Unbekanntes Gebiet: Twilight Zones Edition Kracauer Siegfried TEI encoding Schöfberger, Riccardo data modeling Scholger, Martina text compilation, text analysis Knaller, Susanne text compilation, text analysis Moebius, Stephan text editing, text correction Huber, Mario text editing, text correction Pachner, Marie-Therese digital implementation Stüger, Marie Twilight Zones Knaller, Susanne Moebius, Stephan Scholger, Martina Zentrum für Informationsmodellierung - Austrian Centre for Digital Humanities, Karl-Franzens-Universität Graz GAMS - Geisteswissenschaftliches Asset Management System 2020 Graz o:liminal.kracauer.1971 context:liminal.texts Unbekanntes Gebiet <title type="main">Die Angestellten Aus dem neuesten Deutschland. Mit einer Rezension von Walter Benjamin Kracauer Siegfried 1971 Frankfurt am Main Suhrkamp Kracauer, Siegfried. Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland. Frankfurt am Main: Frankfurter Societäts-Druckerei, 1930. Domains everyday culture contemporary culture society Frame urbanity Genre essay documentation Mode documentary descriptive anecdotal Transgression science/essay German Initial TEI encoding TEI encoding Terms Genre novel novella letters reportage Emotions description and paraphrase of emotions Tools media film image Frame and Location city big city Berlin society foreign spaces public spaces factory private and institutional spaces workplace Movement travel vehicle medial practices photographing Fields philosophy economy arts art artist politics political terms and models Techniques Styles observative Intertextual Patterns names Concepts Author Roles observer of everyday life diagnostician of the times sociologist Antagonism foreign/own Reality constructivism life Me/We-Relation gender Frame and Location work own and foreign
Unbekanntes Gebiet

»Das steht doch schon alles in den Romanen«, erwiderte eine Privatangestellte, als ich sie bat, mir aus ihrem Büroleben zu erzählen. Ich lernte sie sonntags während der Bahnfahrt nach einem Berliner Vorort kennen. Sie kam von einem Hochzeitsgelage, das einen vollen Tag gedauert hatte, und war, wie sie selbst gestand, ein wenig beduddelt. Unaufgefordert plauderte sie ihren Chef aus, einen Seifenfabrikanten, bei dem sie bereits drei Jahre als Privatsekretärin arbeitete. Er sei Junggeselle und bewundere ihre schönen dunklen Augen.

»Ihre Augen sind wirklich wunderschön«, sagte ich.

»Wir gehen immer abends aus. Manchmal nimmt er mich schon nachmittags ins Café mit, dann kommen wir nicht mehr zurück. Sehen Sie meine Schuhe an, ich vertanze alle paar Monate die Schuhe. Was interessiert Sie überhaupt das Büro. Ich spreche gar nicht mit dem Büropersonal, die Mädchen platzen vor Neid.«

»Werden Sie Ihren Chef einmal heiraten?«

»Wo denken Sie hin. Mich lockt der Reichtum nicht. Ich bleibe meinem Bräutigam treu.«

»Weiß Ihr Bräutigam...«

»Ich werde doch nicht so dumm sein. Was ich mit meinem Chef habe, geht niemanden etwas an.«

Es stellte sich heraus, daß ihr Bräutigam zur Zeit in Sevilla die Filiale eines Wäschegeschäfts leitet. Ich riet ihr, ihn zu besuchen. »In Barcelona ist eben die Weltausstellung...«

»Wasser hat keine Balken«, entgegnete sie.

Trotz meiner ernsthaften Versicherung glaubte sie nicht, daß Spanien auf dem Landweg zu erreichen sei. Später will sie mit ihrem Zukünftigen ein kleines Gasthaus in der Umgegend von Berlin bewirtschaften. Dort werden sie einen Garten haben und im Sommer kommen die Fremden. -

Es steht nicht alles in den Romanen, wie die Privatangestellte meint. Gerade über sie und ihresgleichen sind Auskünfte kaum zu erlangen. Hunderttausende von Angestellten bevölkern täglich die Straßen Berlins, und doch ist ihr Leben unbekannter als das der primitiven Völkerstämme, deren Sitten die Angestellten in den Filmen bewundern. Die Funktionäre der Angestelltenverbände blicken, wie es nicht anders sein kann, nur selten über das Detail hinaus auf die Konstruktion der Gesellschaft. Die Unternehmer sind im allgemeinen keine unvoreingenommenen Zeugen. Die Intellektuellen sind entweder selbst Angestellte, oder sie sind frei, und dann ist ihnen der Angestellte seiner Alltäglichkeit wegen gewöhnlich uninteressant. Hinter die Exotik des Alltags kommen auch die radikalen Intellektuellen nicht leicht. Und die Angestellten selber? Sie am allerwenigsten haben das Bewußtsein ihrer Situation. Aber ihr Dasein verläuft doch in voller Öffentlichkeit? Durch seine Öffentlichkeit ist es, dem »Brief Ihrer Majestät« in E. A. Poes Erzählung gleich, erst recht vor Entdeckung geschützt. Niemand bemerkt den Brief, weil er obenauf liegt. Freilich sind gewaltige Kräfte im Spiel, die es hintertreiben möchten, daß einer hier etwas bemerkt. Dabei wäre es längst an der Zeit, daß das Licht der Öffentlichkeit auf die öffentlichen Zustände der Angestellten fiele. Ihre Lage hat sich seit den Jahren vor dem Krieg von Grund auf verändert.

Schon rein zahlenmäßig: es gibt heute in Deutschland 3,5 Millionen Angestellte, von denen 1,2 Millionen Frauen sind. Im gleichen Zeitraum, in dem sich die Zahl der Arbeiter noch nicht verdoppelt hat, haben sich die Angestellten annähernd verfünffacht. Auf jeden fünften Arbeiter kommt gegenwärtig ein Angestellter. Auch die öffentlichen Beamten haben einen starken Zuwachs erfahren.

Diese gewaltigen Angestelltenmassen sind fast zur Hälfte im Handel, bei Banken und im Verkehr beschäftigt. Bemerkenswert ist, daß in den letzten Jahren die Zahl der Industrieangestellten besonders rasch zugenommen hat; sie beträgt jetzt bereits 1,35 Millionen. Der verbleibende Rest von einer halben Million entfällt auf Behörden, Organisationen usw. - Was die Berufsgliederung betrifft, so ist die weitaus bedeutendste Gruppe die der kaufmännischen Angestellten mit 2 ¼ Millionen. Ihr folgen in erheblichem Abstand die übrigen, fast gleich großen Gruppen der Büroangestellten, Techniker und Werkmeister, deren jede sich auf rund eine Viertelmillion beläuft.

Die Gründe für die ungeheure Vermehrung mögen in der Fachliteratur nachgelesen werden. Sie sind im wesentlichen an die Strukturwandlungen der Wirtschaft geknüpft. Die Entwicklung zum modernen Großbetrieb bei gleichzeitiger Veränderung seiner Organisationsform; das Anschwellen des Verteilungsapparates; die Ausdehnung der Sozialversicherung und der großen Verbände, die das Kollektivleben zahlreicher Gruppen regeln - das alles hat, jedem Abbau zum Trotz, die Ziffern nach oben getrieben. Daß gerade so viele Frauen in die Angestelltenberufe geströmt sind, läßt sich noch im besonderen aus der Erhöhung des Frauenüberschusses, den wirtschaftlichen Folgen von Krieg und Inflation und dem Bedürfnis der neuen Frauengeneration nach wirtschaftlicher Selbständigkeit erklären.

Der dialektische Umschlag der Quantität in die Qualität ist nicht ausgeblieben. Oder inhaltlich ausgedrückt: die Qualität ist in die Quantität umgeschlagen. Ursache dieses Umschlages ist die vielgenannte Rationalisierung. Seit der Kapitalismus besteht, ist innerhalb der ihm gezogenen Grenzen schon immer rationalisiert worden, aber die Rationalisierungsperiode 1925 bis 1928 bezeichnet doch einen besonders wichtigen Abschnitt. Sie hat das Eindringen der Maschine und der Methoden des »fließenden Bandes« in die Angestelltensäle der Großbetriebe bewirkt. Durch diese nach amerikanischem Muster vorgenommene Umstellung - sie ist noch lange nicht abgeschlossen - erhalten große Teile der neuen Angestelltenmassen eine gegen früher herabgeminderte Funktion im Arbeitsprozeß. Es gibt heute un- und angelernte Angestellte in Menge, die eine mechanische Tätigkeit versehen. (In den seit kurzem entstandenen Einheitspreisgeschäften etwa werden die Obliegenheiten der Verkäuferin mechanisiert.) Aus den ehemaligen »Unteroffi- zieren des Kapitals« ist ein stattliches Heer geworden, das in seinen Reihen mehr und mehr Gemeine zählt, die untereinander austauschbar sind.

Kein Geringerer als Emil Lederer nennt es »eine objektive Tatsache, wenn man behauptet, daß die Angestellten das Schicksal des Proletariats teilen«. Ja, er wagt die Aussage: »…der gesellschaftliche Raum, in dem wir noch die moderne Sklaverei finden..., ist heute nicht mehr der Betrieb, in welchem die große Masse der Arbeiter arbeitet, sondern dieser soziale Raum ist das Bureau«»Die Umschichtung des Proletariats«, enthalten in dem vom Afa-Bund herausgegebenen Band »Angestellte und Arbeiter«, Freier Volksverlag, Berlin 1928. Über das Quantum der Sklaverei hier und dort läßt sich streiten, aber die Proletarisierung der Angestellten ist nicht zu bezweifeln. Jedenfalls gelten für breite, im Angestelltenverhältnis befindliche Schichten ähnliche soziale Bedingungen wie für das eigentliche Proletariat. Es hat sich eine industrielle Reservearmee der Angestellten gebildet. Der Auffassung, daß sie eine vorübergehende Erscheinung sei, steht die andere gegenüber, daß sie erst mit dem System abgerüstet werden könne, durch das sie heraufbeschworen worden ist - eine Diskussion, von der noch zu reden sein wird. Ferner ist die Existenzunsicherheit gewachsen und die Aussicht auf Unabhängigkeit nahezu völlig geschwunden. Kann danach der Glaube aufrechterhalten werden, daß die Angestelltenschaft so etwas wie ein »neuer Mittelstand« sei? Man wird sehen, daß die für Angestellte produzierten Illusionen auf reichliche Nachfrage stoßen.

Immerhin ist der Wirklichkeitssinn der Angestellten durch ihre gedrückte materielle Lage geschärft worden. Durchschnittsgehälter, die für Ausgelernte bei unter 150 Mark anheben und für berufsältere Kräfte in gehobenen Stellungen kaum je 500 Mark erreichen, nötigen sie dazu, sich mindestens in ökonomischer Hinsicht als Arbeitnehmer zu fühlen. Das Einkommen der weiblichen Angestellten ist übrigens in der Regel 10 bis 15 Prozent niedriger. In dem Kampf um bessere Arbeitsbedingungen haben sich gegen 30 Prozent der Angestellten gewerkschaftlich organisiert. Die drei Spitzenverbände sind: der Allgemeine Freie Angestelltenbund (Afa-Bund) mit über 400 000 Mitgliedern. Ihm angeschlossen: der Zentralverband der Angestellten (Z. d. A.), der Deutsche Werkmeisterverband, der Bund der technischen Angestellten und Beamten (Butab), der Allgemeine Verband der Deutschen Bankangestellten; ferner seemännische Verbände und beinahe alle Gewerkschaften der Künstler. Ein Organisationsvertrag regelt die Beziehung des freigewerklichen Afa-Bundes zum Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund; politisch ist er mit der Sozial-demokratischen Partei verwachsen. Er erstrebt den Ausbau der sozialpolitischen Gesetzgebung und die Überführung des kapitalistischen Systems in die vergesellschaftete Wirtschaft.

Der Gewerkschaftsbund der Angestellten (G. d. A.). Er ist ein Einheitsverband, der Angestellte aller Berufe umfaßt; in der Hauptsache kaufmännische und Büro-Angestellte. Zusammen mit dem Deutschen Bankbeamtenverein und dem Allgemeinen Verband der Versicherungsangestellten, mit denen er in dem die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine einbegreifenden Deutschen Gewerkschaftsring organisiert ist, bildet er die 376 000 Mitglieder umfassende »freiheitlich-nationale« Gruppe der Angestelltenbewegung. Seine Haltung ist in ihren Grundzügen demokratisch. Gewerkschaftspolitisch stimmt er weitgehend mit dem Afa-Bund überein.

Der Gesamtverband Deutscher Angestelltengewerkschaften (Gedag) mit über 400 000 Mitgliedern. Seine wichtigsten Verbände sind der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband (D. H. V.) und der Verband der weiblichen Handels- und Büroangestellten. Der Gedag gehört zum christlich-nationalen Flügel der Gewerkschaften. Er ist ein Gegner des Sozialismus und mit Antisemitismus behaftet. Sein oft radikales gewerkschaftliches Vorgehen in Tarifverhandlungen läßt sich mit seiner bürgerlich-ständischen Ideologie schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen.

Außerdem ist noch ein Reichsbund Deutscher Angestellten-Berufsverbände (mit 60 000 Mitgliedern) vorhanden, der sich dem Reichsausschuß werksgemeinschaftlicher Verbände anschließt. Nicht unwichtig zu erwähnen, daß sich die Vereinigung der leitenden Angestellten (Vela) von der gewerkschaftlichen Betätigung zurückhält. Sie genügt sich mit der Krankenhilfe, einer Sterbekasse und allgemeiner Interessenvertretung.

Das sind ein paar Tatsachen. Sie umreißen notdürftig das Gebiet, in das diese kleine Expedition gehen soll, die vielleicht abenteuerlicher als eine Filmreise nach Afrika ist. Denn indem sie die Angestellten aufsucht, führt sie zugleich ins Innere der modernen Großstadt. Sombart hat einmal bemerkt, daß unsere großen deutschen Städte heute keine Industriestädte, sondern Angestellten- und Beamtenstädte seien. Wenn das von einer Stadt gilt, so von Berlin. Hier ist der wirtschaftliche Prozeß, der die Angestelltenmassen aus sich herausgesetzt hat, am weitesten gediehen; hier finden die entscheidenden praktischen und ideologischen Auseinandersetzungen statt; hier wird besonders auffällig die Gestalt des öffentlichen Lebens von den Bedürfnissen der Angestellten und denen bestimmt, die ihrerseits diese Bedürfnisse bestimmen möchten. Berlin ist heute die Stadt der ausgesprochenen Angestelltenkultur; das heißt einer Kultur, die von Angestellten für Angestellte gemacht und von den meisten Angestellten für eine Kultur gehalten wird. Nur in Berlin, wo die Bindungen an Herkunft und Scholle so weit zurückgedrängt sind, daß das Weekend große Mode werden kann, ist die Wirklichkeit der Angestellten zu erfassen. Sie ist auch ein gut Teil von der Wirklichkeit Berlins.

Ergibt sich diese Wirklichkeit der üblichen Reportage? Seit mehreren Jahren genießt in Deutschland die Reportage die Meistbegünstigung unter allen Darstellungsarten, da nur sie, so meint man, sich des ungestellten Lebens bemächtigen könne. Die Dichter kennen kaum einen höheren Ehrgeiz, als zu berichten; die Reproduktion des Beobachteten ist Trumpf. Ein Hunger nach Unmittelbarkeit, der ohne Zweifel die Folge der Unterernährung durch den deutschen Idealismus ist. Der Abstraktheit des idealistischen Denkens, das sich durch keine Vermittlung der Realität zu nähern weiß, wird die Reportage als die Selbstanzeige konkreten Daseins entgegengesetzt. Aber das Dasein ist nicht dadurch gebannt, daß man es in einer Reportage bestenfalls noch einmal hat. Sie ist ein legitimer Gegenschlag gegen den Idealismus gewesen; mehr nicht. Denn sie verliert sich nur in dem Leben, das dieser nicht finden kann, das ihm und ihr gleich unnahbar ist. Hundert Berichte aus einer Fabrik lassen sich nicht zur Wirklichkeit der Fabrik addieren, sondern bleiben bis in alle Ewigkeit hundert Fabrikansichten. Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird. Die Reportage photographiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild.