Twilight Zones

Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880 - 1940)

Von der Armut am Geiste

Georg Lukács

Source: Lukács, Georg. “Von der Armut am Geiste.” In Die Seele und die Formen. Essays, edited by Judith Butler, and Frank Benseler. Bielefeld: Aisthesis, 2011: 234-248.
First edition: Lukács, Georg. “Von der Armut am Geiste. Ein Gespräch und ein Brief.” Neue Blätter 5/6 (1912): 66-93.
Cite as: Lukács, Georg. “Von der Armut am Geiste.” In Die Seele und die Formen. Essays, edited by Judith Butler, and Frank Benseler. Bielefeld: Aisthesis, 2011: 234-248, in: Twilight Zones. Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880-1940). Eds. Knaller, Susanne/Moebius, Stephan/Scholger, Martina. hdl.handle.net/11471/555.10.58

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Domains: everyday culture, gender

Frame: body and psyche, everyday culture

Genre: dialogue

Mode: scenic

Transgression: literature/essay

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Von der Armut am Geiste Ein Gespräch und ein Brief (Zuerst in: Neue Blätter 5/6 [1912], S. 67-92)

Sie vermuten richtig: Ich habe Ihren Sohn zwei Tage vor seinem Tod gesehn. Als ich von der kleinen Reise, zu der mich mein Nervenzustand nach dem Selbstmord meiner Schwester gezwungen hat, zurückgekehrt bin, fand ich diese Karte von ihm vor: Erwarten Sie nicht, Martha, daß ich Sie aufsuche. Es geht mir gut. Ich arbeite. Ich brauche keinen Menschen. Es ist schön von Ihnen, daß Sie mich von Ihrer Ankunft verständigt haben. Sie sind gut, wie immer; in Ihren Augen bin ich also noch Mensch. Doch Sie irren sich. - Ich war beunruhigt und ging noch am selben Tage zu ihm.

Ich fand ihn in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch sitzend; er sah nicht schlecht aus, die Zerfahrenheit seiner Züge und seiner Rede, die mich in den Tagen nach der Katastrophe so beängstigt hat, war fast verschwunden. Er sprach klar, ruhig, einfach und schien ganz gefaßt zu sein. Ich war sehr lange bei ihm und will versuchen alles Wesentliche unsers Gesprächs Ihnen mitzuteilen; ich glaube, es wird auch Ihnen manches näher bringen. Für mich ist in der Erinnerung eine fast unheimliche Klarheit um seine Tat, und es ist mir heute ganz rätselhaft, daß ich sie nicht vorausgesehn, nicht gefürchtet habe, daß ich im Gegenteil beinahe ganz beruhigt und in guter Stimmung von ihm gegangen bin.

Er begrüßte mich sehr warm und sprach viel von meiner Reise, von Pisa, vom Camposanto, von der Komposition des jüngsten Gerichts, mit der selben absoluten Gespanntheit und Eindringlichkeit, wie er auch früher immer von solchen Sachen gesprochen hat. Manchmal hatte ich die Empfindung, die mir jetzt ganz klar scheint: er wollte nicht über sich sprechen; er wußte: mir gegenüber muß er aufrichtig sein, er kann es nicht anders, und darum wollte er nicht sprechen. Aber das ist vielleicht doch bloß eine nachträgliche Vermutung, der Versuch, alles auf das Zentrum zu deuten, dessen Verstehn uns am wichtigsten ist. Ich entsinne mich aber noch ganz deutlich, daß er gerade über die Möglichkeit einer allegorischen Malerei sprach, als ich [235] ihn mit der Frage unterbrochen habe, wie er denn über die letzte Zeit hinweggekommen sei. Er antwortete: Recht gut, danke. - Ich schwieg und sah ihn ruhig und fragend an. Er wiederholte: recht gut, danke. Und nach einer kleinen Pause: Es ist Klarheit über mich gekommen.

-Klarheit?

Er sah mich scharf an und sagte ganz ruhig und einfach: Ja, Klarheit. Ich weiß, daß ich ihren Tod verschuldet habe.

Ich sprang auf: Sie? Sie wissen doch, daß -

-Lassen wir das, Martha. Natürlich weiß ich es. Jetzt weiß ich es, nachdem alles geschehn ist und wir alles, was zu wissen ist, erfahren haben. Daß ich es aber nicht wußte ...

-Sie konnten es nicht wissen.

-Nein. Das ist es eben, ich konnte es nicht.

Ich sah ihn fragend an. Er antwortete ruhig: Seien Sie ein bißchen geduldig, Martha, und halten Sie mich nicht für verrückt. Ich will versuchen, Ihnen alles zu erklären. - Aber bitte, setzen Sie sich. - Sie wissen ungefähr wie alles zwischen mir und ihr war ...

-Ich weiß. Sie waren ihr bester Freund. Vielleicht der einzige, den sie hatte. Sie sprach oft darüber. Ich habe mich manchmal gewundert, daß dieses Verhältnis möglich ist. Sie müssen viel gelitten haben.

Er lachte leise und ein wenig verächtlich auf: Sie überschätzen mich, wie immer; und wenn nicht? unfruchtbar, blind und nutzlos ist es gewiß gewesen.

Ich war ziemlich verwirrt: Nun... nutzlos. Wer konnte hier helfen? Wer konnte etwas wissen?... Und weil Sie etwas, das niemand wissen konnte, nicht geahnt haben, klagen Sie sich des - nein, ich will diese Sinnlosigkeit nicht einmal wiederholen.

Ich wollte weitersprechen, doch fiel sein ruhiger, einfacher Blick auf mich; ich konnte ihn nicht aushalten und mußte schweigen und zur Erde blicken.

-Warum haben Sie eine so große Furcht vor Worten, Martha? Ja! ich trage die Schuld an ihrem Tod; vor Gott versteht sich. Nach allen Satzungen menschlicher Sittlichkeit habe ich nichts verschuldet, habe im Gegenteil alle meine Pflichten (er sprach das Wort mit großer Verachtung aus) redlich erfüllt. Ich habe alles getan, was ich konnte. Wir sprachen einmal mit ihr über Helfenkönnen und Helfenwollen, und sie wußte: es gibt nichts, was sie von mir vergebens gefordert [236] hätte. Sie aber hat nichts gefordert, und ich habe nichts gesehn und gehört. Für die laute, hilfeschreiende Stimme ihres Schweigens habe ich keine Ohren gehabt. Ich hielt mich an den lebensfrohen Ton der Briefe. Sagen Sie nicht bitte: ich hätte es nicht wissen können. Vielleicht ist es wahr. Ich hätte es aber wissen müssen. Ihr Schweigen wäre weit über die Länder, die zwischen uns lagen, geklungen, wenn ich mit der Güte begnadet wäre ... Und wenn ich hier gewesen wäre? Glauben Sie an den psychologischen Scharfsinn, Martha? Ich hätte vielleicht Schmerzen in ihrem Gesicht gesehn und ein neues Zittern in ihrer Stimme gehört... Was hätte ich aber damit gewußt? Menschenkenntnis ist ein Deuten von Aussagen und Zeichen, und wer weiß, ob sie wahr oder lügenhaft sind? und sicher ist: nach unsern eignen Gesetzen deuten wir, was im ewig Unbekannten der andern geschieht. Güte aber ist Gnade. Entsinnen Sie sich, wie dem Franciscus von Assisi die geheimen Gedanken der andern offenbar werden? Er errät sie nicht. Nein. Sie werden ihm offenbar. Jenseits von Zeichen und Deutung liegt sein Wissen. Er ist gut. Er ist in solchen Momenten der Andre. Aber Sie haben doch auch noch unsre alte Überzeugung: was einmal Wirklichkeit war, ist ein für allemal möglich geworden; was ein Mensch erfüllt hat, muß ich als erfüllbare Pflicht ewig von mir fordern, sofern ich mich nicht aus der Reihe der Menschen ausschließen will.

-Sie sagen doch selbst: Güte ist Gnade. Wie könnte man Gnade fordern? Ist es nicht Vermessenheit von Ihnen, sich Vorwürfe zu machen, weil Gott mit Ihnen kein Wunder tat?

-Sie mißverstehn mich, Martha. Das Wunder ist geschehn, und ich habe kein Recht ein anderes zu fordern oder dieses zu beklagen. Ich tu es auch nicht. Was ich über mich gesagt habe, ist ein Urteil, keine Klage. Ich sage nur: so ist mein Dasein beschaffen und sage nicht, was ich auch sagen könnte: aber ich lehne es ab. Es handelt sich hier um das Leben: man kann ohne Leben leben; man muß es sogar oft, dann muß es aber bewußt und mit Klarheit geschehn. Die meisten Menschen leben freilich auch ohne Leben und bemerken es gar nicht. Ihr Leben ist bloß sozial, bloß zwischenmenschlich; sehn Sie: die können mit Pflichten und ihrem Erfüllen auskommen. Für sie ist sogar, die Erfüllung der Pflichten die einzig mögliche Erhöhung ihres Lebens. Denn jede Ethik ist formell. Pflicht ist ein Postulat, eine Form, und je vollendeter eine Form ist, desto eigneres Leben hat sie, [237] desto weiter steht sie von jeder Unmittelbarkeit. Sie ist eine Brücke, die trennt; eine Brücke, auf der wir hinüber und herüber gehn und immer in uns selbst ankommen und einander nie begegnen. Diese Menschen können aber ohnehin nicht aus sich heraustreten, denn ihre Berührung miteinander ist bestenfalls eine psychologische Zeichendeuterei, und die Strenge der Pflicht gibt ihrem Leben eine - wenn auch nicht tiefe und innerliche - so doch feste und sichre Form. Das lebendige Leben liegt jenseits der Formen, während das gewöhnliche diesseits liegt, und die Güte ist das Begnadetsein: die Formen zerbrechen zu können.

- Ist aber Ihre Güte, fragte ich ihn ein wenig beängstigt, denn ich fürchtete die Folgerungen, die er aus dieser Theorie ziehn werde, ist aber diese Güte nicht bloß ein Postulat? Gibt es überhaupt eine solche Güte? Ich glaube nicht, fügte ich nach einer kurzen Pause hinzu.

- Sie glauben es nicht, Martha, antwortete er mit einem leisen Lächeln, und sehn Sie, Sie haben gerade jetzt die Formen zerbrochen. Sie haben meine Niedrigkeit sogleich durchschaut. Sie sahn: ich will durch andre, durch Sie von der Unhaltbarkeit meiner Erkenntnis überzeugt werden, die ich aus eignem Entschluß nicht aufzugeben wage.

- Und wenn das wahr wäre ... ich schwöre Ihnen, daß nur Ihre Nervosität und Hypochondrie auf so etwas verfallen kann! Doch selbst wenn es wahr wäre, diese Wahrheit wäre das stärkste Argument gegen Ihre Behauptung. Wenn ich Ihnen Beruhigung bringen wollte - habe ich damit nicht bloß Ihr Mißtrauen gestärkt, Ihre Selbstanklagen schwerer gemacht?

-Was kümmert sich die Güte um die Folgen? „Das Werk zu tun ist unsre Pflicht, nicht aber nach seinen Früchten zu trachten,“ sagen die Inder. Die Güte ist nutzlos, so wie sie grundlos ist. Denn die Folgen liegen in der äußern Welt der mechanischen, um uns unbekümmerten Kräfte, und die Motive unsrer Taten kommen aus der bloßen Zeichenwelt des Psychologischen, aus der Peripherie der Seele. Die Güte aber ist göttlich, sie ist metapsychologisch. Wenn die Güte in uns erscheint, so ist das Paradies zur Wirklichkeit geworden, und die Gottheit ist in uns erwacht. Glauben Sie denn, daß, wenn die Güte auch noch wirken könnte, daß wir noch Menschen wären? Daß diese Welt des unreinen, des unlebendigen Lebens noch bestehn könnte? [238] Hier ist ja unsre Grenze, das Prinzip unsers Mensch-Seins. Sie erinnern sich, ich sagte immer: wir sind nur Menschen, weil wir bloß Werke dichten können, weil wir bloß selige Inseln inmitten der unseligen Unrast und im schmutzigen Dahinströmen des Lebens errichten können. Wenn die Kunst das Leben formen könnte, wenn die Güte zur Tat werden könnte, wären wir Götter. „Was heißest du mich gut. Niemand ist gut, denn der einige Gott,“ sagt Christus. Entsinnen Sie sich der Sonja, des Fürsten Myschkin, des Alexei Karamasoff bei Dostejewsky? Sie haben mich gefragt, ob es gute Menschen gebe: hier sind sie. Und sehn Sie, auch ihre Güte ist fruchtlos, verwirrend und ohne Folge. Sie ragt unverständlich und mißverstanden aus dem Leben heraus - geradeso wie ein einsam-großes Kunstwerk. Wem hat der Fürst Myschkin geholfen? Hat er nicht vielmehr überall Tragödien gesät? Und das war doch wahrlich nicht seine Absicht? Die Sphäre, worin er lebt, liegt gewiß jenseits des Tragischen, das rein ethisch oder, wenn sie wollen, auch rein kosmisch ist; Fürst Myschkin ist aber doch darüber hinausgekommen, so wie der opfernde Abraham Kierkegaards die Welt der tragischen Konflikte und Helden, des opfernden Agamemnon verlassen hat. Fürst Myschkin und Aljoscha sind gut; was bedeutet das? Ich kann es nicht anders sagen: ihre Erkenntnis ist zur Tat geworden, ihr Denken hat das bloß Diskursive der Erkenntnis verlassen, ihre Betrachtung des Menschen ist eine intellektuelle Anschauung geworden: sie sind Gnostiker der Tat. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen anders verständlich machen kann als indem ich alles theoretisch Unmögliche als wirklich geworden in ihrer Tat bezeichne; sie ist eine alles durchleuchtende Erkenntnis der Menschen, eine Erkenntnis, wo Objekt und Subjekt zusammenfallen: der gute Mensch deutet nicht mehr die Seele des andern, er liest in ihr wie in der eignen, er ist der andre geworden. Darum ist die Güte das Wunder, die Gnade und die Erlösung. Das Heruntersteigen des Himmelreiches auf die Erde. Wenn Sie wollen: das wahre Leben, das lebendige Leben - (ob von unten herauf oder von oben herunter, gleichviel). Sie ist ein Verlassen der Ethik: Güte ist keine ethische Kategorie, in keiner folgerichtigen Ethik werden Sie sie finden. Und mit Recht. Denn Ethik ist allgemein, verpflichtend und menschenfern; sie ist die erste, die primitivste Erhebung des Menschen aus dem Chaos des gewöhnlichen Lebens; sie ist sein Weggehn von sich, von [239] seinem empirischen Zustand. Güte ist aber die Rückkehr in das wirkliche Leben, das wahre Heimfinden der Menschen. Was kümmert es mich, welches Leben Sie Leben nennen! Es kommt nur darauf an, die beiden Leben streng voneinander zu scheiden.

-Ich verstehe Sie, glaube ich; vielleicht besser, als Sie sich selbst verstehn. Sie haben Ihre Sophistik freigelassen, damit Sie aus allem, was Ihnen fehlt, ein Positivum, ein Wunder erschaffen können. Sie geben es selbst zu; auch Ihre Güte hätte hier nichts geholfen ...

Er unterbrach mich heftig: Nein! Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte bloß: Güte ist keine Garantie für einen Helfenkönnen; sie ist aber die Sicherheit für das absolute und sehende Helfenwollen, im Gegensatz zum pflichtgemäßen Anbieten einer nie realisierten Hilfe. Es gibt keine Garantie! in mir aber ist es klar: wenn ich die Güte hätte, wenn ich ein Mensch wäre, hätte ich sie retten können. Sie wissen ja: wie viele Male hing alles an einem Wort.

-Das wissen wir heute.

-Ein Mensch hätte es aber auch damals gewußt! Ich wagte nicht mehr auf meiner Abweisung zu bestehn, denn ich sah, wie ihn hier jeder Widerspruch reizte. Wir schwiegen eine kurze Zeit, dann fing ich wieder zu sprechen an: Lassen wir also das Konkrete. Auch mir ist jetzt die allgemeine Frage wichtiger; und für Sie wird ihre Widerspruchslosigkeit vielleicht eine Lebensfrage sein.

-Sie haben recht, Martha; wo ist aber der Widerspruch?

-Ich fürchte mich ein wenig, brutal auf ihn hinzuweisen. Sie sind gereizt -

-Nein! Sprechen Sie bloß!

-Es ist vielleicht schwer, ihn ganz klar zu bezeichnen. Eigentlich habe ich mehr einen moralischen Widerwillen gegen Ihre Ansichten. Ich weiß aber - Sie sagen immer, es wäre frauenhaft von mir - mein Gefühl unterscheidet hier nie; auch gegen Denkfehler empört sich mein moral sense. Mein Gefühl aber sagt mir: Ihre Güte ist nichts anderes, als eine sehr feine und raffinierte Frivolität, ein kampflos erhaltenes Geschenk der Ekstase oder - für Sie! - ein wohlfeiler Verzicht auf das Leben. Sie kennen meine Abneigung gegen Mystizismus als Lebensform - aber Eckehart hatte sie auch. Sie wissen doch, wie er den Fall „Martha und Maria“ ins Praktisch-Ethische und Weltlich- Tätige umgedeutet hat. Ich wittere eine Zweieinigkeit in Ihrer Güte, [240] etwas das „seine Stelle hat über der Welt, doch unter Gott, am Umkreis erst der Ewigkeit“. Sie mag eine Gnade sein, diese Ihre Güte; dann muß man aber die Pflicht wollen und die Güte als Geschenk Gottes erhalten, man muß alles, was Ihnen jetzt so verachtenswert scheint, mit demütiger Hingabe lieben; dann erst kann man wahrhaft darüber hinauskommen. Mir scheint, Sie wollen hier die wichtigsten Instanzen überspringen, das Endziel (wenn es ein Endziel und ein erreichbares ist) ohne den Weg erringen. Das Erwarten der Gnade ist eine Absolution für alles, die verkörperte Frivolität. Ihre Frivolität ist aber noch feiner, selbstquälerischer; Sie sind ein Asket der Frivolität. Sie schenken andern die Wonnen, die sie geben kann, Sie erdichten einen Menschenschlag, dem sie zukommen; Sie aber sind unglücklich, ausgeschlossen vom Leben, minderwertig. Sie haben die ewige Versuchung, damit jene des ewigen Sonnenlichtes teilhaftig werden. Doch wie auch die Schlußworte jenes Buches sein mögen, ob eine Verklärung oder ein Verdammungsurteil: die Seiten zu überschlagen, damit man schneller das Ende erreiche, wird immer eine Frivolität bleiben.

- Sie sind heute wirklich frauenhaft und eigensinnig, par tout wollen Sie mich retten und fragen sich gar nicht, ob ich denn überhaupt in einer Situation bin, aus der Sie mich retten müßten. Und Ihre Anklage der Frivolität ist schief und ungerecht. Sie klammem sich an meine Ausdrucksweise, als ob Sie nicht wüßten, daß man bei einem Erklären alles abstrahieren, also bewußtmachen muß, und daß ich das immer vielleicht unnötigerweise übertreibe. Ja, die Güte ist eine Gnade, ein Wunder, doch nicht weil wir sie müßig, selbstgenügsam und frivol erwarten, sondern weil sie eine wundervolle, nicht zu erwartende und nicht zu berechnende und dennoch notwendige Auflösung eines bis ins Äußerste gespannten Paradoxes ist. Die Forderung Gottes an uns ist absolut und unerfüllbar: das Sprengen der zwischenmenschlichen Verständigungsformen. Unser Wissen von dieser Unmöglichkeit ist gleichfalls absolut und unerschütterlich; doch der, dem die Gnade der Güte zuteil ward, der in der Güte ist, dessen Glauben am Dennoch ist ebenso absolut und unerschütterlich. Güte ist Besessenheit, sie ist nicht mild, nicht raffiniert und nicht quietistisch, sie ist wild, grausam, blind und abenteuerlich. Die Seele des Guten ist leer geworden von jedem psychologischen Inhalt, von Gründen und Folgen, sie ist ein reines weißes Blatt geworden, auf das [241] das Schicksal seinen absurden Befehl schreibt, und dieser Befehl wird blind, tollkühn und grausam zu Ende geführt. Daß diese Unmöglichkeit zur Tat wird, diese Blindheit zum Hellsehn, diese Grausamkeit zur Güte - das ist das Wunder, die Gnade.

-Und Sie? Und Ihre - Sünde?

-Sehn Sie, Martha, wenn Sie von Frivolität sprechen wollen (und Sie haben hier wirklich feine Sinne), so müßten Sie mich, so wie ich früher war, als sie noch lebte, der Frivolität anklagen. Sehn Sie: damals habe ich Instanzen übersprungen und Kategorien vermischt. Ich wollte gut zu ihr sein. Man darf aber (Sie haben recht) nicht gut sein wollen, und vor allem nie im Verhältnis zu jemand gut sein wollen. Man muß jemanden retten wollen, dann ist man gut. Man will die Rettung und handelt schlecht, grausam, tyrannisch, und jede Tat mag eine Sünde sein. Aber selbst die Sünde ist dann kein Gegensatz zur Güte; und wenn auch, so doch nur ein notwendiger Mißklang in der Begleitstimme. Die Rücksicht, das Denken an sich und an den andern, die Vordergründe, die Feinheit, die Zurückhaltung, die Bedenken - hier haben Sie mich und hier haben Sie alles, was unmenschlich, unlebendig, von Gott verlassen und wahrhaft sündenvoll ist. Ich habe ein reines Leben führen wollen, wo alles nur mit behutsamen und ängstlich reingehaltenen Händen angefaßt wird! diese Art des Lebens ist aber die Anwendung einer falschen Kategorie auf das Leben. Rein muß das vom Leben getrennte Werk sein, das Leben aber kann nie rein werden, noch sein; das gewöhnliche kann nichts mit der Reinheit anfangen, in ihm ist sie bloß eine kraftlose Verneinung, kein Weg aus der Verwirrung heraus, vielmehr ihr Vermehrer. Und das große Leben, das Leben der Güte braucht eine solche Reinheit nicht mehr; sie hat eine andre, eine höhere. Reinheit im Leben ist ein bloßer Schmuck und kann nie eine wirkende Kraft des Handelns werden. Daß ich das nicht sah, war meine Frivolität. Aber wollen darf man die Reinheit schon gar nicht, wie ich es wollte, denn so wird sie zur absoluten Verneinung und verliert ihr herrliches und furchtbares Dennoch: das Reinbleiben in Sünde, Betrug und Grausamkeit. Darum konnte sie sich mir nie aufschließen. Sie mußte mich als frivol, spielerisch und unernst betrachten; selbst der Ton ihrer Rede wird mir gegenüber nie wahr gewesen sein, er hat sich an diese Unehrlichkeit angepaßt. Sie war eine Frau - und einmal war ich [242] vielleicht etwas wie eine Hoffnung für sie. Ich wollte ja ihre Rettung; ich war aber nicht besessen von diesem Wollen: ich sollte rein bleiben, sie mußte, meinte ich, rein bleiben, vielleicht war mein ganzes Wollen dieser Rettung nur ein Umweg zur Güte und Reinheit, die ich für mich wollte. Ich habe den Weg übersprungen, um gleich am Ziel zu sein; und das Ziel war für mich nur ein Weg zum Weg, der für mich das Ziel zu sein schien. Jetzt aber ist Klarheit über mich gekommen: dieses sinnlose und absurde, untragisch-katastrophale Ende ist für mich ein Gottesurteil. Ich scheide aus dem Leben aus. Denn so wie in der Kunstphilosophie nur das Genie Vorkommen darf, so dürfte es im Leben nur der mit Güte begnadete Mensch.

Erschrocken sprang ich auf. Der Sinn der Rede ängstigte mich, obwohl er ganz ruhig gesprochen hat, in dem Ton, wie er eine neue Theorie zu erklären pflegte. Ich ging auf ihn zu und faßte seine Hand: Was wollen Sie denn? Was haben Sie vor?

Er lachte. - Ängstigen Sie sich nicht, Martha. Selbstmord ist eine Kategorie des Lebens, ich aber bin schon lange gestorben. Jetzt weiß ich es, klarer als ich es früher gewußt habe. Wenn ich daran dachte, daß Sie kommen würden, hoffte ich, mit Ihnen über sie zu sprechen, und fürchtete es. Fürchtete und (sehn Sie, so unklar und kindisch war ich) hoffte, daß ich schweigen und weinen werde. Jetzt aber sprechen wir über die Güte; wir hätten gerade so gut über die Allegorie weiter sprechen können. Sie leben ja, Sie müssen es wissen: ist es nicht maßlos brutal, dieses unser Gespräch? Sie werden es leugnen, denn Sie sind gut, ... es ist ja nur mein Gespräch: Sie sind aber gütig und gehn darauf ein.

-Sie haben viel geweint, und weinen auch jetzt. Dies ist Ihr Weinen.

-Sie wissen selbst, daß Sie das selbe sagen, was ich sage: dies ist mein Weinen. Ich habe die Formen verwischt und durcheinandergeworfen: meine Lebensformen sind keine Formen des Lebens, das ist mir erst jetzt klar geworden. Darum ist ihr Tod für mich ein Gottesurteil. Sie mußte sterben, damit mein Werk vollendet werde, damit für mich nichts in der Welt bleibe, als mein Werk.

-Nein! Nein!

-Sie wollen die Sache wieder allzusehr vereinfachen. Denken Sie an drei Kausalitäten, die ich früher erwähnt habe: alles hat seine [243] Gründe und Motive, hat aber auch seinen Sinn, und das Gottesurteil kann nur in dem Sinn liegen. Lassen wir die äußern Gründe und die psychologischen Motive aus dem Spiele; mit alledem hat meine Frage nichts zu schaffen. Sie kennen die uralte Legende von dem Tempelbau, wo die Teufel nachts immer alles zerstörten, was tagsüber gebaut wurde, bis man sich entschlossen hat, daß einer von denen, die am Bau arbeiten, seine Frau opfern muß, die Frau, die an einem gewissen Tag als erste zu ihnen kommen wird. Es war die Frau des Werkmeisters. Wer könnte den Gründen, warum sie als erste gekommen ist, nachgehn? Es gibt unzählige äußre Gründe und seelische Motive, und es ist doch, solange man es von einem Augenpunkt der physischen oder psychischen Welt betrachtet, ein brutaler, sinnloser Zufall, daß es gerade sie sein mußte. Denken Sie auch an die Tochter Jephtas! Einen Sinn hatte aber das Ganze dennoch, nicht für den Werkmeister und nicht für Jephta, wohl aber für ihr Werk. Das Werk ist aus dem Leben gewachsen, ist aber aus ihm entwachsen, es ist aus Menschlichem entstanden, ist aber unmenschlich, ja widermenschlich. Der Kitt, der das Werk mit dem gebärenden Leben verbindet, trennt es für alle Ewigkeit von ihm: er ist aus Menschenblut. Christus sprach: „So jemand zu mir kommt und nicht hasset seinen Vater, Mutter, Weib, Kind, Bruder, Schwester, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein.“ Ich denke jetzt gar nicht an die psychologische Seite der Künstlertragödie, für mich ist diese Konstellation einfach eine Tatsache: eine unmenschliche, wenn Sie wollen, hier ist aber nicht mehr von Menschlichkeit die Rede. Ich kann diese Unklarheit und Unredlichkeit des gewöhnlichen Lebens, das alles auf einmal haben will und auch haben kann, weil es nichts Wirkliches will und nichts wirklich will, nicht mehr ertragen. Alles Klare ist unmenschlich, denn die sogenannte Menschlichkeit besteht in einem fortdauernden Verwischen und Verwirren der Grenzen und der Gebiete. Das lebendige Leben ist formlos, weil es jenseits der Formen liegt, dieses aber, weil in ihm keine Form zur Klarheit und zur Reinheit kommen kann. Doch alles Klare kann nur dadurch entstehn, daß es aus diesem Chaos gewaltsam herausgehoben wird, daß alles, was es mit der Erde verbunden hat, zerschnitten wird. Auch die echte Ethik (denken Sie nur an Kant!) ist widermenschlich: sie will ja das ethische Werk im Menschen realisieren ... Weil für mich alles, was Leben gewesen ist, [244] sie war - darum ist ihr Tod und mein Nichthelfenkönnen, das ihren Tod verursacht hat, das Urteil Gottes. Glauben Sie ja nicht, daß ich das Leben verachte. Aber das lebendige Leben ist auch ein Werk, und mir ist ein anderes auferlegt worden.

-Das ist wieder ein Ausweichen, wieder ein allzu gerader Weg! Sie wollen Mönch werden, man kann aber die Reformation nie mehr ungeschehn machen. Ist es nicht wieder Ihr Ideal der Reinheit, das Sie so sprechen läßt? Sie wollten Ihre nervöse Hyperästhesie aller Grausamkeit, Unklarheit und allem Schmutz gegenüber mit einem Leben mit Menschen vereinen, und weil Sie diesen Versuch für mißlungen halten, wollen Sie das ganze Leben wegwerfen. Ist das aber nicht eine allzu bequeme Lösung? Ist Ihre Askese nicht bloß Erleichterung? Wird Ihr Werk, das Sie retten wollen, indem Sie ihm Menschenblut als Fundament geben, nicht erst recht blutlos und haltlos werden?

-Martha, es ist ein Glück für Sie, daß Sie unbegabt sind; wenn Sie es nicht wären, müßte ich mich stets um Sie ängstigen. Nie wird es eine Frau mit allen Sinnen begreifen können, daß das Leben bloß ein Wort ist und nur durch Unklarheit des Denkens eine einheitliche Realität erhält; daß es so viele Leben gibt, wie viel apriorisch bestimmte Möglichkeiten unsrer Betätigungen. Für Sie ist das Leben eben das Leben schlechthin, und (verzeihen Sie!) Sie können es nicht glauben, daß etwas wirklich Großes vielleicht erst am Ende, vielleicht erst nach großem Leiden, nicht doch eine Krönung des Lebens, nicht doch eitel Lust und Wonne sei. Nie hat eine Frau die Welt jenseits von Lust und Qual betreten, wenn sie nicht verkrüppelt, wenn sie nicht vor dem Eingang des Lebens stehngeblieben war. Das ist wundervoll und stark und schön, die verkörperte Einheit des Lebens, des Sinnes und der Ziele. Doch so lange nur, bis das Leben selbst Ziel und Sinn des Lebens ist. Wo finden Sie aber hier einen Platz für das Werk? Ist es nicht merkwürdig, daß alle begabten Frauen in der Tragödie oder in der Frivolität ihr Ende finden müssen? Sie können Werk und Leben in keine Einheit bringen und müssen darum das eine in Frivolität untergehn lassen, oder selbst zugrunde gehn. Ernste Frauen, die nicht, alles andre ausschließend, Frauen sind, sind dem Tode geweiht. Auch Katharina von Siena war kein klarer und bewußter Asket, sondern die Braut Christi. Es ist nicht so ohne weiters sinnlos, daß man [245] im Orient den Frauen das Himmelreich verwehrt; es ist ungerecht und sogar ganz falsch, aber wahr ist doch: die Armut am Geiste wird von ihnen nie errungen werden.

- Die Armut am Geiste?

-Seien Sie nicht voreingenommen gegen Worte; es ist von etwas sehr Einfachem die Rede, und das ist der einfachste Ausdruck dafür. Ein gewöhnlicher und unklarer Mensch ist nie arm am Geiste: sein Leben hat immer ungezählte Möglichkeiten vor sich und in sich; wenn eine Kategorie versagt hat, oder er in ihr versagt, so wird er fröhlich und bequem in eine andre hinüberspazieren. Die Armut am Geiste ist bloß eine Voraussetzung, bloß ein Anfangsstadium der wahren Lebensführung; die Bergpredigt verspricht die Seligkeit, aber für Fichte heißt das Leben selbst: seliges Leben. Armut am Geiste ist: sich von der eignen psychologischen Bedingtheit freizumachen, um sich der tiefer eignen, metaphysischen und metapsychischen Notwendigkeit preiszugeben. Sich aufzugeben, um dadurch das Werk, das von mir aus gesehn nur zufällig mir gehört, wodurch aber ich mir selber notwendig werde, zu realisieren. Wir sind nur ein unklares Bündel von Wunsch und Furcht, von Lust und Leid, etwas, das in jedem Augenblick an der eignen Wesenlosigkeit zugrunde geht. Wenn wir aber dieses Zugrundegehn wollten? Könnten wir dann unsre Wesenlosigkeit nicht endgültig aufheben und sie nie mehr von einer ebenso zum Verwesen verurteilten Wichtigkeit ablösen lassen? Der Sinn unsers Lebens ist stets von seinen Motiven verdeckt, seine Teleologie von seiner Kausalität, unser Schicksal von unsern Schicksalen. Wir suchen den Sinn, die Erlösung. „Der Tüchtige will Entscheidung, nichts mehr“ sagt Lao-Tse. Das gewöhnliche empirische Leben kann uns aber nicht einmal eine richtige Versuchung bringen. Man überschätzt es, wenn man von seinen Dissonanzen spricht. Dissonanz ist nur in einem System der Töne, also in einer bereits einheitlichen Welt möglich; Störung und Hemmung und Chaos sind nicht einmal dissonant. Die Dissonanz ist klar und eindeutig, sie ist Gegensatz und Ergänzung des Wesens; sie ist die Versuchung. Und die suchen wir alle, unsre echte Versuchung, eine, die unser wahres Wesen erschüttert, nicht aber bloß an der Peripherie Unfug verursacht. Die Erlösung (ich könnte sie auch das Formwerden nennen) ist die große Paradoxie: das Einswerden der Versuchung und des Versuchten, des [246] Schicksals und der Seele, des Teufels und des Göttlichen im Menschen. Sie wissen aus der Kunstphilosophie: jede Form entsteht, wenn das fruchtbringende, das lebenerweckende Paradoxon ihrer Möglichkeiten gefunden ist, wenn die grausame Grenze Früchte treibt und das Ausscheiden zum Reichtum wird. Die Armut am Geiste macht die Seele homogen: was nicht Schicksal werden kann, wird nicht einmal Geschehnis für sie, und nur die wildeste Versuchung wird zum Reiz.

-Und das Werk? Ihr Werk? Ich fürchte: Sie wollen wieder von der Güte sprechen, wieder nur fremde Vollkommenheiten preisen?

-Nein, ich habe rein formell gesprochen, nur von den Voraussetzungen des Lebenswandels; also auch von der Güte, doch nicht nur von ihr. Ich habe von einer ganz allgemeinen Ethik gesprochen, von einer Ethik, die alles umfaßt und sich nicht bloß auf die zwischenmenschlichen Handlungen des gewöhnlichen Lebens beschränkt. Denn insofern jede unsrer Betätigungen ein Handeln ist, hat jede die gleichen, rein formellen Voraussetzungen, die gleiche Ethik. Diese Ethik aber ist deshalb immer negativ, verbietend, inhaltslos; wenn es in ihr ein ganz klar formulierbares Gebot gibt, so müßte es so lauten: Lasse, was du nicht tun mußt. Sie ist negativ, und ist darum immer Vorbereitung und Zwischenstufe; sie ist Voraussetzung und Weg zum Werk, zur Tugend, zum Positiven. Ich gehe weiter: Tugend ist Besessenheit. Wir haben keine Tugend, sind auch nicht Tugend, die Tugend hat uns; und arm am Geiste sein heißt: uns für unsre Tugend bereitzuhalten. Wir müssen so leben: unser Leben ist wertlos, ohne Bedeutung, und wir wären jeden Augenblick bereit, es dem Tode zu weihn, ja wir erwarten jeden Augenblick bloß die Erlaubnis, daß wir es wegwerfen dürfen. Doch müssen wir leben, intensiv, mit allen Kräften und Sinnen leben. Denn wir sind nur ein Gefäß, aber das einzige Gefäß der Erscheinung des Geistes; nur in uns kann der Wein seiner Offenbarung geschüttet werden, nur in uns, durch uns kann sein wahres Offenbarwerden, seine Transsubstantiation zustande kommen. Da haben wir kein Recht, uns zu entziehn. Und rein muß das Gefäß sein, aber diese Reinheit ist nicht die, von der ich vorher sprach, sie ist das Einheitliche, das Homogene der Seele. Als Edmond de Goncourt die Blindheit bevorstand, schrieb er: Il me serait peut-être donné de composer un volume, ou plutôt une série de notes, toutes spiritualistes, toutes philosophiques, et écrites dans l’ombre de la pensée. Er war [247] arm am Geiste, als er so dachte, und sein Ästhetentum hatte da die Tugend der Besessenheit. Wir müssen apriorisch werden; alle unsre Apperzeptions- und Reaktionsmöglichkeiten müssen sich schicksalhaft-unwillkürlich nach der Kategorie, in der das Werk liegt, richten. Dann wird die Privation der Seele durch die Armut zur Aktivität, zum fruchtbaren und furchtbaren Wüten der Besessenheit des Werkes, das nach Realisation hungert. Die Armut am Geiste war die Voraussetzung, das Negative, der Ausweg aus der schlechten Unendlichkeit des Lebens, aus dem wesenlos Vielfältigen. Hier blüht ein neuer Reichtum auf, ein Reichtum aus Einheit. „Ein jeder Teil geht aus dem Ganzen hervor“, sagt Plotin, „und doch fallen immer Teil und Ganzes zusammen. Es gibt weder Mannigfaltigkeit, noch Verschiedenheit, unermüdlich, unerschöpflich ist alles. Im Anschauen vergrößert sich das Schauen!“ Solange wir im gewöhnlichen Leben stecken bleiben, sind wir bloß eitle Karikaturen Gottes: wir wiederholen schlecht fragmentarisch das grandios Fragmentarische seiner allseitigen Schöpfung. In dem Werk, das aus Armut und Besessenheit entstanden ist, ist das Fragmentarische zum Kreis gerundet, die Vielfältigkeit zum Ton im Tonleiter geläutert, und aus der wirren Bewegtheit der Atome werden Planeten und Planetenbahnen. Was hier gemeinsam ist, ist der Weg zum Werk, die Ethik der Tugend; jedes Werk ist aber von allen andern scharf geschieden. Ich weiß nicht, ob dieser Weg an und für sich ein gottgewollter Weg ist, und ob er zu Gott führt; ich weiß nur, er ist unser einziger Weg, und ohne ihn verirren wir uns in den Morästen. Die Güte ist nur ein Weg unter den vielen. Sie aber führt sicher zu Gott. Denn für sie wird alles zum Weg, in ihr verliert unser gesamtes Leben alles, was nur lebenhaft in ihm war; in ihr wird das Widermenschliche des Werkes zur höchsten Menschlichkeit, seine Verachtung der Unmittelbarkeit zur wahren Berührung des Wesens.

-Sie wollen, wenn ich Sie richtig verstehe, die Kasten auf metaphysischer Grundlage neu errichten. In Ihren Augen gibt es also nur eine Sünde: die Vermengung der Kasten.

-Sie haben mich wundervoll richtig verstanden. Ich wußte nicht, ob ich mich klar genug ausgedrückt habe, und fürchtete eine Verwechslung mit einem dumm-modernen Individualismus der Pflichten gegen sich selbst. Ich bin nicht dazu berufen, die Zahl der Kasten, ihre Art und die Pflichten einer jeden jetzt festzulegen; daß es aber [248] nur eine bestimmte Anzahl gibt, das, sehe ich, wissen und glauben Sie gerade so fest, wie ich es glaube. Verstehn Sie jetzt die Bedeutung der eignen Pflicht für die Tugend? Durch die Tugend wird der falsche Reichtum und die erlogne Substanz dieses Lebens überwunden und in uns zur Form erlöst. Der Substanzhunger des Geistes zwingt ihn, die Menschen in Kasten einzuteilen, um aus dieser wirreinheitlichen Welt die vielen klaren Welten der Formen zu erschaffen. Aus Drang nach Substanz entstehn die Formen, und es scheint, als ob die Substanz sich nun durch diese einzig mögliche Realisation aufheben würde. Doch nur die Wege des Formwerdens, die Gesetze des Formens und die Pflichten des Formers sind verschieden: ein jedes unter ihnen ist nur ein Gleichnis, ein Spiegelbild vom Gange des Geistes. Wie ihre formellen Voraussetzungen die gleichen waren, so bedeutet die Tatsache ihres Da[-]Sein das selbe: die Erlösung der Substanz aus der Unwahrheit ins Wahre - und die Erlösung kann keinen Plural haben. Die Formen gleichen einander nicht, ihr Wesen ist strengste Absonderung voneinander, sie sind aber das selbe, ihr Da-Sein ist Einheit, ist die Einheit. Die Tugendhaften, die, welche ihre Pflicht erfüllt haben, (und Sie wissen: es gibt nur eigne Pflichten, und nach diesen sind wir Menschen in die vielen Kasten eingeteilt) die gehn zu Gott ein, für die hört die Besonderung auf. Hier müssen alle Zweifel verstummen: es kann nur eine Erlösung geben.

Wir schwiegen eine Weile. Dann fragte ich ihn, ganz ruhig, nur um das Gespräch ausklingen zu lassen: Und ihre Pflicht?

- Sie kennen sie: wenn ich leben wollte, wäre es ein Übertreten meiner Kaste. Daß ich sie liebte und ihr helfen wollte, war schon ein Übertreten. Güte ist die Pflicht und die Tugend einer hohem Kaste, als die meine ist.

Bald darauf verabschiedeten wir uns und besprachen, daß er in einigen Tagen mich besuchen sollte. Zwei Tage später hat er sich erschossen. Wie Sie wissen, hat er sein ganzes Vermögen dem Kinde meiner Schwester hinterlassen. Auf seinem Schreibtisch lag die Bibel aufgeschlagen und in der Apokalypse waren die Worte bezeichnet: „Ich weiß deine Werke, daß du weder kalt noch warm bist, ach, daß du kalt oder warm wärest. Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, darum werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“

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