Realität und Wirklichkeit in der Moderne

Texte zu Literatur, Kunst, Fotografie und Film

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Volkstümlichkeit und Realismus, 1938

Bertolt Brecht

Quelle

Bertolt Brecht: "Volkstümlichkeit und Realismus", in: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Bd. 19. Schriften zur Literatur und Kunst 2, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1967, S. 322-331. ISBN 3-518-00915-X.

Erstausgabe

"Volkstümlichkeit und Realismus", in: Das Wort (1938) [Exilzeitschrift Moskau]. Nachgedruckt in: Sinn und Form 4 (1958).

Genre

Essay

Medium

Literatur

[322] […] Wenn man Parolen für die zeitgenössische deutsche Literatur aufstellen will, muß man berücksichtigen, daß, was Anspruch erheben will, Literatur genannt zu werden, ausschließlich im Ausland gedruckt und fast ausschließlich nur im Ausland gelesen werden kann. Die Parole Volkstümlichkeit für die Literatur erhält dadurch eine eigentümliche Note. Der Schriftsteller soll da für ein Volk schreiben, mit dem er nicht lebt. Jedoch ist bei näherer Betrachtung die Distanz des Schriftstellers zum Volk doch nicht so sehr gewachsen, wie man denken könnte. Sie ist jetzt nicht ganz so groß, wie es scheint, und sie war ehedem nicht ganz so klein, wie es schien. Die herrschende Ästhetik, der Buchpreis und die Polizei haben immer eine beträchtliche Distanz zwischen Schriftsteller und Volk gelegt. Trotzdem wäre es unrichtig, nämlich unrealistisch, die Vergrößerung der Distanz als eine nur „äußerliche“ zu betrachten. Es sind zweifellos besondere Bemühungen nötig, um heute volkstümlich schreiben zu können. Andererseits ist es leichter geworden, leichter und dringender. Das Volk hat sich deutlicher getrennt von seiner Oberschicht, seine Unterdrücker und Ausbeuter sind aus ihm herausgetreten und [323] haben sich in einen nicht mehr übersehbaren, blutigen Kampf mit ihm verwickelt. Es ist leichter geworden, Partei zu ergreifen. Unter dem „Publikum“ ist sozusagen eine offene Schlacht ausgebrochen.

Auch die Forderung nach einer realistischen Schreibweise kann heute nicht mehr so leicht überhört werden. Sie hat etwas Selbstverständliches bekommen. Die herrschenden Schichten bedienen sich offener der Lüge als ehedem und dickerer Lüge. Die Wahrheit zu sagen erscheint als immer dringendere Aufgabe. Die Leiden haben sich vergrößert, und die Masse der Leidenden hat sich vergrößert. Angesichts der großen Leiden der Massen wird die Behandlung von kleinen Schwierigkeiten und von Schwierigkeiten kleiner Gruppen als lächerlich, ja verächtlich empfunden.

Gegen die zunehmende Barbarei gibt es nur einen Bundesgenossen: das Volk, das so sehr darunter leidet. Nur von ihm kann etwas erwartet werden. Also ist es naheliegend, sich an das Volk zu wenden, und nötiger denn je, seine Sprache zu sprechen.

So gesellen sich die Parolen Volkstümlichkeit und Realismus in natürlicher Weise. Es liegt im Interesse des Volkes, der breiten, arbeitenden Massen, von der Literatur wirklichkeitsgetreue Abbildungen des Lebens zu bekommen, und wirklichkeitsgetreue Abbildungen des Lebens dienen tatsächlich nur dem Volk, den breiten, arbeitenden Massen, müssen also unbedingt für diese verständlich und ergiebig, also volkstümlich sein. Trotzdem müssen diese Begriffe vor dem Aufstellen von Sätzen, in denen sie verwendet und verschmolzen werden, erst gründlich gereinigt werden. Es wäre ein Irrtum, diese Begriffe für ganz geklärt, geschichtslos, unkompromittiert, eindeutig zu halten („Wir wissen ja alle, was gemeint ist damit, seien wir keine Haarspalter“). Der Begriff volkstümlich selber ist nicht allzu volkstümlich. Es ist nicht realistisch, dies zu glauben. Eine ganze Reihe von „Tümlichkeiten“ müssen mit Vorsicht betrachtet werden. Man denke nur an Brauchtum, [324] Königstum, Heiligtum, und man weiß, daß auch Volkstum einen ganz besonderen, sakralen, feierlichen und verdächtigen Klang an sich hat, den wir keineswegs überhören dürfen. Wir dürfen diesen verdächtigen Klang nicht überhören, weil wir den Begriff volkstümlich unbedingt brauchen.

Es sind gerade die sogenannten poetischen Fassungen, in denen „das Volk“ besonders abergläubisch oder besser Aberglauben erweckend vorgestellt wird. Da hat das Volk seine unveränderlichen Eigenschaften, seine geheiligten Traditionen, Kunstformen, Sitten und Gebräuche, seine Religiosität, seine Erbfeinde, seine unversiegbare Kraft und so weiter und so weiter. Da tritt eine merkwürdige Einheit auf von Peiniger und Gepeinigtem, von Ausnutzer und Ausgenutztem, von Lügner und Belogenem, und es handelt sich keineswegs einfach um die „kleinen“, vielen, arbeitenden Leute im Gegensatz zu den Oberen.

Die Geschichte der vielen Fälschungen, die mit diesem Begriff Volkstum vorgenommen wurde, ist eine lange, verwickelte Geschichte und eine Geschichte der Klassenkämpfe. Wir wollen hier nicht darauf eingehen, wir wollen nur die Tatsache der Verfälschung im Auge behalten, wenn wir davon sprechen, daß wir volkstümliche Kunst brauchen und damit Kunst für die breiten Volksmassen meinen, für die vielen, die von den wenigen unterdrückt werden, „die Völker selber“, die Masse der Produzierenden, die so lange das Objekt der Politik war und die das Subjekt der Politik werden muß. Wir wollen uns erinnern, daß dieses Volk lange durch mächtige Institutionen von der vollen Entwicklung zurückgehalten, künstlich und gewalttätig durch Konventionen geknebelt wurde und daß der Begriff volkstümlich zu einem geschichtslosen, statischen, entwicklungslosen gestempelt wurde. Und mit dem Begriff in dieser Ausgabe haben wir nichts zu tun, besser gesagt, ihn haben wir zu bekämpfen.

Unser Begriff volkstümlich bezieht sich auf das Volk, das an der Entwicklung nicht nur voll teilnimmt, sondern sie gera[325]dezu usurpiert, forciert, bestimmt. Wir haben ein Volk vor Augen, das Geschichte macht, das die Welt und sich selbst verändert. Wir haben ein kämpfendes Volk vor Augen und also einen kämpferischen Begriff volkstümlich.

Volkstümlich heißt: den breiten Massen verständlich, ihre Ausdrucksform aufnehmend und bereichernd / ihren Standpunkt einnehmend, befestigend und korrigierend / den fortschrittlichsten Teil des Volkes so vertretend, daß er die Führung übernehmen kann, also auch den andern Teilen des Volkes verständlich / anknüpfend an die Traditionen, sie weiterführend / dem zur Führung strebenden Teil des Volkes Errungenschaften des jetzt führenden Teils übermittelnd.

Und jetzt kommen wir zu dem Begriff Realismus. Und auch diesen Begriff werden wir als einen alten, viel und von vielen und zu vielen Zwecken gebrauchten Begriff vor der Verwendung erst reinigen müssen. Das ist nötig, weil die Übernahme von Erbgut durch das Volk in einem Expropriationsakt vor sich gehen muß. Literarische Werke können nicht wie Fabriken übernommen werden, literarische Ausdrucksformen nicht wie Fabrikationsrezepte. Auch die realistische Schreibweise, für die die Literatur viele voneinander sehr verschiedene Beispiele stellt, ist geprägt von der Art, wie, wann und für welche Klasse sie eingesetzt wurde, geprägt bis in die kleinsten Details hinein. Das kämpfende, die Wirklichkeit ändernde Volk vor Augen, dürfen wir uns nicht an „erprobte“ Regeln des Erzählens, ehrwürdige Vorbilder der Literatur, ewige ästhetische Gesetze klammern. Wir dürfen nicht bestimmten vorhandenen Werken den Realismus abziehen, sondern wir werden alle Mittel verwenden, alte und neue, erprobte und unerprobte, aus der Kunst stammende und anderswoher stammende, um die Realität den Menschen meisterbar in die Hand zu geben. Wir werden uns hüten, etwa nur eine bestimmte, historische Romanform einer bestimmten Epoche als realistisch zu bezeichnen, sagen wir die der Balzac oder der Tolstoi, so für den Realismus nur formale, nur [326] literarische Kriterien aufstellend. Wir werden nicht nur dann von realistischer Schreibweise sprechen, wenn man zum Beispiel „alles“ riechen, schmecken, fühlen kann, wenn „Atmosphäre“ da ist und wenn Fabeln so geführt sind, daß seelische Expositionen der Personen zustande kommen. Unser Realismusbegriff muß breit und politisch sein, souverän gegenüber den Konventionen.

Realistisch1 heißt: den gesellschaftlichen Kausalkomplex aufdeckend / die herrschenden Gesichtspunkte als die Gesichtspunkte der Herrschenden entlarvend / vom Standpunkt der Klasse aus schreibend, welche für die dringendsten Schwierigkeiten, in denen die menschliche Gesellschaft steckt, die breitesten Lösungen bereit hält / das Moment der Entwicklung betonend / konkret und das Abstrahieren ermöglichend.

Das sind riesige Anweisungen, und sie können noch ergänzt werden. Und wir werden dem Künstler erlauben, seine Phantasie, seine Originalität, seinen Humor, seine Erfindungskraft dabei einzusetzen. An allzu detaillierten literarischen Vorbildern werden wir nicht kleben, auf allzu bestimmte Spielarten des Erzählens werden wir den Künstler nicht verpflichten.

Wir werden feststellen, daß die sogenannte sensualistische Schreibweise (bei der man alles riechen, schmecken, fühlen kann) nicht ohne weiteres mit der realistischen Schreibweise zu identifizieren ist, sondern wir werden anerkennen, daß es sensualistisch geschriebene Werke gibt, die nicht realistisch, und realistische Werke, die nicht sensualistisch geschrieben sind. Wir werden sorgfältig untersuchen müssen, ob wir die Fabel wirklich am besten führen, wenn wir als Endeffekt die seelische Exposition der Personen anstreben. Unsere Leser wer[327]den vielleicht nicht finden, daß sie den Schlüssel zu den Ereignissen ausgeliefert bekommen, wenn sie, durch viele Künste verführt, sich lediglich an den seelischen Emotionen der Helden unserer Bücher beteiligen. Ohne gründliche Prüfung die Formen der Balzac und Tolstoi übernehmend, würden wir vielleicht unsere Leser, das Volk, ebenso ermüden, wie es diese Schriftsteller oft tun. Realismus ist keine bloße Frage der Form. Wir würden, die Schreibweise dieser Realisten kopierend, nicht mehr Realisten sein.

Denn die Zeiten fließen, und flössen sie nicht, stünde es schlimm für die, die nicht an den goldenen Tischen sitzen. Die Methoden verbrauchen sich, die Reize versagen. Neue Probleme tauchen auf und erfordern neue Mittel. Es verändert sich die Wirklichkeit; um sie darzustellen, muß die Darstellungsart sich ändern. Aus nichts wird nichts, das Neue kommt aus dem Alten, aber es ist deswegen doch neu. Die Unterdrücker arbeiten nicht zu allen Zeiten auf die gleiche Art. Sie können nicht zu allen Zeiten in der gleichen Weise dingfest gemacht werden. Es gibt so viele Methoden, sich der Vernehmung zu entziehen. Ihre Heerstraßen taufen sie Autostraßen. Ihre Tanks sind bemalt, daß sie wie die Büsche des Macduff aussehen. Ihre Agenten zeigen Schwielen an den Händen vor, als seien sie Arbeiter. Nein, den Jäger in das Wild zu verwandeln, das braucht Erfindung. Was gestern volkstümlich war, ist es nicht heute, denn wie das Volk gestern war, so ist es nicht heute.

Jeder, der nicht in formalen Vorurteilen befangen ist, weiß, daß die Wahrheit auf viele Arten verschwiegen werden kann und auf viele Arten gesagt werden muß. Daß man Empörung über unmenschliche Zustände auf vielerlei Arten erwecken kann, durch die direkte Schilderung in pathetischer und in sachlicher Weise, durch die Erzählung von Fabeln und Gleichnissen, in Witzen, mit Über- und Untertreibung. Auf dem Theater kann die Wirklichkeit dargestellt werden in sachlicher und in phantastischer Form. Die Schauspieler können [328] sich nicht (oder kaum) schminken und sich „ganz natürlich“ geben, und alles kann Schwindel sein, und sie können Masken grotesker Art tragen und die Wahrheit darstellen. Darüber ist doch kaum zu streiten: Die Mittel müssen nach dem Zweck gefragt werden. Das Volk versteht das, die Mittel nach dem Zweck zu fragen. Die großen Theaterexperimente Piscators (und meine eigenen), bei denen fortgesetzt konventionelle Formen zerschlagen wurden, fanden ihre große Stütze in den fortgeschrittensten Kadern der Arbeiterklasse. Die Arbeiter beurteilten alles nach dem Wahrheitsgehalt, sie begrüßten jede Neuerung, die der Darstellung der Wahrheit, des wirklichen sozialen Getriebes, förderlich war, sie lehnten alles ab, was spielerisch schien, Maschinerie, die um ihrer selbst willen arbeitete, das heißt ihren Zweck noch nicht oder nicht mehr erfüllte. Die Argumente der Arbeiter waren niemals literarische oder theaterästhetische. Man kann nicht Theater mit Film mischen, das hörte man niemals hier. War der Film nicht richtig eingesetzt, hieß es höchstens: Der Film da ist überflüssig, der lenkt ab. Arbeiterchöre sprachen kompliziert rhythmisierte Verspartien („Wenn's Reime wären, dann ging's runter wie Wasser, und nichts bliebe hängen“) und sangen schwierige (ungewohnte) Eislersche Kompositionen („Da ist Kraft drin“). Aber wir mußten bestimmte Verszeilen umändern, deren Sinn nicht einleuchtete oder falsch war. Wenn in Marschliedern, die gereimt waren, damit man sie schneller lernen konnte, und die einfacher rhythmisiert waren, damit sie besser „durchgingen“, gewisse Feinheiten (Unregelmäßigkeiten, Kompliziertheiten) waren, sagten sie: „Da ist ein kleiner Dreh drinnen, das ist lustig.“ Das Ausgelaufene, Triviale, das so Gewöhnliche, daß man sich nichts mehr dabei denkt, liebten sie gar nicht („Da kommt nichts bei raus“). Wenn man eine Ästhetik brauchte, konnte man sie hier haben. Ich vergesse nie, wie mich ein Arbeiter anschaute, dem ich auf seine Anregung, in einen Chor über die Sowjetunion noch etwas einzubauen („Da muß noch das rein – sonst wozu?“), erwi[329]derte, das würde die künstlerische Form sprengen: mit dem Kopf auf die Seite gelegt, lächelnd. Ein ganzer Trakt der Ästhetik stürzte durch dieses höfliche Lächeln zusammen. Die Arbeiter hatten keine Angst, uns zu lehren, und sie hatten keine Angst, selber zu lernen.

Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich sage: Man braucht nie Angst zu haben, mit kühnen, ungewohnten Dingen vor das Proletariat zu treten, wenn sie nur mit seiner Wirklichkeit zu tun haben. Es wird immer Leute mit Bildung, Kunstkenner, geben, die sich dazwischendrängen mit einem „Das versteht das Volk nicht“. Aber das Volk schiebt ungeduldig diese Leute beiseite und verständigt sich direkt mit den Künstlern. Es gibt hochgezüchtetes Zeug, für Klüngel gemacht, um Klüngel zu bilden, die zweitausendste Umformung des alten Filzhutes, die Paprizierung des alten, in Verwesung übergegangenen Stücks Fleisch: Das Proletariat weist das zurück („Sorgen haben die“) mit einem ungläubigen, eigentlich nachsichtigen Schütteln des Kopfes. Es ist nicht der Paprika, der da zurückgewiesen wird, sondern das verfaulte Fleisch; nicht die zweitausendste Form, sondern der alte Filz. Wo sie selber dichteten und Theater machten, waren sie hinreißend originell. Die sogenannte Agitpropkunst, über die nicht die besten Nasen gerümpft werden, war eine Fundgrube neuartiger künstlerischer Mittel und Ausdrucksarten. In ihr tauchten längst vergessene großartige Elemente echt volkstümlicher Kunstepochen auf, den neuen gesellschaftlichen Zwecken kühn zugeschnitten. Waghalsige Abkürzungen und Komprimierungen, schöne Vereinfachungen; da gab es oft eine erstaunliche Eleganz und Prägnanz und einen unerschrockenen Blick für das Komplexe. Manches mochte primitiv sein, aber die Primitivität war doch nie von der Art Primitivität, an der die scheinbar so differenzierten Seelengemälde der bourgeoisen Kunst litten. Man tut nicht gut, wegen einiger verunglückter Stilisierungen einen Darstellungsstil zu verwerfen, der sich bemüht (und so oft mit Erfolg bemüht), das Wesentliche [330] herauszuarbeiten und die Abstraktion zu ermöglichen. Das scharfe Auge der Arbeiter durchdrang die Oberfläche der naturalistischen Wirklichkeitsabbildungen. Wenn die Arbeiter im „Fuhrmann Henschel“ über die Seelenzergliederungen sagten: „So genau wollen wir das gar nicht wissen“, steckte dahinter der Wunsch, die unter der Oberfläche des ohne weiteres Sichtbaren wirkenden eigentlichen sozialen Triebkräfte genauer dargestellt zu bekommen. Um eigene Erfahrungen anzuführen: Sie stießen sich nicht an den phantastischen Einkleidungen, dem scheinbar unrealen Milieu der „Dreigroschenoper“. Sie waren nicht eng, sie haßten das Enge (ihre Wohnungen waren eng). Sie waren großzügig, die Unternehmer waren knickrig. Sie fanden einiges überflüssig, von dem die Künstler behaupteten, es sei für sie notwendig, aber da waren sie generös, sie waren nicht gegen den Überfluß, im Gegenteil, sie waren gegen den Überflüssigen. Dem Ochsen, der da drischet, verbanden sie nicht das Maul, allerdings sahen sie nach, ob er drosch. „Die“ Methode, an so was glaubten sie nicht. Sie wußten, sie hatten viele Methoden nötig, ihr Ziel zu erreichen.

Die Kriterien für Volkstümlichkeit und Realismus müssen also sowohl weitherzig als sehr sorgfältig gewählt werden und dürfen nicht nur bestehenden realistischen Werken und bestehenden volkstümlichen Werken abgezogen werden, wie es häufig geschieht. So vorgehend, bekäme man formalistische Kriterien und eine Volkstümlichkeit und einen Realismus nur der Form nach.

Ob ein Werk realistisch ist oder nicht, das kann man nicht feststellen, indem man nur nachsieht, ob es bestehenden, realistisch genannten, für ihre Zeit realistisch zu nennenden Werken gleicht oder nicht. Man muß in jedem einzelnen Fall die Schilderung des Lebens (statt nur mit einer anderen Schilderung) mit dem geschilderten Leben selber vergleichen. Und auch was Volkstümlichkeit anlangt, gibt es ein ganz formalistisches Vorgehen, vor dem man sich hüten muß. Die Verständlichkeit eines literarischen Werkes ist nicht nur gegeben, wenn es genauso geschrieben ist wie andere Werke, die verstanden wurden. Auch [331] diese anderen Werke, die verstanden wurden, wurden nicht immer so geschrieben wie die Werke vor ihnen. Für ihre Verständlichkeit war etwas getan worden. So müssen auch wir etwas für die Verständlichkeit der neuen Werke tun. Es gibt nicht nur das Volkstümlichsein, sondern auch das Volkstümlichwerden. Wenn wir eine lebendige kämpferische, von der Wirklichkeit voll erfaßte und die Wirklichkeit voll erfassende, wahrhaft volkstümliche Literatur haben wollen, müssen wir Schritt halten mit der reißenden Entwicklung der Wirklichkeit. Die großen arbeitenden Volksmassen sind bereits im Aufbruch begriffen. Die Geschäftigkeit und die Brutalität ihrer Feinde beweist es.

1938

[…] [356] […] 3 Realismus und Technik (Fortsetzung)

Wir können zu einer freien Aussprache über Technik, zu einer natürlichen Haltung zur Technik nur kommen, wenn wir die neue gesellschaftliche Funktion uns klarmachen, die der Schriftsteller hat, wenn er realistisch, das heißt von der Realität bewußt beeinflußt und die Realität bewußt beeinflussend, schreiben will. Betrachten wir die landläufige Technik, besonders die pseudorealistische, so sehen wir sie als die außerordentlich zurückgebliebene, verkümmerte Technik, welche der alten Funktion entspricht. Die wenigsten unserer „Realisten“ haben [357] zum Beispiel Kenntnis genommen von der Entwicklung der Auffassungen über die menschliche Psyche in der zeitgenössischen Wissenschaft und Praxis. Sie halten immer noch bei einer Psychologie introspektiver Art, einer Psychologie ohne Experimente, einer Psychologie ohne Historie und so weiter. Nicht, daß ihre Menschenbeschreibungen für den Psychologen ohne Interesse sind, aber um daraus Nutzen (Menschenkenntnis) zu schöpfen, muß man eben ein Psychologe sein. Der Satz „Ein Winkel, gesehen durch ein Temperament“ bedeutet eigentlich „Ein Temperament, gesehen durch einen Winkel“. Diese Leute beschreiben sich selber und nichts als sich selber. Um zu ihren Aussagen über die Menschen zu kommen, unterwerfen sie sich selber, jeder sein eigenes Versuchstier, imaginären Experimenten. Da sie alles zu tun bereit sind, um die Einfühlung des Lesers in ihre Figuren zu erzwingen, vom Gelingen welcher Operation ihnen der ganze Kunstwert ihrer Arbeiten abzuhängen scheint, engen sie die jeweils zu beschreibende Figur so ein, daß eine Einfühlung „jedes“ Lesers möglich sein muß. Nicht nur durch die Klassen, auch durch die Jahrhunderte gleichen sich ihre Menschen, so daß sie keinerlei Schichtungen in sich haben noch echte Widersprüche, und das ist weit schlimmer, als daß der „Bellum Gallicum“ auch auf der Schreibmaschine geschrieben sein könnte, wenn bloß diese vorhanden gewesen wäre. Diese Technik der Menschenbetrachtung und Darstellung ist völlig primitiv, und die Menschenkenntnis der Schriftsteller ist denn auch jedem erkennbar infantil: Man könnte mit ihr noch kein Auto verkaufen. Die Primitivität ihrer Figuren, ihre Armut an Reaktionen, Schablonenhaftigkeit, Entwicklungslosigkeit zwänge sie allein schon zu Einschränkungen bei all und jedem. Sämtliche Prozesse verlaufen dürftig und schematisch. Überall ersetzen Nuancen und Abnormitäten wirklichen Reichtum. Diese Feststellung macht man übrigens nicht ohne weiteres beim Lesen dieser Romane, da die in sich geschlossen erscheinen, mit der Konstruktion einer eigenen Welt aufwarten, die in sich einige Logik natürlich zu haben pflegt: [358] Bei allseitiger Verkürzung und Verkrüppelung, bei konsequent durchgeführter Primitivität entsteht wieder der Eindruck von Logik. (Formt man für einen Kriminalroman beispielsweise einen primitiven Detektiv, dann muß nur auch der Verbrecher primitiv sein und so weiter.) Nimmt man aber einzelne Züge, Teile, Figuren, Handlungen von Figuren heraus und konfrontiert sie mit der wirklichen Welt, dann sieht man sofort die Unzulänglichkeit und Armut dieser Konstruktionen. Freilich wird einem solches Beginnen von der betreffenden Ästhetik als barbarisch und banausenhaft verwiesen; man habe das Ding als Ganzes zu betrachten, sich auf den Standpunkt des Künstlers zu stellen und so weiter. Dieser Befehl soll uns natürlich nur hindern, unsern gesunden Menschenverstand, unsere eigene Lebenserfahrung anzuwenden, die bei manchen Problemen versagen mögen, für solche aber durchaus ausreichen.

Man soll auch nicht meinen, daß gewisse anspruchsvolle Romane mit Schilderungen komplizierter Psychen diese erstaunliche Primitivität nicht aufweisen. Wir bekommen bei diesen Autoren sehr verwickelte seelische Konstellationen vorgesetzt, nur ist weit und breit keine Kausalität zu entdecken, es sind von der Umwelt abgetrennte Psychen. Wir begegnen auch komplizierteren Verläufen, nur schnurren auch sie ohne Ursachen ab. Hier ist hochentwickelte, aber unfruchtbare Technik. Wie wäre also eine Technik aufzubauen? Keineswegs, indem man, was man als Technik antrifft, völlig negiert, nur weil sie primitiv oder steril ist. Die Primitivität und Sterilität ist hier etwas Gewordenes. Die alte Technik (die man in der Schablone antrifft) war einmal imstande, gewisse gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen; sie ist es nicht mehr, neue Funktionen zu erfüllen; jedoch sind die neuen Funktionen gemischt mit den alten, und wir benötigen das Studium der veralteten Technik dringend. Die neuere, sterile, isolierte Technik wiederum, die in keinem gesunden Austausch mit der Umwelt steht, ergibt, studiert man zugleich mit ihr die neuen Funktionen, eine bedeutende Ausbeute. Wir nähern uns dem Problem des Kulturerbes.

[359] 4

Wenn man literarische Vorbilder vorschlägt, muß man sich die Mühe machen, sehr konkret zu werden. Man muß dann zu Technikern sprechen, und das muß man als Techniker tun. Es ist sehr schwierig, die Technik (das Formulieren, „Sehen“, Komponieren und so weiter) vom jeweiligen „Inhalt“ abzulösen: Das jeweilige Vorbild sieht ja eine andere Welt, außer dem, daß es sie anders sieht. Es genügt natürlich nicht, wenn man nur nachweist, daß eine bestimmte historische Epoche in dem vorbildlichen Kunstwerk gut abgespiegelt wurde. Mit dem gleichen Spiegel kann man in der Literatur nicht andere Epochen spiegeln, so wie man mit ein und demselben Spiegel verschiedene Köpfe und dann noch Tische und Wolken spiegeln kann. Es genügt auch nicht, wenn man zeigt, wie die Mittel der Darstellung dem technischen Standard der betreffenden Epoche entsprachen. Das sagt über eine zu gewinnende literarische Technik nur aus, daß sie eben dem technischen Standard unserer Epoche entsprechen müssen, was ein frommer Wunsch bleibt. Ein frommer Wunsch bleibt es auch, zu verlangen, daß unsere Werke den gesellschaftlichen Bedürfnissen der Klasse, die wir vertreten, „ebenso gut“ dienen sollen, wie die Werke unserer Vorbilder der ihrigen gedient haben. Nach solchen für die Literaturgeschichte unendlich wertvollen Winken sind wir höchstens so weit gebracht, daß wir zweifeln, ob wir irgend etwas von der Technik unserer Vorbilder verwerten können, wenn sie doch so fest mit anderer Epochen Inhalten, Techniken und gesellschaftlichen Zwecken verknüpft sind. Balzac schrieb dann in einer Welt, die von der unsrigen außerordentlich verschieden war, mit Mitteln der Wahrnehmung und Darstellung, die keineswegs unserem technischen Standard entsprachen (in der Fabrikation, Biologie, Ökonomie und so weiter) und für eine Klasse, die eben den Code Napoléon auszunutzen im Begriffe war. Natürlich, um auf die Technik zu kommen, ist unsere Technik geschichtlich geworden, eine Ansammlung von [360] Kenntnissen und Praktiken vieler Jahrhunderte, das heißt, vieles an früherer Technik ist noch lebendig in der unsrigen, sie ist eine Fortführung, wenn auch keine geradlinige, wenn auch keine bloße Addition. Es gibt also im Balzac, auch im Balzac, technische Elemente, die wir gebrauchen können. Durch eine Konfrontierung seiner Welt, Klasse, des Standards der Technik seiner Zeit mit unserer Welt, unserer Klasse und dem Standard unserer Technik gewinnen wir wertvolle Kriterien, aber es muß unbedingt das Wie seiner Arbeitsweise aufgezeigt werden, also wie er sah und beschrieb, welch andere Methoden er anwandte als andere (bei der Charakteristik seiner Personen, der Beischaffung seines Materials, der Ausstellung seiner Erkenntnisse, der Komposition seiner Fabel und so weiter und so weiter). Am gefährlichsten allerdings ist es, nur von einem Vorbild allein zu sprechen. Abgesehen davon, daß ein solches Vorbild, allein propagiert, überhaupt gar nicht wirklich plastisch wird, genügt ein Vorbild allein auf keinen Fall. Geht man davon aus, daß man Technisches von Inhaltlichem ablösen kann (und das tut man, sobald man Vorbilder aus anderen Epochen empfiehlt), dann muß diese Ablösungsoperation auch bei zeitgenössischen Werken gelingen. Und dann ist tatsächlich nicht einzusehen, wieso wir zeitgenössische Technik des Schreibens, insofern sie mit dem technischen Standard unseres Zeitalters überhaupt verknüpft ist, nicht mit mindest demselben Gewinn studieren sollten als die Technik vergangener Epochen. Natürlich ist bei ihnen die Anwendung der obengenannten Kriterien ebenfalls unbedingt nötig. Es ist ohne weiteres zu erwarten, daß Dampfmaschine, Mikroskop, Dynamo und so weiter, Öltrust, Rockefeller-Institut, Paramountfilm und so weiter in der literarischen Technik Entsprechungen haben, die sowenig wie alle diese neuen Erscheinungen selber einfach mit dem kapitalistischen System zu beerdigen sind. Schon für die Beschreibung der Prozesse, in denen ein Mensch des Spätkapitalismus steht, sind die Formen des Rousseauschen Erziehungsromans oder die Techniken, mittels derer die [361] Stendhal und Balzac die Karriere eines jungen Bourgeois beschreiben, außerordentlich überholt. Die Techniken der Joyce und Döblin sind nicht lediglich Verfallsprodukte; schaltet man ihren Einfluß aus, statt ihn zu modifizieren, bekommt man lediglich den Einfluß der Epigonen, nämlich der Hemingways. Die Arbeiten der Joyce und Döblin weisen, und das in großer Weise, den welthistorischen Widerspruch auf, in den die Produktionskräfte mit den Produktionsverhältnissen geraten sind. In diesen Arbeiten sind in gewissem Umfang auch Produktivkräfte repräsentiert. Gerade die sozialistischen Schriftsteller können in diesen Dokumenten der Ausweglosigkeit wertvolle hochentwickelte technische Elemente1 kennenlernen: Sie sehen den Ausweg. Nötig sind viele Vorbilder; am lehrreichsten ist der Vergleich.

5

Was wir von einer technisch interessierten Kritik erfahren könnten, wäre zum Beispiel der Unterschied zwischen der Darstellungstechnik des Balzac und des Dickens. Nehmen wir die Darstellung von Gerichtsverfahren bei den beiden Autoren. Auf den ersten Blick erscheint es doch, daß Balzac eine andere Klasse vertritt als Dickens oder dieselbe Klasse in einer andern Situation. (Die Entscheidung, dieser spreche für das Klein-, jener für das Großbürgertum, wäre natürlich nicht ausreichend.) Es ist ein außerordentlich interessanter Punkt, daß gerade die moralisierende, mit dem Objekt der Rechtspflege sympathisierende Schreibweise des Dickens den Eindruck eines weniger tiefen Spatenstichs in die Realität macht als die des Balzac. Die technische Seite zeigen beide, aber beim Dickens in seiner wenngleich großartigen Darstellung des juristischen Formalismus, [362] etwa in „Bleak House“, sieht man bei weitem nicht so gut den realen Sinn der bürgerlichen Rechtspflege, ihre zeitweise revolutionäre Rolle wie beim Balzac. Man muß richtig verstehen, hier soll nicht die sozialreformerische Tendenz denunziert werden, das wäre absurd. Wenn Balzac dem Gesellschaftsforscher mehr gibt, und ich denke, er tut dies, so wird es deshalb sein, weil er später verallgemeinert als Dickens, nach einer genauen und die Widersprüche aufzeigenden Analyse erst das Urteil zuläßt; er hat darin etwas im besten Sinne Wissenschaftliches. Die moralische Haltung des Balzac kann niemals die unsrige sein, aber diejenige des Dickens befriedigt uns auch nicht. Balzac vermittelt uns eine tiefere Kenntnis der menschlichen Natur, er macht sie handhabbarer. Dies wäre im einzelnen zu zeigen in einer wissenschaftlichen Analyse historisch-materialistischer Art, aber im Hinblick auf das Technische, nämlich die Darstellungsmittel. (Wie wird ein Richter gezeichnet, der Verlauf eines Prozesses und so weiter bei Balzac, bei Dickens?)

6 Über die verschiedenen gesellschaftlichen Funktionen des Realismus und seiner Abarten

Für die Praxis der realistischen Schriftsteller ist es wichtig, daß die literarische Theorie den Realismus in bezug auf seine verschiedenen gesellschaftlichen Funktionen, das heißt in seiner Entwicklung begreift.

Die bürgerlich revolutionäre realistische Dramatik der John Gay, Beaumarchais und Lenz zeigt folgende Charakteristika: Auf der den Problemen oder Selbstbespiegelungen der Feudalen überlassenen Bühne werden die Probleme und Selbstbespiegelungen der aufsteigenden bürgerlichen Klasse eingeführt. Revolutionär wirkt schon die Übernahme des bisher monopolisierten Bühnenapparats selber, bei John Gay in seiner „Bettleroper“ die Tatsache, daß die „Unterwelt“ ihre Oper etabliert und nichtadelige Personen singen. Die Wirklichkeit betritt die Bühne, das heißt, die Klasse betritt sie, die anfängt, die Wirk[363]lichkeit zu bestimmen. Dabei tritt ein eigentümlicher Widerspruch auf. Einerseits wird die vornehme Bühne mit einem gewissen Behagen entweiht durch die ordinäre Redeweise der Plebs, aber zugleich erhält doch auch diese Plebs ihre Weihe, indem sie sich der bisher monopolisierten gehobenen Formen bedient. Sie entwickelt, das Zeremoniell der herrschenden Klasse verhöhnend, sofort ihr eigenes Pathos. Neben ihrer gehobenen Sprache erscheint die Sprache der Herrschenden als geschraubt. Die Hauptsache ist, daß der Blickpunkt nunmehr der Bürger ist, bei Beaumarchais im „Figaro“ und bei Lenz im „Hofmeister“ der emanzipierte Lakai. Das ist echter Realismus, denn der Bürger war eben wirklich das treibende Zentrum der ökonomischen Entwicklung geworden, und jetzt schickte er sich an, auch das politische Zentrum zu werden. Der Friseur Figaro allein kann noch die verwickelten kulinarischen Probleme der Hofgesellschaft einigermaßen ordnen, besser als der Adel versteht er die adeligen Verhältnisse. Der Kuppler tritt auf als der große Produktive, die konsumierende Schicht ist als Schmarotzertum entlarvt, das zum Schmarotzen schon unfähig ist. Nach der Aufführung des „Figaro“ konnte man ruhig sagen: Hier hat ein Realist gesprochen.

Der Realismus des Lenz zeigt andere Züge. Sie werden den Geschichtsforscher nicht befremden. Sein Hofmeister ist eigentlich ein Hauslehrer. Daß er noch als Hofmeister behandelt wird und als solcher sich behandeln läßt, während er schon ein Hauslehrer ist, das ist seine Tragödie. Denn dieses deutsche Standardwerk des bürgerlichen Realismus ist eine Tragödie im Gegensatz zum französischen. Man hört geradezu das Gelächter des Franzosen über den deutschen Hauslehrer, der durch die Anknüpfung geschlechtlicher Beziehungen zu seiner adeligen Schülerin nicht etwa Karriere macht, sondern gezwungen wird, sich zu entmannen, um seinen Dienst ausüben zu können. Dieses Gelächter des Franzosen und dieser wilde Protest des Deutschen sind beides Ergebnisse revolutionärer realistischer Haltung.

[364] Die deutschen Realisten der Bühne, Lenz, der junge Schiller, Büchner, der Kleist des „Kohlhaas“ (dieses Werk kann aus verschiedenen Gründen der dramatischen Literatur zugezählt werden), der junge Hauptmann, der Wedekind von „Frühlings Erwachen“, sind auch darin Realisten, daß ihre Werke Trauerspiele sind. Das Trauerspiel des Bürgertums weicht dem Trauerspiel des Proletariats („Die Weber“). Die nicht vollzogene bürgerliche Revolution wirft ihren Schatten. „Die Weber“, das erste große Werk, das die Emanzipation des Proletariats hervorbringt, ist ein Standardwerk des Realismus. Der Proletarier betritt die Bühne, und er betritt sie als Masse. Alles wirkt hier als revolutionär. Die Sprache, schlesischer Volksdialekt, das Milieu in seinen minutiösen Details, die Vorstellung des Verkaufs der Ware Arbeitskraft als eines großen Gegenstandes der Kunst. Und doch ist hier eine monumentale Schwäche zu spüren, etwas ganz und gar Unrealistisches in der Haltung des Stückschreibers. Es ist dies der Appell an das Mitleid des Bürgertums, ein ganz und gar vergeblicher Appell, das heißt dann vergeblich, wenn er nicht nur ein Vorschlag ist, zur besseren Ausbeutung der Massen gewisse Reformen oberflächlicher Art zu genehmigen.

Der Schiller der „Räuber“ und der Kleist des „Kohlhaas“ hatten einen Zustand der Welt geschildert, in dem das „Recht“, um sich durchzusetzen, alle juristischen Formen zerbrechen muß. Auch in den „Webern“ und im „Biberpelz“ findet Gesetz und Ordnung keine sympathisierende Zeichnung. Die realistischen Dichter tragen der Realität Rechnung. Sie sind die Anwälte der Wirklichkeit, die sich herausgebildet hat, und sie sprechen gegen überkommene und überholte menschliche Vorstellungen und Verhaltungsweisen.

Ihre Bemühungen sind ein Teil der Bemühungen bestimmter Klassen, die selber Realitäten, bewegende Kräfte der Realität sind. Die gesellschaftliche Funktion ihres Realismus wechselt, ist geschichtlich, relativ, ihr Realismus zeigt verschiedene Formen und verschiedene Stärke.

[365] Selbst in Dichtwerken ein und derselben Klasse und in ihrer aufsteigenden Phase ist der praktikable Wirklichkeitsgehalt sehr verschieden, je nachdem, welche der Tendenzen der betreffenden Klasse der Dichter vertritt.

Es besteht kein Zweifel, daß Goethes Figuren ungleich wahrer sind als Schillers. Er war in seinem Leben und in seiner Kunst ein größerer Realist. Er vertrat jene Kräfte seiner Klasse, die sich den Naturwissenschaften widmeten, stark revolutionierende Kräfte.1 Die Geschichtsschreiber – Schiller war Geschichtsschreiber – waren schon fertig, als die Naturbeschreiber und Techniker noch lange nicht fertig waren. Und Schillers Figuren werden desto einseitiger, starrer, ideemäßiger und unwahrer, desto fertiger die Geschichte war, desto mehr die sozialen revolutionierenden Kräfte des Bürgertums erschöpft waren.

Im Auftrag der erschöpften, von den Produktivkräften bedrohten Klassen, die nicht mehr imstande sind, die auftauchenden Schwierigkeiten produktiv zu lösen, kann der Künstler nicht realistisch arbeiten. Hauptmann hatte in seinen ersten Werken realistisch gearbeitet, er hatte in den „Webern“, wie wir sagen, ein Standardwerk des Realismus hervorgebracht, jedoch zeigte schon dieses Werk, wenn man nach seinem Auftraggeber, nach [366] der Klasse, die es provozierte, fragt, einen interessanten Widerspruch. Es ist durchaus möglich, als Auftraggeber auch die bürgerliche Klasse, genauer gesagt, gewisse Teile der bürgerlichen Klasse, zu entdecken, zumindest in einer vorübergehenden Allianz mit Teilen der proletarischen Klasse; es hatte zwei Auftraggeber, die zueinander im Widerspruch standen. Das Werk war ein naturalistisches Werk. Der Klassenkampf war dargestellt, das war realistisch, aber er hatte einen eigentümlichen Naturcharakter im bürgerlichen Sinn, das heißt, die Natur war metaphysisch aufgefaßt, die einander bekämpfenden Kräfte hatten sich entwickelt und hatten insofern eine Geschichte, aber nur insofern, sie entwickelten sich nicht weiter und hatten vor sich keine Geschichte mehr. Es war natürlich, daß die Proletarier kämpften, aber es war auch natürlich, daß sie besiegt werden. Der Einfluß der Umgebung auf die Menschen wurde zugegeben, aber nicht, um auf diese den revolutionären Geist zu lenken; die Umgebung trat als Schicksal auf, wurde nicht als von Menschen aufgebaut und von Menschen veränderbar dargestellt. In seiner weiteren „Entwicklung“ wandte sich Hauptmann vom Realismus ab. Die Weimarer Republik sah ihn nicht mehr als Realisten, auch nicht mehr als Naturalisten, jedoch war es ihr vorbehalten, sein faschistischstes Werk, den „Florian Geyer“, das vor dem Krieg (und der nationalistischen Phase der Sozialdemokratie) keinen Erfolg gehabt hatte, nunmehr zum Repertoirestück zu machen. Dann fühlte sich die bürgerliche Klasse ernstlich bedroht und griff zu ernstlichen Gegenmaßnahmen. Sie sah keine Möglichkeit mehr, Ruhe zu haben durch eine Hebung des Lebensstandards ihres Proletariats, sie sah diese Hebung als unter ihrer Führung nicht mehr als möglich an, sie benötigte keine weitere Ausbildung ihrer Arbeiterschaft mehr für ihre Produktion und so weiter, und Hauptmann wurde Faschist, aber als Privatmann, er dichtete unsres Wissens nichts mehr in dieser Eigenschaft. Immerhin stellt sich die bürgerliche Klasse in Deutschland auch jetzt noch reale Aufgaben großen Maßstabs in abgegrenztem Bezirk. Entgegen den [367] Erwartungen vieler, die eine ganz und gar unnaturalistische Darstellung des Krieges von ihnen vermutet hätten, zeigen die faschistischen Dichter den Krieg mit Vorliebe naturalistisch, das heißt mit allen Schrecken. Naturalistisch, nicht realistisch, der Naturalismus hat sich ganz und gar metaphysiert, er ist schon pure Mystik geworden. Der Krieg ist dargestellt als eine ganz mechanische Materialschlacht, er hat keinerlei gesellschaftlichen Gehalt und keine Entwicklung.1 Immerhin entwickeln sich in der Kunst Formen, die dazu dienen sollen, den Krieg, den die herrschende Klasse als einzigen Ausweg sieht, als eine Wirklichkeit beherrschbar zu machen.

Großer allseitiger, auf dem ganzen Gebiet der Gesellschaft schöpferischer Realismus kann in der Kunst nur entwickelt werden in Zusammenarbeit mit aufsteigenden Klassen, die in das Ganze der gesellschaftlichen Institutionen, die gesamte gesellschaftliche Realität, eingreifen müssen, um sich zu entwickeln. Damit realistische Tendenzen, teilweiser Realismus, Naturalismus, das heißt mechanistischer, mystischer, heroischer Realismus, möglich ist, muß eine herrschende Klasse noch genügend lösbare Aufgaben von Ausmaß angeben können. Damit echter Realismus möglich wird, muß eine Möglichkeit der Lösung aller gesellschaftlicher Probleme (einer Beherrschung der Wirklichkeit) gegeben sein: Eine neue Klasse muß da sein, welche die Weiterentwicklung der Produktivkräfte übernehmen kann. […]

1 [326] „Das Wort“ verdankt besonders G. Lukács einige sehr bemerkenswerte Aufsätze, die den Realismusbegriff erhellen, auch wenn sie, meines Erachtens, ihn etwas zu eng definieren.

1 [361] Innerer Monolog (Joyce), Stilwechsel (Joyce), Dissoziation der Elemente (Döblin, Dos Passos), assoziierende Schreibweise (Joyce, Döblin), Aktualitätenmontage (Dos Passos), Verfremdung (Kafka).

1 [365] Vgl. aber die Stelle in der „Kampagne in Frankreich“, die Goethe, als Kriegsberichterstatter an der preußischen Intervention gegen die revolutionäre Republik teilnehmend, schrieb: „Kaum verließen sie (ein Pikett Jäger) die Stätte, als ich auf der Mauer, an der sie geruht, ein sehr auffallendes geologisches Phänomen zu bemerken glaubte: Ich sah auf dem von Kalkstein errichteten Mäuerchen ein Gesims von hellgrünen Steinen völlig von der Farbe des Jaspis und ward höchlich betroffen, wie mitten in diesen Kalkflözen eine so merkwürdige Steinart in solcher Menge sich sollte gefunden haben. Auf die eigenste Weise ward ich jedoch entzaubert, als ich, auf das Gespenst losgehend, sogleich bemerkte, daß es das Innere von verschimmeltem Brot sei, das, den Jägern ungenießbar, mit gutem Humor ausgeschnitten und zu Verzierung der Mauer ausgebreitet worden.“ Diese Stelle verrät in unschuldigster Weise viel über seinen Realismus.

1 [367] Man vergleiche diese Darstellung mit der des Grimmelshausen im „Simplizius Simplizissimus“, wo der Krieg als soziale Erscheinung, als Bürgerkrieg aufgezeigt ist.

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Bertolt Brecht: Volkstümlichkeit und Realismus, 1938

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