59), ist es in Wahrheit der andere, der das Selbst mit sich selbst vermittelt; die Fremderkenntnis wiederum ist, da sie nie zu einer Verschmelzung der Bewußtseine gelangt, immer auf die Vermittlung von Zeichen angewiesen; schließlich erweist sich so die historische Erkenntnis, die auf den zu Werken geronnenen Bewußtseinen basiert, als ebenso ursprünglich wie die Fremd- und Selbsterkenntnis. Für Aron folgt daraus, daß „das Ideal einer Erweckung zu neuem Leben... der Geschichte nicht so sehr unerreichbar, sondern fremd ist“ (S. 81). Bei Marrou in De la Connaissance historique (dt. Über die historische Erkenntnis, Darmstadt 1973) bleibt das Fremdverstehen deshalb das Grundmodell der historischen Erkenntnis, weil Epistemologie und Ethik in der historischen Erkenntnis eine enge Verbindung eingehen. Das Verstehen des aktuellen anderen und das Verstehen der Menschen der Vergangenheit haben dieselbe – ihrem Wesen nach moralische – Dialektik des Selben und des Anderen gemein: einerseits erkennen wir wesensmäßig nur das, was uns gleicht; andererseits verlangt das Fremdverstehen von uns, daß wir unsere Vorlieben in epochē setzen, damit wir den anderen als anderen verstehen. Das mißtrauische Temperament der positivistischen Historiographie hingegen hindert uns daran, die freundschaftliche Verbundenheit zu erkennen, die zwischen mir und dem aktuellen anderen, zwischen mir und dem anderen von einst besteht (Beginn von Kapitel IV). Diese Verbundenheit ist wichtiger als die Neugier, denn diese hält den anderen auf Distanz.

20 Beide wurden in der analytischen Philosophie oft fast unterschiedslos behandelt, und zwar wegen der Ähnlichkeit der Paradoxe, die sie für eine Philosophie in sich bergen, die die empirische Erkenntnis, also die präsente Beobachtung, zum letzten Kriterium der Verifikation macht. Die Aussagen über den anderen und die Aussagen über die Vergangenheit haben die gemeinsame Eigenschaft, daß sie sich empirisch weder verifizieren noch widerlegen lassen. Und bis zu einem gewissen Grad haben sie beide auch die Eigenschaft gemein, untereinander austauschbar zu sein, sofern es nämlich hauptsächlich Handlungen unseres gleichen sind, nach denen die Geschichte in der Vergangenheit sucht, und sofern umgekehrt das Fremdverstehen, mehr noch als die Selbsterkenntnis, den Abstand zwischen der lebendigen Erfahrung und der Retrospektion vor aussetzt. Aber dies besagt noch lange nicht, daß das Problem beiderseits das selbe ist.

21 Vgl. Paul Veyne, „L'histoire conceptualisante“, in Le Goff und Nora (Hrsg.), Faire de l'histoire, Paris 1974, Bd. I, S. 62-92. Die Webersche Methode der Idealtypen hat diese Denkrichtung vorweggenommen. Doch erst die französische Historiographie hat den Distanzierungseffekt, der mit der historischen Konzeptualisierung einhergeht, eigens betont. Konzeptualisieren heißt, mit den Gesichtspunkten, den Fehlentscheidungen und Illusionen, ja überhaupt mit der eigenen Sprache der Menschen der Vergangenheit zu brechen. Dadurch rückt sie für uns bereits in zeitliche Ferne. Konzeptualisieren heißt, sich den Blick der bloßen Neugier des Ethnologen zu eigen zu machen – wenn nicht gar den des Entomologen...

22 „Die Invariante“, sagt Paul Veyne in L'Inventaire des différences, „besitzt eine innere Komplexität, die es erlaubt, ihre eigenen historischen Modifikationen zu erklären; diese Komplexität erlaubt es sogar, das mögliche eigene Verschwinden der Invariante zu erklären“ (S. 24, dt. S. 17). So ist zum Beispiel der römische Imperialismus eine der beiden großen Varianten der Invariante der Suche nach Sicherheit auf zwischenstaatlicher Ebene; statt sie wie in der griechischen Variante in einem Gleichgewicht der Kräfte zu suchen, sucht sie der römische Imperialimus [sic] in der Eroberung des ganzen menschlichen Horizonts, „bis zu seinen Grenzen, bis zum Meer oder den Barbaren, um endlich, wenn alles erobert ist, alleine auf der Welt zu sein“ (S. 17, dt. S. 13).

23 „Die konzeptuelle Herausarbeitung einer Invariante erlaubt es also, die Ereignisse zu erklären; indem man die Werte der Variablen durchspielt, kann man auf der Basis der Invariante sämtliche historischen Modifikationen ableiten“ (S. 18 f., dt. S. 14). Und stärker noch: „Allein die Invariante individualisiert“ (ebd.).

24 Man muß dann so weit gehen zu sagen, daß „die historischen Tatsachen individualisiert werden können, ohne wieder in ein Raum-Zeit-Gefüge eingeordnet zu werden“ (S. 48, dt. S. 33). Oder auch: „Die Geschichte studiert nicht den Menschen in der Zeit: sie studiert auf Begriffe gebrachtes menschliches Material“ (S. 50, dt. S. 34 f.). Um diesen Preis läßt sich die Geschichte definieren als „Wissenschaft der Differenzen, der Individualitäten“ (S. 52, dt. S. 36).

25 „L'opération historique“, in Faire de l'histoire, a.a.O., Bd. I, S. 3-41.

26 „Die Geschichte als ein Geschäft betrachten, heißt versuchen…, sie als die Beziehung zwischen einem Ort (das Milieu, der Beruf, die Ausbildung des Nachwuchses) und den Verfahren der Analyse (das Fach) zu begreifen“ (S. 4).

27 Wenig überraschen wird diese Argumentation die Leser von Horkheimer und Adorno – den Begründern der Frankfurter Schule –, die gezeigt haben, wie sehr eben dieser Herrschaftswille den Rationalismus der Aufklärung bestimmt hat. Ähnliche Überlegungen findet man auch in den ersten Arbeiten von Habermas, wo die Anmaßung der instrumentellen Vernunft angeprangert wird, sich die historisch-hermeneutischen Wissenschaften unterzuordnen. Gewisse Formulierungen von Michel de Certeau weisen sehr viel mehr in Richtung eines klassischen Marxismus und suggerieren eine meines Erachtens allzu lineare und mechanische Beziehung zwischen der historischen Produktion und der gesellschaftlichen Organisation: „Vom Sammeln der Dokumente bis zur Abfassung des Buchs ist die historische Praxis vollständig von der Struktur der Gesellschaft abhängig“ (S. 13). „Die Historie bleibt durch und durch geprägt von dem System, in dem sie sich entwickelt“ (S. 16). Dagegen ist das, was über die Produktion der Dokumente und die darin implizierte „Neuaufteilung des Raums“ (S. 22) gesagt wird, sehr erhellend.

28 Die Fortsetzung des Textes spricht für sich: „In einer veralteten Sprache, die dem neuen Vorgehen nicht mehr angemessen ist, könnte man sagen, daß sie [die Forschung] nicht mehr von ‚Raritäten‘ (Resten der Vergangenheit) ausgeht, um zu einer Synthese (einem präsenten Verstehen) zu gelangen, sondern daß sie von einer Formalisierung (einem präsenten System) ausgeht, um Platz zu schaffen für ‚Reste‘ (die auf Grenzen und dadurch auf eine ‚Vergangenheit‘ hinweisen, die das Produkt von Arbeit ist)“ (S. 27).

29 Mit dieser Formulierung definierte Ranke das Objektivitätsideal der Geschichte: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen“, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494-1514, in Fürsten und Völker (Wiesbaden 1957, S. 4). Dies berühmte Rankesche Prinzip drückt nicht so sehr die Absicht aus, der Vergangenheit selber habhaft zu werden, ohne interpretierende Vermittlung, als vielmehr den Wunsch des Historikers, sich von seinen persönlichen Vorlieben freizumachen. So schreibt Ranke im Eingang seiner Englischen Geschichte: „Ich wünschte, mein Selbst gleichsam auszulöschen, um die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen zu lassen, die, im Laufe der Jahrhunderte mit- und durcheinander entsprungen und erstarkt, nunmehr gegeneinander aufstanden und in Kampf gerieten“ (Texte zitiert nach Leonard Krieger, Ranke, The meaning of History, Chicago und London 1977, S. 4 f.).

30 Metahistory. The Historical Imagination in XIXth Century Europe, Baltimore und London 1973, S. 31-38. Tropics of Discourse (dt. Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen, Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986) ist der Titel einer Sammlung von Aufsätzen, die zwischen 1966 und 1976 publiziert wurden, Baltimore und London 1978. Ich werde mich vor allem an die Aufsätze halten, die nach Metahistory erschienen sind: „The Historical Text as Literary Artifact“, Clio 3, Nr. 3, 1974, dt. „Der historische Text als literarisches Kunstwerk“, S. 101-122; „Historicism, History and the Figurative Imagination“, History and Theory 14, Nr. 4, 1975, dt. „Historizismus, Geschichte und die figurative Imagination“, S. 123-144; „The Fictions of Factual Representation“, in: Angus Fletcher (Hrsg.), The Literature of Fact, New York 1976, dt. „Die Fiktionen der Darstellung des Faktischen“, S. 145- 160. Der Clioaufsatz ist außerdem abgedruckt in Canary und Kozecki (Hrsg.), The Writing of History, Wisconsin 1978.

31 „Ich werde das Geschichtswerk so betrachten, wie es sich am offenkundigsten darbietet: das heißt als eine sprachliche Struktur in Gestalt eines narrativen Prosadiskurses, der ein Modell, ein Ikon der Strukturen und Prozesse der Vergangenheit sein will (purports to be), mit dem Ziel, das, was sie waren, dadurch zu erklären, daß er sie repräsentiert (representing)“ (Metahistory, S. 2). Weiter unten: „Die historischen Berichte wollen (purport) sprachliche Modelle oder Ikone bestimmter Abschnitte des Geschichtsprozesses sein“ (ebd., S. 30). Ähnliche Ausdrücke findet man in den nach Metahistory erschienenen Aufsätzen: so spricht White vom Ehrgeiz des Historikers, die „Art von Geschichte“ zu konstruieren, „die den bekannten Fakten am besten entsprechen würde (that best fitted)“ (The Writing of History, S. 48, dt. a.a.O., S. 105). Die Geschicklichkeit des Historikers besteht darin, daß er „eine bestimmte Fabelstruktur und eine bestimmte Menge von historischen Ereignissen, der er eine bestimmte Bedeutung verleihen will, einander anpaßt (in matching up)“ (ebd., dt. S. 106, Übers. modifiziert). Diese beiden bildhaften Ausdrücke des amerikanischen Originals (wie ein Kleidungsstück richtig sitzen oder passen) werfen im Zusammenhang mit der Fabelbildung noch einmal das ganze Problem der Repräsentation der Vergangenheit auf.

32 „Dies vorbegriffliche sprachliche Protokoll läßt sich seinerseits – aufgrund seiner wesensmäßig präfigurativen Natur – durch den dominierenden tropologischen Modus charakterisieren, in dem es ausgearbeitet wird“ (ebd., S. 30). Präfigurativ wird es freilich nicht in unserem Sinne der mimēsis I genannt, das heißt als Struktur der menschlichen Praxis, die der Arbeit der Konfiguration durch die historische Erzählung oder die Fiktionserzählung vorausliegt, sondern im Sinne einer sprachlichen Operation, die sich auf der Ebene der noch ununterschiedenen Dokumentenmasse abspielt: „Indem wir die dominierende Diskursart feststellen, stoßen wir zu jener Bewußtseinsstufe vor, auf der eine Erfahrungswelt sich konstituiert, bevor sie analysiert wird“ (ebd., S. 33).

33 Deshalb geht Hayden White entgegen dem in der Linguistik und der strukturalen Anthropologie verbreiteten Binarismus auf die vier Tropen von Ramus und Vico zurück. Der Aufsatz von 1975, „Historicsm [sic], History and the Figurative Imagination“ enthält eine begründete Kritik am Binarismus Jakobsons. Es ist nicht weiter erstaunlich, daß sich in Tropics of Discourse mehrere Aufsätze finden, die direkt oder indirekt der logischen Poetik Vicos gewidmet sind, der sich als der wahre Lehrer von Hayden White erweist, vermittelt durch Kenneth Burke und seine Grammar of Motives: der Ausdruck „master tropes“ stammt von letzterem.

34 So verstehe ich die folgende, zunächst eigenartig klingende Erklärung: „Ironie, Metonymie und Synekdoche sind Arten (kinds) von Metaphern, unterscheiden sich aber voneinander durch die Art von Reduktion oder Integration die sie auf der literalen Ebene ihrer Bedeutungen bewirken, sowie durch die Art von Beleuchtung, die sie auf der figurativen Ebene erzielen wollen. Die Metapher ist ihrem Wesen nach repräsentativ (representational), die Metonymie reduktionistisch, die Synekdoche integrativ und die Ironie negierend (negational)“ (ebd., S. 34).

35 Das Problem wird wiederaufgegriffen in „Fictions of Factual Representation“ (S. 122-144, dt. S. 145-160): die Metapher privilegiert die Ähnlichkeit, die Metonymie die Kontiguität, also die Dispersion in Elemente, die mechanistisch miteinander verknüpft werden (die Charakterisierung der Dispersion als „Reduktion“ geht auf K. Burke zurück); die Synekdoche privilegiert die Beziehung zwischen Teil und Ganzem, also die Integration und damit holistische oder organizistische Interpretationen. Die Ironie oder das Spannungsmoment privilegieren den Widerspruch, die Aporie, indem sie die Inadäquatheit jeder Beschreibung unterstreichen. Zudem wird auch, wie schon in Metahistory, daran erinnert, daß es zwischen einer bestimmten Trope und einer bestimmten Art von Fabelbildung Affinitäten gibt: so zwischen der Metapher und der Romanze, der Metonymie und dem Tragischen usw.

36 Die Einleitung zu Tropics of Discourse: „Tropology, Discourse and Modes of Human Consciousness“ (S. 1-26, dt. S. 7-35) überträgt diesem „tropischen Element in jedem Diskurs, sei er realistischer oder stärker imaginativer Art“, eine ehrgeizigere Funktion als die, die Metahistory ihm zuwies: die Tropologie deckt nunmehr alle Abweichungen ab, die von einer Bedeutung zu einer anderen führen, und darin liegt das „volle Eingeständnis der Möglichkeit, daß die Dinge eventuell auch anders ausgedrückt werden können“. Ihr Gebiet beschränkt sich nicht mehr auf die Präfiguration des historischen Feldes; es umfaßt jede Art von Prä-Interpretation. Überall dort, wo das Verstehen sich bemüht, das Unvertraute oder Fremde vertraut zu machen, auf Wegen, die nicht auf den logischen Beweis reduzierbar sind, hält demnach die Tropologie gegenüber der Logik das Banner der Rhetorik hoch. Ihre Rolle ist so gewaltig und fundamental, daß sie allmählich einer rhetorisch gewendeten Kulturkritik für alle Gebiete gleichkommt, auf denen sich das Bewußtsein in seiner kulturellen Praxis mit seinem Medium auseinandersetzt. Jede neue Codierung ist auf einer grundlegenden Ebene figurativ.

37 „Historicism, History and the Imagination“, Tropics of Discourse, S. 106, dt. S. 130.

38 „Diese Konzeption des historischen Diskurses ermöglicht es uns, die einzelne Geschichte als ein Abbild der Ereignisse, über die die Geschichte erzählt wird, zu sehen, während der Gattungstyp von Geschichte als ein konzeptuelles Modell dient, dem die Ereignisse angeglichen werden müssen (to be likened), um ihre Kodierung als Elemente einer erkennbaren Struktur zu ermöglichen“ (S. 110, dt. S. 135). Die Aufteilung in Rhetorik der Tropen und Logik der Erklärungsweise tritt an die Stelle der zu elementaren Unterscheidung zwischen Faktum (Information) und Interpretation (Erklärung). Deren nachträgliche Verflechtung erlaubt es, auf das Paradox von Lévi-Strauss aus Das wilde Denken zu antworten, wonach die Geschichte sich aufspaltet in eine Mikroebene, auf der sich die Ereignisse in eine ungeordnete Masse von physiochemischen Impulsen auflösen, und eine Makroebene, auf der sich die Geschichte in gewaltigen Kosmologien verliert, die den Aufstieg und Untergang ganzer Kulturen rhythmisieren. Demnach gäbe es also eine rhetorische Lösung für das Paradox, wonach ein Übermaß an Information das Verständnis verunmöglicht und ein Übermaß an Verständnis die Information beeinträchtigt (S. 102, dt. S. 125). Im dem Maße, wie die Arbeit der Figuration die Tatsache der Erklärung anpaßt und umgekehrt, erlaubt sie der Geschichte, sich auf halbem Wege zwischen den beiden von Lévi-Strauss herausgestellten Extremen zu halten.

39 Diese Präfiguration bewirkt, daß unsere Geschichten nicht mehr sind als einfache „metaphorische Behauptungen, die eine Beziehung der Ähnlichkeit behaupten zwischen [vergangenen] Ereignissen und Prozessen und den Typen von Geschichten, die wir konventionellerweise dafür benützen, den Ereignissen unseres Lebens kulturell sanktionierte Bedeutungen zu verleihen“ (S. 88, dt. S. 109).

40 H. White selbst hat diese Gefahr nicht übersehen. Er fordert darum auf, „zu verstehen, was in allen angeblich realistischen Darstellungen der Welt fiktiv ist und was realistisch in allen offenkundig fiktiven Darstellungen ist“ (The Writing of History, S. 52, dt. a.a.O., S. 109). Im selben Sinne schreibt er: „Meines Erachtens erfahren wir die „Fiktionalisierung" der Geschichte als eine „Erklärung" aus demselben Grunde, wie wir große fiktionale Literatur als Erhellung einer Welt, in der wir zusammen mit dem Autor leben, erfahren. In beiden Fällen erkennen wir die Formen, mit denen das Bewußtsein die Welt, in der es sich einrichten will, sowohl konstituiert als auch kolonisiert.“ (S. 61, dt. S. 121). So gesehen ist White nicht weit von dem entfernt, was wir selber mit gekreuzter Referenz von Fiktion und Geschichte meinen. Da er uns aber kaum zeigt, was in jeder Fiktion realistisch ist, wird bloß die fiktive Seite der als realistisch geltenden Darstellung der Welt stark gemacht.

41 „Impliziert ist damit, daß die Historiker ihre Gegenstände als mögliche Gegenstände erzählerischer Darstellung allein schon durch die Sprache, die sie für ihre Beschreibung benützen, konstituieren“ (S. 57, dt. S. 117).

42 H. White gibt dies auch durchaus zu: Roman und Geschichte sind ihm zufolge nicht bloß als sprachliche Kunstwerke ununterscheidbar, sondern beide möchten ein sprachliches Abbild der Wirklichkeit geben; es ist nicht so, daß es im einen Fall auf Kohärenz, im andern auf Korrespondenz ankäme; beide müssen es, auf unterschiedliche Weise, sowohl auf Kohärenz wie auch auf Korrespondenz anlegen: „In diesem doppelten Sinne ist jeder geschriebene Diskurs in seinen Intentionen kognitiv und in seinen Mittel mimetisch“ („The Fictions of Factual Representation“, in Tropics of Discourse, S. 122, dt. S. 146). Oder wie es auch heißt: „Die Geschichtsschreibung [ist] nicht weniger eine Form von Fiktion, als der Roman eine Form historischer Darstellung ist“ (ebd.).

43 Mein auf die Beziehung zur historischen Vergangenheit angewandter Schuldbegriff ähnelt dem, der das ganze Werk von M. de Certeau durchzieht und im Schlußaufsatz von L'Ecriture de l'histoire (Paris 1975, S. 312-358) seinen verdichteten Ausdruck findet. Das Thema scheint begrenzt zu sein: es geht um das Verhältnis Freuds zu seinem eigenen jüdischen Volk, wie es sich in Der Mann Moses und die monotheistische Religion darbietet. Doch an dieser Problematik läßt sich das ganze Schicksal der Geschichtsschreibung ablesen, sofern es Freud in dieser letzten Arbeit ins fremde Land der Historiker verschlagen hat, das so zu seinem „Ägypten“ wird. Indem er so zum „ägyptischen Moses“ wird, wiederholt Freud in seinem historischen „Roman“ das doppelte Verhältnis von Ablehnung und Zugehörigkeit, von Weggang und Schuld, das künftighin den jüdischen Menschen charakterisiert. Wenn de Certeau den Hauptakzent auf den Verlust des heimatlichen Bodens und das Exil im fremden Land legt, so ist es doch die sich aus der Schuld ergebende Verpflichtung, die diesen Verlust und dieses Exil dialektisiert, sie in Trauerarbeit verwandelt und so – in der Unmöglichkeit einer eigenen Stätte – zum Anfang der Schrift und des Buches wird. „Schuld und Auszug“ (S. 328) werden so zum „Nicht-stattfinden eines Todes, der verpflichtet“ (S. 329). Indem er so die Schuld an den Verlust knüpft, legt de Certeau den Akzent stärker als ich auf die „Tradition eines Todes“ (S. 331), versäumt es aber meines Erachtens, auch den positiven Charakter des gewesenen Lebens hinlänglich zu betonen, kraft dessen das Leben zugleich das Erbe lebendiger Möglichkeiten ist. Indes treffe ich mich wieder mit M. de Certeau, wenn ich die Alterität in die Schuld miteinschließe: denn gewiß ist der Verlust eine Figur der Alterität. Daß die Geschichtsschreibung mehr tut als bloß über den Tod hinwegzutäuschen, darauf deutet schon der Vergleich hin, der die Restitution der Schuld in die Nähe der psychoanalytisch verstandenen Wiederkehr des Verdrängten rückt. Man kann gar nicht genug betonen, daß die Toten, um die die Geschichte trauert, einmal Lebende waren. Wir werden anläßlich einer Reflexion über die Tradition zeigen, wie die auf die Zukunft gerichtete Erwartung und die Aufhebung alles Historischen durch die unzeitgemäße Gegenwart die Schuld dialektisch verwandeln, genau so wie die Schuld den Verlust dialektisch verwandelt.

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Paul Ricœur: Die Wirklichkeit der historischen Vergangenheit, 1985

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