Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 1973

Jacques Lacan

Quelle

Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI (1964). Nach dem von Jacques-Alain Miller hergest. franz. Text. Ins Deutsche übersetzt von Norbert Haas und hrsg. Olten/Freiburg im Breisgau: Walter-Verlag 1978, S. 79-83, 86-109. ISBN: 3-88679-906-9.

Erstausgabe

Le Séminaire. Tome 11. Les Quatre Concepts fondamentaux de la Psychoanalyse (1963-1964). Bd. I u. II. Ed. par Jacques-Alain Miller. Paris: Éditions du Seuil 1973, S. 155-172.

Genre

Vorlesung

Medium

Bild

[79] (VI. Die Spaltung von Auge und Blick) […]

In unserm Verhältnis zu den Dingen, das konstituiert ist durch die Bahn des Sehens und geordnet nach den Figuren der Vorstellung, gleichet, läuft und überträgt sich von Stufe zu Stufe etwas, das jedoch immer bis zu einem gewissen Grad umgangen wird – es ist das, was Blick heißt.

Um Ihnen dafür ein Gefühl zu geben, gibt es mehr als einen Weg. Soll ich Ihnen, gleichsam an seinem Extrem, den Blick veranschaulichen in einem jener Rätsel, wie sie uns von der Natur aufgegeben werden? Ich meine nichts Geringeres als die Erscheinung des sogenannten mimétisme ∫ der Mimikry.

Es ist viel zu diesem Thema gesagt worden, in erster Linie viel Absurdes – beispielsweise, die Erscheinungen der Mimikry erklärten sich aus dem Zweck der Anpassung. Dies ist nicht meine Auffassung. Ich will Sie, unter anderm, nur auf ein Büchlein hinweisen, das viele von Ihnen gewiß kennen: Méduse et compagnie von Caillois, in dem die Anpassungsthese einer besonders scharfsichtigen Kritik unterzogen wird. Zum einen kann die entscheidende Mutation bei der Mimikry, wenn [80] sie wirksam sein soll, bei Insekten zum Beispiel, nur auf einen Schlag und sofort erfolgen. Zum andern werden ihre angeblichen Selektionswirkungen zunichte durch die Feststellung, daß im Magen von Vögeln, insbesondere Raubvögeln, genauso viele durch Mimikry angeblich geschützte Insekten gefunden werden wie solche, die nicht geschützt sind.

Das Problem liegt aber gar nicht da. Das eigentliche Problem ist die Frage, ob wir die Mimikry einer formbildenden Kraft eben des Organismus zuschreiben müssen, der ihre Manifestationen aufweist. Wenn dem so wäre, müßten wir erfassen können, über welchen Umlauf jene Kraft in der Lage sein könnte, nicht nur der Gestalt des per Mimikry nachgeahmten Körpers, sondern auch des Verhältnisses desselben zum Milieu Herr zu werden, in dem er sich bewegt, sei‘s daß er sich unterscheidet oder, im Gegenteil, mit ihm eins wird. Und, um alles zu sagen, auch daran erinnert Caillois mit großer Treffsicherheit, wenn es sich um Mimikryphänomene dieser Art und insbesondere solche, die uns an die Funktion von Augen denken lassen, nämlich die Ozellen, handelt, dann hätten wir zu begreifen, ob ihre Wirkung – in der Tat wirken sie, auf das beutesuchende Tier oder auf das in Aussicht genommene Opfer, das sie anblicken soll – ob also ihre Wirkung ihrer Ähnlichkeit mit Augen zuzuschreiben ist, oder ob nicht umgekehrt die Augen nur faszinieren, weil sie eine Beziehung auf die Form von Ozellen aufweisen. Mit andern Worten: Müssen wir hier nicht die Funktion des Auges von der Funktion des Blicks unterscheiden?

Dieses Beispiel zur Erläuterung des Unterschieds, das wir kurzerhand gewählt haben – seiner Stellung, seiner Künstlichkeit, seines exzeptionellen Charakters wegen – ist für uns nur eine kleine Manifestation jener Funktion, die zu isolieren wäre – die Funktion, sagen wir das Wort: des Flecks ∫ de la tache. Das Beispiel ist für uns deshalb so wertvoll, weil es uns zeigt, daß vor dem Gesehenen ein Zusehen-Gegebenes ∫ un donné-à-voir existiert.

Wir brauchen uns durchaus nicht auf irgendwelche Annahme der Existenz eines universalen Sehenden zu beziehen. Wenn die Funktion des Flecks in ihrer Autonomie erkannt und der Funktion des Blicks gleichgestellt ist, können wir Führung, Bahn und Spur derselben auf allen Stufen der Konstitution von Welt im Sehfeld verfolgen. Man wird so bemerken, daß die Funktion des Flecks und des Blickes dieses Feld im Innersten regiert, gleichzeitig aber sich jener Art Sehen entzieht, das sich selbst genügt, indem es sich als Bewußtsein imaginiert.

[81] Worin das Bewußtsein sich auf sich selbst zurückbeziehen kann – wie Die junge Parze bei Valéry sich begreifen kann als sich sich sehen sehend – ist Eskamotage. Umgehung der Funktion des Blicks.

Wir können dies an der Topologie festmachen, die wir das letztemal entworfen haben, von der Frage ausgehend, was von der subjektiven Position sich zeigt, wenn das Subjekt zu den imaginären Gebilden Zugang hat, die ihm der Traum als denen des Wachzustands entgegengesetzt vorstellt.

Und können wir nicht auch in jener für das Subjekt besonders befriedigenden Ordnung, die in der analytischen Erfahrung mit dem Namen Narzißmus bezeichnet wird – dessen wesentliche Struktur, den Zusammenhang mit dem Spiegelbild, ich mich wiedereinzuführen bemüht habe – also in dem, was hieraus an Befriedigung, an Wohlbefinden strömt, und wo das Subjekt sich in so tiefgreifendem Verkennen sich bestätigt sieht – erstreckt sich dessen Reich nicht bis zu jenen Erscheinungen der philosophischen Tradition, in denen in der Kontemplation dem Subjekt sich die Fülle erschließt! – können wir da nicht fassen, was umgangen wird! – die Funktion des Blicks. Ich meine, und Merleau-Ponty gibt uns den Hinweis, daß wir im Schauspiel der Welt angeschaute Wesen sind. Was uns zum Bewußtsein macht, das setzt uns auch mit demselben Schlag ein als speculum mundi. Heißt es nicht Befriedigung, unter diesem Blick zu sein, von dem ich in Anschluß an Merleau-Ponty sprach, unter diesem Blick, der uns einkreist und der aus uns in erster Linie angeschaute Wesen macht, freilich ohne daß uns dies angezeigt würde!

In diesem Sinn erscheint uns das Schauspiel der Welt als allsehend. Eben da ist jene Phantasie, die wir in der Perspektive Platons, die Phantasie eines absoluten Wesens, dem die Eigenschaft des Allsehenden übertragen ist. Selbst auf der Ebene der phänomenalen Erfahrung der Kontemplation blitzt diese Allsichtsperspektive auf in der Befriedigung einer Frau, die sich betrachtet weiß, vorausgesetzt, daß man es ihr nicht zeigt.

Die Welt ist allsehend, aber sie ist nicht exhibitionistisch – sie provoziert nicht unsern Blick. Wenn sie anfängt, den Blick zu provozieren, setzt auch schon das Gefühl des Befremdlichen ein.

Was besagt dies anderes, als daß im sogenannten Wachzustand der Blick elidiert ist, wobei nicht nur elidiert ist, daß es anblickt, sondern auch daß es zeigt. Auf dem Feld des Traums dagegen ist das Charakteristische der Bilder: daß es zeigt.

[82] Es zeigt – aber dabei bezeigt sich auch noch so etwas wie ein Gleiten des Subjekts. Nehmen Sie einen beliebigen Traumtext – nicht bloß den, den ich letztesmal verwendete, bei dem letztlich rätselhaft bleiben mag, was ich sagen möchte, sondern jeden Traum – rücken Sie ihn wieder in seine Koordinaten, und Sie sehen, daß dieses Es zeigt hervortritt. Es tritt so sehr hervor, in seinen charakteristischen Eigenheiten, seinen Koordinaten – Fehlen eines Horizonts, Verschluß des im Wachzustand Gesehenen, auch die Art des Auftretens, des Kontrasts, des Flecks seiner Bilder, die Intensivierung der Bildfarben – daß wir im Traum letzten Endes eine Position einnehmen, die die Position dessen ist, der nicht sieht. Das Subjekt sieht nicht, wohin es führt, das Subjekt folgt nur, kann sich gelegentlich zwar davon lösen, kann sich sagen, das sei nur ein Traum, aber keinesfalls könnte das Subjekt sich im Traum so begreifen, wie es sich im cartesischen cogito als Denken begreift. Das Subjekt kann sich sagen: Das ist nur ein Traum. Aber es begreift sich dabei nicht als eines, das sagt – Trotz alledem, ich bin Bewußtsein dieses Traums.

In einem Traum ist das Subjekt ein Schmetterling. Was besagt das? Es besagt, daß das Subjekt den Schmetterling in seiner Realität als Blick sieht. Was wären all die Figuren, Zeichnungen, Farben – wenn nicht ein geschenktes Zu-sehen-Geben, in dem sich für uns die essentielle Primitivität des Blicks abzeichnet. Ein Schmetterling, meingott [sic], nicht mal so verschieden von dem, der den Wolfsmann terrorisiert – Maurice Merleau-Ponty weiß sehr genau, wie wichtig das ist, er verweist darauf in einer Anmerkung, die nicht in seinen Text integriert ist. Tschuang-Tse kann, nachdem er aufgewacht ist, sich fragen, ob nicht der Schmetterling träume, Tschuang-Tse zu sein. Er hat recht, und zwar in doppelter Hinsicht, denn erstens beweist das, daß er nicht verrückt ist, er hält sich nicht für absolut mit Tschuang-Tse identisch – und zweitens, weil er sich nicht bewußt ist, daß er mit seiner Aussage so genau ins Schwarze trifft. In der Tat, als er eben Schmetterling war, erfaßte er sich an einer Wurzel seiner Identität – war er und ist er in seinem Wesen dieser Schmetterling, der sich in seinen eigenen Farben malt – und deshalb ist er im letzten Grunde Tschuang-Tse.

Der Beweis ist, daß, solang er Schmetterling ist, ihm nicht in den Sinn kommt, sich zu fragen, ob er, als aufgewachter Tschuang-Tse, nicht der Schmetterling sei, der zu sein er eben träumt. Er wird nämlich, träumend, Schmetterling zu sein, mit Sicherheit später bezeugen müssen, daß er sich als Schmetterling vorstellte, das heißt aber nicht, daß er [83] vom Schmetterling gefangen ist – er ist erbeuteter Schmetterling, aber Beute von nichts, denn im Traum ist er niemandes Schmetterling. Aufgewacht, ist er Tschuang-Tse für die andern und ist in deren Schmetterlingsnetz gefangen.

Deshalb kann der Schmetterling – wenn das Subjekt nicht Tschuang-Tse, sondern der Wolfsmann ist – diesem jenen phobischen Schrecken einjagen, als er erkennt, daß das Schlagen der kleinen Flügel nicht so weit vom Schlagen jener Kausierung, jenes Urstreichs entfernt ist, der sein zum erstenmal durch das Gitter des Begehrens eingeholtes Sein markiert.

[…] [86] (VI. Die Anamorphose) […]

Ich sah mich mich sehen, sagt die Junge Parze30 irgendwo. Mit Sicherheit hat diese Aussage ihren vollen und zugleich komplexen Sinn, wenn es sich um das Thema handelt, das die Junge Parze entwickelt: das der Weiblichkeit – wir sind aber noch nicht so weit. Wir haben es mit dem Philosophen zu tun, dem es um eins der wesentlichen Korrelate des Bewußtseins im Verhältnis zur Vorstellung geht, das sich als ein ich sehe mich mich sehen abzeichnet. Welche Evidenz kann diese Formel für sich beanspruchen? Wie kommt es, daß sie, alles in allem, jenem grundlegenden Modus verhaftet bleibt, auf den wir uns im cartesischen cogito bezogen haben, durch das das Subjekt sich als Denken begreift?

Was diese Auffassung des Denkens durch sich selbst auszeichnet, ist eine Art Zweifel, der methodischer Zweifel genannt worden ist. Er erstreckt sich auf alles, was dem Denken in der Vorstellung ein Halt sein könnte. Wie aber kann das ich sehe mich mich sehen trotzdem dessen Einkleidung und Grund bleiben und, mehr noch als man vielleicht denkt, die Gewißheit desselben begründen? Ich erwärme mich, indem ich mich erwärme, das wäre eine Beziehung auf den Körper als Körper, ich werde von einer Wärmeempfindung erfaßt, die von irgendeinem [87] Punkt in mir ausgeht und sich ausbreitet und mich als Körper lokalisiert. In dem ich sehe mich mich sehen dagegen ist durchaus nicht zu spüren, daß ich analog dazu vom Sehen erfaßt wäre.

Mehr noch, den Phänomenologen ist es gelungen, sehr genau und überraschend festzustellen, daß es völlig klar ist, daß ich draußen sehe, daß die Wahrnehmung nicht in mir ist, daß sie auf den Gegenständen ist, die sie erfaßt. Trotzdem ist es so, daß ich die Welt in Form einer Wahrnehmung auffasse, die von der Immanenz des ich sehe mich mich sehen auszugehen scheint. Das Privileg des Subjekts scheint sich hier aus jener zweipoligen reflexiven Beziehung zu ergeben, die bewirkt, daß von dem Punkt an, wo ich wahrnehme, meine Vorstellungen mir gehören.

Die Welt ist also gleichsam geschlagen mit einer präsumtiven Idealisierung. Es fällt der Verdacht auf sie, daß sie mir nichts als meine Vorstellungen liefere. Dem praktischen Ernst mag dies in Wirklichkeit kaum zur Last fallen, dagegen kommt der Philosoph als Idealist sich selbst wie seinen Hörern gegenüber ganz schön ins Gedränge. Wie könnte geleugnet werden, daß von der Welt mir nichts erscheint außer in meinen Vorstellungen! – eben da ist der Schritt des Bischofs Berkeley, der nicht wieder rückgängig zu machen ist. In Hinblick auf die subjektive Position Berkeleys wäre gewiß einiges anzumerken – gerade in dem Punkt, der Ihnen bestimmt im Vorübergehen entgangen ist: dieses mir gehören der Vorstellungen, wo das Eigentum angesprochen ist. Letztlich reduziert der Prozeß jener Vermittlung, jener reflektierenden Reflexion das Subjekt, wie es die cartesische Meditation faßt, auf ein Nichtungsvermögen ∫ un pouvoir de néantisation.

Die Weise meiner Gegenwart in der Welt, das ist das Subjekt, das kraft seiner Reduktion auf die einzige Gewißheit, Subjekt zu sein, aktive Nichtung wird. In der Folge läßt die philosophische Meditation das Subjekt in transformierendes geschichtliches Handeln kippen und ordnet die Gestalt gewordenen Weisen tätigen Selbstbewußtseins quer durch dessen Metamorphosen in der Geschichte um diesen Punkt. Was die Seinsmeditation angeht, die im Denken von Heidegger kulminiert, so gibt diese dem Sein selbst jenes Nichtungsvermögen wieder – oder stellt doch zumindest die Frage, wie es möglich sei, daß das Sein sich auf dieses beziehen könne.

Auch hier führt uns Maurice Merleau-Ponty. Gehen Sie aber auf seinen Text zurück, werden Sie bemerken, daß er hier zögert und vorschlägt, zu den Quellen der Intuition hinsichtlich des Sichtbaren [88] und Unsichtbaren zurückzugehen, zurück zu dem, was vor jeder Reflexion liegt, setzender oder nicht setzender, um das Auftauchen des Sehens selbst festzustellen. Dabei geht es ihm um eine Restauration – tatsächlich ist nur eine Rekonstruktion oder Restauration möglich, keinesfalls kann der Weg in umgekehrter Richtung durchlaufen werden – also eine Rekonstituierung der Bahn, über die, nicht vom Körper aus, aber aus etwas, was er „das Fleisch der Welt“ nennt, ein Ursprungspunkt des Sehens entstehen konnte. Man scheint also beobachten zu können, wie in diesem unvollendeten Werk sich eine Art Suche nach einer Substanz ohne Namen abzeichnet, aus der ich selbst, als Sehender, mich ausziehe. Aus Netzen, oder, wenn Sie so wollen, aus Streifen, aus einem chatoiment ∫ einem Schillern31, dessen Teil ich erst bin, tauche ich auf als Auge, nehme gewissermaßen Ausgang aus dem, was ich die Funktion der Sichtung ∫ voyure nennen könnte. Ein wilder Geruch strömt daraus, und am Horizont erscheint die Jagd der Artemis – deren Berührung sich mit jenem Moment tragischer Ohnmacht zu verbinden scheint, in dem wir den verloren haben, der spricht.

Ist dies aber auch wirklich der Weg, den Merleau-Ponty gehen wollte? Die uns verbleibenden Spuren des künftigen Teils seiner Meditation lassen uns zweifeln. Die Anmerkungen, die er macht, insbesondere zum Unbewußten im psychoanalytischen Sinn, zeigen, daß Merleau-Ponty sich möglicherweise einer Forschung zugewendet hätte, die in bezug auf die philosophische Tradition originell gewesen wäre: jene neue Dimension der Meditation über das Subjekt, die uns die Psychoanalyse abzustecken erlaubt.

Ich selbst habe nur Staunen für manche Anmerkungen, die für mich weniger rätselhaft sein mögen als für andere Leser. Sie decken sich sehr genau mit jenen Schemata, die ich hier noch entwickeln will – insbesondere mit einem. Lesen Sie beispielsweise Merleau-Pontys Bemerkung zum „umgekehrten Handschuhfinger“, wie er es nennt. Es scheint sich da zu zeigen – stellen Sie sich vor, wie bei einem Winterhandschuh das Fell durch das Leder eingehüllt wird – daß das Bewußtsein, der Illusion des sich sich sehen zu sehen folgend, in einer Umkehrung der Struktur des Blicks begründet ist.

[89] 2

Was aber ist der Blick?

Ich will ausgehen von jenem Punkt einer ersten Nichtung, an dem sich auf dem Feld der Subjektreduktion ein Bruch abzeichnet – an dem sich zeigt, daß notwendig eine zweite Beziehung eingeführt werden muß, wie die Analyse durch die Einschränkung der Privilegien des Bewußtseins es tut.

In der Analyse erscheint das Bewußtsein als unheilbar beschränkt, wodurch es nicht allein als Prinzip der Idealisierung instituiert wird, sondern auch als Prinzip der Verkennung, als – Skotom, wie man es mit einem Ausdruck bezeichnen konnte, der eine neue Bedeutung bekommt, weil er sich auf den Bereich des Sehens bezieht. Der Ausdruck wurde auf der Ebene der Ecole française ins analytische Vokabular eingeführt. Geht es um eine einfache Metapher? – wir finden da die Ambiguität wieder, die alles trifft, was mit dem, was sich ins Register des Schautriebs einschreibt, in Berührung kommt.

Das Bewußtsein zählt für uns nur insofern, als es sich auf etwas bezieht, was ich, in propädeutischer Absicht, an jener Fiktion eines dekomplettierten Textes zu zeigen versucht habe – von hier aus gesehen geht es darum, das Subjekt zu rezentrieren als sprechend noch in den Lücken dessen, worin es bei der ersten Näherung sich als sprechend präsentiert. Wir meinen hier aber lediglich das Verhältnis des Vorbewußten zum Unbewußten. Die Dynamik, die mit dem Bewußtsein als solchem verbunden ist, die Aufmerksamkeit, die das Subjekt seinem eigenen Text entgegenbringt, bleibt, wie Freud betont, an dieser Stelle noch außerhalb der Theorie und noch unartikuliert.

Hier behaupte ich, daß das Interesse des Subjekts an seiner eigenen Spaltung an das gebunden ist, was diese Spaltung determiniert – nämlich ein privilegiertes Objekt, das aus einer Urseparation entstanden ist, aus so etwas wie einer durch das Nähern des Realen induzierten Selbstverstümmelung, wofür wir in unserer Algebra die Bezeichnung Objekt a haben.

Bezüglich des Sehens wäre dieses Objekt, von dem das Phantasma abhängig ist, dem das Subjekt anhängt in dem ihm wesentlichen Schwanen, Flimmern ∫ vacillation, der Blick. Das Privileg des Blicks – aber auch der Grund, weshalb das Subjekt so lange sich in dieser Abhängigkeit verkennen konnte – liegt in der Struktur des Blicks selbst.

Wir wollen sofort, was wir hier sagen wollen, schematisieren. Sowie das [90] Subjekt sich diesem Blick akkommodieren will, wird der Blick jenes punktförmige Objekt, jener schwindende Seinspunkt, mit dem das Subjekt sein eigenes Schwinden verwechselt. Auch ist der Blick von allen übrigen Objekten, in denen das Subjekt die Abhängigkeit, in der es im Register des Begehrens ist, erkennen kann, dadurch unterschieden, daß er nicht zu fassen ist. Er wird daher mehr als jedes andere Objekt verkannt, und vielleicht ist auch dies Grund, weshalb das Subjekt so gerne den ihm eigenen Zug des Schwindens und der Punktualität in der Illusion des Bewußtseins, sich sich sehen zu sehen, symbolisiert, in der der Blick elidiert wird.

Wenn also der Blick die Kehrseite des Bewußtseins ist, wie wäre er dann bildlich zu denken?

Wir drücken uns hier nicht falsch aus, denn es ist möglich, den Blick zu verkörpern. Sartre, in einer der glänzendsten Passagen von Das Sein und das Nichts, läßt ihn in der Dimension der Existenz des andern auftreten. Der andere bliebe jenen, teilweise irrealisierenden, Bedingungen, die in der Definition Sartres Bedingungen der Objektivität sind, verhaftet, gäbe es da nicht den Blick. Der Blick, wie ihn Sartre auffaßt, ist der Blick, von dem ich überrascht werde – überrascht werde, insofern er alle Perspektiven und Kraftlinien meiner Welt verändert und von dem Punkt des Nichts aus ordnet, wo ich bin, in einer Art Strahlnetz der Organismen. Als Ort der Beziehung zwischen mir als nichtendem Subjekt und dem, was mich umgibt, hätte der Blick gar das Privileg, mich mir gegenüber, der ich blicke, das Auge dessen skotomisieren zu lassen, der mich als Objekt erblickt. Sowie ich unter dem Blick bin, schreibt Sartre, sehe ich das Auge nicht mehr, das auf mich blickt, wenn ich das Auge sehe, ist der Blick nicht mehr.

Ist dies nun eine korrekte phänomenologische Analyse? Nein. Es ist nicht wahr, daß, wenn ich unter dem Blick bin, wenn ich nach einem Blick heische, wenn ich einen Blick erhalte, ich diesen Blick nicht als Blick sehen würde. Allen voran waren es die Maler, die den Blick als solchen erfaßt haben in der Maske, ich brauche nur Goya zu nennen, um Sie das empfinden zu lassen.

Der Blick ist sichtbar – eben der Blick, den Sartre meint, der Blick, der mich überrascht, mich auf ein Gefühl von Scham reduziert, das von Sartre ja als das deutlichste Gefühl bezeichnet wird. Dieser Blick, dem ich begegne – das ließe sich am Text von Sartre selbst zeigen – ist zwar nicht gesehener Blick, aber doch Blick, den ich auf dem Feld des Andern imaginiere.

[91] Wenn Sie auf Sartres Text zurückgehen, werden Sie sehen, daß er, weit davon entfernt, im Auftreten des Blicks etwas auf das Sehorgan Bezügliches zu erkennen, sich auf ein plötzliches Blätterrascheln bezieht, das zu hören ist, wenn ich auf der Jagd bin, auf das Geräusch von Schritten auf einem Gang, und in welchem Moment? – gerade da, wo er selbst sich präsentierte als einer, der durch ein Schlüsselloch späht. Ein Blick überrascht ihn als Voyeur, wirft ihn aus dem Gleis, haut ihn um und läßt ihn einschrumpfen auf das besagte Schamgefühl. Der Blick, um den es hier geht, ist also in der Tat Gegenwart des andern als solchen. Bedeutet dies aber, daß wir ursprünglich den Blick in der Beziehung von Subjekt zu Subjekt, in der Existenz des andern als eines, der mich anblickt, zu begreifen haben? Liegt nicht auf der Hand, daß der Blick hier nur erscheint, nicht weil das nichtende, der Welt der Objektivität korrelierende Subjekt sich hier überrascht sieht, sondern das in einer Begehrensfunktion sich behauptende Subjekt!

Ist‘s nicht gerade, weil das Begehren sich hier im Bereich der Sichtung instauriert, daß wir ihn eskamotieren können?

3

Für uns wird das Privileg des Blicks faßbar in der Funktion des Begehrens, indem wir, wenn ich so sagen kann, die Adern entlanggleiten, über die der Bereich des Sehens dem Feld des Begehrens integriert worden ist.

Nicht zufällig bildet die Dimension des Optischen, die ich zu Unterscheidungszwecken die „geometrale“ nenne, sich eben in der Zeit heraus, in der die cartesische Meditation die Funktion des Subjekts in seiner Reinheit inauguriert.

Ich will Ihnen an einem Gegenstand unter anderen vorführen, was mir an einer Funktion beispielhaft zu sein scheint, der zu jener Zeit merkwürdig viel Beachtung geschenkt wurde.

Ein Hinweis für die, die dem weiter nachgehen wollen, was ich heute entwickeln will – Baltrusaitis‘ [sic] Buch über die Anamorphosen32. Ich habe der Funktion der Anamorphose in meinem Seminar breiten Raum gegeben, weil sie eine exemplarische Struktur darstellt. Worin besteht eine Anamorphose, die einfache, nicht die zylindrische. Stellen Sie sich vor, es befände sich auf diesem flachen Blatt Papier, das ich in der Hand halte, ein gemaltes Porträt. Nehmen Sie dann die Wandtafel [92] hier, die sich in schräger Position zu dem Blatt befindet. Nehmen Sie an, ich übertrage nun mit Hilfe einiger idealer Linien oder Fäden die Malerei auf meinem Blatt Punkt für Punkt auf diese schräge Fläche. Sie können sich leicht vorstellen, was das ergibt – eine in die Länge gezogene deformierte Figur den Linien einer Perspektive folgend, wie man sagen könnte. Man kann nun annehmen, daß – wenn ich das für die Konstruktion benötigte Bild, das sich in meinem Gesichtsfeld befindet, wegnehme – der Eindruck, den ich zurückbehalte, wenn ich auf meinem Platz bleibe, erkennbar derselbe sein wird – im schlechtesten Fall werde ich das Bild in seinen allgemeinsten Zügen wiedererkennen – im besten Fall habe ich einen identischen Eindruck.

Ich werde nun etwas herumgehen lassen, das hundert Jahre früher, 1533, entstanden ist, die Reproduktion eines Bildes, das Ihnen allen bekannt sein dürfte – Die Gesandten von Hans Holbein. Wer das Bild kennt, kann sein Gedächtnis auffrischen. Wer es nicht kennt, sollte es sich sehr aufmerksam ansehen. Ich werde sofort darauf zurückkommen.

Das Sehen folgt einem Modus, den man allgemein mit Bildfunktion bezeichnen könnte. Diese Funktion ist definierbar durch zwei Einheiten im Raum, die sich Punkt für Punkt entsprechen. Dabei ist es gleichgültig, über welche optischen Vermittlungen die Beziehung läuft, und es ist gleichgültig, ob ein Bild virtuell oder real ist, wesentlich ist die Punkt-für-Punkt-Entsprechung. Was sich auf dem Feld des Sehens nach diesem Bild-Modus richtet, läßt sich auf dieses einfache Schema reduzieren, aufgrund dessen auch die Anamorphose herzustellen ist, das heißt, es läßt sich reduzieren auf das Verhältnis eines an eine Fläche gebundenen Bilds zu einem bestimmten Punkt, den wir „Geometralpunkt“ heißen wollen. Was immer sich nach dieser Methode – bei der die Gerade die Aufgabe hat, Bahn des Lichts zu sein – bestimmt, mag sich Bild ∫ image nennen.

Die Kunst vermischt sich hier mit der Wissenschaft. Leonardo da Vinci ist in seinen dioptrischen Konstruktionen Wissenschaftler und Künstler zugleich. Vitruvs Abhandlung über die Architektur ist nicht weit entfernt. Bei Vignola und Alberti finden wir eine weiterführende Untersuchung der geometralen Gesetze der Perspektive. Um solche Untersuchungen zur Perspektive bildet sich ein besonderes Interesse am Bereich des Sehens heraus – dessen Beziehung zur Einrichtung des cartesischen Subjekts, das selbst eine Art Geometralpunkt, Perspektivpunkt darstellt, nicht zu übersehen ist. An dieser geometralen Perspek[93]tive bildet sich dann das Tafelbild ∫ le tableau – diese so wichtige Funktion, von der wir noch sprechen werden – heraus, auf eine Art und Weise, die in der Geschichte der Malerei ein absolutes Novum darstellt.

Denken Sie, bitte, an Diderot. Sein Brief über die Blinden zum Gebrauch der Sehenden wird Sie empfänglich machen für die Tatsache, daß dieser Konstruktion völlig entgeht, was es eigentlich mit dem Sehen auf sich hat. Der geometrale Raum des Sehens – selbst die imaginären Bezirke im virtuellen Raum des Spiegels, auf die es mir sehr ankommt, wie Sie wissen – läßt sich von einem Blinden vollkommen rekonstruieren, imaginieren.

Bei der geometralen Perspektive geht es ausschließlich um die Auszeichnung eines Raums und nicht um das Schauen. So ist ein Blinder durchaus in der Lage zu begreifen, daß ein Raumausschnitt, den er kennt und den er als real kennt, auf Distanz und gleichsam simultan wahrzunehmen ist. Für ihn handelt es sich lediglich um das Erfassen einer zeitlichen Funktion: der Augenblicklichkeit. Nehmen Sie die Dioptrik von Descartes. Hier wird die Tätigkeit der Augen dargestellt als aufeinander abgestimmte Tätigkeit zweier Stäbe. Die geometrale Dimension erschöpft also nicht, bei weitem nicht, was das Sehfeld als solches uns als ursprüngliche subjektivierende Relation vorstellt.

Es ist daher sehr wichtig, daß man sich von der Umkehrung der Perspektive in der Struktur der Anamorphose Rechenschaft gibt.

Es war Dürer, der den Apparat zur Einrichtung der Perspektive erfand, ein „Pförtchen“ ist zu vergleichen mit dem, was ich eben zwischen mich und diese Wandtafel gebracht habe: ein bestimmtes Bild, genauer: ein Gewebe oder Gitterwerk, das von geraden Linien durchlaufen wird – nicht unbedingt Strahlen, es können auch Fäden sein – die einen jeden Punkt, den ich in der Welt sehe, mit einem Punkt verbinden, an dem dieses Stück Gewebe von dieser Linie geschnitten wird.

Zur korrekten perspektivischen Einrichtung eines Bildes bedarf es also notwendig eines solchen Pförtchens. Ich muß es nur umgekehrt verwenden, und ich habe das Vergnügen, nun nicht die Welt dahinter sich restituieren zu sehen, sondern zu beobachten, wie sich auf einer zweiten Fläche jenes Bild verformt, das ich auf der ersten habe. Ich verweile bei diesem Vorgang, der ein köstliches Spiel ist, das die Dinge in beliebiger Streckung erscheinen läßt.

Sie können mir glauben, auch damals ist man darüber in Verzückung geraten. Das Buch von Baltrusaitis weiß von wilden Polemiken zu be[94]richten, die solche Praktiken zum Gegenstand hatten, was zu beachtlichen Werken geführt hat. In dem heute zerstörten, ehemals an der Rue des Tournelles gelegenen Kloster der Minimen befand sich in einem der Gänge auf einer sehr langen Wand ein Gemälde, das zufälligerweise den hl. Johannes auf Pathmos darstellte. Dieses Gemälde war, damit die Verformung sich voll entfalten konnte, durch ein Loch hindurch anzusehen.

Es kann sein, daß die Verformung – bei diesem besonderen Fresko war das nicht der Fall – sämtliche paranoische Doppeldeutigkeiten zur Entfaltung bringt. Von diesem Umstand ist auch umfassend Gebrauch gemacht worden von Arcimboldo bis Salvador Dali. Ich möchte sogar behaupten, daß diese Faszination jenes Mehr erzeugt, das die geometralen Untersuchungen zur Perspektive unterschlagen. Wie kommt es, daß hier noch nie jemand an einen ... Erektionseffekt gedacht hat? Stellen Sie sich vor, auf das Organ würde ad hoc im Ruhezustand etwas drauftätowiert, das dann in einem andern Zustand, wenn ich so sagen darf, sich förmlich entwickelt. Wie könnte man übersehen, daß hier, der geometralen Dimension immanent – also in einer Teildimension auf dem Feld des Blicks, die mit dem Sehen als solchem noch nichts zu tun hat – eine Art Symbol der Funktion eines manque ∫ eines Mankos in Erscheinung tritt: im Phallusphantom!

Nun aber das Bild der Gesandten – das jetzt hoffentlich herumgegangen ist, das Sie jetzt alle gesehen haben – was sehen Sie auf ihm? Was ist da mit dem seltsamen Gegenstand, der im Vordergrund schräg hängend vor den zwei Figuren auftaucht?

Die beiden Figuren stehen steif da, erstarrt in ihrem prunkvollen Ornat. Zwischen ihnen eine Reihe von Gegenständen, die in der Malerei jener Zeit als Symbole der vanitas auftreten. Agrippa von Nettesheim schreibt gerade sein De vanitate scientiarum, womit die Wissenschaften und die Künste gemeint sind. Alle diese Gegenstände sind auch Symbole der Wissenschaften und Künste, die man damals, wie Sie wissen, in Trivium und Quadrivium einteilte. Was aber ist, im Vordergrund dieser Monstration einer Welt des Scheins in ihren faszinierendsten Formen, dieses teils schwebende, teils abwärtsgeneigte Objekt? Sie können es nicht wissen – denn Sie wenden sich ab, um der Faszination des Bildes zu entgehn.

Gehen Sie langsam aus dem Raum, in dem das Bild Sie gewiß lange festhielt. Dann, wenn Sie im Weggehen sich wenden – der Autor des [95] genannten Buchs über die Anamorphosen hat es beschrieben – erblicken Sie – einen Totenschädel.

Zunächst erscheint dieser Gegenstand durchaus nicht als solcher, der Autor vergleicht ihn mit einem Fischbein, ich persönlich denke eher an jene Zweipfünder, die Dali in seinen Anfängen einer absichtlich als recht armselig, schmierig, auch unwissend33 dargestellten Alten auf den Kopf setzte, oder auch an jene „weichen Uhren“ des gleichen Malers, die offensichtlich nicht weniger etwas Phallisches bedeuten sollen als dieses schwebende Etwas, das sich im Vordergrund des Bildes abzeichnet.

All das zeigt, daß Holbein im Zentrum der Epoche selbst, in der sich das Subjekt abzeichnet und die geometrale Optik gefunden wird, etwas sichtbar macht, was nichts anderes ist als: das Subjekt als ein genichtetes – genichtet in einer Form, die jenes Weniger-Phi [(–ϕ)] der Kastration bildhaft inkarniert, die für uns die gesamte Organisation der Begierden quer durch den Rahmen der Grundtriebe zentriert.

Man muß aber noch weiter gehen, um zur Funktion des Sehens zu kommen. Erst von dieser aus werden wir sehen, wie nicht das Phallussymbol, das anamorphotische Phantom, sondern der Blick als solcher sich abzeichnet, in seiner trieblichen Funktion, strahlend, zur Schau gestellt, wie auf dem Bild.

Das Bild, wie jedes andere Bild auch, ist eine Blickfalle. Welches Bild Sie auch nehmen, wenn Sie Punkt für Punkt dem Blick nachspüren, werden Sie sehen, wie dieser verschwindet. Ich werde nächstes Mal versuchen, dies zu formulieren. […]

[97] VIII. LINIE UND LICHT

Begehren und Bild ∫ tableau

Geschichte einer Sardinenbüchse

Der Lichtschirm

Mimikry

Das Organ

Nie erblickst Du mich da, wo ich Dich sehe

Die Funktion des Auges kann den, der Sie aufklären möchte, in recht abgelegene Forschungen führen. Seit wann, könnte man beispielsweise fragen, gibt es die Funktion dieses Organs, und wann ist es einfach vorhanden in der Reihe der Lebewesen?

Die Beziehung des Subjekts zum Organ steht im Mittelpunkt unserer Erfahrung. Unter den Organen, mit denen wir es zu tun haben, Brust, Kot und anderen, ist das Auge, und mit Erstaunen stellen wir fest, wie weit dieses bei den Arten, die das Erscheinen des Lebens repräsentieren, zurückverfolgt werden kann. Sie essen, ohne sich viel dabei zu denken, Austern, und wissen nicht, daß das Auge bereits auf dieser Stufe des Tierreichs aufgetaucht ist. Bei solchen Abstechern in die Tiefe erleben wir blaue Wunder, wie man sagen kann. Trotzdem, wir müssen wählen, da wir ja die Aufgabe haben, die Dinge auf den Punkt zurückzuführen, der uns hier interessiert.

Ich bin letztes Mal, denke ich, genau genug gewesen, so daß Sie nun erkennen können, was das kleine, sehr vereinfachte Dreieckschema bedeuten soll, das ich oben an die Tafel gezeichnet habe.

[98] Es soll in drei Termen an die Optik erinnern, die zur Anwendung kommt bei der operativen Montage, bei der es um eine umgekehrte Anwendung der Perspektive geht, wie dies vorherrschend wurde in der Technik der Malerei namentlich vom Ende des fünfzehnten Jahrhunderts an über das sechzehnte bis ins siebzehnte Jahrhundert. Wie die Anamorphose zeigt, geht es in der Malerei nicht um eine realistische Wiedergabe der Dinge im Raum – was überhaupt eine Ausdrucksweise ist, bei der die größten Vorbehalte anzumelden wären.

Darüber hinaus zeigt das kleine Schema, daß das Eigentliche des Sehens einer bestimmten Optik entgehen muß. Diese Optik steht auch den Blinden zu Gebot. Sie erinnern sich, daß ich Sie auf Diderots Brief verwiesen habe, der zeigt, wie gut auch der Blinde von allem, was das Sehen vom Raum wiedergibt, sich Rechenschaft zu geben, wie gut er diesen Raum zu rekonstruieren, sich bildhaft vorzustellen, davon zu sprechen vermag. Aufgrund dieser Möglichkeit konstruiert Diderot laufend einen Doppelsinn mit metaphysischen Untertönen, und diese Ambiguität macht seinen Text lebendig und gibt ihm seine Schärfe. Uns hingegen zeigt die geometrale Dimension, wie sehr das Subjekt, dem unser Interesse gilt, im Feld des Sehens erfaßt, gefangen und gesteuert ist.

Sofort – ohne länger als sonst mit verdeckten Karten zu spielen – zeigte ich Ihnen auf dem Gemälde von Holbein jenen eigentümlichen im Vordergrund schwebenden Gegenstand, der da betrachtend zu betrachten ist und der den Betrachter lockt, ich möchte fast sagen: in die Falle lockt, nämlich uns. Mit Sicherheit ist es die außergewöhnliche, ich weiß nicht welchem Reflexionsmoment des Malers zu verdankende, letztlich aber doch völlig offenkundige Absicht, uns zu zeigen, daß wir als Subjekte auf dem Bild buchstäblich angerufen sind und also dargestellt werden als Erfaßte. Das Geheimnis dieses Bilds, an dessen Bedeutungsvielfalt ich Sie erinnerte: die vanitas-Objekte zwischen den beiden unbeweglichen Figuren in reichem Ornat, die dieses Bild präsentiert, alles, was in der Auffassung der Zeit an die Eitelkeit der Künste und der Wissenschaften erinnert – dies Geheimnis des Bildes zeigt sich in dem Augenblick, wo wir uns von ihm entfernen und im langsamen Weggehen nach links uns umkehren und sehen, was der schwebende magische Gegenstand anzeigt. Er gibt unsere eigene Nichtigkeit wieder, in Gestalt eines Totenschädels. Hier ist also die geometrale Dimension dazu da, das Subjekt einzufangen, offensichtlich im Verhältnis zum Begehren, das aber rätselhaft bleibt.

[99] Was ist das aber für ein Begehren, das sich in dem Bild fängt, sich im Bild festmacht – es aber ebenso motiviert, indem es ja den Künstler dazu bewegt, etwas, und was, ins Werk zu setzen. Dies ist der Weg, auf dem wir heute weiterkommen wollen.

[…] [101] (1) […] Die Geschichte ist wahr. Sie stammt aus der Zeit meiner, ich würde sagen, meiner Zwanzigerjahre – ich hatte damals, als junger Intellektueller, natürlich nichts Besseres zu tun als rauszugehen und mich irgendeiner Tätigkeit hinzugeben, die nur direkt und ländlich sein sollte, also zum Beispiel Jagd oder Fischen. Eines Tags nun war ich auf einem kleinen Boot zusammen mit einigen Leuten aus einer Fischersfamilie, die an dem kleinen Hafen zu Hause war. Damals war unsere Bretagne noch unberührt von der Großindustrie, und Fischerei im großen Stil gab es noch nicht. Die Fischer fischten in ihrer Nußschale auf eigenes Risiko und eigene Gefahr. Und eben dieses: Gefahr und Risiko wollte ich mit ihnen teilen. Nur gab es Gefahr nicht immer, es gab auch Tage schönsten Wetters. Eines Tags nun, wir warteten auf den Augenblick, wo die Netze eingeholt werden sollten, zeigt mir ein gewisser Petit-Jean, wir nennen ihn so – er ist mit seiner ganzen Familie dann plötzlich von der Tuberkulose dahingerafft worden, die damals tatsächlich so etwas wie die Krankheit einer ganzen Sozialschicht war – eines Tags also zeigt mir Petit-Jean ein Etwas, das auf den Wellen dahinschaukelte. Es war eine kleine Büchse, genauer gesagt: eine Sardinenbüchse, ausgerechnet. Da schwamm sie also in der Bonne, als Zeuge der Konservenindustrie, die wir ja beliefern sollten. Spiegelte in der Sonne. Und Petit-Jean meinte: - Siehst Du die Büchse? Siehst Du sie? Sie, sie sieht Dich nicht!

Er fand sie sehr lustig, die kleine Geschichte, ich weniger. Ich habe mich gefragt, warum ich sie weniger komisch fand. Das ist sehr aufschlußreich.

[102] Zunächst, wenn es einen Sinn haben soll, daß Petit-Jean mir sagt, daß die Büchse mich nicht sehe, so deshalb, weil sie in einem bestimmten Sinn mich tatsächlich anblickt, angeht35. Sie blickt mich an ∫ me regarde auf der Ebene des Lichtpunkts, wo alles ist, was mich angeht ∫ me regarde, und das ist hier durchaus nicht als Metapher gemeint.

Was erklärt die Bedeutung dieser kleinen Geschichte, die ich dem Einfall des Gefährten verdanke, und was erklärt, daß er sie so komisch fand und ich weniger? Die Geschichte ist mir erzählt worden, weil ich in dem Moment damals – so wie ich mich geschildert habe zusammen mit diesen Leuten, die so schwer für ihre Existenz zu schuften hatten in fortgesetztem Kampf gegen etwas, was für sie rohe Natur hieß – weil ich damals also ein unsäglich komisches Bild ∫ tableau gemacht haben muß. Oder vielmehr: Ich fiel aus dem Bild heraus ∫ je faisais tant soit peu tache ∫ ich machte mehr oder weniger einen Fleck im Bild. Und weil mir das bewußt ist, kann nichts mich bei dieser komischen, ironischen Geschichte, die ich mich jetzt vorbringen höre, davon abbringen, sie wenig komisch zu finden.

Ich nehme hier die Struktur auf der Ebene des Subjekts, diese spiegelt aber nur, was bereits im natürlichen Verhältnis von Auge und Licht vorhanden ist. Ich bin nicht einfach jenes punktförmige Wesen, das man an jenem geometralen Punkt festmachen könnte, von dem aus die Perspektive verlaufen soll. Zwar zeichnet sich in der Tiefe meines Auges das Bild ∫ tableau. Das Bild ist sicher in meinem Auge. Aber ich, ich bin im Tableau.

Was Licht ist, blickt mich an, und dank diesem Licht zeichnet sich etwas ab auf dem Grunde meines Auges – nicht einfach jenes konstruierte Verhältnis, das Objekt, bei dem der Philosoph hängenbleibt – sondern die Impression, das Rieseln einer Fläche, die für mich nicht von vorneherein auf Distanz angelegt ist. Dabei kommt etwas ins Spiel, was beim geometralen Verhältnis elidiert wird – die Feldtiefe in ihrer ganzen Doppeldeutigkeit, Variabilität, auch Unbeherrschbarkeit. In der Tat ist eher sie es, die mich ergreift, mich in jedem Augenblick umwirbt und aus der Landschaft etwas anderes macht als eine Perspektive, etwas anderes als das, was ich „Tableau“ genannt habe.

Das Korrelat zum Tableau, das am selben Ort zu situieren wäre wie dieses, also draußen, wäre der Blick-Punkt ∫ le point de regard. Die Vermittlung beider, also das, was zwischen beiden ist, ist anderer Natur als der geometrale Raum der Optik, es spielt exakt die umgekehrte Rolle, [103] da es nicht durchlässig, traversierbar ist, sondern ganz im Gegenteil opak – es ist der Schirm ∫ écran.

In dem, was sich mir so als Raum des Lichts darstellt, bedeutet Blick immer ein Spiel von Licht und Undurchdringlichkeit. Es geht stets um ein Spiegeln, wie in meiner kleinen Geschichte von eben, stets ist etwas da, was mich zurückhält, an jedem Punkt, weil es Schirm ist, und so das Licht als ein Schillern erscheint, das über diesen Schirm läuft. Um alles zu sagen: diesem Blick-Punkt eignet stets etwas von der Ambiguität eines Juwels.

Und sollte ich etwas sein in diesem Bild ∫ tableau, dann auch in der Form dieses Schirms, den ich eben „Fleck“ nannte.

2

So ist die Beziehung des Subjekts zum Bereich des Sehens. Man darf hier also Subjekt nicht im geläufigen Sinn des Wortes „Subjekt“, im subjektiven Sinn, verstehen – es geht durchaus nicht um eine idealistische Beziehung. Dieser Überflug ∫ survol ∫ Überblick, den ich Subjekt heiße und der in meiner Auffassung dem Tableau Beständigkeit gibt, ist nicht ein Überflug der Vorstellung nach.

Die Gefahr, sich im Bereich des Schauspiels über die Subjektfunktion zu täuschen, ist groß.

Sicher gibt es für die Synthesisfunktion dessen, was hinter der Netzhaut passiert, Beispiele in der „Phänomenologie der Wahrnehmung“. Merleau-Ponty führt aus einer reichen Literatur sehr bemerkenswerte Tatsachen auf, an denen sich beispielsweise zeigen läßt, daß allein der Umstand, daß man mit Hilfe eines Schirms ein Feld, das als Quelle von zusammengesetzten Farben dient, teilweise abdeckt – die Farben bestehen beispielsweise aus zwei Scheiben, Schirmen, die sich übereinander drehen und einen bestimmten Lichtton erzeugen – daß also eine einzige Intervention bereits genügt, um die betreffende Zusammensetzung ganz anders erscheinen zu lassen. Wir haben es hier in der Tat mit der rein subjektiven Funktion im trivialen Sinn des Worts zu tun, mit der Bedeutung eines zentralen Interventionsmechanismus: das Spiel des Lichts, wie es in dieser Versuchsanordnung ausgelöst wird und das wir in allen seinen Komponenten kennen, ist etwas anderes als das, was vom Subjekt wahrgenommen wird.

Noch anders verhält es sich mit der Wahrnehmung der Reflexwirkun[104]gen, die von einem Feld oder von einer Farbe ausgehen – bei welchen wir ebenfalls eine subjektive Seite unterscheiden können, die aber jetzt anders akkommodiert erscheint. Wenn wir zum Beispiel eine gelbe Fläche neben eine blaue halten – wird die blaue Fläche, sobald auf sie Licht fällt, das von der gelben Fläche reflektiert wird, eine gewisse Veränderung erfahren. Aber mit Bestimmtheit ist alles, was Farbe ist, nur subjektiv – es gibt kein objektives Korrelat im Spektrum, das gestattete, die Farbqualität der auf der Ebene der Lichtschwingungen auftretenden Wellenlänge oder Frequenz zuzuordnen. Es geht hier in der Tat um etwas Subjektives, das aber anders zu situieren ist.

Ist das alles? Meine ich das, wenn ich vom Verhältnis des Subjekts zum sogenannten Tableau spreche? Gewiß nicht.

Das Verhältnis des Subjekts zum Tableau ist von einigen Philosophen zwar aufgegriffen, aber, wenn ich mich so ausdrücken darf, daneben situiert worden. Lesen Sie etwa das Buch von Raymond Ruyer mit dem Titel Néo-finalisme. Achten Sie darauf, wie der Autor, um die Wahrnehmung in einer teleologischen Perspektive zu situieren, sich veranlaßt sieht, das Subjekt absolut zu überfliegen. Dabei besteht, abgesehen von einem völlig abstrakten Vorgehen, nicht die geringste Veranlassung, das Subjekt in solch absolutem Überflug zu setzen, wenn es wie bei diesem Beispiel nur darum geht, begreifbar zu machen, wie es sich mit der Wahrnehmung eines Schachbretts verhält. Das gehört wesentlich in jene geometrale Optik, deren Unterscheidung meine erste Sorge galt. Wir sind da im Raum partes extra partes, der sich in dieser Weise immer gegen ein Erfassen des Objekts sperrt. In dieser Richtung ist die Chose nicht weiter zurückführbar.

Es gibt allerdings einen Phänomenbereich – von unendlich größerer Ausdehnung, als die Punkte, an denen er sich bevorzugt zeigt, annehmen lassen – der uns erlaubt, das Subjekt in seiner wahren Natur in absolutem Überflug ∫ en survol absolu zu erfassen. Es ist nicht so, daß er nicht forderbar wäre, nur weil wir ihm kein Sein zusprechen können. Es gibt Tatsachen, die allein von der phänomenalen Dimension des Überflugs aus, wonach ich mich im Tableau als Fleck situiere, artikulierbar sind – es sind die Tatsachen der Mimikry.

Ich kann mich hier nicht wirklich in die mehr oder weniger ausgearbeiteten Probleme einmischen, die durch diese Tatsachen aufgeworfen sind. Ich verweise Sie dafür auf die Spezialliteratur, die nicht nur faszinierend ist, sondern auch reiches Material für die Reflexion bietet. Es mag genügen, wenn ich hervorhebe, was bisher vielleicht nicht aus[105]reichend hervorgehoben worden ist. Als erstes stelle ich die Frage nach der Bedeutung der Anpassungsfunktion bei der Mimikry.

Strenggenommen kann bei bestimmten Mimikryerscheinungen tatsächlich von einer Färbung als Anpassung oder Angepaßtwerden gesprochen werden, man sieht beispielsweise – wie Cuénot mit gewisser Wahrscheinlichkeit an einzelnen Fällen zeigen konnte – daß Färbung als Anpassung an den Hintergrund nur eine Art Abwehr gegen das Licht ist. In einem Milieu, in dem von der Umgebung her grüne Strahlen vorherrschen, also etwa in einem mit grünem Gras bestandenen Wassergrund, wird ein Tierchen – es gibt unzählige, die wir als Beispiel nehmen könnten – grün, sowie ihm das Licht schädlich werden könnte. Es wird also grün, um grünes Licht abzuweisen – es stellt sich durch Anpassung in den Schutz der Wirkungen des Grüns.

Bei der Mimikry indessen geht es um ganz andere Dinge. Ich bringe ein ziemlich zufälliges Beispiel – glauben Sie nicht, daß das ein besonderer Fall wäre. Ein Krustentierchen, das man Caprella nennt – es wird ihm noch ein Adjektiv beigefügt: acanthifera – imitiert, wenn es unter jenen Lebewesen an der Grenze zum Lebendigen, die man Briozoaren nennt, nistet, ja, was? – es imitiert, was bei diesen quasi-pflanzlichen Lebewesen wie den Briozoaren ein Fleck ist. In bestimmten Phasen des Briozoaren bildet nämlich eine Einbuchtung der Eingeweide einen Fleck, in anderen Phasen tritt so etwas wie ein Farbzentrum in Funktion. An diese gefleckte Form akkommodiert sich jenes Krustentier. Es wird zum Fleck, zum Tableau, es schreibt sich in das Tableau ein. Hier kann dann im eigentlichen und ursprünglichen Sinne von Mimikry die Rede sein. Die fundamentalen Dimensionen der Inskription des Subjekts im Tableau erscheinen so unendlich besser begründet, als wir bei der ersten, noch tastenden Annäherung ahnen konnten.

Ich habe bereits angedeutet, was Caillois in seinem kleinen Buch Méduse et compagnie mit einer Überzeugungskraft, wie sie manchmal dem Nichtspezialisten zur Verfügung steht, ausführt – seine Distanz möglicherweise gestattet es ihm, im Umriß zu erfassen, was der Spezialist nur zu buchstabieren vermochte.

Es gibt Leute, die in den Verfärbungserscheinungen nur die Tatsache einer mehr oder weniger geglückten Anpassung sehen. Die Tatsachen aber zeigen, daß so gut wie nichts von der Anpassung – wie man sie für gewöhnlich versteht: als den Bedürfnissen des Überlebens dienend – daß so gut wie nichts davon in der Mimikry enthalten ist, daß die Mimikry vielmehr in den meisten Fällen, ob sie nun in Wirkung ist oder [106] nicht, strikt umgekehrt sich darstellt, als es das Vorurteil der Anpassung wahrhaben möchte. Caillois stellt drei Rubriken auf, die tatsächlich die hauptsächlichen Dimensionen sind, in denen sich die Aktivität der Mimikry entfaltet – Verkleidung, Tarnung und Einschüchterung.

Hier zeigt sich nun in der Tat, in welcher Dimension das Subjekt sich ins Tableau einrückt. Die Mimikry gibt insofern etwas zu sehen, als sie von dem, was man ein es-selbst nennen könnte, das dahinter wäre, sich unterscheidet. Ihr Effekt ist Tarnung, verstanden in einem rein technischen Sinn. Dabei geht es nicht darum, daß etwas mit einem Hintergrund übereinstimmt, sondern: daß etwas auf einem buntscheckigen Hintergrund selbst buntscheckig wird – es verhält sich damit genauso wie bei den Tarnmanövern in den Kriegen der Menschen.

Bei der Verkleidung geht es um eine bestimmte sexuelle Zielstrebigkeit. Wie die Natur lehrt, produziert sich diese sexuelle Absicht bei sämtlichen Effekten, die wesentlich Verkappung und Maskerade sind. Dabei entsteht ein Plan, der sich von der sexuellen Absicht als solchen unterscheidet und eine wesentliche Rolle spielt, der aber nicht allzu schnell als planvolle Täuschung erkannt werden sollte. Etwas anderes wäre die Funktion des Trugs, Köders ∫ leurre, und wir sollten unser Urteil klugerweise zurückstellen, bis wir gesehen haben, wie dieser wirkt. Nicht anders bringt auch das Phänomen der sogenannten Einschüchterung jenen zusätzlichen Wert mit sich, den das Subjekt im Schein immer zu erreichen sucht. Auch hier sollte nicht allzu eilfertig Intersubjektivität ins Spiel gebracht werden. Immer dann, wenn es um Nachahmung geht, müssen wir uns davor hüten, sofort an einen andern zu denken, der nachgeahmt werden soll. Nachahmen heißt ganz gewiß: ein Bild reproduzieren. Aber im Grunde heißt es, daß das Subjekt sich in eine Funktion einrückt, bei deren Ausübung es erfaßt wird. Hier müssen wir vorläufig haltmachen.

Sehen wir nun, was die unbewußte Funktion als solche uns lehrt, jenes Feld also, das uns für die Eroberung des Subjekts zur Verfügung steht.

3

In diese Richtung führt uns eine weitere Bemerkung von Caillois, der uns versichert, die Tatsachen der Mimikry auf tierischer Ebene entsprächen dem, was beim Menschen als Kunst oder Malerei auftritt.

[107] Das einzige, wogegen hier ein Einwand zu erheben wäre, ist, daß René Caillois die Malerei offenbar so klar zu sein scheint, daß er sich auf sie beziehen zu können glaubt, um etwas anderes zu erklären.

Was ist Malerei? Offenbar nicht ohne Grund haben wir die Funktion, in der das Subjekt als solches sich abzeichnet, Tableau genannt. Wenn nun ein menschliches Subjekt ein Bild malen möchte, also dieses Etwas ins Werk setzt, in dessen Mittelpunkt der Blick steht, worum geht es dann? Im Bild will der Künstler, wie manche sagen, Subjekt sein. Die Malkunst unterschiede sich demnach von allen andern Künsten dadurch, daß der Künstler in seinem Werk sich uns als Subjekt, als Blick nahebringen möchte. Dagegen sagen andere, man müsse vielmehr die Objektseite eines Kunstwerks in Rechnung stellen. Etwas mehr oder minder Richtiges kommt in beiden Auffassungen zum Ausdruck, worum es aber eigentlich geht, ist damit keineswegs erschöpfend beantwortet.

Ich trage die folgende These vor – Im Bild manifestiert sich mit Sicherheit immer ein Blickhaftes. Der Künstler weiß dies, seine Moral, sein Suchen, sein Spüren, seine Praxis bedeuten immer, ob er sich nun daran hält oder nicht, die Wahl einer bestimmten Blickweise. Selbst wenn Sie Bilder vor sich haben, denen der sogenannte Blick, den ein Augenpaar bildet, fehlt, Bilder, auf denen Sie keine Darstellungen der menschlichen Gestalt finden, etwa Landschaften der Holländer oder Flamen, werden Sie letzten Endes filigranhaft etwas sehen, das für den einzelnen Maler so spezifisch ist, daß Sie das Gefühl der Gegenwart eines Blicks haben. Das wäre hier aber nur Objekt für die Forschung, vielleicht nur Illusion.

Die Funktion des Bildes – bezogen auf den, dem der Maler, buchstäblich, sein Bild zu sehen gibt – bezieht sich auf den Blick. Diese Beziehung ist nicht, wie man zunächst vielleicht meinen könnte, Blickfalle zu sein. Man könnte glauben, der Maler habe es wie der Schauspieler auf ein Hast-du-mich-gesehen abgesehen, er wünsche, betrachtet zu werden. Ich glaube es nicht. Ich glaube zwar, daß ein Verhältnis zum Blick des Liebhabers gesucht wird, aber daß dieses Verhältnis viel komplexer ist. Der Maler gibt dem, der sich vor sein Bild stellt, etwas, das für einen Teil der Malerei wenigstens in der Formel zusammenzufassen wäre – Du willst also sehen. Nun gut, dann sieh das! Er gibt etwas, das eine Augenweide sein soll, er lädt aber den, dem er sein Bild vorsetzt, ein, seinen Blick in diesem zu deponieren, wie man Waffen deponiert. Dies eben macht die pazifizierende, apollinische Wirkung [108] der Malerei aus. Etwas ist nicht so sehr dem Blick, sondern dem Auge gegeben, etwas, bei dem der Blick drangegeben, niedergelegt wird. Ein Problem ist, daß eine ganze Seite der Malerei sich von diesem Feld absondert – die expressionistische Malerei. Der Unterschied der expressionistischen Malerei besteht darin, daß sie etwas gibt, was in Richtung einer gewissen Befriedigung geht – in dem Sinn, wie Freud von „Triebbefriedigung“ spricht – befriedigt wird hier also gewissermaßen, was der Blick fordert.

Es geht jetzt, anders gesagt, darum, die Frage zu stellen, was es mit dem Auge als Organ auf sich hat. Man sagt, die Funktion schaffe das Organ. Das ist eine völlige Absurdität – sie erklärt es nicht mal! Alle Organe des Organismus stellen sich immer in einer Vielzahl von Funktionen dar. Gerade beim Auge kommen die unterschiedlichsten Funktionen zusammen. So erreicht die Diskriminierungsfunktion ein Maximum auf der Ebene der Fovea als der bevorzugten Stelle des distinkten Sehens. Etwas anderes tut sich auf dem übrigen Rest der Netzhautoberfläche, den die Spezialisten zu Unrecht als den Ort der skotopischen Funktion bezeichnen. Es geht vielmehr um den Chiasmus: Dieses letzte Feld, das sozusagen geschaffen ist für die Wahrnehmung dessen, was nur unter geringer Beleuchtung steht, verschafft eine maximale Möglichkeit der Wahrnehmung von Lichtwirkungen. Wenn Sie einen Stern fünfter oder sechster Größe sehen wollen – man spricht hier vom „Arago-Phänomen“ – dürfen Sie ihn nicht direkt ins Auge fassen. Erst wenn Sie um ein geringes daneben schauen, wird er für Sie wahrnehmbar.

Diese Funktionen des Auges erschöpfen nicht die Eigenheit des Organs, wie es auf der Couch auftaucht und hier determiniert, was jedes Organ determiniert – Aufgaben. Was den Fehler des Rückgriffs auf den Instinkt ausmacht und so viel Verwirrung stiftet, ist, daß man nicht sieht, daß der Instinkt nur die Art und Weise ist, wie der Organismus sich mit einem Organ so gut es eben geht weiterhilft. Man könnte aus dem animalischen Bereich zahlreiche Beispiele anführen, die zeigen, daß ein übermäßiger Wuchs, eine Hyperentwicklung eines Organs den Zusammenbruch des Organismus zur Folge haben kann. Die vermeintliche Funktion des Instinkts im Verhältnis des Organismus zum Organ sollte also offensichtlich im Sinne einer Moral definiert werden. Man wundert sich über die sogenannten Präadaptationen des Instinkts. Dabei ist das eigentliche Wunder, daß der Organismus aus einem Organ überhaupt etwas machen kann.

[109] Für uns, die wir uns auf das Unbewußte beziehen, geht es um das Verhältnis zum Organ. Es geht nicht um das Verhältnis zur Sexualität, nicht einmal zum Geschlecht, wenn wir diesem Begriff überhaupt eine spezifische Beziehung beimessen können – es geht um das Verhältnis zum Phallus, sofern der Phallus einen Ausfall bedeutet hinsichtlich dessen, was an Realem in Absicht des Geschlechts erreicht werden könnte.

Weil wir es im Innersten der Erfahrung des Unbewußten mit diesem Organ zu tun haben – das beim Subjekt bestimmt ist durch die im Kastrationskomplex organisierte Insuffizienz – können wir auch erfassen, in welchem Maße das Auge von einer ähnlichen Dialektik erfaßt ist.

Schon bei der ersten Annäherung sehen wir, daß in der Dialektik von Auge und Blick nicht Koinzidenz herrscht, sondern zutiefst Trug ∫ leurre. Wenn ich in der Liebe einen Blick verlange, so ist es zutiefst unbefriedigend und ein immer schon Verfehltes, daß – Du mich nie da erblickst, wo ich Dich sehe.

Umgekehrt ist das, was ich erblicke, nie das, was ich sehen will. Das Verhältnis von Maler und Kunstliebhaber, von dem ich eben sprach, ist, was immer man sagen mag, Spiel, Augentäuschungsspiel. Da ist keine Beziehung zum sogenannten Figurativen, wie man sich unpassenderweise ausdrückt, wenn man irgendwelche Beziehung auf eine zugrundeliegende Realität meint.

In jenem klassischen Apolog von Zeuxis und Parrhasios gelingt es Zeuxis, Trauben zu verfertigen, die selbst Vögel zu täuschen vermögen. Wichtig dabei ist aber nicht, daß diese Trauben perfekte Nachahmungen von wirklichen Trauben dargestellt hätten, wichtig ist, daß sogar Vogelaugen sich täuschen ließen. Das zeigt sich, als Zeuxis‘ Gefährte Parrhasios über ihn den Sieg davonträgt, weil er auf eine Mauer einen Schleier malt, so täuschend, daß Zeuxis sich mit der Bitte an ihn wendet, er möge ihm doch zeigen, was dahinter gemalt sei. Es geht also eigentlich um die Täuschung des Auges. Über das Auge triumphiert der Blick. […]

30 Paul Valéry: La jeune Parque (Anm. des Übers.)

31 Chatoiment von chatoyer = dem Spiel des Lichts folgend changieren, die Farbe wechseln, wie Katzenaugen. Chat, Katze, ist die Wurzel des Worts. (Anm. des Übers.)

32 Jurgis Baltrušailis: Anamorphoses, Paris 1969. (Anm. des Übers.)

33 Inconscient bedeutet im Französischen nicht nur „unbewusst“, sondern auch „unwissend“ und „sinnlos“. (Anm. des Übers.)

35 Elle me regarde: Der Doppelsinn des Französischen „sie blickt mich an“ und „sie geht mich an“ ist auch im folgenden zu beachten! (Anm. des Übers.)

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Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 1973

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