Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Die konstruktive Idee in der Kunst, 1920

Naum Gabo

Quelle

Naum Gabo: "Die konstruktive Idee in der Kunst", in: Naum Gabo: Sechzig Jahre Konstruktivismus, hrsg. von Steven A. Nash/Jörn Merkert. Mit dem Œuvre-Katalog der Konstruktionen und Skulpturen (anläßlich der Ausstellung Naum Gabo: Sechzig Jahre Konstruktivismus im Dallas Museum of Art vom 29. September bis 17. November 1985, der Art Gallery of Ontario, Toronto, 13. Dezember 1985 – 9. Februar 1986, dem Solomon R. Guggenheim Museum, New York, 6. März – 27. April 1985, der Akademie der Künste, Berlin-West, 7. September – 19. Oktober 1986, der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 28. November 1986 – 4. Januar 1987 und der Tate Gallery, London, 11. Februar – 20. April 1987). München/New York: Prestel-Verlag 1986, S. 204-207. ISBN-10: 3-7913-0773-8.

Erstausgabe

"Die konstruktive Idee in der Kunst", in: Circle (1937).

Genre

Manifest

Medium

Kunst

[204] […] Unser Jahrhundert erscheint in der Geschichte im Zeichen der Revolutionen und der Auflösung. Die Revolutionen haben nichts in dem Gebäude der Kultur verschont, das von vergangenen Zeitaltern aufgebaut worden war. Das begann schon gegen Ende des vorigen Jahrhunderts und entwickelte sich in unserem Jahrhundert mit solcher Geschwindigkeit weiter, daß weder in der materiellen noch in der ideellen Welt ein fester Punkt übriggeblieben ist. Der Krieg war nur die natürliche Folge des Auflösungsprozesses, der lange vorher, mitten in einer vergangenen Zivilisation begonnen hatte. Es ist einfältig zu hoffen, dieser Auflösungsprozeß werde zu einer Zeit und an einer Stelle aufhören, die unseren Wünschen entsprechen. Historische Prozesse dieser Art gehen im allgemeinen ihren eigenen Weg. Sie sind eher wie Fluten, die unabhängig sind von den Schlägen der Ruderer, die auf ihnen treiben. Doch wie lange dieser Prozeß auch immer dauern und wie tief er in der materiellen Zerstörung reichen mag, er kann uns doch unseren Optimismus in Hinblick auf den Ausgang nicht nehmen, da wir sehen, daß wir im Reiche der Ideen nun in eine neue Epoche des Wiederaufbaus eintreten.

Unser Optimismus findet hinreichende Unterstützung auf den beiden Gebieten unserer Kultur, auf die die Revolution am gründlichsten einwirkte, nämlich in Wissenschaft und Kunst. Die kritische Analyse in der Naturwissenschaft gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ging so weit, daß die Wissenschaftler sich zeitweilig selbst in einem Schwebezustand fühlten, da sie fast alle Grundlagen, von denen sie so viele Jahrhunderte lang ausgegangen waren, verloren hatten. Das wissenschaftliche Denken kam plötzlich zu Schlüssen, die vorher scheinbar unmöglich waren, ja, das Wort ‚Unmöglichkeit‘ verschwand aus dem wissenschaftlichen Sprachschatz. Für die Wissenschaftler unseres Jahrhunderts ergab sich dadurch die dringende Aufgabe, diese Lücke auszufüllen. Diese Aufgabe spielt in allen zeitgenössischen wissenschaftlichen Arbeiten die größte Rolle. Sie besteht in der Konstruktion eines neuen verbindlichen Modells für unsere Auffassung des Universums.

Wie gefährlich es auch sein mag, weitreichende Analogien zwischen Kunst und Wissenschaft zu ziehen, man kann die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß in den Augenblicken der Kulturgeschichte, in denen der schöpferische Geist des Menschen eine Entscheidung treffen mußte, die Formen, in denen sich dieser Geist kundtat, in Kunst und Wissenschaft analog waren. Man ist geneigt, anzunehmen, daß diese Manifestation in der Kunstgeschichte auf einer tieferen Ebene liegt als in der Geschichte der Wissenschaft oder wenigstens auf einer Ebene, die einer größeren sozialen Kontrolle zugänglich ist. Allein die Ausdrucksweise der Wissenschaft stürzt den Laien in Furcht, Demut und Bewunderung. Die innere Welt der Wissenschaft ist dem Außenstehenden durch einen Vorhang von Rätseln verschlossen. Seit dem Beginn der Kultur wurde er dazu erzogen, den geheiligten Mystizismus dieser Rätsel anzuerkennen. Er versucht nicht einmal, in diese Welt einzudringen, um zu erfahren, was dort vor sich geht, in der Überzeugung, daß es etwas sehr Bedeutsames sein müsse, da er die Ergebnisse in den Errungenschaften der Technik deutlich vor Augen hat. Der Durchschnittsmensch weiß beispielsweise, daß es eine Elektrizität und daß es ein Radio gibt, und er gebraucht sie täglich. Er kennt die Namen Marconis und Edisons, doch darf man daran zweifeln, daß er jemals etwas über das wissenschaftliche Werk von Hertz gehört hat, und ganz sicher hat er nie etwas über die elektro-magnetische Wellentheorie von Maxwell erfahren oder über seine mathematischen Formeln.

Anders ist die Haltung des Durchschnittsmenschen gegenüber der Kunst. Der Zugang zum Reiche der Kunst steht jedem offen. Er urteilt über die Kunst mit der ungezwungenen Leichtigkeit eines Auftraggebers oder Besitzers. Er denkt nicht über die Vorgänge nach, die einen Künstler oder eine Gruppe von Künstlern dazu gebracht haben, eine bestimmte Art von Kunst zu machen und keine andere. Wenn er das zufällig tut, gibt er doch nie[205]mals sein Recht auf, zu urteilen und zu entscheiden, anzunehmen oder abzulehnen, mit einem Wort, er nimmt eine Haltung ein, die er sich der Wissenschaft gegenüber niemals erlauben würde. Er ist davon überzeugt, daß der Wert und die Existenz eines Kunstwerkes von seinem Urteil abhängt. Er kommt gar nicht darauf, daß ein Kunstwerk schon durch seine bloße Existenz die Funktion, für die es geschaffen wurde, erfüllt und die Weltsicht des Betrachters verändert hat, ganz gleich, ob dieser es wünscht oder nicht. Die schöpferischen Vorgänge sind im Bereiche der Kunst ebenso unabhängig wie in der Wissenschaft. Selbst vielen Kunsttheoretikern bleibt die Tatsache verborgen, daß eine geistige Situation die künstlerische und die wissenschaftliche Aktivität zu gleicher Zeit und in die gleiche Richtung drängt.

Auf den ersten Blick scheint es unmöglich, eine Parallele zwischen dem wissenschaftlichen Werk, sagen wir, und einem Bild von Raffael ziehen zu können, und doch ist es nicht schwer, die zwischen ihnen bestehende Verbindung zu entdecken. Tatsächlich stimmt die wissenschaftliche Welttheorie des Kopernikus mit Raffaels Konzeption in der Kunst überein. Raffael würde niemals gewagt haben, das naturalistische Bild seiner berühmten florentinischen Pastetenköchin als Modell für die Heilige Jungfrau zu nehmen, hätte er nicht einer Generation angehört, die bereits die geozentrische Weltsicht aufgegeben hatte. In der künstlerischen Auffassung Raffaels ist keine Spur mehr von dem mythologisch-religiösen Mystizismus des vorhergehenden Jahrhunderts vorhanden, so wie es keine Spur dieses Mystizismus mehr in dem Buche des Kopernikus De revolutionibus orbium coelestium gibt. Im Werke beider ist die Erde nicht mehr die Mitte des Kosmos und der Mensch nicht länger die Krone der Schöpfung oder der einzige Held des kosmischen Dramas. Welt und Mensch gehören einem größeren Universum an, und ihr Dasein erscheint nicht mehr als das mystische, entstofflichte Wunder der mittelalterlichen Epoche. Damals herrschte in den Ateliers der florentinischen Künstler wie unter den Bögen der Akademie von Neapel der gleiche Geist, der sich unter der Führung Telesios auf das Empirische Studium der Natur richtete. Dieses Band zwischen Wissenschaft und Kunst ist in der ganzen Geschichte der menschlichen Kultur niemals zerrissen, und wir können es wahrnehmen, auf welchen Abschnitt der Geschichte wir auch immer schauen. Diese Tatsache erklärt viele Erscheinungen in der geistigen Entwicklung unseres eigenen Jahrhunderts, die unsere Generation zur konstruktiven Idee in der Kunst führten.

Die konstruktive Idee stammt unmittelbar vom Kubismus ab, obgleich dieser auf sie eher abstoßend als anziehend wirkte. Der Kubismus war der Höhepunkt eines revolutionären Prozesses in der Kunst, der schon gegen Ende des vorigen Jahrhunderts bei den Impressionisten begonnen hatte. Man mag den Wert der einzelnen kubistischen Werke einschätzen wie man will, es ist jedoch nicht hinwegzuleugnen, daß der Einfluß der kubistischen Ideen auf die Künstler zu Beginn unseres Jahrhunderts, in seiner Heftigkeit und Kühnheit keine Parallele in der Kunstgeschichte hat. Die Revolution, die diese Richtung in den Gemütern der Künstler hervorrief, läßt sich nur mit derjenigen vergleichen, die sich annähernd um die gleiche Zeit in der Welt der Physik vollzog. Viele nehmen fälschlicherweise an, die Entwicklung der kubistischen Ideologie habe ihren Grund in der damals herrschenden Vorliebe für Negerkunst. Der Kubismus war jedoch eine rein europäische Erscheinung, und sein Gehalt hat nichts mit dem Dämonenkult primitiver Stämme zu tun. Die kubistische Ideologie war äußerst differenziert und konnte sich nur in der Atmosphäre einer verfeinerten Kultur entfalten. In der Tat bedarf es einer besonders geschärften und ausgebildeten Begabung für analytisches Denken, um die Aufgabe einer Neubewertung alter Kunstwerke zu übernehmen und sie nach Art der Kubisten mit Vehemenz durchzuführen. Alle vorhergehenden Kunstrichtungen waren im Vergleich dazu bloße Reformen, der Kubismus aber war eine Revolution. Er richtete sich gegen die Grundlagen der Kunst. Alles, was vorher für den künstlerischen Geist heilig und unantastbar gewesen war, nämlich die formale Einheit der äußeren Welt, wurde auf ihren Leinwänden plötzlich aufgegeben, in Stücke zerrissen und zerlegt wie ein anatomisches Exempel. Die Grenze, die die äußere Welt vom Künstler trennte und sie in Objektformen unterschied, verschwand. Die Gegenstände selbst lösten sich in ihre Bestandteile auf, und das Bild war nicht länger Abbild der sichtbaren Formen eines als Einheit gesehenen Gegenstandes, eine Welt in sich, sondern erschien als eine gemalte Analyse des inneren Mechanismus seiner Zellen. Das Medium zwischen der inneren Welt des Künstlers und der äußeren Welt hat seinen Umfang verloren, und zwischen der inneren Welt der Auffassungen des Künstlers und der äußeren Dingwelt gab es kein substantielles Medium mehr, das nach der Entfernung oder mit dem Verstand gemessen werden konnte. Die Umrisse der Außenwelt, die vorher als einziger Wegweiser für eine Orientierung gedient hatten, waren getilgt. Selbst die Notwendigkeit der Orientierung verlor ihre Bedeutung und wurde durch andere Probleme ersetzt, durch Fragen der Forschung und der Analyse. Der schöpferische Akt war bei den Kubisten vollkommen anders als bei allem vorher Dagewesenen. Der Kubist nahm das Objekt nicht als Welt für sich, indem er es durch seine Empfindungen zu etwas Drittem werden ließ, nämlich zu dem Bild, das ein Ergebnis aus den beiden ersten ist, sondern übersetzte die vollständige innere Welt seiner Vorstellungen mit allen ihren Bestandteilen (Logik, Emotion, Wille) in die innere des Objekts, indem er seine ganze Struktur und Substanz bis zu einem Grade durchdrang, daß die äußere Hülle explodierte und der Gegenstand selbst zerstört und unkenntlich erschien. Daher wirken kubistische Bilder wie Scherbenhaufen von einem Gefäß, das von innen her explodiert ist. Der Kubist hat kein besonderes Interesse an Formen, die einen Gegenstand vom anderen unterscheiden.

Obgleich die Kubisten die äußere Welt immer noch als Ausgangspunkt für ihre Kunst betrachteten, sahen sie oder wollten sie keinen Unterschied sehen zwischen, sagen wir, einer Geige, einem Baum oder einem menschlichen Körper usw. Alle diese Dinge waren für sie nur eine einzige, weitgefaßte Angelegenheit mit einer einheitlichen Struktur, und nur diese Struktur war für ihre analytische Aufgabe von Bedeutung. Es ist verständlich, daß in einer solchen künstlerischen Konzeption der Welt die Details unerwartete Ausmaße annahmen und daß die Teile den Wert von Wesenheiten erhielten. So wuchs in den inneren Beziehungen zwischen ihnen das Mißverhältnis in einem solchen Grade, daß alle ererbten Ansichten über die Harmonie zerstört wurden. Schauen wir durch ein kubistisches Bild auf seine Weltauffassung, so geschieht das gleiche, als wenn wir in ein Gebäude eintreten, das wir nur aus der Entfernung kannten – es wirkt überraschend, ist nicht wiederzuerkennen, fremd. Es geschieht also das gleiche, was sich im Reiche der Physik ereignete, als die neue Relativitätstheorie die Grenzlinien zwischen Materie und Energie, zwischen Raum und Zeit, zwischen dem Wunder der Welt im Atom und dem beständigen Wunder unserer Milchstraße zerstörte.

Ich will damit nicht sagen, diese wissenschaftlichen Theorien hätten die Ideologie der Kubisten beeinflußt, man darf vielmehr vermuten, daß keiner jener Künstler von diesen Theorien gehört oder sie gar studiert hatte. Wahrscheinlich würden sie sie gar nicht begriffen haben, wenn sie davon gehört hätten, und das ist schließlich auch vollkommen überflüssig. Der Stand der Ideen in dieser Zeit hat beide schöpferischen Bereiche zu entsprechenden Ergebnissen geführt, jeden auf seinem Gebiet, so daß das Gebäude der Kunst ebenso wie das der Wissenschaft unterminiert und zerfressen wurde durch den Geist unerschrockener Analyse, der am Ende zu einem revolutionären Ausbruch führte. Die Zerstörung im Reiche der Kunst war jedoch heftiger und durchdringender.

Nach dem Werk der Kubisten fand unsere Generation in der Kunst nur noch ein Konglomerat von Ruinen vor. Die kubistische Analyse hatte von der Tradition nichts übriggelassen, auf dem wir auch nur die einfachste Grundlage hätten errichten können. Wir waren gezwungen, von vorn anzufangen. Wir standen vor dem Dilemma, entweder in der Zerstörung fortzufahren oder nach einer Basis für die Gründung einer neuen Kunst zu suchen. Unsere Wahl war nicht schwer. Die Logik des Lebens und der natürliche künstlerische Instinkt gaben uns die Lösung ein.

Die Logik des Lebens duldet keine dauernden Revolutionen. Auf dem Papier ist das möglich, doch im wirklichen Leben ist die Revolution nur ein Mittel, ein Werkzeug, niemals ein Ziel. Sie gestattet die Beseitigung von Hindernissen, die einem Neuaufbau im Wege stehen, doch ist die Zerstörung um ihrer selbst willen dem Leben feindlich. Jede Analyse ist nützlich, ja, notwendig, wenn diese Analyse jedoch ohne Berücksichtigung der Ergebnisse durchgeführt wird, dann verkehrt sie sich in ihr Gegenteil. Sie klärt das Problem nicht, sondern sie macht es nur unverständlicher. Das Leben gestattet unserem Erkenntnistrieb und unserem Forscherdrang die wagemutigsten Ausflüge, doch nur denjenigen Forschern, die, in ferne, unbekannte Länder gelockt, den Weg, auf dem sie kamen, und das Ziel, mit dem sie auszogen, nicht vergessen haben. In der Kunst sind mehr als in jedem anderen schöpferischen Bereich kühne Experimente erlaubt. Die schwindelndsten Experimente sind zulässig, doch selbst in der Kunst wird die Logik des Lebens auf den Abbruch der Experimente drängen, wenn sie an einem Punkte angelangt sind, an dem der Tod des Versuchsobjektes droht. Es gab in der Geschichte des Kubismus Augenblicke, in denen die Künstler solchen Explosionen entgegengedrängt wurden. Es genügt, die Reden Picabias aus den Jahren 1914 bis 1916 in [206] Erinnerung zu rufen, in denen er den Schiffbruch der Kunst prophezeite, oder die Manifeste der Dadaisten, in denen diese bereits das Begräbnis der Kunst begingen, mit Chor und Kundgebungen. In der Erkenntnis, wie nahe die kubistischen Experimente die Kunst der völligen Vernichtung gebracht hatten, suchten viele Kubisten nach einem Ausweg, doch versetzte sie der Mangel an Konsequenz nur in Furcht und trieb sie zurück zu Ingres (Picasso, 1919-1923) oder zu den Gobelins des 16. Jahrhunderts ( Braque u.a.). Es handelte sich dabei jedoch nicht um einen Ausweg, sondern um einen Rückzug. Unsere Generation brauchte ihnen nicht zu folgen, da sie in Gestalt der konstruktiven Idee eine neue Konzeption der Welt gefunden hatte.

Die konstruktive Idee ist nicht programmatisch. Sie ist weder ein technisches Schema für eine künstlerische Methode noch die aufrührerische Demonstration einer Künstlersekte. Sie ist eine allgemeine Weltauffassung, eine im Leben gründende Ideologie, mit diesem verbunden und darauf gerichtet, seinen Lauf zu beeinflussen. Sie bezieht sich nicht nur auf einen einzelnen künstlerischen Bereich (Malerei, Plastik oder Architektur), sie bleibt sogar nicht auf die Sphäre der Kunst beschränkt. Diese Idee kann in allen Bereichen der neuen Kultur wahrgenommen werden, die jetzt im Aufbau ist. Sie kam nicht mit endgültigen, trockenen Formeln, sie stellt keine unveränderlichen Gesetze oder Schemata auf, sondern sie wächst organisch mit dem Wachstum unseres Jahrhunderts. Sie ist so jung wie dieses Jahrhundert und so alt wie die menschliche Sehnsucht, etwas zu schaffen.

Die Grundlage der konstruktiven Idee in der Kunst ist ein völlig neuer Zugang zum Wesen der Kunst und ihrer Funktionen im Leben. In ihr liegt die vollständige Reorganisation der Mittel in den verschiedenen Gebieten der Kunst, der Beziehungen zwischen ihnen, ihrer Methoden und Ziele. Sie umfaßt jene beiden grundlegenden Elemente, auf denen die Kunst aufgebaut ist, nämlich Inhalt und Form. Vom konstruktiven Gesichtspunkt aus sind diese beiden Faktoren das gleiche. Er trennt den Inhalt nicht von der Form, sondern hält im Gegenteil eine getrennte und unabhängige Existenz beider nicht für möglich. Die Vorstellung, die Form könne eine Bestimmung haben und der Inhalt eine andere, ist mit der Konzeption der konstruktiven Idee nicht in Einklang zu bringen. Beide Elemente müssen in einem Kunstwerk als Einheit leben und wirken, in dieselbe Richtung streben und die gleiche Wirkung erzeugen. Ich sage ‚müssen‘, weil sie niemals vorher in der Kunst in dieser Weise wirksam waren, trotz der offensichtlichen Unerläßlichkeit dieser Bedingung. Immer in der Kunst hat entweder das eine oder das andere vorgeherrscht, das andere bedingend und vorherbestimmend.

Das lag daran, daß in aller vorherigen Kunst ein Kunstwerk niemals die Welt aufnehmen konnte ohne die Darstellung der äußeren Ansicht dieser Welt. Auf welche Weise der Künstler die äußere Welt auch immer darstellte, ob so, wie sie ist, oder so, wie er sie persönlich sah, immer blieb der äußere Aspekt Ausgangspunkt und Kern seines Inhalts. Selbst in den Fällen, in denen der Künstler seine Aufmerksamkeit nur auf die innere Welt seiner Vorstellungen und Empfindungen zu konzentrieren suchte, konnte er sich das Bild dieser inneren Welt nicht ohne die Erscheinung der äußeren Welt vorstellen. Das Äußerste, was er in solchen Fällen wagen konnte, waren mehr oder weniger individuelle Verzerrungen der äußeren Naturbilder, er änderte nur den Maßstab der Beziehungen zwischen beiden Welten, indem er sich an das Hauptsystem ihres Inhalts hielt, die Tatsache ihrer gegenseitigen Abhängigkeit jedoch niemals angriff. Dieser unzerstörbare Inhalt in einem Kunstwerk bestimmte immer die Formen, denen die Kunst bis in unsere Zeit hinein folgte, voraus.

Die scheinbar ideale Einheit von Form und Inhalt in der alten Kunst war in der Tat eine ungleiche Teilung der Rechte. Sie basierte auf dem Gehorsam der Form gegenüber dem Inhalt. Dieser Gehorsam erklärt sich aus der Tatsache, daß alle formalistischen Bewegungen in der Kunstgeschichte, wann immer sie auftauchten, niemals so weit gingen, die Möglichkeit einer unabhängigen Existenz des Kunstwerks ohne naturalistischen Inhalt vorauszusetzen oder zu vermuten, es könne eine Weltauffassung geben, die einen Inhalt durch die Form zu offenbaren vermöchte.

Hierin lag das Haupthindernis für eine Erneuerung der Kunst, und an diesem Punkte legte die konstruktive Idee den Grundstein ihres Fundamentes. Sie hat ein universales Gesetz aufgezeigt, nämlich, daß die Elemente der visuellen Kunst wie Linien, Farben, Umrisse ihre eigene Ausdruckskraft besitzen, die unabhängig ist von jeder Assoziation mit dem äußeren Anblick der Welt, daß ihre Lebendigkeit und ihre Wirksamkeit in ihnen selbst liegende psychologische Erscheinungen sind, die in der menschlichen Natur wurzeln, daß diese Elemente nicht nach der Konvention aus irgendeinem nützlichen oder anderen Grunde als Worte oder Figuren gewählt wurden. Sie sind nicht bloße abstrakte Zeichen, sondern unmittelbar und organisch an die Empfindungen des Menschen gebunden. Die Offenbarung dieses fundamentalen Gesetzes hat in der Kunst ein weites neues Feld eröffnet und die Möglichkeit gegeben, jene menschlichen Impulse und Empfindungen auszudrücken, die vernachläßigt worden waren. Daher wurden diese Elemente mißbraucht, als man sie dazu benutzte, alle jene assoziativen Vorstellungen hervorzurufen, die auch anders, etwa literarisch, hätten ausgedrückt werden können.

Doch war dieser Punkt nur ein Glied in der ideologischen Kette der konstruktiven Konzeption, der verbunden war mit der neuen Auffassung der Kunst als Ganzheit und ihrer Funktion im Leben. Die konstruktive Idee sieht und wertet die Kunst nur als schöpferischen Akt. Der schöpferische Akt ist jede materielle oder spirituelle Arbeit, die dazu bestimmt ist, die Substanz des materiellen und geistigen Lebens anzuregen oder zu vervollkommnen. So nimmt das schöpferische Genie des Menschen den bedeutendsten, einen einmaligen Platz ein. Im Lichte der konstruktiven Idee hat der schöpferische Geist des Menschen das letzte und entscheidende Wort beim endgültigen Aufbau unserer gesamten Kultur. Sicherlich ist das schöpferische Genie des Menschen nur ein Teil der Natur, doch hat alle Energie, die zum Aufbau seines geistigen und materiellen Gebäudes notwendig ist, ihren Ursprung allein in diesem Teil. Da es aus der Natur hervorgegangen ist, hat es das Recht, als ein weiterer Grund seines Wachstums angesehen zu werden. Indem es der Natur gehorsam ist, trachtet es danach, sie zu meistern. Auf die Gesetze der Natur gerichtet, beabsichtigt es, seine eigenen Gesetze zu schaffen, den Formen der Natur folgend, gestaltet es sie noch einmal. Wir brauchen nicht nach dem Ursprung dieser Aktivität zu suchen, es genügt, sie wahrzunehmen und zu fühlen, daß ihre Realität fortwährend auf uns wirkt. Leben ohne schöpferische Anspannung ist undenkbar, und der gesamte Ablauf der menschlichen Kultur ist ein fortwährendes Bemühen des schöpferischen Willens des Menschen. Ohne die Gegenwart und die Kontrolle des schöpferischen Genies würde sich die Wissenschaft niemals selbst aus dem Stadium des Wunderns und Nachdenkens, aus dem sie kommt, erhoben und würde sie niemals substantielle Resultate erzielt haben. Ohne die schöpferische Sehnsucht würde die Wissenschaft sich in ihren eigenen Schemata verlaufen, das Ziel in ihren Erörterungen verlieren. In keinem geistigen Bereich könnte ohne diesen schöpferischen Willen ein Maßstab festgelegt werden. Kein Weg könnte gewählt, keine Richtung angezeigt werden, ohne seine Entscheidung. Es gibt keine Wahrheiten jenseits seiner Wahrheit. Wie viele von ihnen verbirgt das Leben selbst, wie verschieden sind sie und wie gegensätzlich. Die Wissenschaft ist nicht fähig, sie zu lösen. Ein Wissenschaftler sagt: „Die Wahrheit ist hier.“ Ein anderer sagt: „Sie ist dort“, während ein dritter sagt: „Sie ist weder hier noch dort, sondern irgendwo anders.“ Jeder von ihnen hat seinen eigenen Beweis und seinen eigenen Grund für seine Behauptung, aber das schöpferische Genie wartet das Ende ihrer Diskussion nicht ab. Da es weiß, was es will, trifft es seine Wahl und entscheidet sich für sie.

Das schöpferische Genie weiß, daß es überall Wahrheiten gibt, doch kümmert es sich nur um solche Wahrheiten, die seinen Zielen entsprechen und die in seiner Richtung liegen. Der Weg eines schöpferischen Geistes ist immer positiv, er sagt immer aus, das Genie kennt nicht die Zweifel, die für den wissenschaftlichen Geist so kennzeichnend sind. Es handelt in diesem Falle wie die Kunst.

Die konstruktive Idee sieht die Funktion der Kunst nicht in der Darstellung der Welt. Sie erlegt der Kunst nicht die Funktion der Wissenschaft auf. Kunst und Wissenschaft sind zwei verschiedene Ströme, die derselben schöpferischen Quelle entspringen und in dasselbe Meer der allgemeinen Kultur münden, doch fließen diese beiden Ströme in verschiedenen Betten. Die Wissenschaft lehrt, die Kunst sagt aus, die Wissenschaft überzeugt, die Kunst handelt, die Wissenschaft erfaßt, informiert und beweist. Sie unternimmt nichts, das nicht mit den Gesetzen der Natur in Einklang wäre. Die Wissenschaft kann nicht anders handeln, da ihre Aufgabe die Erkenntnis ist. Die Erkenntnis ist gebunden an das, was ist, und das, was ist, ist heterogen, wechselvoll und unvereinbar. Deshalb ist für die Wissenschaft der Weg bis zu letzten Wahrheit so lang und schwer.

Die Kraft der Wissenschaft liegt in ihrer autoritativen Vernunft. Die Macht der Kunst liegt in ihrem unmittelbaren Einfluß auf die menschliche Psyche und in ihrer lebendigen Ansteckungskraft. Als Schöpfung des Menschen erschafft sie den Menschen wieder. Die Kunst bedarf keiner philosophischen Argumente, sie folgt nicht den Wegweisern philosophischer Systeme, sie diktiert vielmehr der Philosophie Systeme wie das Leben. Sie [207] beschäftigt sich nicht damit, über das, was ist, und seine Entstehung nachzudenken. Das ist die Aufgabe der Erkenntnis. Die Erkenntnis wird aus dem Wunsch geboren, zu wissen, die Kunst hat ihren Ursprung in der Notwendigkeit, mitzuteilen und zu verkünden. Die Wissenschaft wird durch unseren Mangel an Erkenntnis angeregt, die Kunst durch unseren Überfluß an Empfindungen und latent vorhandenen Wünschen. Die Wissenschaft ist Vermittlerin von Tatsachen, sie nimmt gegenüber den Ideen, die hinter den Tatsachen liegen, eine indifferente oder tolerante Haltung ein. Die Kunst vermittelt Ideen, ihre Haltung gegenüber den Tatsachen ist streng parteiisch. Die Wissenschaft betrachtet und beobachtet, die Kunst sieht und sieht voraus. Jeder große Wissenschaftler hat Augenblicke erfahren, in denen der Künstler in ihm den Wissenschaftler erlöst hat. „Wir sind Dichter“, sagte Pythagoras, und da ein Mathematiker ein Schöpfer ist, hatte er recht.

Im Lichte der konstruktiven Idee ist das rein philosophische Erstaunen über das Wirkliche und das Unwirkliche eitel. Noch törichter aber ist die Absicht, das Wirkliche in das Überwirkliche und das Unterwirkliche, in bewußte und unbewußte Realität zu teilen. Die konstruktive Idee kennt nur eine Wirklichkeit. In der Kunst ist nichts unwirklich.

Was immer die Kunst berührt, wird wirklich, und wir brauchen keine abgelegenen und entfernten Ortungen ins Unterbewußte vorzunehmen, um eine Welt zu enthüllen, die in unserer unmittelbaren Umgebung liegt. Wir fühlen ihren Pulsschlag ständig in uns. Auch brauchen wir wahrscheinlich niemals eine Reise in interplanetarische Räume zu unternehmen, um den Atem der Planetenbahnen zu fühlen. Dieser Atem fächelt unsere Schläfen in unseren eigenen vier Wänden. Es gibt, ja es kann nur eine Realität geben – das Dasein. Für die konstruktive Idee ist es wichtiger, die Hauptsache zu wissen und anzuwenden, nämlich, daß die Kunst auf ihrem eigenen Gebiet die Mittel besitzt, um den Lauf dieses Daseins zu beeinflussen, indem sie seinen Inhalt bereichert und seine Energien anfacht.

Das bedeutet jedoch nicht, daß diese Idee konsequent zu einem unmittelbaren Aufbau materieller Werte im Leben treibt, es genügt, wenn die Kunst einen Geisteszustand vorbereitet, der allein in der Lage sein wird, aufzubauen, zu koordinieren und zu vervollkommnen, anstatt zu zerstören, zu zerstreuen und zu verschlimmern. Materielle Werte werden das unausweichliche Ergebnis eines solchen Zustandes sein. Aus dem gleichen Grunde erwartet die konstruktive Idee von der Kunst keine Erfüllung kritischer Funktionen, selbst wenn sich diese gegen die negativen Seiten des Lebens richten. Was nützt es, aufzuzeigen, was schlecht ist, wenn man nicht zugleich aufzeigt, was gut ist. Die konstruktive Idee erwartet von der Kunst die Schaffung positiver Werte, die uns dem Besten entgegenführen. Das Maß dieser Vervollkommnung wird nicht so schwer zu bestimmen sein, wenn wir erkennen, daß es nicht außerhalb von uns liegt, sondern an unsere Wünsche und unseren Willen zu ihm gebunden ist. Das schöpferische Genie des Menschen, das niemals irrt und niemals fehlgeht, bestimmt dieses Maß. Seit dem Beginn der Zeiten ist der Mensch mit nichts anderem als mit der Vervollkommnung seiner Welt beschäftigt.

Um die Mittel zur Durchführung dieser Aufgabe zu finden, braucht der Künstler nicht in der äußeren Natur zu suchen. Er ist fähig, seine Impulse in der Sprache jener absoluten Formen auszudrücken, die substantieller Besitz seiner Kunst sind. Diese Aufgabe haben wir konstruktiven Künstler uns selbst gestellt. Wir führen sie durch und hoffen, daß sie von zukünftigen Generationen weitergeführt wird. […]

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Naum Gabo: Die konstruktive Idee in der Kunst, 1920

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