Twilight Zones

Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880 - 1940)

Der neue Mensch

Lothar Schreyer

Source: Schreyer, Lothar. “Der neue Mensch.” Der Sturm 10, no. 2 (May 1919): 18-20.
First edition: Schreyer, Lothar. “Der neue Mensch.” Der Sturm 10, no. 2 (May 1919): 18-20.
Cite as: Schreyer, Lothar. “Der neue Mensch.” Der Sturm 10, no. 2 (May 1919): 18-20, in: Twilight Zones. Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880-1940). Eds. Knaller, Susanne/Moebius, Stephan/Scholger, Martina. hdl.handle.net/11471/555.10.76

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Domains: society

Frame: contemporary world, modern society, work environment

Genre: manifesto, pamphlet

Mode: experimental, proclamatory

Transgression: literature/essay

[18]

Wir Menschen sind Träger der Weltwende, ihr Werkzeug, ihr Opfer.

In uns zerbricht die alte Welt. Die neue Welt ersteht in uns.

Die Welt des Leidens, die Welt unseres Leidens zerbricht.

Unsere Familie ist das Leiden.

Die Familie zerbricht. Wir fühlen den lauten und stummen Haß der gefesselten Männer und Frauen, die dumpfe Gewohnheitsgier der Geschlechter. Jede Ehe ist gebrochen durch jedes' Begehren nicht angetrauten Leibes. Jede Ehe ist Lüge. Darum fliehen die Kinder vor ihren Eltern. Daher schämen sich die Eltern vor ihren Kindern. Daher kennt keine Mutter, kein Vater das Kind. Darum ist Kindheit Leiden. Eltern wollen das Kind schaffen nach ihrem Bilde. Gebrochen wird der Wille des Kindes durch Prügel, durch Näscherei. Die verlorenen Söhne, die verlorenen Töchter klagen an. Die Anklage ist ihr willenloses, ihr unterjochtes Leben.

Frei sollen Kinder sein: Kind und Mann und Weib. Unsere Gesellschaft ist das Leiden. In der Gesellschaft gesellen sich die Menschen nicht. Wenige glauben Güter zu haben. Die Wenigen versklaven zahllose Menschen. Sklaven und Sklavenhalter sind schlecht. Schlecht sind sie um Güter willen, die keine Güter sind. Die Güter sollen die gute Gesellschaft verschönen. Anklage ist diese Schönheit, so schwer, daß niemals froh werden kann, wer sie hört. Wir sind schuldig. Die Gesellschaft hört es nicht. Sie unterhält sich zu laut.

Der Mann hat einen Beruf. Er muß Geld verdienen. Wer reich ist, kann alles haben. Aber die Berufenen dienen und haben nichts und bauen am neuen Reich. Die Frau putzt ihre Reize. Wenn sie keinen Mann findet, der ihren Reizen dient und für sie verdient, muß sie selbst Geld verdienen. Und wenn Mann und Frau nicht genug verdienen, müssen die Kinder Geld verdienen. Die Arbeit ist kein Segen. Die Arbeitsteilung, ins Ungemessene gesteigert, hat die Arbeit zum Unseren gemacht. Der Taumel der Arbeit stockt. Aber die Gesellschaft hört nicht das Schuldig, Sie unterhält sich zu gut.

Diese Gesellschaft hat sich eine Wissenschaft gemacht. Diese Wissenschaft hat längst bewiesen, daß ihre Gesellschaft die vernünftige Entwicklung der Menschheit ist, Aber das Entwicklungsgesetz, schon längst brüchig, zerbricht.

Diese Gesellschaft hat sich eine Kunst gemacht. Die Kunst verherrlicht die Menschen der Gesellschaft und verschönt ihr Dasein, Die armseligen Lügner belügen sich selbst.

Diese Gesellschaft hat sich eine Kirche gemacht, Die Menschen nennen sich Christen und reden von Glauben, Sie handeln wie der Antichrist und glauben es nicht.

Diese Gesellschaft hat sich eine Moral gemacht. Durch diese Moral ist die Unsittlichkeit Sitte geworden. Die Moral des Genusses, die Moral der Langeweile haben der Gesellschaft den Lebenskünstler gegeben. Der Lebenskünstler ist der Widersacher der Menschheit.

Diese Gesellschaft hat sich einen ununterbrochen redenden Anwalt gemacht: die Presse. Die Presse erzeugt die öffentliche Meinung des Hasses, der Betriebsamkeit, der Oberflächlichkeit. Sie nimmt nichts ernst, weil sie nichts weiß, Sie betreibt alles, weil sie nichts kann, Sie lebt vom Haß, weil die Liebe ihrer Gesellschaft ein geschlechtliches Genußmittel ist.

Diese Gesellschaft nennt sich gebildet.

Uns schaudert vor ihrer Bildung, Denn wir haben sie mit unserem Leib gelitten. Darum wollen wir gesunden von dieser Bildung, Und niemand mehr soll unter ihr leiden. Darum muß diese Bildung fallen.

Die Presse und die Moral der Gesellschaft zerbrechen.

Kirche, Kunst und Wissenschaft der Gesellschaft zerbrechen.

Die Arbeit, durch die diese Gesellschaft zusammenhält, zerbricht.

Die Gesellschaft ist am Ende.

Alle Menschen sollen frei sein.

Frei sein, das heißt: nicht leiden.

Unser Staatswesen ist das Leiden.

Der Staat ist das Idol, von der Gesellschaft nach ihrem Bilde geschaffen, der selbsteingesetzte Gott. Seine Heiligkeit ist verabredet, In seinem Namen werden die Kinder zwangserzogen, daß die ungemessene Arbeitsteilung ihnen heilig werde. Der Staat [19] lebt vom Handelsgewinn der Gesellschaft. Der Handel erzielt einen Gewinn durch die Vermittlung der Güter. Wenn einer gewinnt, muß ein anderer verlieren. Das Gut bekommt keinen höheren Wert durch den Handel. Der aufgeschlagene Gewinn ist eine Werttäuschung. Wer die Gütervermittlung für eine Leistung hält, die zu Ungunsten des Gutes bewertet werden muß, der leugnet, daß jeder Mensch aus sich heraus ein Recht am einzelnen Gut hat. Das ist das Recht des Staates. Im Namen des Staates hat die Gesellschaft eine Rechtsordnung geschaffen, durch die sie sich sanktioniert. Daher straft der Staat den, der sich außerhalb der Gesellschaft stellt. Im Strafrecht wird das Recht eine Strafe, und die Gesellschaft ahnt nicht, daß sie damit ihr Recht widerlegt. Zur Durchführung der Gesellschaftsordnung sind dem Staat Beamte gegeben: die Staatsdiener. In der Beamtenschaft ist die Verantwortungslosigkeit zum System erhoben. Nicht der Diener, der Beamte, ist für seine Tat verantwortlich, sondern der Herr, der Staat, Aber den Staat kann niemand zur Verantwortung ziehen, da er ein Idol ist, wie der liebe Gott. Im Namen dieser Idole schließen die Beamten aller Länder Ententen und Völkerbünde. Die Beamten können die Gesellschaft nicht mehr retten, auch nicht, wenn sie ein Oberidol, einen Oberstaat hinzaubern. Es ist zu spät.

Die Staaten zerbrechen.

Alle Menschen sollen frei sein.

Die Welt des Leidens zerbricht.

Die Ursache des Leidens ist der Machtwille, der die Erde und ihre Güter erfaßt. Jeder will alles haben. Der maßlose Daseinskampf hat uns Menschen schlecht gemacht. Alle kämpfen gegen alle. Das Wort Mein und Dein hat die alte Welt zur Hölle gemacht. Mein Land, mein Haus, mein Weib, mein Kind, mein Kleid, mein Brot. Das Wort Mein und Dein trennt Mensch von Mensch. Diese Trennung kann die Gesellschaft nur überbrücken durch Geld oder die Liebe der Geschlechter. Darum ist das Geld und diese Liebe die Leidenschaft der alten Welt. Aber die Leidenschaft schafft nur Leiden. Die Trennung wird nur scheinbar überbrückt; sie wird größer. Der eine vermehrt das Seine, der andere verliert es. So wird Reich und Arm, so wird Glück und Unglück. Die Weltwende zerbricht Arm und Reich, Unglück und Glück.

Die Weltwende zerbricht die Leidenschaft und Mein und Dein.

Der alten Welt Machtwille zerbricht.

So werden die Menschen frei.

Wir werden frei.

Zahllose wenden sich ab von der alten Welt und suchen die neue.

Viele gehen bewußt die Wege zur neuen Welt und fühlen das Ziel.

In allen wird der neue Mensch.

Wir erkennen den neuen werdenden Menschen an seiner Tat, Seine erste Tat ist Abkehr von der alten Welt, Er tut nicht mehr, was die alte Welt von ihm fordert. Oft ist sein Tun nur schüchtern, Denn vielen ist der Weg schwer und ihre Kraft ist gering. Wir haben mit ihnen Geduld, wenn sie mit sich selbst keine Geduld haben. Einer hat erkannt, daß jede Wohltätigkeitsveranstaltung schlecht ist und lehnt nun jede Teilnahme ab. Eine Frau hat erkannt, daß sie nicht besser wird, wenn sie ihre Reize herausputzt, und tut es nicht mehr. Einer weiß, daß die Kirche keine Christen macht, und läßt sein Kind nicht taufen. Einer sieht die Schlechtigkeit der Presse der Gesellschaft und liest diese Presse nicht mehr. Das sind erste kleine Schritte der Menschen, die sich fortwenden von der alten Welt. Dann kommen die entscheidenden Taten, durch die der Mensch die alte Welt verläßt, sie in sich zerbricht und vergißt.

Völlige innere und äußere Abwende des Menschen von der alten Welt und ihrer Gesellschaft, Familie, Staat, Kirche, Kunst, Wissenschaft, Moral, Bildung ist Voraussetzung für die Freiheit der neuen Welt, Nun erleben wir die Stunde unserer Entscheidungen. Jeder von uns, der das Leiden der alten Welt erkennt, steht unter der Verantwortung. Selbst tragen wir wieder die Verantwortung der Welt: den Tod der alten, die Geburt der neuen Welt.

Diese Stunde der Wende ist unsere Gegenwart. In ihr wird der neue Mensch.

Unsere Zukunft wissen wir nicht. Aber wir ahnen das Ziel. Aber wir fühlen die Wegrichtung, in der wir treiben. Und wir machen uns einen Weg urbar im Ungangbaren. Die neue Tat unseres Lebens hat nichts gemein mit den Taten, die wir vergessen haben. Der [20] Kampf ums Dasein ist zu Ende. Wir treiben bewußt im Werden der Welt. Wir sind ein Trieb des Werdens, Trieb wie Tier und Pflanze, Sturm und Lieht, Wir erheben uns nicht über unsere Schwester Blume, über unseren Bruder Tier. Es gibt keinen anderen Menschen neben uns, immer lebt ein zweiter Mensch mit uns. Was wir machen, ist nicht gemacht, um Macht zu gewinnen. Denn unsere Taten sind Taten, in denen das innere Leben alles Lebendigen wächst. Arbeit ist Schöpfung. Tun ist Teilnahme am Wachsen der Welt. Wir haben keine Güter, Unser Gut ist die Güte.

Wo immer Menschen auf dem neuen Wege sind, sind sie eins. Sie sind eine Gemeinschaft mit jeder Tat, Was der eine tut, nimmt dem anderen nichts, sondern hilft auch ihm vorwärts auf dem Weg. Jeder ist Teil des Alls, jeder ist Teil der Welle, aus der die neue Welt geboren wird. Alle behüten einander, daß das Geheimnis, das alle umhüllen, unzerstört und unzerstörbar sich enträtsele. Diese Gewißheit der Schöpfung, diese Schickung, an der jeder einzelne trägt, macht alle allen sicher und gut.

In der Hingabe dieser Güte aufersteht alles Leben, das die Gemeinschaft umgibt. Die Erde mit Stein und Tier und Pflanze und Mensch erschließt sich zu erlöstem Sinn. Die eine Gemeinschaft gibt sich der zweiten hin, bis sie nicht mehr gezählt werden und über die Länder die Erde umspannen. Das ist keine Macht der Güter. Das ist die Macht der Güte. Sie wächst aus der Hingabe des einen an alle. Sie ist die Hingabe des Eins an das All.

Das ist der erste Weg zur Aufhebung des Leidens.

Den zweiten Weg gehen die in der Gemeinschaft Berufenen. Sie erkennen, daß der Mensch nicht um des Menschlichen willen lebt. Sie handeln danach. Sie handeln nicht mehr. Sie lösen sich von den treibenden Triebgestalten. Sie heben die Erscheinungen ihres Körpers auf. Ihre Hingabe ist Auflösung der Erde, Erlösung der Erde, der Eingang in das Unfaßbare, das keinen Sinn und kein Wort mehr hat, Menschen nennen es: das Nichts.

Das ist die Aufhebung des Leidens.

Den zweiten Weg kann nur gehen, wer den ersten ging. In ihm vereinen sich All und Nichts. So schließt sich der Ring von Neugeburt und Tod. Und so wird ein jeder den zweiten Weg gehen, der den ersten ging. Denn jeder ist zum Tod berufen. Aber es ist der neue Tod ohne Sterben.

Denn die Erde kreist im Himmel.

Die Erde ist ein Stern.

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