Twilight Zones

Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880 - 1940)

Reichstag

Heinrich Mann

Source: Mann, Heinrich. “Reichstag.” In Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Vol. 12. Essays, 2, edited by Alfred Kantorowicz. Berlin: Aufbau, 1956: 7-11.
First edition: Mann, Heinrich. “Reichstag.” Pan 2, no. 5 (1911): 133-136.
Cite as: Mann, Heinrich. “Reichstag.” In Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Vol. 12. Essays, 2, edited by Alfred Kantorowicz. Berlin: Aufbau, 1956: 7-11, in: Twilight Zones. Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880-1940). Eds. Knaller, Susanne/Moebius, Stephan/Scholger, Martina. hdl.handle.net/11471/555.10.59

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Domains: contemporary history, politics

Frame: contemporary world

Genre: pamphlet

Mode: descriptive, scenic

Transgression: literature/essay

[7]

REICHSTAG

1911

Da bis auf kurze Zwischenfälle den ganzen Tag nur ein Abgeordneter aus der Mitte des Hauses redet, ist das Zentrum vollauf beschäftigt. Es lacht, wo immer es einen Witz argwöhnt. So oft nötig, inszeniert es dumpfes Entrüstungsgepolter. Und pünktlich ist es zur Stelle, wenn von links ein Zwischenruf droht: mit Stimmen wie fette Hände, die ab wehren, weil eine Fliege ins Bier fällt. Es scheint, daß die tausendjährige Seele des katholischen Christentumes grade hier nur wenig vertreten ist; vertreten sind Lebensformen und Interessen ganz materieller Art. Geistliche — diese schwer an ihren Leibern Tragenden? Diese schlauen und plumpen Gesichter, ohne Menschengläubigkeit? Aber hier, unter den Vierhundert, die die Nation selbst sind, füllen sie die breite Mitte; ihr Beauftragter redet tagelang. Er hat gewiß alles im deutschen Parlament erlangbare Können, hat den in dieser Mitte erlaubten Ehrgeiz und so viel Temperament, als hier gedeiht. Ein arbeitsamer Redner ohne Geste, seine Hände sind immer in den Akten.

Dann und wann betritt, die Hände in den Hosentaschen, ein Konservativer den Saal und überzeugt sich, daß die Sache gemacht wird. Sie wird gemacht. Nach dem gestrigen Zusammenstoß mit dem Reichskanzler, wobei Wahlgeheimnisse platzten, ist Marokko gefährlich geworden und man mogelt es besser in eine Sozialistendebatte um. Von Dreckwitz ruft: „Hört, hört!“ — aber er selbst kehrt lieber zu den Freunden ins Foyer zurück, auf das rote Sofa, wo sie sich, die Glatzen zwischen den Schultern, so tief einsenken, wie nur des Nachts [8]in die Polster des Palais de danse. Schmunzeln um die funkelnd schwarzen Schnurrbärte, plaudert man von den kleinen Freuden des Augenblicks, von den Sorgen der Zeit, —und wieviel edler genährt als an den geistlichen Freunden glänzt in diesen Mienen der Speck! Nun geht ein Lächeln darüber, denn jemand hat sich die Saaltür öffnen lassen, man sieht drinnen die Proleten sich abarbeiten. Dies Lächeln! Es sagt: „Komödie! Indes ihr schwatzt, ist das Geschäft längst fertig.“ Es sagt: „Komödie! Ihr alle seid Objekte der Gesetzgebung, die Subjekte sitzen hier.“ Es sagt: „Ein Leutnant mit zehn Mann.“ Es ist ein Lächeln von Holofernes bis Dschingis-Khan. Es ist das Wulstlächeln aller Schweine der Weltgeschichte: aller Herrenschweine.

Von Dreckwitz hat „Bravo!“ gerufen, weil der Redner die rote Bande nicht übel anhaucht; aber er behält den Mund offen, denn droben steht jetzt ein Freisinniger und beweist den Sozialdemokraten, daß sie beim Ausbruch eines Krieges gestreikt haben würden. Er ist sichtlich überzeugt, daß er heute gar nichts Besseres tun könnte. Die Ironie rechts sieht und hört er nicht; flammend reckt er sich nach links und gegen den Umsturz. Der Mann ist Arzt, er wird täglich mit Sozialdemokraten zu tun haben, muß genau wissen, daß diese Leute sich von ihm selbst höchstens durch ein paar historische Redensarten unterscheiden, daß sie maßvolle kleine Bürger sind, die nichts wollen, als Kindern und Enkeln ein spießiges Wohlleben verschaffen, und daß sie zum Generalstreik so stehen wie die Jungtürken zum heiligen Krieg, nämlich selbst die größte Angst davor haben. Aber die Wollust, positiv und erhaltend zu sein, macht ihm Kongestionen, er weiß nichts mehr. Und der Mann ist Jude. Sein Leben ist sicher nicht vergangen, ohne daß er die Feindseligkeit des christlich geschminkten Feudalstaates erfahren hat. Wenn er den Kopf wenden wollte, auf wie viele Blicke würde er dort rechts treffen, worin nicht freche Geringschätzung läge? Gleichviel, er sieht nicht hin, und für einen Augenblick ist auch er ein [9]Herr, ein Machthaber, der zum Volk vom Pferd herab spricht (bevor es ihn wieder abwirft) und hinter sich Edelleute und Priester hat.

Die Instinktverlassenheit dieses Bürgertums ist vollständig. So vollständig kann sie sich nur an großen Tagen bewähren. Marokko mußte verloren werden, das Reich durch die Adeligen, die es regieren, tiefer gedemütigt werden als je vorher, und die Adeligen selbst mußten, von Panik erfaßt, aneinander geraten mit den sogenannten Staatsmännern, die nur ein Ausschuß ihres eigenen Klüngels sind: solche glänzende Kombination mußte eintreten, damit der liberale Bürger dem Zentrumsredner auf seinen ordinären Trick hineinfallen konnte und mitschimpften, gegen wen? gegen die Sozialdemokratie!

Was er über die Diplomaten vorbringt, klingt flau; man hört die Demut, die sich einen Stoß gibt, um Ungezogenheit zu werden. Überlegenheit wird sie nicht. Die „Herren dort oben“ bleiben oben, noch im tiefsten Sumpf. Der Bürger läßt es ohne Widerspruch geschehen, daß auf alle seine Beschwerden der Staatssekretär als Antwort einen Witz setzt. Warum sollte der Staatssekretär es sich schwerer machen? Seine wahre, ach so schlecht weggekommene Gestalt kennt nur Europa. Hier drinnen sieht man ihn nicht bloß in gelber Weste, man sieht ihn gepanzert. Alle seinesgleichen, die sich draußen ducken müssen in ihrem geistigen Elend, ihrem trüben Mangel an Weitläufigkeit und Kenntnis der Geschäfte: so oft sie zurückkehren aus den Niederlagen, die englische Kaufleute und französische Literaten ihnen beigebracht haben, ah! welch ein Prunken vor den verschüchterten Landsleuten, welch Auftreten, welche furchteinflößende Autorität — zwischen den Niederlagen!

Sie sind komisch, sie sind abstoßend: empörend sind sie nicht, denn sie erhalten sich selbst wie sie können, und sind wohl nicht fähig einzusehen, daß an ihnen das Land zugrunde geht. Empörend ist der Bürger, die Masse dieser gebildeten, [10]wohlhabenden Leute, die durchaus den Haß nicht kennen wollen; die ihren lehrhaften Dünkel für die radikaleren Volksgenossen aufsparen und dem Volksfeind, der rechts steht, mit Rücksichten begegnen, als lebten sie mit ihm auf derselben Plattform, als ließe sich paktieren, als gäbe es verbindende Menschlichkeit. Aber es gibt keine. Habt ihr denn kein Blut? Niedergehalten in eurer öffentlichen Selbstbestimmung, ausgeschlossen vom Staat, von Macht und Ehren, von der Vertretung der Leistungen und Werte, die nur die euren sind, der Welt gegenüber: ist das nicht genug? Ist es nicht genug, ein Leben lang von Fremden, die über ihren Willen und ihre Sprache selbst verfügen, gefragt zu werden: „Was sagt euer Kaiser? Was will eure Regierung?“ Und wenn ihr einen anständigen Kopf habt, gefragt zu werden: „Sie gehören wohl zur Aristokratie Ihres Landes?“ — da in einem unterdrückten Arbeitsvolk niemand die Gesichter der höchsten europäischen Kulturschicht sucht. Letzter Hohn eines deutschen Schicksals: verwechselt werden mit dem von Dreckwitz, mit dieser Elite des Stalls und der Nachtlokale, mit dieser Edelzucht von Zirkusdirektor und Schieber! Habt ihr kein Blut? Steigt es euch nicht in die Stirn beim Anblick der frechen Feindseligkeit einer Kaste, die es noch wagt, sich zu zeigen, noch wagt, befehlen zu wollen, mitten im Sammelpunkt eurer bürgerlichen Anstrengungen, in der Schöpfung eurer Väter, im Reichstag? Gutmütige Vorträge haltet ihr ihnen? Seid und bleibt fern aller Konventsstimmung, dem „Du oder ich!“, dem „Auf ihn!“ der großen Geschichte?

Dann laßt euch immerhin am 12. Januar ein wenig zahlreicher in dies Haus zurückschicken: das ändert nichts. Ihr werdet öfter reden, und sie werden euch höhnischer trotzen. Auf ihr letztes Wort, das Gewalt heißt, bleibt ihr immer ohne Antwort, — da ihr ja niemals die Kasse sperren und abwarten werdet, ob die Kanonen sich gegen die Gebäude der Großbanken richten. Der Versuch wäre lächerlich einfach, und im Handumdrehen würde sich zeigen, daß sogenannte Herren, [11]die es nur durch faule Übereinkunft und durch Suggestion sind, nicht aber kraft des Geistes und nicht einmal auf Grund des Geldes, daß sie noch gar nichts für sich haben, wenn sie nur die Gewalt haben... Aber es wäre unnütz, euch zu raten. Die Geschlechter müssen vorübergehen, der Typus, den ihr darstellt, muß sich abnutzen: dieser widerwärtig interessante Typus des imperialistischen Untertanen, des Chauvinisten ohne Mitverantwortung, des in der Masse verschwindenden Machtanbeters, des Autoritätsgläubigen wider besseres Wissen und politischen Selbstkasteiers. Noch ist er nicht abgenutzt. Nach den Vätern, die sich zerrackerten und Hurra schrien, kommen Söhne mit Armbändern und Monokeln, ein Stand von formvollen Freigelassenen, der sehnsüchtig im Schatten des Adels lebt... Geht heim, Volksvertreter, kehrt zurück in die bürgerliche Wüste dieses Landes; und braucht ihr Stärkung für eure Demut, dann tretet ins allgemeine Restaurationszimmer eures Reichstages ein. Nebenan, abgesondert vom Pöbel, speist der konservative Adel. Ihr werdet ihn nicht hinausprügeln.

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