Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Über den Kubismus, 1912

Albert Gleizes, Jean Metzinger

Quelle

Albert Gleizes/Jean Metzinger: "Über den Kubismus", in: Charles Harrison/Paul Wood (Hrsg.), Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews. Für die deutsche Ausgabe ergänzt von Sebastian Zeidler. Bd. I. 1895-1941. Übersetzt von Jürgen Blasius u. a. Ostfildern-Ruit: Hatje 1998, S. 232-234, 238-239. ISBN 3-7757-0739-5.

Erstausgabe

Du "Cubisme", Paris: Figuière et Cie Éd. 1912.

Genre

Manifest

Medium

Malerei

[232] […] Um die Bedeutung des Kubismus zu ermessen, müssen wir bis zu Gustave Courbet zurückgehen.

Nachdem David und Ingres den säkularen Idealismus zu einem großartigen Abschluß geführt hatten, verschwendete dieser Meister seine Kraft nicht wie Delaroche und Deveria an sklavische Wiederholungen, sondern begann mit einem Streben nach Realismus, an dem seither alle moderne Kunst teilhat. Dennoch verharrte er in den schlimmsten visuellen Konventionen. Da er nicht erkannte, daß man, um einen wirklichen bildnerischen Rapport zu erzielen, tausendfach den Anschein opfern muß, akzeptierte er ohne jede intellektuelle Prüfung, was sein Auge ihm mitteilte. Er ahnte nicht, daß die sichtbare Welt nur durch das Wirken des Intellekts zur Realität wird und daß die Gegenstände, die uns am stärksten auffallen, nicht unbedingt diejenigen sind, die uns die reichhaltigsten künstlerischen Wahrheiten bieten.

Die Realität ist profunder als die akademischen Rezepte, und sie ist auch komplexer. Courbet war wie jemand, der zum ersten Mal das Meer sieht und, abgelenkt vom Spiel der Wellen, nicht an die Tiefe denkt; wir sollten ihn deswegen nicht tadeln, denn wir verdanken ihm die subtilen, erregenden Freuden, die wir heute genießen.

Eine Stufe höher steht Edouard Manet. Doch sein Realismus bleibt noch hinter Ingres' Idealismus zurück, und seine Olympia wirkt schwerfällig neben dessen Odalisque. Wir [233] schätzen ihn, weil er mit den hinfällig gewordenen Regeln der Komposition brach und die Bedeutung der Anekdote so weit reduzierte, daß er „irgend etwas“ malte. Daran erkennen wir ihn als einen Vorläufer, denn die Schönheit eines Werkes liegt für uns ausdrücklich im Werk selbst und nicht in dem, was nur den Vorwand zu seiner Entstehung abgibt. Trotz vieler Einwände nennen wir Manet einen Realisten, weniger weil er alltägliche Begebenheiten darstellte, sondern weil er oft dem Potential, das sich in den banalsten Gegenständen verbirgt, eine strahlende Realität zu verleihen wußte.

Nach ihm kam es zur Spaltung. Die realistische Tendenz spaltete sich in einen Realismus der Oberfläche und einen Realismus der Tiefe. Jener gehört den Impressionisten: Monet, Sisley usw.; dieser gehört Cézanne.

Die Kunst der Impressionisten birgt einen Widersinn: Mit ihren vielfältigen Farben möchte sie das Leben erschaffen, doch ihr Zeichenstil ist kraft- und wertlos. Das farbenprächtige Kleid glänzt wunderbar, die Formen verkümmern und verschwinden. Hier behauptet, mehr noch als bei Courbet, das Auge seinen Vorrang vor dem Gehirn; doch man ist sich dessen bewußt und rechtfertigt es mit der Unvereinbarkeit von Intellekt und künstlerischem Gefühl.

Aber keine Energie kann sich gegen den allgemeinen Impuls richten, aus dem sie entstanden ist. Wir sollten den Impressionismus keineswegs als eine Fehlentwicklung betrachten. In der Kunst gibt es nur einen Fehler, nämlich die Nachahmung; sie verstößt gegen das Gesetz überhaupt, gegen das Gesetz der Zeit. Allein durch die Freiheit, mit der sie die Maltechnik und die Bestandteile der Farbtöne sichtbar werden ließen, taten Monet und seine Schüler das Ihre, um das Feld zu erweitern. Nie versuchten sie, die Malerei dekorativ, symbolisch oder moralisch zu machen. Wenn sie auch keine großen Maler waren, sie waren immerhin Maler, und damit verdienen sie unseren Respekt.

Cézanne wollte man zu einem verhinderten Genie erklären; man sagte, daß er bewundernswerte Dinge wisse, sie jedoch nur stammelte, statt von ihnen zu singen. In Wahrheit hatte er schlechte Freunde. Cézanne ist einer der größten unter denen, die den Lauf der Geschichte weisen; es wäre unangemessen, ihn mit van Gogh uqd Gauguin zu vergleichen. Eher erinnert er an Rembrandt. Wie der Meister des Christus in Emmaus sich nicht um leeres Gerede kümmerte, hat auch er beharrlich die Realität beobachtet, und wenn er selbst nicht die Regionen erreichte, wo der profunde Realismus unmerklich in einen leuchtenden Spiritualismus übergeht, so hat er zumindest denen, die entschlossen dieses Ziel verfolgen, eine einfache und doch formidable Methode hinterlassen.

Er lehrt uns, die universelle Dynamik zu beherrschen. Er zeigt uns, wie Gegenstände, die wir für unbelebt hielten, sich gegenseitig verändern. Von ihm wissen wir, daß man, wenn man die Farbe eines Körpers abwandelt, damit auch seine Struktur ändert. Er prophezeite, daß das Studium der Volumen neue Horizonte eröffnen würde. Sein Werk, dieser Block aus einem Guß, bewegt sich unter dem Blick, zieht sich zusammen, dehnt sich aus, schmilzt oder entzündet sich und beweist unwiderleglich, daß die Malerei nicht – oder nicht mehr - die Kunst ist, einen Gegenstand mittels Linien und Farben nachzuahmen, sondern die Kunst, unserem Instinkt ein bildnerisches Bewußtsein zu schenken.

Wer Cézanne versteht, hat eine Vorahnung des Kubismus. Nun dürfen wir sagen, daß zwischen dieser Schule und den Vorgängern nur ein Unterschied der Intensität besteht und daß es zur Bestätigung genügt, die Entwicklung des Realismus aufmerksam in Augenschein zu nehmen, die mit Courbets oberflächlicher Realität begann, mit Cézanne in die profunde Realität vorstieß und seither zusehends die Grenzen des Unerkannten zurückdrängt.

[234] * * *

An dieser Stelle möchten wir einen weitverbreiteten Irrtum ausräumen, auf den wir bereits hingewiesen haben. Viele meinen, daß die neuen Maler sich vorrangig um das Dekorative kümmern. Offenbar erkennen sie die flagranten Zeichen nicht, die das dekorative Werk gerade als Gegenteil des Gemäldes erweisen. Das dekorative Kunstwerk existiert nur aufgrund seiner „Bestimmung“; nur durch die Bezüge zwischen ihm selbst und bestimmten anderen Gegenständen kann es Leben gewinnen. Es ist seinem Wesen nach abhängig, es ist zwangsläufig unvollständig, es muß den Geist von vornherein zufriedenstellen, um ihn nicht von dem Schauspiel abzulenken, dem es seine Existenz verdankt und von dem es erst vervollständigt wird. Es ist ein Organ.

Das Gemälde trägt seinen Daseinszweck in sich selbst. Man kann es ungestraft von einer Kirche in einen Salon, von einem Museum in ein Schlafzimmer bringen. Es ist seinem Wesen nach unabhängig, es ist zwangsläufig vollständig, es braucht den Geist nicht unmittelbar zufriedenzustellen, sondern muß ihn im Gegenteil allmählich in die fiktiven Tiefen locken, wo das Licht der Ordnung wacht. Es harmoniert nicht mit diesen oder jenen Dingen, es harmoniert mit allem, mit dem Universum: Es ist ein Organismus.

* * *

[…] [238] […]

Es gibt nichts Wirkliches außer uns, wirklich ist nur das Zusammentreffen einer Wahrnehmung und einer individuellen geistigen Orientierung. Der Gedanke liegt uns fern, die Existenz der Gegenstände, welche unsere Sinne wahrnehmen, in Zweifel zu ziehen; Sicherheit gibt uns die Vernunft aber nur in bezug auf die Vorstellungen, welche sie in unserem Geist hervorrufen.

Es verwundert uns, daß wohlmeinende Kritiker den beachtlichen Unterschied zwischen den angeblich natürlichen Formen und den Formen der zeitgenössischen Malerei dadurch erklären, daß wir die Dinge nicht so darstellen wollten, wie sie erscheinen, sondern so, wie sie wirklich sind. Wie sind sie denn? Diese Kritiker meinen, der Gegenstand besitze eine absolute Wesensform, und wir verzichteten auf Helldunkel und Perspektive, um diese Form freizulegen. Welch eine Naivität! Ein Gegenstand hat keine absolute Form; er hat so viele Formen, wie es Bedeutungsebenen gibt. Die eine, die diese Autoren meinen, entspricht wie durch ein Wunder der geometrischen Form. Die Geometrie ist eine Wissenschaft, die Malerei eine Kunst. Der Geometer mißt, der Maler genießt. Das Absolute des einen ist dem anderen unausweichlich relativ, mag die Logik sich darüber noch so sehr entsetzen. Wird sie jemals verhindern können, daß ein Wein im Reagenzglas eines Chemikers eine ganz andere Vollkommenheit enthüllt als im Glas eines Trinkers?

Uns amüsiert die Vorstellung, daß mancher Neuling sein allzu wörtliches Verständnis der Äußerungen eines Kubisten und seinen Glauben an die absolute Wahrheit damit büßt, daß er die sechs Seiten eines Würfels oder die zwei Ohren eines im Profil gezeigten Modells penibel nebeneinander plaziert.

Folgt hieraus, daß wir uns wie die Impressionisten allein auf unsere Wahrnehmung verlassen sollten? Keineswegs. Wir suchen das Wesentliche, doch wir suchen es in unserer Persönlichkeit und nicht in der Ewigkeit, die die Mathematiker und Philosophen mühe voll ausgeklügelt haben.

* * *

[239] […] Ebenso wie die synchronischen und primären Bilder lehnen wir auch den billigen Ausweg eines phantastischen Okkultismus ab; wenn wir die ausschließliche Verwendung gewöhnlicher Zeichen mißbilligen, dann nicht, um sie durch kabbalistische zu ersetzen. Wir gestehen auch bereitwillig ein, daß es unmöglich ist, beim Schreiben keine Klischees zu verwenden und beim Malen ganz auf bekannte Zeichen zu verzichten. Jeder muß selbst wissen, ob er sie über das ganze Werk verteilen will, sie mit persönlichen Zeichen vermischen oder sie kühn als magische Dissonanzen, Fetzen der großen kollektiven Lüge, auf einen einzigen Punkt der für seine Kunst gewählten Ebene höherer Realität beschränken will. Ein echter Maler berücksichtigt alles, was die Erfahrung ihm enthüllt, auch das Neutrale und Banale. Eine Frage des Takts.

Doch die objektive oder konventionelle Realität, diese Zwischenwelt zwischen unserem Bewußtsein und dem eines anderen, die zu fixieren die Menschheit seit unvordenklichen Zeiten bemüht ist, variiert unaufhörlich je nach den verschiedenen Völkern, Religionen, wissenschaftlichen Theorien usw. So können wir von Zeit zu Zeit, wenn die Gelegenheit günstig ist, unsere eigenen Entdeckungen einbringen und der Regel einige überraschende Ausnahmen hinzufügen. […]

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Albert Gleizes, Jean Metzinger: Über den Kubismus, 1912

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