Twilight Zones

Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880 - 1940)

Reise-Erinnerungen aus dem Gebiet der Pueblo Indianer in Nordamerika

Aby Warburg

Source: Warburg, Aby. “Reise-Erinnerungen aus dem Gebiet der Pueblo Indianer in Nordamerika.” In Werke in einem Band, edited by Martin Treml, Sigrid Weigel, and Perdita Ludwig. Berlin: Suhrkamp, 2010: 567-587.
First edition: Warburg, Aby. “Reise-Erinnerungen aus dem Gebiet der Pueblo Indianer in Nordamerika.” In Werke in einem Band, edited by Martin Treml, Sigrid Weigel, and Perdita Ludwig. Berlin: Suhrkamp, 2010: 567-587.
Cite as: Warburg, Aby. “Reise-Erinnerungen aus dem Gebiet der Pueblo Indianer in Nordamerika.” In Werke in einem Band, edited by Martin Treml, Sigrid Weigel, and Perdita Ludwig. Berlin: Suhrkamp, 2010: 567-587, in: Twilight Zones. Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880-1940). Eds. Knaller, Susanne/Moebius, Stephan/Scholger, Martina. hdl.handle.net/11471/555.10.84

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Domains: contemporary culture, religion

Frame: own and foreign

Genre: essay

Mode: autobiographical, descriptive, narrative, plurimediality

Transgression: literature/science

[567]

16. REISE-ERINNERUNGEN AUS DEM GEBIET DER PUEBLO INDIANER IN NORDAMERIKA

(Fragmente zur Psychologie der primitiven Kunstübung)

das Nachleben primitiven Menschentums in der Kultur der Pueblo-Indianer

Kreuzlingen

Materialien aus der Kultur des primitiven Menschen zum Problem der sinnbildlichen Verknüpfungen.

10. April 923. Werden und Vergehen des Denkraums

27. Okt. 923

der gehaltene Vortrag ist auf Papier mit Leinwandanfassern in grauem Umschlag.

Es ist ein altes Buch zu blättern

Athen - Oraibi - alles Vettern

28.VII. 923

Ich will nicht, dass meine Bildervorführung aus dem Leben der Pueblo-Indianer in Nordamerika am 21. April 1923 in Kreuzlingen, Bellevue, etwa als »Ergebnisse« aufgefasst wird - ich nehme gegen diesen Ausdruck erstens deshalb Stellung, weil Herr Dr. Kurt Binswanger unter diesem Titel ohne mein Vorwissen Pfarrer Schiatter zu meinem Vortrag eingeladen hat - also nicht als »Ergebnisse« eines vermeintlich überlegenen Wissens oder Wissenschaft aufgefasst werden, sondern als verzweifelte Bekenntnisse eines Erlösungssuchers vom Verhaftetsein, des geistigen Erhebungsversuches im Verknüpfungszwang durch [?] oder imaginäre Verleihung. Die Katharsis dieses ontogenetisch lastenden Zwanges zur sinnlichen Ursachensetzung sollte als innerstes Problem sichtbar gemacht werden. Ich will, dass auch nicht der leiseste Zug blasphemischer Wissenschaftlerei in dieser vergleichen- [568]den Suche nach dem ewig gleichen Indianertum in der hilflosen menschlichen Seele gefunden werde. Die Bilder und Worte sollen für die Nachkommenden eine Hilfe sein bei dem Versuch der Selbstbesinnung zur Abwehr der Tragik der Gespaltenheit zwischen triebhafter Magie und auseinandersetzender Logik. Die Konfession eines unheilbar Schizoiden, den Seelenärzten ins Archiv gegeben.

  1. Polarität, magisch-architektonisch S. 573
  2. Problem der Kulturkontamination bei den Pueblos S. 571-72
  3. Pueblokultur in Relation zum Klima S. 592-93
  4. Pueblokultur zweiteilig (Mimik, Kosmologie) S. 588-89
  5. Märchenhaftes Denken - verzweifelter Ordnungsversuch S. 574
  6. Kausalitätsdenken aus Totem - Kindschaft S. 575
  7. Der bewusste Mensch als Mittel zwischen Systole und Diastole S. 586-87
  8. Bildende Kunst, zwischen Mimik und Wissenschaft stehend S. 587
  9. Katcina Tänze (Allgemeines) S. 584-86
  10. Humiskatcina-Tanz (Oraibi) S. 583-84
  11. Hantieren - Tragen (Verknüpfen - Trennen) S. 580-81
  12. Verleihung S. 580 f., 590
  13. Schlangenzauber, Wesen S. 574-75
  14. Mythisches Denken - Umfangbestimmung S. 577-79
  15. Phobische Gründe desselben S. 580
  16. Schlange, warum als Urelement? S. 589-90
  17. Typologie, Wesen S. 556-57
  18. (Bibliothek Warburg) S. 582

1. Das Problem

Warum bin ich hingegangen? Was hat mich gelockt?

Aeusserlich im Vordergrund meines Bewusstseins würde ich als Ursache angeben, dass mich die Leerheit der Zivilisation im östlichen Amerika so abstiess, dass ich eine Flucht zum natür- [569]lichen Objekt und zur Wissenschaft auf gut Glück dadurch unternahm, dass ich nach Washington fuhr, um die Smithsonian- Institution zu besichtigen. Sie ist ja das Gehirn und das wissenschaftliche Gewissen des östlichen Amerika und ich fand hier in der Tat zunächst in der Person von Cyrus Adler, den Herren Hodge, Frank Hamilton Cushing und vor allem James Mooney (ferner Franz Boas in New York) Pioniere der Eingeborenen-Forschung, die mir die Augen für die weltumfassende Bedeutung des prähistorischen und »wilden« Amerika öffneten. So dass ich mich entschloss, das westliche Amerika sowohl als moderne Schöpfung wie in seinen spanisch-indianischen Unterschichten zu besichtigen.

Der Wille zum Romantischen trat hinzu zum Willen, mich etwas mannhafter zu betätigen als es mir bisher vergönnt war. Es wirkte der Aerger und die Scham immer noch nach, dass ich in der Cholera Zeit nicht wie mein Bruder und die Familie meiner lieben Frau in Hamburg durchgehalten hatte.

Ausserdem hatte ich vor der ästhetisierenden Kunstgeschichte einen aufrichtigen Ekel bekommen. Die formale Betrachtung des Bildes - unbegriffen als biologisch notwendiges Produkt zwischen Religion- und Kunstübung - (was ich freilich erst später einsah) - schien mir ein so steriles Wortgeschäft hervorzurufen, dass ich nach meiner Reise in Berlin im Sommer 1896 zur Medizin umzusatteln versuchte.

Ich ahnte noch nicht, dass mir aus dieser amerikanischen Reise eben der organische Zusammenhang zwischen Kunst und Religion der »primitiven« Völker so klar werden würde, dass ich die Identität oder vielmehr die Unzerstörbarkeit des primitiven Menschen, der zu allen Zeiten derselbe bleibt, so deutlich schaute, so dass ich ihn als Organ ebenso in der Kultur der florentinischen Frührenaissance wie später in der deutschen Reformation herausstellen konnte.

Ein Buch und ein Bild gaben mir die wissenschaftliche Unterlage und die Zielvisionen meiner Reise. Das Buch, das ich in der Smithsonian-Institution fand, war das Werk von Nordenskjöld über die »Mesa Verde«, d.h. jenes Gebiet, im Norden von Colo- [570]rado, wo sich die Reste der rätselhaften Cliff-dwellings finden - ein gediegenes, ganz von wissenschaftlichem Geist getragenes Werk, dem ich den festen Rückhalt meiner Versuche einzig verdanke.

Der romantische, visionäre Zielpunkt, der die Lust zu Abenteuern weckte, war ein sehr schlechter Buntdruck in grossem Format, der einen Indianer vorstellte, wie er vor einer Felsspalte mit einem solchen eingebauten Dorf steht. Von diesem ging der erste Eindruck und die eigentliche Fragestellung an die Herren der Smithsonian-Institution aus, die mich eben sodann auf das Buch von Nordenskjöld verwiesen. Auf meine Frage, ob man diese Cliff-dwellings nicht besuchen könne, wurde mir gesagt, da es schon Ende November war, dass das im Winter seine grossen Schwierigkeiten hätte, die zu überwinden mich lockte. Auch weil ich eben aus dem Militärdienst kam, den ich mit grossem Eifer, aber schliesslich mit einem Misserfolg absolviert hatte, da ich nur als Unteroffizier abgegangen war. Ich hatte den Antisemitismus in seiner schleichenden Form gründlich als Gefahr für Deutschland kennen gelernt, wobei ich betonen möchte, dass ich selbst eine Qualität zu einem wirklich guten Reserve-Offizier in mir nie gefühlt habe, wohl aber, dass erstens die anderen, die - auf Grund vorschriftsmässiger Konfession avanciert - noch schlechter waren, und vor allem, dass wirklich taugliche deutsche Juden dem Heere als Offiziere entzogen wurden, was sich ja 1914 blutig gerächt hat. Ein paar tausend jüdischer Offiziere mehr und wir hätten vielleicht die Schlacht an der Marne gewonnen.

Immerhin kam es mir zugute, dass die amerikanische Armee und die amerikanischen Farmer für ihre Pferde denselben ungarischen Bocksattel benutzen wie unsere Artillerie. Und auch den Willen zur Ertragung von Strapazen, wenn auch in wirklich nicht heroischer Form, brachte ich immerhin mit.

Bei der Beobachtung der amerikanischen modernen Zivilisation kam noch ein Wunsch hinzu, der mir die erfreulichsten Eindrücke gewährte, der Besuch der amerikanischen Bildungsanstalten, Schulen und Universitäten im Westen. Dass ich diese Reise mit immer wieder sich auffrischendem gutem Willen machen [571]konnte, verdanke ich dem uns Europäern unfasslichen, wohlwollenden Freimut der Behörden, die zu einem Entgegenkommen allerdings durch zwei sehr nachdrückliche Empfehlungen veranlasst wurden, nämlich durch den Kriegsminister und den Minister des Inneren der USA. Kuhn-Loeb haben mir diese Empfehlungen verschafft, zwei Briefe von höchstens fünf Zeilen, die mir jedes Tor im Westen aufspringen liessen. Allerdings kam noch eine sehr wirkungsvolle Empfehlung von Seligman an den Eisenbahn-Magnaten Robinson in Chicago hinzu. Ich kam eines Nachmittags in sein Büro, wo ich einen älteren Amerikaner mit unter etwas müdem Gesicht verhaltener Energie vorfand, der den Brief kurz las, den Kopf einen Augenblick erhob und nur fragte: What can I do for you, Sir? Wenn ich nun allgemein geschwafelt hätte, wäre ich verloren gewesen. Ich sagte ihm aber sofort, dass ich an den Gouverneur von New-Mexico eine Empfehlung haben möchte sowie ein oder zwei andere Briefe an prominente Leute in der Gegend der Pueblo Indianer und dass ich gerne freie Reise auf der Strecke der Atchison-Topeca-Santa Fé-Bahn hätte. Seine Antwort war nur diese: All right Sir, you get the letters in the after-noon. Worauf ich wirklich im Palace Hotel drei der allerwertvollsten Einführungs-Schreiben und einen Pass für die Eisenbahn erhielt. Erst durch diesen Pass war ich in der Lage, immer wieder von Santa Fé aus von der Bahn meine Abstecher in die indianischen Dörfer zu machen.

Künstlerische Kultur der Indianer

Die Kunst der Indianer zeigte sich mir auf zwei verschiedenen Gebieten, die aber für diese, die Indianer selbst, nur eine einheitliche Betätigung sind: im Tanz und in der bildenden Kunst. Beide Kunstäusserungen wurzeln gerätmäßig im gemeinsamen Stamme ihrer religiösen Vorstellungen, die sich als magische Praktiken [einer] grossartig durchdachten Kosmologischen Weltanschauung herausstellen. Kolorierte Handzeichnungen, die mir ein Indianer in Santa Fe machte, Juan Chata, verraten un- [572]ter der sogenannt kindlichen Darstellung verblüffend identische Hilfsvorstellungen der ordnenden Fantasie, wie wir sie ganz ähnlich im grauen heidnischen Altertum Europas und Asiens vorfinden.

Und nun erhebt sich die Frage: Haben wir unter den Werken der braunhäutigen Tänzer, Maler, ornamentierenden Töpfer und Puppenschnitzer autochthone Schöpfungen, Völkergedanken des Primitiven, zu erblicken oder stehen wir vor Mischprodukten, die sich aus südamerikanischen Urgedanken und europäischem Einschlag zusammensetzen? Denn dieser wurde bekanntlich Ende des 16. Jahrhunderts durch die Spanier bis in diesen Norden von Neu-Mexico hineingetragen und hinterliess eine Schicht, die sich über uramerikanische Vorstellungen legte, auf die sich neuerdings die puritanisch-amerikanische Kultur mit ihren Erziehungsversuchen ablagert. Philologisch betrachtet stehen wir also vor dem denkbar schwierigsten Objekt: Ein Palimpsest, dessen Text - selbst wenn man ihn herausbringt - kontaminiert ist. Als besonders erschwerend kommt hinzu, dass die Sprache der heutigen Indianer so differenziert und reichhaltig ist, dass sich die Nachbardörfer der Pueblo-Dörfer - es gibt deren etwa dreissig bis vierzig - nicht verstehen, sondern zu einer Zeichensprache oder zu spanisch, früher, und jetzt englisch greifen müssen.[1]

Schon allein diese Verschiedenheit der Dialekte macht eine zuverlässige historische Psychologie zunächst unmöglich und es bedarf sprachlicher Vorarbeiten, die ein ganzes Menschenleben erfordern, um eine sichere Grundlage zu gewinnen. Diese Arbeiten sind seit der Zeit, dass ich diese kleinen Abstecher versuchte, für mich zur Unübersehbarkeit gewachsen, scheinen aber, was die Wanderzüge der Pueblos angeht, zur relativen Klarheit geführt zu haben.[2]

[573]Was ich also sah und erlebte, gibt nur den äusseren Schein der Dinge wieder, von denen zu sprechen ich nur das Recht habe, wenn ich vorausschicke, dass das unlösbare Problematische mir so drückend auf der Seele gelastet hat, dass ich in meiner gesunden Zeit nie gewagt haben würde, darüber etwas wissenschaftlich zu äussern.

Jetzt aber, 1923 im März, in Kreuzlingen, in einer geschlossenen Anstalt, wo ich mich als Seismograph empfinde, der aus Holzstücken zusammengesetzt ist, die einem Gewächs entstammen, das aus dem Orient in die nahrhafte norddeutsche Tiefebene verpflanzt wurde und einen aus Italien inokulierten Ast trug, lasse ich die Zeichen, die ich empfange, aus mir heraustreten, weil in dieser Epoche eines chaotischen Untergangs auch der Schwächste verpflichtet ist, den Willen zur kosmischen Ordnung zu verstärken.

Ich habe bei den Indianern zwei Vorgänge nebeneinander gesehen, die die Polarität des Menschen im Kampfe mit der Natur in erstaunlicher fremdartiger Sinnfälligkeit zeigen. Erstens den Willen durch Verwandlung in Tiere die Natur magisch zu bezwingen und dabei zweitens die Fähigkeit, die Natur kosmischarchitektonisch als Ganzes, das objektiv zusammenhängt und sich tektonisch bedingt, in sinnfälliger Abstraktion zu begreifen.

Zur Psychologie des Willens zur Tier-Metamorphose habe ich von Frank Hamilton Cushing, dem Vorkämpfer und Veteranen des Kampfes um die Einsicht in die indianische Seele, persönlich ganz überwältigend neue Aufschlüsse erhalten, ehe ich die Reise antrat. Der pockennarbige Mann mit dem spärlich rötlichen Haar, dessen Alter man nicht erraten konnte, sagte mir, Zigarretten-rauchend: Ein Indianer habe ihm mal gesagt, warum soll denn der Mensch höher stehen als das Tier ? »Sieh mal die Antilope an, die ist nur Laufen und läuft soviel besser als der Mensch - oder den Bären, der ist ganz Kraft. Menschen können nur Etwas und das Tier kann das, was es ist, ganz

(Die Tiere sind für den primitiven Menschen ein erfülltes kinetisches Symbol, dem gegenüber die Versuche des Menschen fragmentarisch und unzulänglich erscheinen.)

[574]Die künstlerische Kultur offenbart dem rationalistisch entarteten Europäer ein unbequemes, schmerzhaftes und darum nicht gern benutztes Hilfsmittel, seinen Glauben an ein idyllisch gemütliches Märchenland als gemeinsame Urheimat des Menschen vor dem Sündenfall der Aufklärung gründlich zu zerstören. <Der märchenhafte Untergrund im Spiel und in der Kunst der Indianer ist Symptom und Beweis eines verzweifelten Ordnungsversuches dem Chaos gegenüber, kein lächelnd-behagliches Sichtreibenlassen im Fluss der Dinge.>

Ein Märchentier, anscheinend das konkreteste Produkt der spielerischen Fantasie, ist in statu nascendi ein mühevoll begriffenes Abstraktum. Es ist eine Umfangsbestimmung für Erscheinungen, die sich sonst in ihrer vorbeifliehenden Unfassbarkeit nicht erfassen lassen. Beispiel: Der Schlangentanz in Oraibi und Walpi.

Die Gegend ist eine wasserarme Wüste. Nur im August fällt der Regen, der von heftigen Gewittern begleitet auftritt. Kommt er nicht, so ist der mühselige Acker- und Pflanzenbau der Indianer (Mais und Pfirsiche) im mühsamen Jahresdienst umsonst gewesen. Erscheint der Blitz, so ist für dieses Jahr die Hungersnot gebannt.

Die Schlangenformation des Blitzes, das Rätselhafte seiner Bewegung, ohne deutlich feststellbaren Anfangs- und Endpunkt seiner Bewegung, seine Gefährlichkeit teilt er mit der Schlange, die ein Maximum der Bewegung und ein Minimum der Angriffsfläche bietet. Wenn man sie in ihren gefährlichsten Formen in den Händen hält, nämlich in der Klapperschlange, wie die Indianer es tatsächlich tun, sich von ihr heissen lässt und sie nachher nicht etwa tötet sondern wieder in die Wüste hinausbringt, so hat Menschenkraft durch handmässiges Erfassen eben zu begreifen versucht, was sich in Wirklichkeit seinen Hantierungskünsten entzieht.

Der Versuch einer magischen Einwirkung ist also erstens ein Aneignungs-Versuch eines Naturereignisses in seinem lebendigen, ähnlichen Umfangsgebilde: der Blitz wird durch mimische Aneignung herbeigelockt nicht wie in der modernen Kultur durch magnetische, unorganisch-gerätmässige Anziehung in den Erdboden hinein vernichtet. Ein solches Verhalten zur Umwelt unter- [575]scheidet sich von unserem Verhalten dadurch, dass durch das mimische Bild die Verknüpfung erzwungen werden soll, während wir die geistige und reale Entfernung anstreben.

Die Ur-Kategorie kausaler Denkform ist Kindschaft. Diese Kindschaft zeigt das Rätsel des materiell feststellbaren Zusammenhangs verbunden mit der unbegreiflichen Katastrophe der Loslösung des einen Geschöpfs vom andern. Der abstrakte Denkraum zwischen Subjekt und Objekt gründet sich auf dem Erlebnis der durchschnittenen Nabelschnur.

Der der Natur gegenüber ratlose »Wilde« ist ohne väterlichen Schutz verwaist und sein Mut zur Kausalität erwacht in der Auslese eines wahlverwandten Tiervaters, der ihm die Eigenschaften gibt, die er im Kampf mit der Natur braucht und bei sich nur in schwacher Vereinzelung dem Tier gegenüber findet. Das ist der Urgrund des Totemismus.

Die gefürchtete Schlange hört auf furchtbar zu sein, wenn man sie als Eltern adoptiert, wobei zu erinnern ist, dass die Pueblos das Mutterrecht haben, d.h. die Causa der Existenz in dem unwiderleglichen »Mater certa« suchen. Die Vorstellung der Ursache ist - und das ist die wissenschaftliche Errungenschaft der sog. Wilden - wandelbar zwischen Tier und Mensch, die krasseste Form dieser Wandlung geschieht eben im Tanz. Durch die eigene Musik und - wie im Klapperschlangentanz - sogar mit der Aneignung des lebendigen Wesens selbst.

Erinnerungen [/] Ueber Indianerbücher

Im Jahre 1875 lag meine Mutter totkrank in Ischl darnieder. Wir mussten sie in der schwersten Krisis verlassen in einem Postwagen, der von einem roten Postillon gezogen wurde, in der Pflege unserer treuen Franziska Jahns, die sie wirklich uns im Spätherbst des Jahres wieder heil und gesund nachhause brachte - trotzdem drei Wiener Autoritäten, Widerhofer, Fürstenberg und ein anderer sie behandelt und katholische Schwestern, deren Geruch ich heute noch in der Nase habe, [sie] gepflegt hatten.

[576]Ich witterte die schwere Erkrankung meiner Mutter wie ein Tier. Denn sie war mir in ihrem ungewohnten Schwächezustand, der die Krankheit voranzeigte, ungewohnt und besonders unheimlich, als sie in einer Sänfte den Calvarienberg bei Ischl, den wir besehen wollten, heraufgetragen wurde, bei welcher Gelegenheit ich zum ersten Mal in ganz entarteten Bauernbildern die tragische, unverhüllte Wucht der Passions-Szenen aus dem Leben Christi vor Augen sah und dumpf empfand.

Ein einmaliger Besuch bei meiner armseligen und verstört aussehenden Mutter, das Zusammensein mit einem minderwertigen jüdisch-österreichischen Studenten, der als Hauslehrer galt, erzeugten eine Atmosphäre der inneren Verzweiflung, die ihren Höhepunkt erreichte, als mein Grossvater kam und uns sagte: »betet für Eure Mutter« - worauf wir uns mit hebräischen Gebetbüchern auf Schliesskörbe setzten und etwas herunterlasen.

Als Reaktion gegen diese unbegreiflichen Erschütterungen gab es zweierlei: einen Delikatessenladen unten, wo wir zum ersten Mal unvorschriftsmässige Wurst zu essen bekamen, und eine Leihbibliothek, die voll war von Indianer Romanen. Diese Indianer Romane habe ich in ganzen Haufen damals konsumiert und dadurch offenbar das Mittel gefunden, mich von einer erschütternden Gegenwart, die mich wehrlos machte, abzuziehen. Es waren kleine Ausgaben in der Uebersetzung, glaube ich, von Hoffmann.

Die Schmerzempfindung reagierte sich ab in der Fantasie des Romantisch-Grausamen. Ich machte da die Schutzimpfung gegen das aktiv Grausame durch, die offenbar zu den ontogenetisch notwendigen Selbstschutz-Aktionen gehört, die für den Kampf ums Dasein dem Menschen mitgegeben werden und bis auf weiteres in der Bodenkammer des Unterbewusstseins bereitliegen.

Diese »Evolution regressive« hat im Rahmen einer technisch beruhigten, künstlerischen Ausprägung in unserer Zeit in Slevogt ihren Nährboden und Impfstoffträger gegen das schauerlich-romantisch-Zerstörende gefunden, wie es der gebildete Durchschnitt braucht. Er ist zugleich der Illustrator der Ilias und des Lederstrumpf und des Don Juan.

[577]Von diesem Interesse an der Lederstrumpf-Romantik war ich, als ich die Reise zu den Indianern machte, frei und konnte auch derartiges in der Gegend, in der ich mich befand, kaum zu sehen bekommen, da der Boden zwar eben jene schrecklichsten Kämpfe zwischen Apachen und Weissen getragen hatte, die Apachen selbst aber seit einer Reihe von Jahren ausgehoben und in den Menschentierpark der »Indian Reservations« an der Grenze von Canada versetzt worden waren.

Aber ein anderes Stück Romantik war mir durch ein Buch doch in der Erinnerung, ohne dass ich vielleicht mir darüber klar war. Wenn ich nicht irre, ist es von Browne und heisst »Eine Reise nach dem Westen« und enthält [Bilder], [ist] übersetzt aus dem Englischen, ordinär englisch illustriert, und brachte mir, als ich etwa 16 bis 17 Jahre sein musste, die groteske Fülle des westlichen amerikanischen Pionierlebens in eigentümlich aufreizender Drastik in meine Fantasie.

Als ich das Buch vor etwa 7 bis 8 Jahren wieder las, war ich über die fade Verlogenheit entsetzt. Das ändert nichts daran, dass es in meiner Fantasie als Gärungspilz gewirkt hat.

(Ich möchte hierbei bemerken, dass kein Buch auf meine Fantasie in der Jugend so romantisch-aufrührerisch gewirkt hat wie Balzac’s Buch »Die kleinen Leiden des Ehestandes« mit den französischen Illustrationen von ... In diesen Illustrationen fanden sich illustrative Satanismen, die ich noch vor meiner Erkrankung am Typhus 1870 gesehen habe und die in den Fieberträumen eine merkwürdig dämonische Rolle gespielt haben.)

Mythische Denkweise

Bei der mythischen Denkweise (vgl. Tito Vignoli, Mythus und Wissenschaft) löst ein Reiz als Abwehrmassregel den Erreger in maximal gesteigertem Wesensumfang aus, d.h. wenn eine Türe knarrt, glaubt - oder besser will man unbewusst - einen Wolf knurren hören.

Für die mythische Denkweise ist charakteristisch (vgl. Tito Vi- [578]gnoli, Mythus und Wissenschaft), dass ein visueller oder Gehörsreiz für den wirklichen Erreger, einerlei ob und wie er in naturwissenschaftlicher Wahrheit nachweisbar ist, wie z.B. von fernher kommenden Tönen, im Bewusstsein als Erreger eine biomorphe Ursache hinstellt, die durch ihren erfassbaren Wesensumfang eine Abwehrmassregel imaginär ermöglicht. Z.B. wenn eine Türe in der Zugluft knarrt, so ruft dieser Reiz beim Wilden oder beim Kinde das Angstgefühl hervor: der Hund knurrt. Oder wenn der Indianer die Lokomotive einem Flußpferd vergleicht,[3] so ist das für ihn ein aufklärerischer Rationalismus in dem Sinn, dass er dieses unbekannte, gewaltsam dahinstürmende Tier einfängt in das ihm bekannte Geschöpf, das er zu jagen und zu erlegen gewohnt ist. Dass die Tendenz dieser Abwehrphantasie wissenschaftlich unzulänglich ist, weil sie im Fall der Lokomotive die Gebundenheit der Bewegung auf Schienen und den fehlenden Willen zum feindlichen Angriff nicht kennt, d. h. die Gebundenheit der Maschine nicht versteht, offenbart den Unterschied zwischen Maschinen-Zivilisation und primitiver Kultur, deren Grundvoraussetzung ist, dass zwischen Wesen und Wesen die feindselig angreifende menschliche oder tierische Persönlichkeit herrscht. Je stärker die Physis dieses Angriffswillens das ganze Wesen erfüllt, umso stärker ist der Reiz zur Abwehr in dem Angegriffenen. Abwehr durch Verknüpfung von Subjekt oder Objekt mit Wesen von maximal gesteigerter umfänglich fassbarer Kraft ist der Grundakt der märchenhaft denkenden Kämpfer ums Dasein.

Phobische mythische Phantasie als Ursachensetz[un]g

Beim primitiven Menschen funktioniert das Gedächtnis biomorphistisch-comparativ ersetzend. Das ist als Abwehrmassregel im Kampf ums Dasein gegen lebende Feinde aufzufassen, die das[579]phobisch gereizte Gehirn einerseits in deutlichstem und klarstem Umfang und andererseits in aller ihrer Kraft zu begreifen versucht, um danach die stärksten Abwehrmassregeln treffen zu können. Dies sind Tendenzen unter der Schwelle des Bewusstseins.

Durch das ersetzende Bild wird der eindrückende Reiz objektiviert und als Objekt der Abwehr geschaffen. Wenn z. B. die rätselhafte Lokomotive als Flusspferd angesehen wird, so gewinnt sie für den Wilden einen für seine Kampftechnik abwehrbaren Charakter. Er könnte sie erlegen, wenn sie auf ihn loskäme. Er weiss nicht, dass es Maschinen gibt, d.h. blinde, anorganische Bewegungs-Wesen, die - zwischen Naturerscheinung und Menschenreich - durch die Titanen erzeugt worden sind. Als die ersten Lokomotiven durch Mecklenburg fuhren und an der Station hielten, warteten die Bauern, wann denn nun ein frisches Pferd in die Lokomotive getan werde - ein wesengleicher, aber durch die umfriedete Zivilisation gedämpfter Biomorphismus.

Dieses ist objektiver Biomorphismus. Der subjektive Biomorphismus, der willkürlich den Menschen selbst anorganisch mit anderen Wesen imaginär verknüpft, hat dieselbe Tendenz des Wunsches nach gesteigertem Kraftzuwachs dem Feinde gegenüber. Z. B. beim Totemismus. Die Wahlvaterschaft im Totemismus beruht darauf, dass der indianische Kämpfer vom Stamm der Coyote die Schlauheit und Stärke dieses Tieres sich anzueignen wünscht. Der Totemismus ist eine subjektiv-phobische Funktion des Gedächtnisses. Die Mokis vom Stamme der Klapperschlange können die Klapperschlange im Tanz anfassen, ohne sie töten zu wollen, weil sie mit ihr verwandt sind. Zugleich aber glauben sie, in ihr die Trägerin des Blitzes zu fassen, der ihnen den Regen bringt.

Der Wille im Geschehen muss für den mythisch Denkenden aus biomorph d.h. organisch umschriebener Umfangsbestimmung dadurch erklärt werden, dass sich diese für den naturwissenschaftlich »feststellbaren« Erreger einsetzt - als Substitution des unorganisch zerfliessenden durch biomorph-animistisch bekannte und übersehbare Wesen.

[580]Biomorphismus [/] phobisch [/] struktural [/] »auseinandersetzend«

Wenn ich versuche, zu ordnen, dann verknüpfe ich Bilder ausser mir mit einander. Dieser ganze Biomorphismus ist ein phobischer Reflex und das andere ist ein kosmischer Akt, der nur zweigliedrig und nicht abgelagert ist, d.h. es fehlt beim phobischen Reflex durch biomorphe Phantasie die Fähigkeit zum Niederschlag eines zahlenmässig geordneten kosmischen Bildes. Dieser objektive Bildniederschlag ist in diesen harmonikalen Versuchen, wie sie die Indianer und die Hellenisten haben, vorhanden und dessen Riesenfortschritt dem einfachen Biomorphismus gegenüber besteht darin, dass der einfache Biomorphismus auf die Gedächtnisfunktion durch eine Abwehrmassregel funktioniert, während bei den Versuchen des »strukturalen« Denkens die Hand nicht die Waffe, sondern das umreissende Werkzeug führt und einen bildlichen Niederschlag dieses phobischen Biomorphismus erzeugt, der aber gar nicht sich äussern könnte, wenn nicht im Bewusstsein bereits die Zahl sich gebildet hätte.

Tragödie der Verleibung

Der Ausgangspunkt ist der, dass ich den Menschen als ein hantierendes Tier ansehe, dessen Betätigung in Verknüpfen und Trennen besteht. Dabei verliert er sein Ich-Organgefühl, weil nämlich die Hand ihm erlaubt, reale Dinge an sich zu nehmen, in denen der nervöse Apparat fehlt, weil sie anorganisch sind, trotzdem aber sein Ich unorganisch erweitern. Das ist die Tragik des sich durch Hantierung über seinen organischen Umfang heraussteigernden Menschen.

Der Sündenfall Adams bestand gewiss einmal in der Einverleibung des Apfels, die ihm in sein Inneres einen Fremdkörper hineinbrachte von unberechenbarer Wirkung; zweitens - und gewiss ebensosehr - darin, dass er durch die Hacke, mit der er die Erde[581]bearbeiten musste, eine tragische, weil nicht wesenhaft mit ihm zusammengehörige, Erweiterung durch das Gerät empfing. Die Tragik des essenden und hantierenden Menschen ist ein Kapitel aus der Tragödie der Menschheit.

Tragik der fremden Tracht (8. V.923)

Woher kommen alle diese Fragen und Rätsel der Einfühlung der unbelebten Natur gegenüber? Weil es für den Menschen tatsächlich einen Zustand gibt, der ihn mit etwas vereinigen kann - eben durch Hantierung oder Tragen - das ihm gehört, aber durch das sein Blut nicht kreist. Die Tragik der Tracht und des Gerätes ist im weitesten Sinn die Geschichte der menschlichen Tragödie und das tiefsinnigste darüber geschriebene Buch ist der Sartor resartus von Carlyle.

Der Mensch kann also unorganisch seinen Umfang erweitern durch das Hantieren oder Tragen. Für das Ergriffene und Getragene bekommt er kein direktes Lebensgefühl. Und das ist eigentlich kein Novum für ihn, weil es an ihm selbst schon von der Natur aus Teile gibt, die zu ihm gehören, aber keine Empfindung haben, wenn sie entfernt werden z. B. Nägel oder Haare, obgleich sie vor seinen Augen wachsen. Wie er denn auch im normalen Zustand von seinen eigentlichen Organen kein Gefühl hat. Er bekommt also aus dem, was wir Organ nennen nur ganz geringe Gegenwarts-Signale und erfährt an jedem Tag, dass er in seinem Bewusstsein nur ein ganz kümmerliches Signalsystem für Prozesse besitzt, die der Natur angehören. Er befindet sich in seinem Leib wie ein Telephonfräulein bei Gewitter oder unter Beschiessung. Der Mensch besitzt niemals das Recht, zu sagen, dass sich sein Vitalgefühl mit dem ganzen Umfang der in seiner Persönlichkeit vorgehenden Veränderungen (durch ein stets präsentes Signalsystem) deckt.

[582]

Gedächtnis

Das Gedächtnis ist nur eine ausgewählte Sammlung von beantworteten Reizerscheinungen durch lautliche Aeusserungen. (lautes oder leises Sprechen) (Darum schwebt mir für meine Bibliothek als Zweckbezeichnung vor: Eine Urkundensammlung zur Psychologie der menschlichen Ausdruckskunde).

Die Frage ist: Wie entstehen die sprachlichen oder bildförmigen Ausdrücke, nach welchem Gefühl oder Gesichtspunkt, bewusst oder unbewusst, werden sie im Archiv des Gedächtnisses aufbewahrt und gibt es Gesetze, nach denen sie sich niederschlagen und wieder heraus dringen?

Das von Hering so glücklich formulierte Problem »Das Gedächtnis als organisierte Materie« soll mit den Mitteln meiner Bibliothek beantwortet werden, und ebenso durch die Psychologie des primitiven d.h. des unmittelbar reflektorisch und unliterarisch reagierenden Menschen einerseits begriffen werden sowie andererseits durch den bewusst sich der geschichteten (geschichtlichen) Formation seiner eigenen und seiner Vorfahren Vergangenheit erinnernden historischen und zivilisierten Menschen. Beim primitiven Menschen führt das Erinnerungsbild zur religiösen Handlung[,] beim zivilisierten zur Aufzeichnung.

Die ganze Menschheit ist ewig und zu allen Zeiten schizophren. Doch kann vielleicht ontogenetisch ein Verhalten zu den Gedächtnisbildern als vorausgehend und primitiv bezeichnet werden, das aber nebenständig bleibt. Bei der späteren Stufe löst das Gedächtnisbild nicht eine unmittelbare praktische Reflexbewegung - sie sei nun kampfartig oder religiös - aus, sondern die Erinnerungsbilder werden bewusst aufgestapelt in Bildern oder Zeichen. Zwischen diesen beiden Stufen steht die Behandlung, die der Eindruck erfährt, die man als symbolische Denkform bezeichnen kann.

[583] Totem und Tabu

Totem ist rückwärtsgewandte Verknüpfung mit dem Organischen nicht zusammengehöriger Objekte. Tabu ist auf die Gegenwart bezogene Entfernung vom Organischen nicht zusammengehöriger Objekte.

Vorletzte Materialien zum Vortrag

Im April 1896 hatte ich auf der zweiten Hälfte meiner Reise durch das Gebiet der Pueblo-Indianer von Holbrook kommend nach zweitägiger Wagenfahrt das Gehöft von Mr. Keam, dem Indian- Trader für die Moki-Indianer, deren Dörfer auf drei parallel liegenden Felsplateaus östlich von dieser Siedlung liegen, erreicht. Das östlichste dieser Dörfer heisst Oraibi. Hier am Fuss des Felsens, auf dem Oraibi liegt, hatte sich ein Missionar, Herr Voth angesiedelt, dessen Frau eine Schwäbin von Geburt war, die mich sehr freundlich aufnahm. Er hatte durch jahrelangen Verkehr mit den Indianern ihr Vertrauen dadurch gewonnen, dass er seiner Aufgabe als Missionar so wenig als möglich nachkam. Er studierte die Indianer, kaufte ihnen ihre Erzeugnisse ab und betrieb einen schwungvollen Handel mit diesen Objekten. Da er aber das Vertrauen der Leute in ungewöhnlichem Masse besass, war es möglich, was sie sonst wegen ihrer Abbildungsscheu nie erlauben, sie bei ihren Tänzen zu fotografieren. So war es mir möglich, einen Humiskatcina-Tanz d.h. einen Tanz zur Beförderung des keimenden Kornes mitanzusehen und zu fotografieren.

Humiskatcinatanz

Es war ein Maskentanz. Die tanzenden Indianer zerfallen in zwei Gruppen. Die einen knieten und machten Musik in weiblicher Tracht - in Wirklichkeit waren es Männer - und vor ihnen waren [584]die eigentlichen Tänzer aufgereiht, deren Tanzbewegung, eine langsame Drehung um sich selbst, von monotonem Gesang und fortwährendem Klappern der Rasseln und der Holzratschen begleitet war.

Diese zweireihige Menschengruppe hatte als Flügelpunkt ein kleines Tempelchen aus Stein, vor dem ein Bäumchen in den Boden eingesteckt war, das mit Federn geschmückt wurde. Diese Federn wurden, wie mir gesagt wurde, nach vollbrachter Tanz-Zeremonie ins Tal gebracht. Sie heissen Nakwakoci. Sie kommen auch sonst auf den Barros - Gebetsvermittlern, die aus kleinen Holzstäben bestehen - vor, auf die sie gebunden sind.

Während des Tanzes umschritt ein Indianer ohne Maske, langhaarig, vollkommen gewandet, die Tänzer und bestreute sie mit Mehl.

Die Maske selbst ist ein Viereck, das durch eine Diagonale zerlegt wird, die beiden Dreiecke einander gegenüber sind rot und grün. In der Diagonale laufen Tupfen entlang, die Regen bedeuten sollen. Oben auf, von beiden Seiten, ragen zickzackartig geschnitzte Holzspitzen, die wahrscheinlich den Blitz darstellen.

Der Tanz dauert in verschiedenen Formationen von morgens bis abends. Wenn die Erhitzten die heisse Maske ablegen wollen, ziehen sie einen Augenblick vors Dorf auf einen Felsvorsprung und ruhen sich aus. Nachher wird weiter getanzt bis spät abends.

Die Indianer, die am Catcina-Maskentanz teilnehmen, stellen weder die Götter selbst dar, noch sind sie nur Priester; als dämonischen Vermittlern zwischen Volk und himmlischen Mächten wohnt ihnen während der Zeit der Maskierung eine magische Kraft inne.

Ihre Aufgabe ist, durch Tanz und Gebet den befruchtenden Regen herabzubeschwören; nach dem Gewitter sendet der Indianer seine heissesten Gebete in der dürren Steppe Arizonas und New- Mexicos; denn wenn der Regen in dem einzigen Monat, in dem er dort erscheinen kann, im August, ausbleibt, dann reift das Maiskorn nicht und der böse Geist der Hungersnot naht sich, Sorge bringend und Not für lange, harte Wintersmonate.

Dem Stande der Landwirtschaft entsprechend, fällt den Catci- [585]nas eine wechselnde Aufgabe und Bedeutung zu, die sich in der verschiedenen Art des Tanzes und Gesanges und vor Allem in der jedes Mal neuartigen symbolischen Ausschmückung der Gesichtsmaske und des Tanzgerätes offenbart.

Katcinamaske

Das Studium der Catcinamasken und des dazugehörigen bildlichen Tanzschmuckes wird nun dadurch erleichtert, dass die Indianer die Gewohnheit haben, ihren kleinen Mädchen bis zum Alter von etwa zehn Jahren Holzpuppen zu schenken, die die Tracht der Catcinatänzer bis in Einzelheiten genau wiedergeben. Bei den Moki-lndianern heissen diese Puppen Tihus, man sieht sie in jedem Indianerhause an den Wänden oder an den Balkendecken hängen. Ihr Erwerb ist mit nicht allzu grossen Schwierigkeiten verbunden.

Vor den Catcina selbst wird den Kindern eine grosse religiöse Scheu beigebracht. Jedes Kind hält die Catcinas für übernatürliche, furchtbare Wesen, und der Augenblick, wo das Kind über die Natur der Catcinas aufgeklärt und selbst in die Gesellschaft der Maskentänzer aufgenommen wird, bildet den wichtigsten Wendepunkt in der Erziehung des indianischen Kindes.

Diese sog. Catcina-Tänze finden öffentlich auf dem freien Platze statt, den jeder Pueblo besitzt. Sie sind gleichsam die volkstümliche Ergänzung zu jenem geheimnisvollen und künstlich entwickelten Götzendienst, den die geschlossenen religiösen Brüderschaften nächtlich in der unterirdischen Kiwa feiern.

Oraibi

In den näher der Eisenbahn gelegenen indianischen Dörfern ist es für einen fremden Weissen schon sehr schwierig, die eigentlichen Catcina-Maskentänze anzusehen, ganz unmöglich aber, dem Geheimdienst in der Kiwa beizuwohnen, da die minderwertige wei- [586]sse Gesellschaft, die gewöhnlich beim Eisenbahnbau den Vortrupp amerikanischer Kultur bildete, das Vertrauen der Indianer missbrauchte und eine nur zu sehr begreifliche misstrauische und verschlossene Stimmung erzeugt hat.

Die Bewohner der Dörfer der Moki oder Hopi Indianer, die zwei bis drei Tagereisen von der Eisenbahnstation entfernt liegen und nur vermittelst einer Wagenfahrt durch die Steppe zu erreichen sind, setzen der Beobachtung ihrer religiösen Gebräuche weniger Schwierigkeiten entgegen, wenn auch die Zulassung zu dem eigentlichen Geheimdienst in der Kiwa nur durch Vermittlung eines, mit den Indianern seit langem persönlich befreundeten Amerikaners ermöglicht werden kann.

In der Person des Missionärs H. R. Voth, der einige Kilometer von der Mesa, auf der Oraibi liegt, wohnt, hatte ich überdies das Glück, einen für die amerikanische Ethnologie nur zu seltenen Forscher zu finden, der das völlige Vertrauen der Indianer in Oraibi erworben hatte. In den Tagen vom 22. April bis 2. Mai 1896, wo ich bei ihm wohnte, verdanke ich seiner intelligenten Führung eine wirklich lebendige Vorstellung von dem religiösen Leben der Mokis.

Der Masken-Catcinatanz, den ich in Oraibi zu beobachten Gelegenheit hatte und von dem ich Ihnen im Folgenden einige Bilder zeigen will, war der sog. Humiscatcina-Tanz, welcher der erste ist, der nach der Aussaat des Kornes stattfindet, zur magischen Weihung des keimenden Kornes. Wir beobachteten denselben am 1. Mai 1896.

Der bewusste besonnene Mensch steht zwischen Systole und Diastole.

Greifen und Begreifen. Er bewegt sich gleichsam im Halbkreis von der Erde auf und zur Erde wieder hernieder.

Und wenn er von seinem Aufrechtstehen, das er vor dem Tier voraushat, im Scheitelpunkt des Halbkreises Gebrauch macht, dann werden ihm die Uebergangszustände zwischen triebhaftem Sich-verlieren und bewusstem Sich-behaupten klar.

Er bekommt, obgleich selbst Objekt des Polaritätsvorganges[587]doch einen Einblick in die Uebergangsphase, indem er gleichzeitig die sich verschiebenden Bilder- oder Zeichen-Elemente gewahrt und als solche bildlich oder schriftlich fixieren kann.

Eine solche Hintergrundsvorstellung, die die Wandlung von Systole und Diastole begleitet als vorübergehende Hemmungsvorrichtung, ist die Abstraktion eines zahlenmässig harmonikal geordneten Raumes. Dadurch wird der Wandlung ein Teil ihrer vernichtenden, überwältigenden Macht genommen.

Es wird das gesetzmässige und das heisst das Zwangsläufige der Abfolge oder der Lagerung erlösend empfunden.

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