Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Drei amerikanische Maler, 1965

Michael Fried

Quelle

Michael Fried: "Drei amerikanische Maler", in: Charles Harrison/Paul Wood (Hrsg.): Kunsttheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie, Manifeste, Statements, Interviews. Für die deutsche Ausgabe ergänzt von Sebastian Zeidler. Bd. II. 1940-1991. Übersetzt von Jürgen Blasius u.a. Ostfildern-Ruit: Verlag Gerd Hatje 1998, S. 946-952. ISBN 3-7757-0739-5.

Erstausgabe

"Three American painters", in: Three American painters: Kenneth Noland, Jules Olitski, Frank Stella. Fogg Art Museum, Harvard University 21. 4. – 30. 5. 1965; Pasadena Art Museum from 6. 7. – 3. 8. 1965. Cambridge/Massachusetts: Harvard University/Fogg Art Museum 1965, S. 3-53.

Genre

Essay (Ausstellungskatalog)

Medium

Malerei

[946] […] Seit mindestens zwanzig Jahren entstehen die besten neuen Bilder und Skulpturen fast ausschließlich in Amerika; gemeint sind neben den in unserer Ausstellung gezeigten Werken die Arbeiten von Künstlern wie de Kooning, Frankenthaler, Gorky, Gottlieb, Hofmann, Kline, Louis, Motherwell, Newman, Pollock, Rothko, Smith und Still – um nur einige der besten zu nennen. Ja, man könnte die Blüte der Malerei und – in erheblich geringerem Maße – der Skulptur, zu der es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in unserem Land kam, mit der anderen Blüte vergleichen, die die amerikanische Dichtung in den zwei Jahrzehnten nach 1912 erlebte, und zwar sowohl was die Qualität der einzelnen Arbeiten als auch was ihre – wie man es nennen könnte – immanente Schwierigkeit betrifft.

[…] Es ist bezeichnend für die gegenwärtige Lage der bildenden Kunst, daß man die grundlegenden Eigenschaften der neuen Kunst bislang nicht angemessen begriffen hat. Das überrascht nicht unbedingt. Anders als die Dichter üben sich Maler und Bildhauer selten in der kritischen Würdigung ihrer Arbeit; und vielleicht zum Teil deshalb wird das Schreiben über Kunst mangels Alternativen in aller Regel Männern und Frauen überlassen, die in keiner Weise für diese Tätigkeit qualifiziert sind. Außerdem sind die visuellen Fähigkeiten, die man braucht, um sich mit der neuen Malerei und Skulptur auseinandersetzen zu können, womöglich noch seltener als die sprachlichen Fähigkeiten, die die neue Dichtung voraussetzt. Aber auch wenn die Unzulänglichkeit fast der gesamten zeitgenössischen Kunstkritik nichts Überraschendes hat, ironisch ist sie zweifellos, denn nie zuvor ist die bildende Kunst ihrerseits so ausdrücklich selbstkritisch gewesen wie in den vergangenen zwanzig Jahren.

[…] In diesem Essay versuche ich darzustellen, worin meiner Ansicht nach einige der wichtigsten Eigenschaften der neuen Kunst bestehen. Zugleich möchte ich zeigen, warum die Formkritik, wie sie Roger Fry oder – für unseren Zusammenhang wichtiger – Clement Greenberg betreiben, die neue Kunst besser als jeder andere Ansatz zu erhellen vermag. Dazu müssen wir uns die etwa hundertjährige Entwicklung der „modernistischen“ Malerei (wie Greenberg sie nennt) vor Augen halten, denn die Arbeiten der [947] genannten Künstler führen in einem bedeutsamen Sinne eine Form der Malerei fort, die in Frankreich mit dem Werk von Edouard Manet einsetzte.1 Anders verhält es sich, zum Teil wenigstens, mit der Skulptur, die hier aus Platznot und der Einfachheit halber nicht behandelt werden soll.

Im groben Umriß könnte man die Geschichte der Malerei von Manet bis zum synthetischen Kubismus und zu Matisse als Geschichte ihrer allmählichen Entfernung von der Aufgabe der Wirklichkeitsdarstellung – oder der Entfernung der Wirklichkeit vom Vermögen der Malerei, sie darzustellen2 – und ihrer zunehmenden Hinwendung zu ihren immanenten Problemen beschreiben. Man mag es bedauerlich finden, daß Kritiker wie Fry und Greenberg sich auf die formalen Eigenschaften der von ihnen behandelten Werke konzentrieren; aber die Maler, deren Kunst sie aus Formgründen am höchsten schätzen – z.B. Manet, die Impressionisten, Seurat, Cézanne, Picasso, Braque, Matisse, Léger, Mondrian, Kandinsky, Miró – gehören allesamt zu den hervorragendsten Malern der letzten hundert Jahre. Das soll nicht heißen, daß nur die formalen Aspekte ihrer Bilder Interesse verdienten. Im Gegenteil: weil erkennbare Objekte, Personen und Örtlichkeiten oftmals nicht vollständig aus ihrem Werk getilgt sind, kann eine kunstkritische Würdigung des vordergründigen Bildgegenstands höchst lehrreich sein; wie überhaupt eine Kritik, der es um Aspekte der Bildherstellung jenseits des Formkontexts geht, zu unserem Verständnis des betreffenden Werks entscheidend beitragen kann. Aber eine solche Kritik hat sich als weitgehend unfähig erwiesen, überzeugende wertmäßige Unterscheidungen zwischen den einzelnen Werken eines bestimmten Künstlers zu treffen; und nicht selten kann in unserem Jahrhundert gerade Bildern, deren menschlicher Inhalt besonders reichhaltig ist und besonders ausdrücklich vorgetragen wird, formale Mangelhaftigkeit nachgewiesen werden – Picassos Guernica dürfte das offensichtlichste Beispiel sein. (Man muß einräumen, daß das ebenso viel über die Grenzen wie über die Stärken der Formkritik aussagt. Was genau es aber unserer Meinung nach aussagt, hängt von unseren Ansichten über Guernica usw. ab.)

Hinzugefügt sei, daß die Werturteile der Formkritik keineswegs verbindlich sind. Anfang und Ende aller Werturteile ist oder sollte zumindest die Erfahrung sein, und wenn jemand nicht fühlt, daß Manets Déjeuner sur l'herbe, die Klavierstunde von Matisse oder Pollocks Autumn Rhythm großartige Bilder sind, wird kein formkritisches Argument diese Empfindung ersetzen können. Andererseits ist die Erfahrung von Kunstwerken immer auch durch die Einsichten über sie geprägt, die man sich bereits erarbeitet hat; und die schwere Aufgabe des Formkritikers besteht darin, seine persönlichen Intuitionen mit aller verfügbaren intellektuellen Strenge zu objektivieren, zugleich aber auch zu vermeiden, eine formalistische Rhetorik zur Verteidigung womöglich bloß privater Vorlieben aufzubieten.

Außerdem darf er nie vergessen, daß die Objektivität, die er anstrebt, immer nur eine relative sein kann. Seine Gegner freilich täten gut daran, ihrerseits zu berücksichtigen, daß dieses Streben nach Objektivität seine Überzeugungskraft und Relevanz gerade aus der bedeutsamsten Tendenz der Malerei seit Manet selbst bezieht: aus der Tendenz, sich zunehmend und mit immer bewußterer Selbstwahrnehmung formalen Themen und Problemen zuzuwenden. […]

* * *

Seit der Veröffentlichung von Heinrich Wölfflins Renaissance und Barock sind viele Formkritiker von einer im Kern hegelianischen Vorstellung von Kunstgeschichte ausgegangen, nach der Stile einander gemäß einer inneren Dynamik oder Dialektik ablösen [948] statt in Reaktion auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen sozialer, ökonomischer oder politischer Art. Ein Standardeinwand gegen die reine stil- oder formkritische Würdigung vergangener Kunst – der Hochrenaissance zum Beispiel – lautet denn auch, es gelinge ihr nicht, dem Einfluß nichtkünstlerischer Faktoren auf die Kunst der betreffenden Epoche Rechnung zu tragen, weshalb sie weder den vollen Gehalt des Einzelwerks ausleuchten noch auch eine überzeugende Darstellung des Stilwandels als solchem leisten kann. Seine reale, aber begrenzte Geltung verdankt ein solcher Einwand der Tatsache, daß Malerei und Bildhauerkunst in der Renaissance hinsichtlich des Auftraggebersystems und der Ikonographie aufs engste mit Kirche und Staat verflochten waren. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aber scheint das Verhältnis der Kunst – wie übrigens das der Kirche und des Staates – zur Gesellschaft sich tiefgreifend gewandelt zu haben. Und obwohl der fragliche Wandel nicht ohne die Würdigung ökonomischer und anderer nichtkünstlerischer Faktoren verstanden werden kann, bleibt festzuhalten, daß das mit Abstand wichtigste Einzelmerkmal des neuen Modus vivendi zwischen Kunst und bürgerlicher Gesellschaft, der sich in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts herausbildete, in der Tendenz ambitionierter Kunst bestand, sich immer mehr ihren immanenten Problemen und Themen zu widmen.3

All das ist natürlich schon anderenorts beschrieben worden. Was man aber bis jetzt nicht hinreichend erkannt hat, ist die Tatsache, daß dieselben Einwände, die mit Erfolg gegen eine reine Formkritik der Hochrenaissancemalerei ins Feld geführt werden können, hier fast ihre gesamte Überzeugungskraft und Relevanz einbüßen. Während sich das Verhältnis zwischen Hochrenaissancekunst und der Gesellschaft, in der sie entstand, ausführlich und präzise bestimmen läßt, sind über das Verhältnis zwischen modernistischer Malerei und moderner Gesellschaft nur die allgemeinsten Aussagen – diese zum Beispiel – möglich. In gewisser Hinsicht hat die modernistische Kunst unseres Jahrhunderts vollendet, was die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts begann: die Entfremdung des Künstlers von den allgemeinen Anliegen der Kultur, der er angehört, und die Absonderung der Kunst als solcher von den Interessen, Zielen und Idealen dieser Kultur. Die Errungenschaften des Kubismus in den ersten beiden Jahrzehnten unseres Jahrhunderts befreiten Malerei und Bildhauerkunst zur Auseinandersetzung mit ihren immanenten Belangen. Von nun an war es also möglich, Stilwandel anders zu fassen: im Sinne der bewußten Entscheidungen einzelner Künstler, sich mit bestimmten Formproblemen auseinanderzusetzen, die von der Kunst ihrer eigenen jüngsten Vergangenheit aufgeworfen worden waren; und damit scheint die im Grundsatz hegelianische Vorstellung von Kunstgeschichte, die sich in den Schriften Wölfflins und Greenbergs bemerkbar macht und der zur Beschreibung der älteren Kunst gewisse Grenzen gesetzt sein mögen, jedenfalls für die Untersuchung der gegenwärtigen Entwicklung des Modernismus in der bildenden Kunst, zumal in der Malerei, besonders gut zu eignen.

Meine These lautet also, daß in der bildenden Kunst seit ungefähr hundert Jahren praktisch so etwas wie eine Dialektik des Modernismus am Werk gewesen ist; und mit Dialektik meine ich das wesentliche Element der Vorstellung geschichtlichen Fortschritts, die von Hegel, vom jungen Marx und in unserem Jahrhundert vom marxistischen Philosophen Georg Lukács in seiner großen Arbeit Geschichte und Klassenbewußtsein und vom jüngst verstorbenen Maurice Merleau-Ponty in zahlreichen Büchern und Aufsätzen vorgetragen wurde. Im Denken dieser Autoren steht Dialektik vor allem für das Ideal eines Handelns als radikaler Kritik seiner selbst auf der Grundlage einer möglichst objektiven Erkenntnis der aktuellen Situation. Ein solches Ideal hat nichts von Teleologie: [949] Es richtet sich nicht auf ein vorgängig bestimmtes Ziel – es sei denn, man versteht darunter seine restlose Entäußerung im Handeln. Das aber bedeutete nichts Geringeres als permanente Revolution: permanent als unermüdliche radikale Kritik ihrer selbst. Kein Wunder, daß dieses Ideal im Bereich der Politik nicht praktisch verwirklicht worden ist; in der Kunst hingegen scheint mir die Entwicklung der modernistischen Malerei in den vergangenen hundert Jahren zu einer Situation geführt zu haben, die sich in diesem Sinne beschreiben ließe. Zwar tendierte diese Entwicklung zu keinem Zeitpunkt – auch heute nicht – auf einen spezifischen Stil der Malerei; dennoch aber wirkt das Werk einiger weniger Maler avancierter und radikaler in seiner Kritik der jüngstvergangenen modernistischen Kunst als die übrige Gegenwartsmalerei. Die wichtigste Funktion der Dialektik des Modernismus in der bildenden Kunst bestand darin, der Malerei ein Grundprinzip an die Hand zu geben, das ihr gestattete, sich einerseits zu wandeln, zu transformieren und zu erneuern, andererseits aber auch die überkommenen Werte, die nicht unmittelbar zur Repräsentation gehörten, in jeder Phase der Selbsterneuerung praktisch unversehrt, ja mitunter in reichhaltigerer Gestalt zu perpetuieren. So bewahrt sich die modernistische Malerei von ihrer Geschichte, was sie nur irgend kann, nicht aus Pietät gegenüber der Vergangenheit, sondern um sich für die eigene Gegenwart und Zukunft eine Quelle der Wertschöpfung zu erhalten.

Aus diesem Grund, zu schweigen von den anderen, ist es schon eine Ironie, daß modernistische Malerei oft nihilistisch und ihre Vertreter gewissenlose Scharlatane genannt werden. In Wirklichkeit ist die Last der Verantwortung, unter der sie arbeiten, enorm, und es überrascht nicht, daß viele der besten modernistischen Maler in der einen oder anderen Weise unter ihr zerbrochen sind. Diese Tendenz zum Scheitern hat sich in den letzten zwanzig Jahren noch verstärkt, weil die Beschleunigungsrate der Selbsttransformation innerhalb des Modernismus immer rasanter geworden ist – eine Beschleunigung, die sich ihrerseits der zunehmenden formalen und historischen Selbstwahrnehmung der modernistischen Maler verdankt. Das Werk von Künstlern wie Noland, Olitski und Stella ist zwar großenteils Konsequenz ihrer persönlichen Deutung der besonderen Situation avancierter Malerei im allgemeinen an kritischen Wendepunkten ihrer je eigenen Entwicklung; es will aber auch bescheinigt bekommen, im Rückblick ein notwendiger Beitrag zur hervorragendsten Malerei der Zukunft gewesen zu sein. „Für Hegel“, schreibt Merleau-Ponty, „heißt Geschichte, daß im Schoß der Gegenwart eine Zukunft heranreift, und nicht, daß die Gegenwart einer unbekannten Zukunft zum Opfer gebracht wird; als Prinzip des Handelns gilt ihm nicht das unmittelbare Wirken um jeden Preis, sondern das Befruchten.“ In diesem Sinne muß oberstes Kriterium der Legitimität eines behaupteten Fortschritts in der modernistischen Malerei immer die Frage der künstlerischen Fruchtbarkeit sein. Will man dieses Kriterium zur Beurteilung der jüngsten Kunst anlegen, darf freilich nicht vergessen werden, daß die beste zeitgenössische Malerei rückwirkend nicht nur die Fruchtbarkeit Barnett Newmans um 1950, sondern auch de Koonings erweist; und zwar nicht obwohl, sondern weil Newmans Kunst auf die denkbar radikalste Kritik des de Kooningschen Werks hinausläuft.

Aus all diesem läßt sich unter anderem schließen, daß die modernistische Malerei sich nach Kräften um die Aufhebung der traditionellen Unterscheidung zwischen den Problemen der Moral und den Problemen der Kunst bemüht hat, die Stuart Hampshire in seinem Essay „Logic and Appreciation“ folgendermaßen beschrieb: „Ein Kunstwerk entsteht freiwillig, unverlangt. Es ist nicht wesentlich die Beantwortung einer Frage oder die Lösung eines gestellten Problems.“ Hingegen: „Handeln als Reaktion auf ein mora[950]lisches Problem geschieht nicht unverlangt; es wird aufgezwungen; eine Antwort ist hier unbedingt geboten. An einer Situation kommt man nicht vorbei; man muß auf die eine oder andere Weise durch sie hindurch.“

Hampshires Unterscheidung trifft meiner Ansicht nach auf alle Malerei zu – mit Ausnahme derjenigen, die ich in diesem Essay zu definieren versucht habe. Sobald ein Maler, der die Grundprämissen des Modernismus akzeptiert, ein bestimmtes Problem wahrnimmt, das von der jüngstvergangenen Kunst aufgeworfen wurde, ist sein Handeln nicht mehr freiwillig, sondern es wird ihm aufgezwungen. Er mag sich in der Einschätzung der Situation irren. Solange er aber glaubt, das Problem existiere und sei wichtig, ist er mit einer Situation konfrontiert, an der er nicht vorbei kann, sondern durch die er auf die eine oder andere Weise hindurch muß; und das Ergebnis dieser erzwungenen Durchquerung ist dann seine Kunst. Die Konsequenz ist folgende: Die modernistische Malerei mag sich zwar von den Belangen der Gesellschaft, in der sie sich ungesichert entfaltet, abgeschieden haben, aber die reale Dialektik, durch die sie hervorgebracht wird, hat immer mehr von der Dichte, Struktur und Komplexität der sittlichen Erfahrung gewonnen – des Lebens selbst also, eines Lebens freilich, wie es nur wenige zu führen bereit sind: eines Lebens im Zustand permanenter geistiger und moralischer Aufmerksamkeit.

Der Formkritiker der modernistischen Malerei ist folglich zugleich Moralkritiker: nicht weil alle Kunst letztlich Lebenskritik wäre, sondern weil modernistische Malerei mindestens Kritik ihrer selbst ist. Und eben deshalb ist die Kunstkritik, die die Grundprämissen der modernistischen Malerei teilt, gezwungen, bei deren Entwicklung eine Rolle zu spielen, die der der neuen Bilder sehr nahekommt und vielleicht nur von geringfügig weniger Bedeutung ist. Ein solcher Kritiker wird ja nicht nur die Bedeutsamkeit derjenigen Malerei darlegen, die ihm wirkliches Neuland zu betreten scheint, und sie von anderen Arbeiten unterscheiden, die darauf verzichten, die Leistungen früherer Modernisten in Frage zu stellen oder zu übertreffen; sondern er wird bei der Erörterung der von ihm bewunderten Maler auch nicht verabsäumen, auf Fehler hinzuweisen, die er in vermeintlichen Lösungen bestimmter Formprobleme zu entdecken meint; und in selteneren Fällen macht er sich vielleicht gar anheischig, die Aufmerksamkeit der modernistischen Maler auf Formfragen zu lenken, mit denen man sich seiner Ansicht nach auseinandersetzen sollte. Ein letzter Punkt: Nicht anders als der modernistische Maler, der sich in seiner Einschätzung einer bestimmten Situation irren kann oder sie vielleicht trotz richtiger Erkenntnis nicht erfolgreich bewältigt, ist auch der formanalytische Kunstkritiker, der die Grundprämissen der modernistischen Malerei teilt, der Gefahr des Irrtums ausgesetzt. Und im Grunde ist gar nicht vorstellbar, daß er sich in einer gehörigen Zahl von Fällen etwa nicht irrt. Irrtum aber ist besser als Irrelevanz; und die Erkenntnis, daß jeder, der mit zeitgenössischer Kunst zu tun hat, ohne Gewißheiten auskommen muß, kann sich nur günstig auswirken. Zum Beispiel wird man dadurch gewahr, wie schwierig es ist, zu entscheiden, welche der vielen Ansichten zu einem gegebenen Thema ernstgenommen zu werden verdient – eine Entscheidung, die fast so schwerfällt wie ein Werturteil im Angesicht eines bestimmten Bildes.

Man könnte einwenden, dies sei eine unerträglich arrogante Auffassung von der Arbeit des Kritikers, und vielleicht ist sie das auch. Sie hat aber den Vorteil, den Kritiker, der sie sich zu eigen macht, zu nötigen, dieselben Risiken einzugehen wie der Künstler, dessen Werk er kritisiert. Da überrascht es nicht, daß bislang nur wenige Kritiker die Last dieser Verantwortung auf sich genommen haben.

1 Zwar ist Manet wohl der erste Maler, den man „modernistisch“ nennen könnte, aber einige der Probleme und Krisen, auf die seine Bilder eine ebenso entschiedene wie unerwartete Antwort geben, sind schon im Werk von David, Géricault, Ingres, Delacroix und Courbet präsent. Jede Darstellung der Genese des Modernismus hätte sich mit diesen Künstlern zu befassen.

2 Diese Formulierung ist mehr als nur eine rhetorische Figur: sie beschreibt in nuce den Prozeß, der in Manets Bildern beobachtet werden kann. Grundsätzlich hat Manet realistische Ambitionen. Anfänglich geht es ihm um eine objektive Übertragung der Wirklichkeit, einer Welt, der man ganz und gar angehört; sie findet er im Werk von Velázquez und Hals vor. Während diese beiden aber ihr inniges Verhältnis zu jener Welt, der sie angehörten und die sie beobachteten und malten, fraglos voraussetzten, ist Manet sich aufs schärfste bewußt, daß seine eigene Beziehung zur Wirklichkeit erheblich problematischer ist. Und wenn er seine Welt mit derselben Vollständigkeit und leidenschaftlichen Wahrheitsliebe darstellen will, wie sie ihm im Werk von Velázquez und Hals begegnet, dann muß er nicht nur diese Welt selbst, sondern zugleich sein problematisches Verhältnis zu ihr malen: sein Bewußtsein davon, sich zwar in dieser Welt zu befinden, aber nicht von dieser Welt zu sein. In diesem Sinne ist Manet der erste nachkantische Maler; der erste Maler, dessen Selbstwahrnehmung äußerst schwierige Probleme aufwirft, vor denen er nicht die Augen verschließen kann: der erste, dem Bewußtsein als solches zum großen Thema seiner Kunst wird. Beinahe von Anfang an – mit Sicherheit schon im Déjeuner sur l'herbe – scheint Manet sich darum bemüht zu haben, diese Selbstwahrnehmung als wesentliches Element seiner Gemälde, als wesentlichen Aspekt ihres Inhalts einzusetzen. Daher der situationale Charakter der Manetschen Bilder aus den sechziger Jahren: das Bild selbst wird als eine Art Tableau vivant begriffen (ein Rückbezug auf David), aber eines, das so konstruiert wurde, daß es nicht vornehmlich ein besonderes Ereignis, sondern die Entfremdung des Betrachters von diesem Ereignis inszeniert. Mehr noch: In Bildern wie dem Déjeuner und der Olympia bietet Manet eine buchstäbliche Darstellung des Hemmenden und Entfremdenden der Selbstwahrnehmung – im Déjeuner mit der undeutbaren Geste des Mannes rechts und dem im Flug erstarrten Vogel am oberen Bildrand, in der Olympia vor allem mit der feindseligen, fast schematischen Katze; und in beiden mit dem distanzierenden ruhig-starren Blick der Victorine Meurend. Aber Manets Wunsch, das Entfremdende der Selbstwahrnehmung zum wesentlichen Element seines Bildes zu machen – ein, wie wir sahen, im Grundsatz realistisches Anliegen –, hat eine bedeutsame Konsequenz: Die Selbstwahrnehmung in dieser Situation schließt nämlich zwangsläufig die Wahrnehmung ein, daß der Gegenstand der Betrachtung am Ende doch nur ein gemaltes Bild ist. Und auch diese Wahrnehmung muß zu einem wesentlichen Element des Werks selbst gemacht werden. Das heißt, es darf kein Zweifel darüber bestehen, daß der Maler sie mit Absicht hervorrufen will; und wenn nötig, muß der Betrachter zu ihr gezwungen werden. Andernfalls bliebe die Selbstwahrnehmung (und die Entfremdung), um die es Manet geht, unvollständig und zweideutig. Aus diesem Grund akzentuiert Manet bestimmte Merkmale, die nichts mit herkömmlicher Wirklichkeitstreue zu tun haben, sondern geltend machen, daß das betreffende Gemälde genau das ist: ein Gemälde. Manet akzentuiert die Flächigkeit der Bildfläche, indem er alle plastische Durchbildung vermeidet und (wie im Déjeuner) eine überzeugende Darstellung des Tiefenraums verweigert; er macht auf die Grenzen der Leinwand aufmerksam, indem er sich ausdehnende Formen durch die Rahmenkante abschneidet; und er unterstreicht die rechteckige Form des Bildträgers, indem er verschiedene Kompositionselemente mehr oder weniger offensichtlich auf sie ausrichtet. (Begriffe wie Akzentuieren und Geltendmachen sind wichtig. David und Ingres verlassen sich viel mehr als Manet auf die rechteckige Komposition, und bei Ingres besitzen manche Formen nicht mehr Plastizität als bei Manet. Aber weder David noch Ingres geht es um die Akzentuierung der Rechteckigkeit oder Flächigkeit der Leinwand; vielmehr benutzen sie beides, um die Stabilität ihrer Kompositionen und die Korrektheit ihrer Zeichnung sicherzustellen.) Kein Wunder, daß Manets Kunst schon immer zu einander widersprechenden Interpretationen eingeladen hat: die Widersprüche nisten im Konflikt zwischen seinen Ambitionen und seiner tatsächlichen Situation. (Über die Frage, was genau diese Situation eigentlich auszeichnete, läßt sich streiten; ein untypisch subtil argumentierender Marxist könnte wohl mit guten Gründen dafür plädieren, den Blick auf die ökonomische und politische Situation in Frankreich nach 1848 zu richten. In dieser Anmerkung geht es mir jedoch darum, daß Manet Bewußtsein als Problem der Kunst erkennt, und um die entfremdende Qualität seines eigenen Selbstbewußtseins.) Manets Werk ist der letzte Versuch in der abendländischen Kunst, ein vollgültiges Äquivalent zur großen realistischen Malerei der Vergangenheit zu leisten: ein Versuch, der dann über die Akzentuierung der Eigenschaften und Probleme der Bildlichkeit als solcher in raschen, unerbittlichen Schritten zur Begründung des Modernismus führte. Eben deswegen geriet Manet so leicht aus dem Tritt, als um 1870 der Impressionismus auf der Bildfläche erschien: seine bildlichen und formalen Innovationen der sechziger Jahre waren ja nicht als Selbstzweck, sondern im Dienst einer Phänomenologie entstanden, die zwar schon von Philosophen entwickelt und auch von einigen Dichtern (Blake zum Beispiel) gestaltet worden war, sich aber in der bildenden Kunst noch nicht zur Geltung gebracht hatte. Erst am Ende seines Lebens gelang es Manet schließlich, das vom Impressionismus Gelernte für die Gestaltung seiner eigenen, viel tiefgründigeren Phänomenologie einzusetzen: in der Bar aux Folies-Bergère. Mit all diesem will ich mich so bald wie möglich an anderer Stelle befassen.

3 Das ist natürlich eine gefährliche Vereinfachung. Ich bin überzeugt, daß etwas in dieser Art tatsächlich stattgefunden hat und daß es Sinn macht, von einer zunehmenden Selbstbewußtwerdung der Malerei – in formaler wie historischer Hinsicht – im Verlauf der letzten hundert Jahre oder noch länger zu sprechen. Es bedarf jedoch noch einer Menge sorgfältiger Vertiefung, um diesem Gedanken die nötige Substanz zu verschaffen. Darüber hinaus ist die Vorstellung, daß es „intrinsische“ Probleme der Malerei gibt, die – soweit ich sehe – wichtigste Frage, mit der sich dieser Essay gerade nicht auseinandersetzt. Sie hängt mit dem Begriff des „Mediums“ zusammen und gehört zu den Themen, die Anlaß zu einer höchst fruchtbaren Diskussion zwischen Philosophie und Kunstkritik geben könnten, vorausgesetzt, diese beiden Disziplinen ließen sich auf einen Dialog ein. Überaus lohnend wäre es auch, sich mit der „Grammatik“ (im Sinne von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen) einer für diesen Essay zentralen Begriffsfamilie – z.B. Problem, Lösung, Fortschritt, Logik, Geltung – zu beschäftigen.

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