Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, 1984

Niklas Luhmann

Quelle

Niklas Luhmann: "Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst", in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hrsg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 623-626, 662. ISBN: 3-518-28233-6.

Erstausgabe

"Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst", in: Delfin III (1984), S. 51-69. ISSN: 0724-2689.

Genre

Aufsatz

Medium

Kunst

[623] […] Die Kunst denkt sich selbst gern als funktionslos. Das ist aber nichts weiter als eine Geste der Abwehr gegen Vereinnahmungsansprüche anderer Funktionsbereiche oder auch Fortschreibung einer alten Tradition, die die Kunst als nutzlos betrachtete. Innerhalb der modernen Gesellschaft ist eine Ausdifferenzierung [624] von Kunst nur möglich mit Bezug auf eine spezifische Funktion, die in diesem System und nirgendwo sonst erfüllt wird. Funktionale Differenzierung bedeutet: Auf-sich-selbst-Stellen einzelner Funktionsbereiche mit jeweils spezifischen, unverwechselbaren Codes. Sie bedeutet auch: Auflösung alter Multifunktionalitäten und infolgedessen: Redundanzverzicht. Das heißt: Kein Funktionssystem kann durch ein anderes ersetzt werden; die Kunst zum Beispiel nicht durch Politik, aber auch die Politik nicht durch Kunst. Funktionssysteme sind selbstsubstitutive Ordnungen. In der modernen Gesellschaft hat mithin die Kunst eine Funktion oder sie besitzt keine Geschlossenheit der Selbstreproduktion, also keine Autonomie.

Zugleich muß man aber konzedieren, daß Funktionen nicht als „functional requisites“, als objektive Bestandserfordernisse des Gesellschaftssystems begriffen werden können (was Wissenschaft als externen Beobachter der Gesellschaft voraussetzen würde).6 Vielmehr verselbständigen und artikulieren sich Funktionen nur im Prozeß ihrer evolutionären Ausdifferenzierung, und niemand anders ist für ihre Bestimmung zuständig als das sich ausdifferenzierende Funktionssystem (was keineswegs ausschließt, daß externe Beobachter die Funktion und ihren Kontext beschreiben und sie anders beschreiben können als das Funktionssystem selbst (hierzu anhand eines Beispiels Luhmann, N., 1986). Wir müssen mithin Kunst beobachten und befragen, wenn wir ermitteln wollen, was die Funktion der Kunst ist und ob und inwieweit sie so ausdifferenziert ist, daß sie durch kein anderes Funktionssystem wahrgenommen werden kann.

Mit einer zunächst sehr unscharf angesetzten Beschreibung sehen wir die Funktion der Kunst in der Konfrontierung der (jedermann geläufigen) Realität mit einer anderen Version derselben Realität. Die Kunst läßt die Welt in der Welt erscheinen, und wir werden noch sehen, daß dies mit Hilfe der Ausdifferenzierung der Differenz von Form und Kontext, also mit Hilfe einer kunstimmanenten Unterscheidung geschieht. Darin liegt ein Hinweis auf die Kontingenz der normalen Realitätssicht, ein Hinweis darauf, daß sie auch anders möglich ist. Schöner zum Beispiel. Oder weniger zufallsreich. Oder mit noch verborgenem Sinn durchsetzt. Dieser Hinweis wird mit eigenen artistischen Mitteln gegen die Normalsicht durchgesetzt. Die ältere Kunsttheorie hatte deshalb die Erregung von Erstaunen und Verblüffung als [625] Merkmal der Kunst hervorgehoben. Damit konnte jedoch kein Endzweck gemeint sein, kein perfekter Dauerzustand des Verblüfftseins, sondern nur der Übergang zu etwas anderem. Die Frage nach dem, was die Überraschung und Verblüffung bewirken soll, führt dann auf die Frage nach der Funktion der Kunst, und an der Reihe der Antworten auf diese Frage läßt sich die fortschreitende Ausdifferenzierung der Kunst ablesen. Sie ist in diesem Sinne ein historischer Prozeß und abhängig von dem, was jeweils als Funktion der Kunst angenommen wird.

Zunächst ist und bleibt der Hinweis auf eine Alternativversion von Realität natürlich durch das bestimmt, was mit dieser Alternativversion gesagt sein soll. Man denkt an eine schönere, ideale, sinnreichere Welt und von hier aus an Religion und/ oder an die politische Identität der Stadt oder des Herrschaftszentrums. Auf langen und verschlungenen Wegen werden solche Anlehnungen jedoch nach und nach aufgegeben bzw. in sekundäre, dekorative Dienstleistungen des Kunstsystems umkonstruiert. Im Ergebnis erscheint die Funktion von Kunst dann schließlich in der Herstellung von Weltkontingenz selbst zu liegen. Die festsitzende Alltagsversion wird als auflösbar erwiesen; sie wird zu einer polykontexturalen, auch anders lesbaren Wirklichkeit – einerseits degradiert, aber gerade dadurch auch aufgewertet. Das Kunstwerk führt an sich selbst vor, daß und wie das kontingent Hergestellte, an sich gar nicht Notwendige schließlich als notwendig erscheint, weil es in einer Art Selbstlimitierung sich selbst alle Möglichkeiten nimmt, anders zu sein. Dies mag, bei Dürer etwa, als eine komplexere Beschreibung der Realität selbst intendiert sein; aber mit der Differenzierung von Wissenschaft und Kunst wird auch diese Art Anlehnung obsolet. Ohne Anlehnung fungierend, wird die Kunst schließlich ihre Mittel auf die Kontingenzerzeugung selbst einstellen, und die kontingente Herstellung von etwas, was nachher als notwendig erscheint, ist dann nur noch eine der Möglichkeiten. Andere sind: der Einbau von Paradoxien oder strategisch placierten Unschärfen, von als absichtsvoll erkennbaren Verfremdungen, von Rätseln, von Zitaten, von Irritierungen dessen, der das Kunstwerk zu „genießen“, das heißt sich anzueignen sucht, aber angezogen und abgewiesen wird wie Kafkas K. Schon in der frühen Neuzeit hatte sich die Kunst auf Täuschung des Betrachters verlegt (der dann das Kunstwerk erst bewundern konnte, wenn er durchschaute, wie [626] die Täuschung gelang). Heute kommt die Verspottung des Betrachters, des Sinnsuchers, des Inspirationsbedürftigen hinzu. Auch dabei steht freilich Technik im Dienste eines anderen Sinns. Verblüffung, Täuschung, Verspottung sind nicht Selbstzweck. Sie sind Durchgangsstadium für eine Operation, die man als Entlarvung der Realität bezeichnen könnte – gleichsam für den Schluß: Da das Kunstwerk existiert und real überzeugend (wenn überzeugend!) erlebt werden kann, kann etwas mit der Welt nicht stimmen (siehe hierzu Schmidt, S. J., 1984). Mit der Welt! – und gerade nicht mit der Kunst, die ihre eigenen Möglichkeiten ja ersichtlich beherrscht.

Es ist leicht zu sehen, daß die Ausdifferenzierung im Dienste dieser Funktion auf Autopoiesis eines eigenen Kunstsystems hinausläuft. Wenn es darum geht, die Wirklichkeit mit einer Alternative zu konfrontieren, kann Instruktion und Inspiration dafür gerade nicht der Wirklichkeit entnommen werden, sondern nur der Kunst selbst. Wie André Malraux immer wieder betont hat: man orientiert sich als Künstler nicht an den Objekten, sondern an den Vorgängern. Und wenn es ein Programm der „imitatio“ oder des „Realismus“ gibt, ist dies ein Programm, mit dem man etwas anders und besser machen will als zuvor. Ebenso ist aber auch das Programm des „l'art pour l'art“ nicht die Autonomie des autopoietischen Systems, sondern nur deren Mißverständnis. „L'art pour l'art“ will das, was das System ist, im System zum Programm machen und verfehlt damit den elementaren Tatbestand, daß Autonomie die Beziehungen zur Umwelt nicht unterbindet, sondern gerade voraussetzt und reguliert. Es bringt die Autopoiesis der Kunst gerade an ihr Ende, wenn Abhängigkeit als Negation von Abhängigkeit begriffen wird. Zum Glück mißlingt das Programm – aus angebbaren Gründen.7

[662] […]

6 So der ältere Strukturfunktionalismus. Siehe repräsentativ: Aberle, D. F. u. a. (1950), S. 100-111.

7 Eine allgemeine systemtheoretische Begründung hierfür gibt Foerster, H. v. (1960), S. 31-50.

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Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, 1984

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