Twilight Zones

Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880 - 1940)

Zwischen Herrenmoral und Gemeinschaftsmoral

Helmuth Plessner

Source: Plessner, Helmuth. “Zwischen Herrenmoral und Gemeinschaftsmoral.” In Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Bonn: Bouvier, 1972: 26-38.
First edition: Plessner, Helmuth. “Zwischen Herrenmoral und Gemeinschaftsmoral.” In Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Bonn: Verlag Friedrich Cohen, 1924: 26-38.
Cite as: Plessner, Helmuth. “Zwischen Herrenmoral und Gemeinschaftsmoral.” In Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Bonn: Bouvier, 1972: 26-38, in: Twilight Zones. Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880-1940). Eds. Knaller, Susanne/Moebius, Stephan/Scholger, Martina. hdl.handle.net/11471/555.10.71

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Domains: social critique, society

Frame: modern society

Genre: essay

Mode: descriptive

Transgression: science/essay

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Zwischen Herrenmoral und Gemeinschaftsmoral

Das Idol dieses Zeitalters ist die Gemeinschaft. Wie zum Ausgleich für die Härte und Schalheit unseres Lebens hat die Idee alle Süße bis zur Süßlichkeit, alle Zartheit bis zur Kraftlosigkeit, alle Nachgiebigkeit bis zur Würdelosigkeit in sich verdichtet. In ihren Prägungen, den Phantomen allzu gequälter Herzen, drängt unter schauriger Roheit Verschüttetes wieder hervor. Maßlose Erkaltung der menschlichen Beziehungen durch maschinelle, geschäftliche, politische Abstraktionen bedingt maßlosen Gegenwurf im Ideal einer glühenden, in allen ihren Trägern überquellenden Gemeinschaft. Der Rechenhaftigkeit, der brutalen Geschäftemacherei entspricht im Gegenbild die Seligkeit besinnungslosen Sichverschenkens, der mißtrauischen Zerklüftung in gepanzerte Staaten der Weltbund der Völker zur Wahrung ewigen Friedens. Das Gesetz des Abstands gilt darum nichts mehr, die Vereinsamung hat ihren Zauber eingebüßt. Die Tendenz nach Zerstörung der Formen und Grenzen fördert aber das Streben nach Angleichung aller Unterschiede. Mit der gesinnungsmäßigen Preisgabe eines Rechts auf Distanz zwischen Menschen im Ideal gemeinschaftlichen Aufgehens in übergreifender organischer Bindung ist der Mensch selbst bedroht.

Verständlich als Ideologie der Ausgeschlossenen, Enttäuschten und Wartenden, des Proletariats, der Verarmten und der die Ketten noch frisch spürenden Jugend, gerechtfertigt als Protest der unter Großstadt, Maschinentum und Entwurzelung Leidenden, entfaltet das Idol der Gemeinschaft seine Anziehungskraft auf die Schwachen dieser Welt. In seinem Zeichen sind Armeen entstanden und Tausende zum Sterben bereit. Darum bedient sich seiner Macht über das Gemüt unbedenklich der Machthaber, die eigene Position im Lichte der Sozialdienlichkeit zu er- [27]klären, sich zu schützen und zugleich die gegen ihn erhobene Waffe der Unterdrückten abzustumpfen. Von beiden Parteien gerufen siegt aber der Ruf über die Parteien. Das Wort, zum Phantom verdichtet, wird Fleisch. Die Nivellierung wächst. Expansive Kraft wird schließlich sozialisierungsreif. Jeder Sieg über die Gesellschaft ist ein Pyrrhussieg: der Große stirbt an seiner Größe und verfällt der Allgemeinheit.

Warum? Weil der Machthaber das Gewissen fühlt, das er nicht wahrhaft mehr zu deuten versteht. Weil er, in dem die Masse Möglichkeit zu höherer Existenz hat, sich untreu wird und diese Möglichkeit als Verrat an sittlichen Forderungen empfindet. Warum? Weil seine Stärke, Machtfülle, Reichtum an physischen und seelischen Mitteln, ererbt oder erworben, seine vitale oder intellektuelle Überlegenheit über die anderen ihm primär im Lichte einer drückenden Schuld, einer unverdienten Bevorzugung erscheint. Die Stärke, wo sie naiv als Naturkraft wirkt, fragt nicht. Deshalb weiß sie nicht zu antworten, wenn sie gefragt wird.

An der Konfrontation mit dem Problem ihrer moralischen Rechtfertigung wird die Stärke irre, ihre Naivität gebrochen. Außerstande, den Deutungen des Gewissens, wie sie die Masse der Ausgeschlossenen in der oppositionellen Ethik der Gemeinschaftspflichten ausgebildet hat, eine mindestens gleichwertige entgegenzustellen, bleibt ihr nur die Zuflucht zur Moralverneinung. Der heroische Amoralismus und Immoralismus wird das letzte Kampfinstrument und verzweifelte Rettungsmittel des Adelsmenschen, des Mächtigen.

Nietzsche ist sein Prophet. Aber seine Beschwörung der ungebrochenen Stärke, sein Appell an die vor- und übermoralischen Rechte des Lebens war mit der Abkehr nicht nur von der christlichen Moral, sondern von der Moral schlechthin, vom Gewissen als geistig-seelischer Entscheidungsinstanz unseres Wollens erkauft. Er sah diese innere Stimme überhaupt als Gegnerin der ungebrochenen, zu höchster Steigerung fähigen Vitalität, er glaubte mit dem Abbiegen von der Unbekümmertheit einfachen Aus-sich-heraus-Lebens, mit dem In-sich-hinein-Hören vor der Tat die Ungebrochenheit gefährdet, ja schon zerstört. Der große Moralist wider Willen, der Apologet des Fleisches, des Blutes, der Rasse aus Liebe zum Geist sah keinen Ausweg aus der Verzwergung des Geistes durch die Vergötzung des Gewissens als die definitive Zerstörung des Gewissens selbst. Um dem Menschen die Veredelungsmöglichkeit wieder [28]zu geben, die ihm die angebliche Sklaven- und Tschandalamoral des Christentums genommen hatte, empfahl er die Radikalkur ausschließlichen Aufbauens auf der Vitalsphäre. Aus heroischer Rückkehr zur eigenen Tiefenkraft glaubte er Reinigung und Wiedergeburt, nach dem Selbstverzicht des moralisch verbogenen Christenmenschen, den das Gewissen oder der Geist der Masse, die Ethik der Gemeinschaftsbejahung (im Kern nur die Versicherung aller Schwachen auf Gegenseitigkeit) überlistet hatte, sah er Renaissance des Heidentums, die Basis des höheren Menschen, kommen.

Aber man gibt den Menschen kein gutes Gewissen, wenn man ihnen sagt, daß sie überhaupt keins zu haben brauchen. Gewissensinhalte lassen sich desavouieren, das Gewissen selbst nie. Vom Christentum kann man die Leute vielleicht abbringen, die menschliche Natur in ihren Wesenskonstanten jedoch ist unverrückbar. Was war geleistet? Dem Starten war mit der Demaskierung des Gewissens zwar nicht heidnische, ja vormenschliche Unbekümmertheit wiedergegeben, wohl aber der Wille zum Gebrauch einer höheren, geistigen und darum gewaltigeren Waffe, als alle Natur zur Verfügung hat, lahm gelegt. Gegen die spirituelle Argumentation der Schwachen mußte seine naturalistische versagen, weil das Gewissen, wenn ihm kein Recht, kein Raum, keine Deutung wird, zu mahnen beginnt. Der heroische Gewissensverzicht bedingte ein schlechtes Gewissen, eine chronische Spaltung zwischen dem natürlichen Kraftbewußtsein, dem schöpferischen Machtwillen und der verdrängten moralisch-geistigen Komponente. Nachdem der Rechtfertigungswille selbst schon zum Sündenfall gemacht war, vermochte der Mensch seine Unbekümmertheit nicht mehr zu wahren. Die Vitalität zum ausschließlichen Ethos erhoben, büßte die Kraft, um derentwillen sie erhoben war, ein. Ihrer produktiven Macht war mit solcher Apostrophierung der Todesstoß versetzt, wie es das Gesetz der Vitalsphäre, die nur unbemerkt wirken kann, verlangt. Nur wer vom Leben fort lebt, wahrt ihm seine Kraft; wer zu ihm zurückschaut, fällt der Erstarrung anheim. Nietzsches Tragik liegt in diesem Gesetz beschlossen. Sein wunderbarer Ruf zur Rettung des lebensgeborenen Machtwillens beschleunigt die Entartung, anstatt sie aufzuhalten; er, der nichts anderes gewollt hat als über sie hinaus zu greifen, gibt der Roheit und Vertierung den Vorwand. Nietzsche rührt an den Schlaf der Welt, deshalb muß, was nur in ihm gedeiht, vergehen.

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In der einseitig biologischen Blickrichtung liegt der Fehler. Solange man den Starken nur als Starken, den Schwachen nur als Schwachen kennt, entrinnt man dem Schicksal der Nietzscheschen Lehre nicht. Denn die vitalen Grad- und Artunterschiede bedürfen einer spezifischen Form der Vergeistigung, um in dem Spiel um den Menschen als Einsätze zu gelten. Haben wir es nicht erlebt, wie depravierend Übermenschenlehre und Proklamation der blonden Bestie, Emanzipation des Fleisches und Kraftvergötzung gerade auf den Vitaltypus eines Volkes wirkten, der sie mit Recht auf sich beziehen durfte? Warum ist Deutschland in erschreckendem Maße arm an Führern geworden, wenn nicht dadurch, daß seine Führerschicht im Kampf der Ideen nichts anderes und höheres für sich zu sagen wußte als was der geistige Mensch einem Verrat an der Idee gleichsetzt? Heute sind die Ideen, das Rechtfertigungsbewußtsein Monopole der Schwäche geworden, und der Mächtige, da er sein Gewissen nicht los werden und nicht im Zeichen des Sozialidealismus und der Gemeinschaft kämpfen kann, stirbt daran.

Freilich, wer ist stark, wer schwach? Hier führt einseitige Rassentheorie ebensowenig wie einseitige Klassentheorie weiter. Der Gegensatz ist nicht mit Blond-Schwarz, Arier-Semit, Germane-Romane, Germane-Slave zum Ausdruck gebracht, deckt sich aber auch nicht mit dem von Unternehmer-Arbeiter, Bourgeois-Proletarier. Stark ist, wer die Gesellschaft beherrscht, weil er sie bejaht; schwach ist, wer sie um der Gemeinschaft willen flieht, weil er sie verneint; stark ist, wer die Distanz zu den Menschen, die Künstlichkeit ihrer Formen, das Raffinement des Lebens, die Steigerung seiner Reizmöglichkeiten nicht nur erträgt, auch nicht als Kompensation seiner vitalen Schwäche aufsucht und wollüstig von ihrer Wucht sich erdrücken läßt, vielleicht auch in heroischer Resignation sie gleich Schwertern in seine gemeinschaftsselige Brust stößt, — stark ist, wer den ganzen Wesenskomplex der Gesellschaft um der Würde des einzelnen Menschen und der Gesamtheit willen bejaht, schwach ist, wer die Würde um der Brüderlichkeit in der Gemeinschaft willen preisgibt.

Vom Wesenskomplex der Gesellschaft ist die Rede, nicht von ihrer heutigen oder gestrigen Daseinsform. Wie kurzsichtig, wie demagogisch, wie parteipolitisch handeln jene Theoretiker, welche vor lauter rotem Tuch nur Kapitalismus, Militarismus, Industrialismus sehen. Wie beschränkt sind die Lobredner einer bestimmten Staatsform, Wirtschafts- [30]form, Lebensform, die Wiedererwecker patriarchalischer Werte nicht minder wie die Apostel der Expropriation der Expropriateure. Gewiß, es kommt darauf an. Doch zutiefst steht etwas Elementareres in Frage, das wohl in allen diesen Wirtschafts- und Sozialprogrammen sich spiegelt — die Alternative Gesellschaft-Gemeinschaft. An ihr und nicht so sehr an volkswirtschaftlichen und politischen Sonderfragen scheiden sich die Geister. Differenzen in Sachen des Verstandes, der Zweckmäßigkeit lassen sich kühlen Herzens erledigen. Hier aber steht Gesinnung gegen Gesinnung.

Ihre Träger sind soziologisch kaum einfach faßbar. Sie fallen nicht in bestimmte Schichten, Berufe, Gruppen. Der Machthaber ist nicht ohne weiteres schon der Starke in unserem Sinne, der wirtschaftlich Schwache umgekehrt nicht unbedingt schwacher Gemeinschaftsapostel.

[...]

[31]Deutschland, hat man gesagt, leidet am unverstandenen Bismarck. Fügen wir noch zwei Leidensursachen hinzu: den unverstandenen Nietzsche und den unverstandenen Marx. Liegt der Fall bei dem ersten insofern schwieriger, als die Mißverständnisse, die falschen Anwendungen, wie oben erwähnt, zur paradoxen Konsequenz seiner Lehre selbst gehören, so droht dem Verständnis des zweiten Gefahr in den Instinkten derer, an die er sich wendete. Dem unentwickelten Intellekt des Fabrikarbeiters lassen sich die feinen Gedankengänge der von der Entwicklung des Produktionsprozesses selbst besorgten Überführung des Privatbesitzes in Allgemeinbesitz nicht klar machen, ohne daß sie ihm als Wegweiser zur Befreiung aus Maschinensklaverei und grauem Alltag erscheinen. War Nietzsche bewußter Gesellschaftsfeind aus Aristokratismus, so wirkt Marx gesellschaftsfeindlich aus Sozialismus durch die Mobilisierung des Masseninstinkts. Der Individualist hebt die Gesellschaft zugunsten des großen Einzelnen, der Sozialist zugunsten der Gemeinschaft auf. Gegen diese Umkehr der Lehre ihres Führers in den Herzen der Geführten, gegen diese sentimentale Umprägung sozialökonomisch gemeinter Überzeugung haben weder der revisionistische noch der bolschewistische Sozialismus angehen können noch (natürlich) angehen wollen. In dieser Verkettung gleichsam naturwissenschaftlicher Beweisführung und eschatologischer Erweckung ruht ja die werbende Kraft des Marxismus. Die zwei Naturen in Marx, Evolutionär aus nüchterner Soziologie und Revolutionär aus messianischem Pathos, haben ihm die riesige Wirkung auf das Industrieproletariat verschafft, an deren Doppelcharakter es jetzt selbst am meisten leidet.

[...]

[38]Zum Grundcharakter des Gesellschaftsethos gehört hingegen die Sehnsucht nach den Masken, hinter denen die Unmittelbarkeit verschwindet. Die Gesellschaft gibt den bloßen Handgriffen und Hilfsmitteln notdürftigen Lebens über ihre Zweckmäßigkeit hinaus einen neuen Sinn und den Antrieb, aus diesem Sinn heraus zu gestalten, die Stärke, das Widernatürliche zu ertragen.

Derart eine Mitte geistig-sittlicher Art zu finden, aus der heraus gleichmäßig die Grundmomente gesellschaftlichen Lebens, nicht eines bestimmten Zeitstils, sondern gewissermaßen die Grundmomente aller Gesellschaftlichkeit als Sicherungsfaktoren menschlicher Würde verständlich und notwendig eischeinen, ist das Problem einer Sozialphilosophie, die nicht untätig an der entsetzlichen Diskrepanz zwischen der wirklichen Tendenz der Dinge und der Tendenz der Geister vorbeisehen will. Es geht nicht gegen das Recht der Lebensgemeinschaft, ihren Adel und ihre Schönheit. Aber es geht gegen ihre Proklamation als ausschließlich menschenwürdige Form des Zusammenlebens; nicht gegen die communio, wohl aber gegen die communio als Prinzip, gegen den Kommunismus als Lebensgesinnung, gegen den Radikalismus der Gemeinschaft.

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