Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

TEI DownloadPermalink: http://gams.uni-graz.at/o:reko.moth.1944

Die Welt des modernen Malers, 1944

Robert Motherwell

Quelle

Robert Motherwell: "Die Welt des modernen Malers", in: Jürgen Harten (Hrsg.): Siqueiros/Pollock, Pollock/Siqueiros. Bd. II: Essays, Dokumentation. Kunsthalle Düsseldorf, 30. September – 3. Dezember 1995. Düsseldorf: DuMont 1995, S. 158-163.

Erstausgabe

"The Modern Painter’s World", in: DYN. The Review of Modern Art 6 (September 1944), S. 9-14.

Genre

Essay

Medium

Malerei

[158] […] Ich bitte um Nachsicht für mein Thema, die Beziehung des Malers zu einer Welt der Mittelklasse. Dies ist ja nicht unbedingt der interessanteste Ansatz für einen Zugang zu unserer Kunst. Interessanter sind da schon die technischen Probleme bei der Entwicklung einer künstlerischen Struktur, und grundlegender ist das individuelle Problem, also die Fähigkeit des Künstlers, die Schocks der Wirklichkeit aufzunehmen, mögen sie nun aus der Innen- oder Außenwelt kommen, und angesichts solcher Erschütterungen wieder zu sich selbst zu finden, so wie ein Hund das Wasser abschüttelt, wenn er aus dem See kommt. Das 20. Jahrhundert ist eine Zeit heftiger Krisen in der Außenwelt; doch künstlerisch gesehen ist es vor allem ein klassisches Zeitalter. In solchen Epochen spielt Architektur die führende Rolle, nicht Malerei, nicht Dichtung oder Musik. Unter den großen künstlerischen Schöpfungen des 20. Jahrhunderts wird nur die Architektur von jedermann ganz selbstverständlich akzeptiert. Die surrealistische und die „ungegenständliche“ Malerei, womit ich mich in diesem Vortrag beschäftigen werde, repräsentieren den männlichen beziehungsweise den weiblichen Pol dessen, was angesichts von Postimpressionisten, Fauvisten und Kubisten sowie deren geistigen Erben als klassisches Zeitalter gelten kann.

Große Kunst ist niemals extrem . . .

Wenn Kritik sich als Sozialwissenschaft versucht, schlägt sie eine falsche Richtung ein. Das gilt auch für die Kunst. Das Individuelle spielt eine zu große Rolle. Wenn dem nicht so wäre, hätten wir alle Grund zu verzweifeln. Die modernen Staatsformen, die wir bisher erlebt haben, waren allesamt Feinde des Künstlers; mit den Staaten, die noch kommen, wird es sich vielleicht ebenso verhalten.

Nichtsdestoweniger ist der gesellschaftliche Bezugsrahmen tatsächlich vorhanden, und vielleicht erweist sich die nun folgende kleine Abhandlung über die Reaktion des zeitgenössischen Malers auf eine besitzverliebte Welt als nützlich. Doch zunächst muß ich auf die strenge Begrenzung meines Themas hinweisen und auf die starke Vereinfachung, mit der ich es darstelle.

Die Aufgabe des Künstlers besteht darin, die Wirklichkeit so auszudrük[159]ken, wie er sie erfühlt. Und dabei müssen wir bedenken, daß Gefühle durch Gedanken beeinflußt werden. Der Antintellektualismus englischer und amerikanischer Künstler hat sie zu dem Fehler verleitet, die Verbindung zwischen dem Gefühl, das in modernen Formen zum Ausdruck kommt, und dem modernen Denken zu ignorieren. „Gefühl“ meint hier die Reaktion von Körper und Geist als Ganzem auf die Vorgänge in der Realität. In der künstlerischen Erfahrung empfindet der ganze Mensch, so, wie wir mit Plato sagen: „Der Mensch verspürt einen Schmerz im Finger“ (Der Staat, 462 D), und nicht „Der Finger hat Schmerzen“. Ich habe dieses Beispiel bei Bosanquet gefunden. Dieser fährt fort: „Wenn Körper und Geist als Ganzes irgendeine Erfahrung machen, so ist das das Hauptmerkmal dessen . . ., was wir Gefühl nennen. Stellen Sie sich vor, wie der Mensch singt oder liebt oder kämpft. Wenn wir ihn als Ganzheit wahrnehmen, so glaube ich, es geschieht durch das Gefühl . . .“ (Three Lectures on Aesthetic).

Die Rolle des modernen Künstlers ist per definitionem, die moderne Wirklichkeit so auszudrücken, wie er sie fühlt. Die Definition impliziert, daß die Wirklichkeit sich in gewissem Maße ändert. Dieser Vorstellung liegt die Erkenntnis zugrunde, daß die Geschichte „real“ ist, oder, um es andersherum auszudrücken, daß die Realität einen geschichtlichen Charakter hat. Vielleicht war Hegel der erste, der das in vollem Umfang erkannt hat. Bei Marx ist diese Erkenntnis mit dem Gefühl für die Materialität der Wirklichkeit gekoppelt . . .

Weil die Realität geschichtlichen Charakter hat, haben wir ein Bedürfnis nach neuer Kunst. Die Vergangenheit hat uns große Kunstwerke beschert. Wären sie rundum befriedigend, so brauchten wir keine neuen. Von dieser vergangenen Kunst akzeptieren wir das, was als ewiger Wert bleibt, so wenn wir die spezifischen religiösen Inhalte ägyptischer oder christlicher Kunst ablehnen und dennoch dankbar ihre Form akzeptieren. Andere Werte dieser vergangenen Kunst interessieren uns nicht. In dieser Aussage liegt bereits die Erkenntnis, daß Kunstwerke ihrer Natur nach pluralistisch sind: Sie enthalten mehr als eine Klasse von Werten. Was wir an der vergangenen Kunst akzeptieren, sind ihre ewigen Werte. Mit ewigen Werten sind jene gemeint, die für die menschliche Realität in jeder Zeit, in jedem Raum relevant sind, also zum Beispiel die ästhetische Form oder die Begegnung mit dem Tod.

Nicht alle Werte sind ewig. Manche Werte sind historisch, oder sagen wir gesellschaftlich, so beispielsweise wenn Künstler heute die persönliche Freiheit besonders hoch bewerten, weil der festumrissene Charakter des modernen Staates ihnen keine wirklichen Freiheiten bietet. Was wir in der Kunst der Vergangenheit nicht finden können, sind die Werte unserer eigenen Epoche. Und darin wurzelt unser Verlangen nach neuer Kunst. In unserem Fall nach moderner Kunst . . .

Der Ausdruck „modern“ bezieht sich mehr oder weniger auf die letzten hundert Jahre. Vielleicht kann man Eugène Delacroix als ersten modernen Künstler bezeichnen. Doch bei der Bezeichnung „moderne Kunst“ geht es, wie auch bei dem Ausdruck „mittelalterlichen Kunst“, um mehr als eine bloß zeitliche Festlegung. Mittelalterliche Kunst wird üblicherweie [sic] mit Religiosität assoziiert. Zur populären Vorstellung von moderner Kunst gehört deren Distanziertheit von den Symbolen und Werten der meisten Menschen. In der Moderne vollzieht sich ein so tiefer und umfassender Bruch zwischen Künstlern und anderen Menschen, wie es ihn in der Geschichte noch nicht gegeben hat. Beide Seiten werden von diesem Bruch verletzt. Manchmal kommt sogar Haß auf, obwohl wir doch alle nach Liebe dürsten.

Die Distanziertheit der modernen Kunst ist nicht nur eine Angelegenheit ihrer Sprache, also der zunehmenden „Abstraktheit“ moderner Kunst. Wohl wahr, Abstraktheit ist das Ergebnis einer langen, spezifischen inneren Entwicklung der künstlerischen Struktur der Moderne. Doch die Krise wurzelt in der fast vollständigen Ablehnung der bürgerlichen Werte durch den modernen Künstler. In dieser Welt bilden moderne Künstler eine Art spirituellen Untergrund . . .

Moderne Kunst hat mit dem Problem der Freiheit zu tun, über die das moderne Individuum verfügt. Aus diesem Grund tendiert die Geschichte der modernen Kunst gelegentlich dazu, eine Geschichte der modernen Freiheit zu werden. Und genau hier gibt es eine natürliche Verbindung zwischen dem Künstler und der Arbeiterklasse. Die modernen Künstler verfügen allerdings nicht über eine gesellschaftliche, sondern über eine individuelle Erfahrung von Freiheit; und darin liegt der Ursprung des unlösbaren Konflikts zwischen den Surrealisten und den politischen Parteien der Arbeiterklasse.

Gesellschaftlich basiert die moderne Welt, die jede Erfahrung prägt, auf dem spirituellen Zusammenbruch, der dem Kollaps der Religion folgte. Dieser Zustand hat zur Isolierung des Künstlers von der übrigen Gesellschaft geführt. Die Sozialgeschichte des modernen Künstlers ist die eines spirituellen Wesens in einer auf Besitz versessenen Welt.

An die Stelle der Religion ist keine andere Gesamtschau der Realität getreten. Wissenschaft ist keine Sichtweise, sondern eine Methode. Und so kommt es, daß der moderne Künstler allmählich zum letzten aktiven spirituellen Wesen in der weiten Welt wird. Freilich hat jeder Künstler seine eigene Religion. Freilich exkommunizieren sich Künstler permanent gegenseitig. [160] Freilich sind Künstler nicht immer rein, sondern zuweilen mit der Sorge um ihr öffentliches Ansehen oder ihre materielle Situation beschäftigt. Und doch sind es die Künstler, die das Geistige in der modernen Welt bewahren.

Die Schwäche der Sozialisten rührt von der Trägheit der Arbeiterklasse her. Die Schwäche der Künstler erklärt sich aus ihrer Isolation. So schwach sie aber auch sind, leisten doch genau diese Gruppen Widerstand. Das Ziel der Sozialisten ist es, die Arbeiterklasse von der Herrschaft des Eigentums zu befreien, so daß das Geistige zum Besitz aller werden kann. Die Rolle des Künstlers besteht darin, das Geistige greifbar zu machen, damit es besessen werden kann. Darin liegt, wenn überhaupt, die Unterweisungsfunktion der Kunst.

Im spirituellen Untergrund wird der moderne Künstler leicht auf ein einziges Thema, auf sein Ego reduziert . . . An dieser Situation können wir ablesen, wo Erfolge und Mißerfolge der modernen Kunst zu erwarten sind. Wenn der Freiheitsbegriff des Künstlers, je nach den Verhältnissen und seinem Temperament, sehr individualistisch ausgeprägt ist, wird sein Egoismus eine romantische Form annehmen. Daher auch die spontane Vorliebe der Surrealisten für die Romantik, für verwirrte und unbedeutende Künstler: Individualismus setzt der Größe Grenzen. Wenn der Künstler aber statt dessen die Beschränktheit eines solchen Subjektivismus ablehnt, versucht er sein Ego zu objektivieren. In der modernen Welt findet die Objektivierung des Ich über die Form statt. Das ist die Tendenz dessen, was wir nicht ganz zutreffend als abstrakte Kunst bezeichnen. Sowohl Romantizismus als auch Formalismus sind Antworten auf die moderne Welt, eine Ablehnung oder doch zumindest eine Reduzierung moderner gesellschaftlicher Werte. Daher der relative Mißerfolg von Picassos öffentlichem Wandgemälde Das Bombardement von Guernica im Pavillon der Spanischen Republik bei der Pariser Ausstellung. Daher auch Picassos große Erfolge, zumal bei seinem enormen persönlichen Talent, mit den formalen und emotionalen Erfindungen im Kubismus, dem Papier collé und sogar vielen der Vorzeichnungen zu Guernica; denn hier geht es um Picassos eigenes Genie. Bei dem öffentlichen Wandgemälde hingegen geht es um seine Solidarität mit anderen Menschen. Die Dekadenz der Mittelklasse, die Gleichgültigkeit der Arbeiterklasse und seine eigene Spiritualität in einer vom Eigentum beherrschten Welt trennen Picasso von den großen gesellschaftlichen Klassen. Guernica ist daher eine Tour de force. Es verrät das Unbehagen, das Picasso als Individuum bei öffentlichen Ereignissen empfindet, und erinnert darin an Goyas Los Desastros [sic] de la Guerra. Das kleinere Format der Radierung, ja selbst der Staffeleimalerei ist besser geeignet. Das zeigt sich in der viel erschreckenderen Wirkung von Picassos Mädchen mit Hahn. Das Wandgemälde muß aufgrund seiner Größe und seines öffentlichen Charakters für eine ganze Gesellschaft oder doch zumindest für eine ganze Klasse sprechen. Guernica vollführt einen heiklen Balanceakt zwischen heutzutage verfallenden gesellschaftlichen Werten, das heißt moralischem Unbehagen am Charakter des modernen Lebens einerseits – Mondrian nannte es das Tragische, im Gegensatz zum Ewigen – und dem Formalen, der Ästhetik des Papier collé andererseits.

Wir bewundern Picassos Schöpfung Guernica. Wir sind von ihrer Intention bewegt. Doch wie genau spiegelt die Kunst – wenn auch intuitiv – die Widersprüche des Lebens! Hier haben wir einen Widerspruch. Solange der Künstler nicht wirklich zu einer der großen historischen Klassen der Menschheit gehört, solange wird er keinen gesellschaftlichen Ausdruck in seiner ganzen öffentlichen Tragweite realisieren können. Das heißt, einen wohlwollenden, nicht einen auf Widerstand zielenden Ausdruck. Seine größte Stärke hat der Künstler in der Affirmation. Die Isolation macht den Künstler zum geistigen Krüppel und verleiht ihm zuweilen, zum Beispiel zur Zeit, eine gewisse Ähnlichkeit mit Dostojewskijs Idiot.

Von einem bestimmten Standpunkt aus kann man Picassos Geschichte als die Geschichte eines Versuchs auffassen, sich nicht auf das rein Ästhetische zu beschränken, seine Kunst nicht zur Gänze ihres gesellschaftlichen Inhalts zu berauben und lediglich unter dem ewigen Aspekt der Schönheit zu betrachten. Einer solchen Verarmung hätte er sich nicht preisgegeben. Es ist ein Irrglaube der Ästheten, daß es dem Künstler hauptsächlich um Schönheit gehe, ebensowenig wie es dem Philosophen hauptsächlich um Wahrheit geht. Beides sind technische Probleme, die der Künstler und der Philosoph zu lösen haben, aber sie sind nicht das eigentliche Ziel. Dem Künstler geht es vor allem darum, den Charakter der Realität, so wie er sie wahrnimmt, zum Ausdruck zu bringen. Picasso erzwingt daher die Beibehaltung gesellschaftlicher Werte um jeden Preis, so wie Masson – gleich Delacroix – mit einer gewissen Verzweiflung darum bemüht ist, die moderne Malerei aus den Belanglosigkeiten des modernen Lebens herauszulösen und auf die Ebene unserer großen humanistischen Vergangenheit zu heben. Aber da Picasso die Werte einer Mittelklassewelt nicht mehr als jeder andere Künstler akzeptieren kann, muß er sie, um sie zu erhalten, wie Joyce mit beißendem Spott behandeln. Hier irgendwo muß der Grund für Picassos beispiellose Parodie auf die Kunstgeschichte liegt.

Der späte Piet Mondrian hingegen akzeptierte jene Verarmung seiner [161] Kunst, die mit der Ablehnung gesellschaftlicher Werte einhergeht. Vielleicht war es bei ihm weniger Opposition gegen das gewöhnliche Leben als vielmehr eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber seiner Dramatik. Statt dessen ging es ihm um das Ewige, das „Universelle“, wie er sagte; er hatte einen Hang zu orientalischen Heiligen, beispielsweise zu Mallarmé. Das Hauptmerkmal des Ewigen in der Kunst ist das Ästhetische, und vielleicht liegt es daran, daß Mondrians Werk zusammen mit einigen Aspekten des Automatismus den ersten technischen Fortschritt in der Malerei des 20. Jahrhunderts seit unserer größten Erfindung, dem Papier collé, darstellt. Mondrian hat ganz einfach akzeptiert, daß außer Kraft gesetzte gesellschaftliche Werte keinen sozial relevanten Inhalt mehr liefern können.

Die Geschichte hat ihre eigene Ironie. Denn ausgerechnet Mondrian, der mit dem „Ewigen“ gearbeitet hat, veraltet jetzt am schnellsten. Wer die Möglichkeit des Individuums, Gesellschaftliches zu transzendieren, unterschätzt, leugnet die Chancen, die Kunst heute hat.

Die zur Zeit herrschende Klasse errang ihre Freiheit von der Aristokratie durch die Anhäufung von Privateigentum. Eigentum ist die historische Grundlage unserer gegenwärtigen Freiheit. Die Gefahr liegt in der Vorstellung, wir verfügten nur über unsere private Habe. Eigentum ist verantwortlich für die Unfreiheit der meisten Menschen. „Wenn diese Mehrheit wiederum ihre Freiheit dadurch sichert, daß sie die Bourgeoisie enteignet, ist die Bedingung ihrer Freiheit die Unfreiheit der Bourgeoisie. Doch während die Bourgeoisie, wie alle herrschenden Klassen, eine unfreie, ausgebeutete Klasse braucht, um zu existieren, ist es für das Proletariat nicht nötig, die Bourgeoisie zu erhalten, um die eigene Freiheit zu sichern“ (Caldwell, Reality and Illusion). Es besteht also Hoffnung auf ein Ende des Konflikts, der die Klassengesellschaft prägt.

Das Problem des Künstlers ist die Entscheidung, womit er sich identifizieren soll. Die Mittelklasse verfällt, und die Arbeiterklasse existiert nicht als bewußte Gruppierung. Daher der Hang der modernen Maler, füreinander zu malen . . .

Die Mehrzahl der modernen Künstler stammt aus der Mittelklasse. Dieser Klasse steht die moderne Kunst, direkt oder indirekt, feindselig gegenüber. Noch vor den Sozialisten erkannten die Künstler in der Mittelklasse ihren Gegner. Doch da der Künstler meist selbst aus der Mittelklasse stammt und deren Leben führt – ganz gewiß kein proletarisches –, attackiert er sich gewissermaßen selbst. Er untergräbt sein eigenes Fundament. Das führt ihn zwangsläufig von der Realität zu den abstrakten ewigen Gütern. Und hier beginnt der Aufstieg der abstrakten Kunst. Alle Kunst ist ihrem Wesen nach abstrakt. Doch es ist eine Eigenheit moderner Zeiten, daß nach dem abstrahierenden Zugriff so wenig übrigbleibt.

Die Feindseligkeit zwischen Künstler und Mittelklasse ist gegenseitig. Mehr als alle anderen hat unsere Zeit ihre größten Schöpfungen verabscheut, selbst wenn sie von so konventionellen Figuren wie Cézanne stammten. Angesichts dieser Feindseligkeit gab es drei mögliche Haltungen, deren der Künstler sich nicht immer bewußt war: die Mittelklasse zu ignorieren und sich auf die Suche nach dem Ewigen zu begeben, wie es Delacroix, Seurat, Cézanne, die Kubisten und ihre Nachfolger getan haben; die Mittelklasse mitzutragen, indem man sich aufs Dekorative beschränkte wie Ingres, Corot, die Impressionisten allgemein und die Fauvisten; oder gegen die Mittelschicht zu opponieren wie Courbet, Daumier, Pissarro, van Gogh und die Dadaisten. Diese letzte Gruppe neigt dazu, sich im Kampf aufzureiben. Manche Künstler, wie beispielsweise Picasso, hatten alle drei Beziehungen zur Mittelklasse.

Tatsächlich wurden fast alle modernen Maler von der Mittelklasse abgelehnt, bis ihre Werke einen Eigentumswert bekamen. Henri Matisse mußte einer Karriere als Salonmaler widerstehen, Manet und Degas kämpften den Kampf der Impressionisten, Rouault bleibt in einer neueren Monographie moderner katholischer Malerei unerwähnt. Die sentimentale und akademische Malerei, die die Mittelklasse wirklich liebt, verschwindet mit ihren Mäzenen.

Die rechtsorientierten Surrealisten und „Neoromantiker“ waren die ersten modernen Maler, die die Mittelklasse von Anfang an akzeptierte.

Die Surrealisten verfolgten das achtbare Ziel, das Spirituelle jedermann nahezubringen. Doch in einer so demoralisierten Zeit wie der unseren konnte das nur zur Demoralisierung der Kunst führen. Im besten Gemälde kommuniziert der Maler mit sich selbst. Malerei ist das Medium seines Denkens. An dieser Zwiesprache können andere in dem Maße teilhaben, in dem sie spirituell sind. Doch wenn der Maler mit allen, in ihren eigenen Worten, kommunizieren will, bedeutet das für ihn, ihren Charakter anzunehmen anstelle seines eigenen.

Malerei ist ein Medium, in dem der Geist sich selbst verwirklichen kann; sie ist ein Medium des Denkens. Daher neigt die Malerei, gleich der Musik, dazu, zu ihrem eigenen Inhalt zu werden.

Das Medium der Malerei sind Farbe und Raum; Zeichnung ist eigentlich eine Raumaufteilung. Malerei ist demnach der Geist, der sich selbst in Farbe und Raum verwirklicht. Vor allem in einer brutalen und kontrollierten Zeit finden die größten Abenteuer im Geist statt.

[162] Malerei ist – neben anderen Realitäten – eine gefühlte und geformte Realität.

Das Gemälde erhält seine Form durch ein Geflecht aus Entscheidungen, die unter den verschiedenen Möglichkeiten getroffen wurden.

Der Inhalt der Malerei ist unsere Antwort auf die aus ihrer Form erschließbare Qualität. Dieser Inhalt ist der fühlende „Körper-und-Geist“. „Körper-und-Geist“ ist seinerseits ein Ereignis in der Realität, das Zusammenspiel zwischen einem empfindsamen Wesen und der äußeren Welt. „Körper-und-Geist“, die Wechselwirkung zwischen animalischem Selbst und äußerer Welt, ist selbst Realität. Wenn der „Geist“ sich selbst in einem seiner Medien realisiert, bringt er deshalb die Natur der Wirklichkeit als etwas Erfühltes zum Ausdruck.

In wohlwollenden Zeiten beteiligt sich die Außenwelt in ihren gesellschaftlichen Aspekten weitgehend an diesem Wechselspiel. In anderen Perioden, wie der unseren, leistet die äußere Welt einen kleineren Beitrag, und die Möglichkeiten des Geistes sind naturgemäß geringer. Wenn die rechtsorientierten Surrealisten uns auffordern, mit den Mitgliedern der Gesellschaft in Austausch zu treten, obwohl diese dem spirituellen Denken kein Objekt der Begierde sind, setzen sie damit die Errungenschaften der modernen Kunst aufs Spiel.

Spinoza erinnert uns daran, daß das Wichtigste für den Menschen der Mensch sei. So erklärt sich die Dürftigkeit der Erfahrung beim modernen Maler. Wir sehnen uns danach, einander zu umarmen, aber unsere Beziehungen sind leer. Erst nach der Französischen Revolution und dem Triumph der Bourgeoisie verschwindet die menschliche Figur aus der Malerei, und der Aufstieg der Landschaft beginnt. Doch mit Cézanne findet auch er sein Ende, und auf dem Weg von Cézanne zu den Kubisten verlagert sich der Schwerpunkt: Das Thema wird „neutral“. Gewisse Maler wollen jetzt als nichtfigurativ bezeichnet werden . . .

Bevor die Macht der Mittelklasse in der Welt zunahm, erschienen als Übergangsfiguren Goethe, Beethoven und Goya. Als erste distanzierten sie sich von jedweder Klasse und identifizierten sich mit der Menschheit, mit allen Menschen. Sie gelangten zu einer Größe, einer Fruchtbarkeit und Vitalität, wie sie danach nicht mehr erreicht wurden. Nur in den unindustrialisierten spanischsprachigen Ländern des Abendlandes hat dieser Humanismus sich in einer freilich weitaus populäreren Form erhalten. Zu einer Zeit, in der die größten Maler das Unmenschliche, das allzu Abstrakte streifen, sind die Spanier Picasso und Miró besonders beliebt, so wie uns ja auch im politischen Bereich der Spanische Bürgerkrieg und die mexikanischen Aufstände bewegen. Doch dieser „humanismo popular“ ist keine wirkliche Lösung für die Widersprüche, von denen die Industriegesellschaft gespalten wird. Unsere Reaktion darauf ist vielmehr eine instinktive Antwort auf den Humanismus der unindustrialisierten Vergangenheit.

Nun, da es nur noch flüchtige menschliche Beziehungen gibt, sind die Anforderungen an das jeweils eigene Ich im Verlangen nach inhaltlicher Erfahrung gestiegen. Wir sagen, das Individuum zieht sich in sich selbst zurück. Statt dessen wäre es notwendig, das Innere nach außen zu kehren. Wenn die äußere Welt nicht genügend Erfahrungsmöglichkeiten bietet, dann muß das Ego selbst Abhilfe schaffen. Auf zwei Arten kann das Ich sich aus sich selbst speisen: Es kann Thema seines eigenen Ausdrucks sein – dann wäre die Persönlichkeit des Malers die Hauptbedeutung; oder das Ego kann sich selbst auf dem Wege der Formalisierung in Bezug zur Gesellschaft setzen – das heißt reif werden, sich objektivieren.

In der Freudschen Terminologie ist das Ich eine Synthese aus „Über-Ich“ und „Es“. Das Über-Ich repräsentiert die Außenwelt: Vater, Familie, kurz die Autorität. Das Es repräsentiert die Innenwelt: unsere grundlegenden animalischen Triebe. Wenn sich das Ich gegen die Autorität der Außenwelt auflehnt, aber zugleich einen ewigen Aspekt dieser Welt, nämlich das Ästhetische, aufrechterhält, macht das Über-Ich den Einfluß der Gesellschaft geltend. Im vorliegenden Fall sind diese Werte auf den Wert der Form reduziert. Gleich dem Einfluß der Gesellschaft im gewöhnlichen Über-Ich kommt die Form von außen, aus der Welt. In diesem Sinne stellt die Formalisierung eine Sozialisierung des Ichs dar. Wenn die Werte der Mittelklassegesellschaft als einer historischen Erscheinung abgelehnt werden, bleibt Ästhetik, bleiben andere ewige Werte wie Glück, Liebe und Logik.

Es liegt in der Natur einer solchen Kunst, das Ewige, das „Reine“, das „Objektive“ am höchsten zu bewerten. So sprach Mondrian denn auch vom „Universellen“. Daher rühren auch der Begriff der „reinen Form“ bei den ungegenständlichen Malern und Valérys Idee vom „reinen Selbst“, desgleichen die Vorliebe des modernen Bildhauers für die Reinheit des Materials und Arps heftige Angriffe auf den Egoismus des romantischen Malers sowie die allgemeine Bewunderung abstrakter Maler um einer Kunst ohne Selbst willen . . . Das Verlangen nach dem Universellen ist das Verlangen nach einer seiner Formen, dem Ästhetischen. Das Verlangen nach Reinheit ist die Ablehnung der gerade gültigen gesellschaftlichen Werte in bezug auf Ästhetik. Das Verlangen nach Objektivität gilt der Sozialisierung des Ichs durch das Ästhetische. Lissitzkys weißes Quadrat auf weißem Grund [sic!] verkörpert die Logik der ästhetischen Haltung in ihrer unerbittlichsten Form.

[163] Die Kraft dieser Haltung ist nicht zu unterschätzen. Aus ihr sind einige der größten Schöpfungen moderner Kunst hervorgegangen. Doch die grundlegende Kritik an der rein formalistischen Position bezieht sich darauf, wie sehr sie das individuelle Ego reduziert, wieviel es dabei verleugnen muß. Kein Wunder, daß die Formalisten so viel Wert auf Perfektion legen. Ein solch begrenztes Material macht Perfektion möglich, und zugleich muß mit der Perfektion so viel anderes ersetzt werden.

Die Position der Surrealisten ist hingegen weitaus widersprüchlicher. Sie waren die radikalsten, romantischsten Verfechter des Individuums. Und doch enthält ein Teil ihres Programms dessen Zerstörung. Reduzieren die Abstraktionisten den Inhalt des Über-Ichs auf das Ästhetische, so hat für die Surrealisten nicht einmal das Bestand. Es dient lediglich als Waffe gegen die Mittelklasse. Jedwede Autorität von außen wird abgelehnt. Das ist der dadaistische Anteil im Surrealismus. Nachdem das Über-Ich keine Inhalte mehr liefert, zieht es die Surrealisten zu den animalischen Trieben des Es. Daher auch die Bewunderung der Surrealisten für Menschen, die das gesellschaftliche Über-Ich zertrümmert haben, für Lautréamont und den Marquis de Sade, für Kinder und Geisteskranke. Das ist der sadistische Zug. Und aus dieser Richtung kommt auch die Vorliebe des Surrealismus für Sexuelles. Doch für kultivierte Menschen ist es schlicht unmöglich, auf der Ebene tierischer Triebe zu leben. Daher handelt es sich auch um eine Pseudolösung für das Problem, das sich aus der Dekadenz der Mittelklasse ergibt.

Eine andere wichtige Tendenz des Surrealismus besteht darin, das bewußte Ich überhaupt abzulehnen, Gesellschaftlichem und Biologischem, dem Über-Ich und dem Es ihre Funktion abzusprechen. Man zieht sich ins Unbewußte zurück. Das Paradoxe daran ist, daß der Rückzug ins Unbewußte gewissermaßen dem Wunsch entspricht, ein „reines Ich“ zu erhalten. Alles in der bewußten Welt gilt als Gift, so wie in dem keltischen Märchen, wo der Held auf der Suche nach der wunderbaren Prinzessin es niemals zulassen darf, daß ihn etwas berührt, sei es ein Blatt, ein Insekt oder sonst etwas aus der Außenwelt, während er auf seinem Zauberpferd durch die Wälder fliegt. Sobald irgend etwas aus der Welt ihn berührte, würde seine Suche ein schreckliches Ende nehmen. Selbst als der Held das Schloß der Prinzessin erreicht, muß er von seinem fliegenden Pferd durch ein Fenster springen, ohne den Fensterrahmen zu berühren. Schließlich findet er die Prinzessin, und nachdem er sieben Tage und Nächte mit ihr verbracht hat, in denen sie niemals die Augen öffnete, gebiert sie einen jungen Gott. Die surrealistische Vorstellung von der Reise ins Unbewußte hat etwas von einer solchen Heldentat. Der Automatismus ist jener dunkle Wald, durch den der Weg führt. Die fundamentale Kritik am Automatismus bezieht sich darauf, daß das Unbewußte sich nicht steuern läßt, daß es keine jener Möglichkeiten bietet, die irgendeine Ausdrucksform gewährleisten. Sich selbst vollkommen dem Unbewußten auszuliefern bedeutet, sich zum Sklaven zu machen. Doch an dieser Stelle muß zugleich darauf verwiesen werden, daß – vielleicht im Gegensatz zum verbalen Automatismus – der bildnerische Automatismus, wie ihn die modernen Meister Masson, Miró und Picasso beispielsweise praktizieren, tatsächlich sehr wenig mit dem Unbewußten zu tun hat. Vielmehr handelt es sich dabei um eine gestalterische Waffe, mit der sich neue Formen finden ließen. Insofern ist der Automatismus eine der größten formalen Erfindungen des 20. Jahrhunderts . . . Dennoch widerspricht der Hang zum Unbewußten in gewissem Maße dem Hang zum Es. Daher der teils bewußte, teils unwillkürliche sexuelle Gehalt in vielen surrealistischen Bildern.

Selbstauslöschung ist natürlich nicht erstrebenswert. Wir sind weder rein biologische Organismen noch Automaten. So erklärt sich die dritte Tendenz der Surrealisten, die den ersten beiden widerspricht: die Zerstörung der Mittelklasse als Feind des freien Ichs. Hier ist die Nahtstelle zwischen Surrealismus und linker Politik. Doch die Surrealisten wurden durch die Trägheit der Arbeiterklasse blockiert.

Aufgrund ihrer inneren Widersprüche und ihrer Unpraktizierbarkeit in der Umwelt war die surrealistische Position immer einer gewissen Unbeständigkeit ausgesetzt. Nicht ihr Programm ist das Interessanteste an den surrealistischen Künstlern. Die Stärke von Duchamp und Ernst waren ihre dadaistische Respektlosigkeit gegenüber dem traditionellen Umgang mit dem Medium der Malerei und die dazugehörigen technischen Neuerungen. Die Stärke von Arp, Masson, Miró und Picasso liegt in der großen Menschlichkeit ihres Formalismus. Dalí hingegen wurde schon vor langer Zeit zum Reaktionär: Auch die Kunst hat ihre Verräter.

Ich habe in meinem Vortrag die Auffassung vertreten, daß dem modernen Künstler durch den Materialismus der Mittelklasse und die Unflexibilität der Arbeiterklasse keinerlei vitale Verbindung zur Gesellschaft möglich ist, außer natürlich die der Opposition; und daß moderne Künstler generell andere gesellschaftliche Werte durch rein Ästhetisches ersetzen mußten. Ihre Erfolge hatten die Surrealisten ausschließlich auf technischer Ebene. Dieser Formalismus hat zu einer unerträglichen Schwächung des Künstler-Ichs geführt. Doch solange die moderne Gesellschaft von der Liebe zum Eigentum beherrscht wird – und das wird so lange der Fall sein, wie Eigentum die einzige Quelle der Freiheit ist –, so lan[164]ge hat der Künstler keine Alternative zum Formalismus. Er stärkt seinen Formalismus durch seine anderen Vorzüge, seine erweiterten Kenntnisse in Geschichte und moderner Wissenschaft, seine Verbindungen zum Ewigen, zur Ästhetik, seine Beziehungen zum Volk (siehe Picasso und Miró), und schließlich bezieht er auch aus seiner Opposition zur Mittelklassegesellschaft eine gewisse Kraft. Solange es keine radikale Revolution in den Werten der modernen Gesellschaft gibt, werden wir es auch weiterhin mit einer äußerst formalen Kunst zu tun haben. Wir können dankbar sein für ihre außerordentlichen technischen Errungenschaften, die die moderne Kunst in gestalterischer Hinsicht auf ein seit der Frührenaissance unerreichtes Niveau gehoben haben. Niemand kann derzeit sagen, wann es eine Revolutionierung der Werte geben wird. Von den technischen Problemen, die vor uns liegen, werde ich ein anderes Mal sprechen.

Alles ein-/ausblenden

Themen

  • Realitätskonzept
    • Realität
  • Struktur-Verhältnis-Funktion
    • Realität
    • Wirklichkeit
  • Textrepräsentant

Kategorien

Einzelkategorien

  • Ästhetik
    • Abstraktheit
  • Disziplin und Stil
    • Architektur
    • Sozialwissenschaft
  • Episteme
    • Ereignis
    • ewig
    • Freiheit
    • Geist
    • Geschichte
    • gesellschaftlich
    • Individuelle, das
    • Individuum
    • neu
    • vergangen
  • Epoche und Strömung
    • Dadaisten
    • Fauvisten
    • Impressionisten
    • Kubisten
    • modern
    • moderne Künstler
    • Neoromantiker
    • Postimpressionisten
    • Romantik
    • Surrealisten
  • Feld
    • Religion
    • Wissenschaft
  • Form
    • Dichtung
    • Malerei
    • Musik
  • Person
    • Beethoven, Ludwig van
    • Cézanne, Paul
    • Delacroix, Eugène
    • Duchamp, Marcel
    • Ernst, Max
    • Freud, Sigmund
    • Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
    • Marx, Karl
    • Mondrian, Piet
    • Picasso, Pablo
    • Platon
    • Spinoza, Baruch de
    • Valéry, Paul
    • van Gogh, Vincent
  • Realitätsbegriff
    • Realität
    • Welt
    • Wirklichkeit
  • Wahrnehmungsform
    • Erfühlte, das
    • wahrnehmen
  • Wahrnehmungsmedium
    • erfühlen
    • fühlen
    • Gefühl

Robert Motherwell: Die Welt des modernen Malers, 1944

Zum Seitenanfang