I. Der Angriff
Der metaphysische Tick erregt die Seelen. Man hat sich mit der Literaturströmung
von heute abgefunden, indem man sie als »Neuromantik« popularisiert hat. Und da nun dieses Wort einmal in einer
Atmosphäre von Jugend und Leichtsinn schwimmt, fühlt sich der besonnene
Zeitgenosse verpflichtet, sich aus diesem Chaos zu einer ernsten Lebensgestaltung
durchzuringen. Man naht sich der Kunst mit einer michelangelesken Gebärde: Wir
haben Verpflichtungen. Wir stehen vor der Epoche des »ernsten [238] Menschen«. Um
den Namen ist man nicht verlegen: Neuklassizismus.
Im Schatten dieses heroischen Wortes brüten die Fanatiker der Regel. Die Entdecker
seltsamer Gesetzlichkeiten, die alle Räusche und Erregungen mit Rezeptnamen
belegen. Die ästhetische Schöpfung so von Regeln abhängig machen, daß alle
zufällige Heiterkeit wie mürber Staub abfällt. Bebrillte Piraten, die alles
nehmen, was an Überschwang und Reichtum erinnert. Nur das Notwendige ist durch das
Gesetz gerechtfertigt. Natürlich: der große Zug. Der ernste Mensch hat immer das
Bedürfnis nach Großzügigkeit. Transpirierend sollst du schaffen. Wie gesagt: die
klassische Tragödie. Voll Strenge und Unerbittlichkeit; mit einem Wort: Hebbel.
Die Tragödie auf ihr logisches Schema zu
bringen, es in sehr bedeutungsvollen, konzentrierten Versen auszudrücken, die kein
Feuer der Seele geschmolzen, kein heiterer Sonnenstrahl berührt hat: Das ist das
Ideal des neuen Weimar. Wer hier die neue Generation sieht, beweist sein
Ruhebedürfnis. Wir aber, die wir uns unsere Freude an der Erscheinungen
wechselndem Spiel, unsere Heiterkeit nicht rauben lassen wollen, uns froh den
Einflüsterungen unseres Dämons ergeben und heiter gestaltend leben: an uns ist’s, Protest zu erheben gegen ein Dogma,
das uns alle mit seinem Medusenhaupt ängstet: mit qualvollster
Langeweile. Feierlich soll erklärt werden: Man stirbt bei diesen im Frost
erstarrten Versen. Mir schauert vor dem Tiefsinn, den ich aus der künstlerischen
Gestaltung herauslesen muß, um als anständiger Mensch fortan zu vegetieren. Dann
lockt schon reicher eine andere Stimme: Gestalten im Anblick der erhabenen
Wirklichkeit, bewegt vom Wellenschlag eines heiteren Herzens, aufschäumend in den Stürzen eines hingegebenen Enthusiasmus. Der Alte aus Weimar,
der so die Kunst sah, scheint mir ein besserer Führer zu sein als Hebbel, der nur
in Posen Rodins in meinen Träumen erscheint. Gewiß: es gibt eine junge Generation; es ist höchste Zeit, das zu betonen. Es
wühlt dumpf wie Sturm und Aufruhr, die sich durch die fette Breite der
Zeitgenossen keine Kanäle schaffen kann. Es gibt noch unbekümmerte Menschen, die
angstvoll die Zumutung abweisen, ihre Kunst mit tiefsinnigen Ideen zu laden. Unsere Zeit, verfettet in träger Selbstachtung,
abgestumpft durch militärisch geregelte Belustigungen, bedarf anderer Antriebe,
um epileptische Zuckungen zu verspüren. Man lasse die Hände von
klassischer Bearbeitung urzeitlicher Tragödien und gebe sich atmend dem Leben hin,
wie es Goethe nur je gewünscht hat. Es ist
die Anmaßlichkeit kühn gewordener Pedanterie, dem Künstler seine Form
vorzuschreiben. Revenons à la nature.
Die junge Generation.
Sich äußern, darstellen, die Welt seines
Innern in einem Sturm von Begeisterung hinausschreien, sich ergießen in die
trübdunkle Fülle der Gestalten, strahlend voll siegreicher Empörung: so
läuten sich junge Generationen ein.
Darstellen im Feuer des Enthusiasmus, der die Last einer trägen Zeit mit
lachender Revolte von sich schleudert; sich darstellen, das Spiel seiner Seele
wiederfinden im leuchtenden Strom des Geschehens: Das dünkt mich eher eine
Begeisterung schauenstiefer Menschen zu sein als die chemischen Bemühungen aus
Neuweimar, deren Verse dem Schauspieler im Mund erfrieren.
II. Die Erwiderung
Selbstverständlich war es Karl
Scheffler, der auf meine Anmerkungen zu der Weimarer Monumentalkunst
reagierte. Er richtete einen Warnungsruf an Maximilian Harden. Meine Arbeit,
schrieb er, scheine ihm so sehr der Korrektur bedürftig, daß er ihn für einen
Appell an seine Leser um Raum bitte. Scheffler appellierte:
»Ein besserer Kämpfer, Herben Eulenberg, hat sich in
der <Zukunft> schon früher mit Hebbel auseinandergesetzt. Ihm hörte man
aufmerksamer zu, denn als Dramatiker sprach er für sich selbst; und er stand
kavaliermäßiger da, grüßte mit bescheidener Ehrfurcht seinen Gegner. Glauben
nun aber auch die aus dem Café
Größenwahn sich berufen, vor der stillen Erziehertätigkeit der
Hebbel-Naturen zu warnen, so beweisen sie nur, daß sie selbst dringend des
Erziehers noch bedürfen, daß sie nicht fähig sind, wirre Jugendinstinkte
strenger Zucht zu unterwerfen und daß sie mit all ihren Talenten und
Reizsamkeiten nur Reflexgeschöpfe sind. Ihnen ist es zu wünschen, daß die Not
des Lebens sie irgendwo in Reihe und Glied stellt. Denn jetzt sind sie nicht
jung und können auch nicht lebendig altern, weil ihnen die Fähigkeit der
natürlichen Hingabe an alles Große und Edle fehlt. Sie haben nicht das Recht,
verantwortlich für die <junge Generation> zu zeichnen; weil sie nicht
genug Liebe haben.«
Karl Scheffler
III. Duplik
Diese väterlichen Worte erschienen bei 30° R. im Schatten: um Pfingsten
herum. Ich stand vor einer großen Reise. Der Tod Swinburnes hatte mich in
eine feierlich-erregte Stimmung hineingerissen. So konnte ich es mir
gestatten, auf einen bürgerlichen Verweis mit einer Symphonie zu
erwidern.
Swinburne ist tot. (Nun bleiben noch
Zwei, deren Namen eine Strahlenglorie zeitloser
Einsamkeit umfließt: Stefan George und André Gide). Er war ein
Mensch von hohem Alter, sein Tod glich dem abebbenden Verlöschen der Fackel.
Aber über seine Verse gebeugt lösten
sich endlose Erschütterungen doch in dem Gefühl: vielleicht kommst
du einmal hinüber, vielleicht lernst du ihn kennen ... Er war ein Mensch von
legendärer Größe. Danteske Formverlorenheit unter der Kühle anglomanischer
Haltung. Ich wohne in einem nördlichen Vorort: weit vor der Stadt. Wenn ich
im Café (niederträchtige
Erdentrücktheit verwöhnter Gehirne- und ich bin ein Caféhausliterat) über die Furcht des Aufstehens, die Furcht des körperlichen
Zusammenraffens, des Ineinanderschließens der Muskeln (Faulheit,
Faulheit) die Zeit der letzten Bahn versäume, gehe ich zu Fuß, vier Stunden lang. Gefühle eines
natürlichen Parks im Tiergarten, schlenderndes Wechseln lebhafter Gruppen in
der Friedrichstadt, und dann immer abebbender, zuckender, verstohlener.
Hinter dem unbestimmten Lärm der Großstadt, emporgeschossenen Steinwällen plötzlich zwei sparsame
Reihen weißer Laternen. Mein Weg führt an endlosen Drahtzäunen vorbei,
verbogenen Schutzgeflechten: dahinter rohe Wellen aufgerissner Erde,
weißliche Fetzen von Schutt. Am Horizont verfließen hilflose Silhouetten
weit entfernter Häuser, verblassende Lichter verwischen sich im tiefen Blau
der Nacht. Jeder Schritt pflanzt sich durch
tausend Nervenbündel ins Gehirn, steigert sich, verfeinert sich, seine
schwere Fülle zerstrahlt plötzlich in eine ausbrechende Feuergarbe:
elektrisches Flammenspiel endloser Träumereien. Unabsehbare
Schienenstränge atlantischer Bahnen, erhitzte Steinberge mit stählernen
Gerippen. Das Gehirn siedet. Jede Empfindung
spitzt sich zitternd vor nervöser Feinheit. Und mit gesenktem Kopf,
wirren Armen durch das Dunkel, hastig und aufschreckend. Wie ein metallener
Hammer schlägt es an die Schädeldecke: Unsteter als du ist der Wind nicht
einmal. Das ist Swinburne. Der Klang, der wie Schlaf in den Wipfeln ist,
Puppenspiele byzantinischer Gestalten, zu denen die Königinnen treten mit
karmingefärbten Lippen und lastenden Flechten schwarzen Haares, die Nacht,
die feengleich mit Sternen und Seewind im Kleide auf die See sinkt, das ganz
in weiche Sonne gebettete Herz, das aufschreckt unter dem Dorn eines
Gedankens - Wald, See und Wind und das tragische Mysterienspiel von Gott und
Welt: das ist Swinburne. Jeder Schritt wirft eine schwere Welle Erinnerungen
in das Gehirn. Alle Reime und Bilder lösen
sich, ein empörtes Meer von Farbe siedet zischend wie Gischt und mit
zusammengebissenen Lippen, in übermäßig verstärktem Tempo an banalen
Drahtgeflechten vorbei, zitternd vor Fülle des Kraftgefühls: unsteter als
du ist der Wind nicht einmal. Strahlend und kühn feiert der Traum.
Uber den traurigen Weg jagt wie
elektrisches Knistern die Sehnsucht. Wünsche, Wünsche. (Zweifellos,
ich bin ein ernster Mensch.) Unendliche Fülle der Möglichkeiten: aber das
Bannen, das Halten, das Begrenzen! Ausbreiten, die Arme auseinanderschlagen, in einem grenzenlosen Offnen
der Arme die Fülle der Landschaften berühren! Endlose Drahtzäune,
die ein scheuer, irritierter Blick erhascht, eine feuchte Einsamkeit: ein
Bahnviadukt zerschneidet ihre dornige Armseligkeit. Kein Mensch; kein Tor
öffnet sich. Singen des Windes und Geräusche der Nacht. Einsame Wagen
klappern vorbei - träge schattenhafte Massen. Abebbendes Trappen eines
Pferdes - unsteter als du ist der Wind nicht einmal. Ausbreiten, ausbreiten
- in einem Augenaufschlag alles Lebendige bis in seine infernalischsten
Sehnsüchte festhalten. (Zweifellos, meine Wünsche sind berechtigt.) Sinn und
Zeit wissen - der Traum stockt: strahlend bunte Landschaften sinken in einer Aschenfontaine zusammen. (Trostlose Helligkeit eines
Konferenzzimmers.) Wie lautet diese Grimasse einer Erkenntnis? »Ethische
Rhythmisierung der inneren Unendlichkeit.« Welch perverses Formelbedürfnis hat hier gearbeitet, welche
Gestaltungsunfähigkeit das Ohr mit dieser exotischen Pedanterie
betäubt? Diese Weltanschauung hat Karl Scheffler, der Ankläger,
gestartet. (Vision eines gigantesken Tribunals: der Epilogist in
monumentaler Pose: vis-à-vis du monde.) »Wie können Sie, Herr Karl
Scheffler, es wagen, mit dem beschwörenden Ernst eines Exorzisten Ihr
Anathema über mich zu rufen? Was legitimiert Ihre würdige Entrüstung? Die
Tatsache, daß Sie den Lesern der Zukunft als Mann von Haltung bekannt sind,
verbürgt den Wert jeder Meinung, die Sie zu haben belieben? (Wir sind Bürger
des zwanzigsten Jahrhunderts, mein Herr.) Nicht ein Wort Ihres Aufsatzes
besagt, daß Sie den meinen auch nur ganz von fern aufgenommen haben. Sie
haben sich mit dem Bannstrahl begnügt, böswilliger und prüfungsunfähiger als
je ein deutscher Hauptpastor (zitiere ich jetzt Lessing, ruft die Gilde:
seht seine Selbstliebe, mit wem vergleicht er sich!). Sie haben so wenig
Achtung vor Ihrem Beruf bewiesen, daß Sie einen Aufsatz in einer
europäischen Zeitschrift mit dem jämmerlichen Hinweis auf das »Café
Größenwahn« erledigen zu können geglaubt haben. Zeigen Sie mir den Mann, der
nicht mit bedauerndem Achselzucken von Ihrer Replik spricht!«