Unbekanntes Gebiet
»Das steht doch schon alles in den Romanen«,
erwiderte eine Privatangestellte, als ich sie bat, mir aus ihrem Büroleben zu
erzählen. Ich lernte sie sonntags während der Bahnfahrt nach einem Berliner Vorort
kennen. Sie kam von einem Hochzeitsgelage, das einen vollen Tag gedauert hatte, und
war, wie sie selbst gestand, ein wenig beduddelt. Unaufgefordert plauderte sie ihren Chef aus, einen Seifenfabrikanten, bei dem sie bereits drei Jahre
als Privatsekretärin arbeitete. Er sei
Junggeselle und bewundere ihre schönen dunklen Augen.
»Ihre Augen sind wirklich wunderschön«, sagte ich.
»Wir gehen immer abends aus. Manchmal nimmt er mich schon nachmittags ins Café mit,
dann kommen wir nicht mehr zurück. Sehen Sie meine Schuhe an, ich vertanze alle paar
Monate die Schuhe. Was interessiert Sie überhaupt das Büro. Ich spreche gar nicht mit
dem Büropersonal, die Mädchen platzen vor Neid.«
»Werden Sie Ihren Chef einmal heiraten?«
»Wo denken Sie hin. Mich lockt der Reichtum nicht. Ich bleibe meinem Bräutigam
treu.«
»Weiß Ihr Bräutigam...«
»Ich werde doch nicht so dumm sein. Was ich mit meinem Chef habe, geht niemanden
etwas an.«
Es stellte sich heraus, daß ihr Bräutigam zur Zeit in Sevilla die Filiale eines
Wäschegeschäfts leitet. Ich riet ihr, ihn zu besuchen. »In Barcelona ist eben die
Weltausstellung...«
»Wasser hat keine Balken«, entgegnete sie.
Trotz meiner ernsthaften Versicherung glaubte sie nicht, daß Spanien auf dem Landweg zu erreichen sei. Später will sie mit
ihrem Zukünftigen ein kleines Gasthaus in der Umgegend von Berlin bewirtschaften. Dort werden sie einen Garten haben und
im Sommer kommen die Fremden. -
Es steht nicht alles in den Romanen, wie die
Privatangestellte meint. Gerade über sie und ihresgleichen sind
Auskünfte kaum zu erlangen. Hunderttausende von Angestellten bevölkern täglich die
Straßen Berlins, und doch ist ihr Leben unbekannter als das der primitiven
Völkerstämme, deren Sitten die Angestellten in den Filmen bewundern. Die
Funktionäre der Angestelltenverbände blicken, wie es nicht anders sein kann, nur
selten über das Detail hinaus auf die Konstruktion der Gesellschaft.
Die Unternehmer sind im allgemeinen keine
unvoreingenommenen Zeugen. Die Intellektuellen sind entweder selbst
Angestellte, oder sie sind frei, und dann ist ihnen der Angestellte seiner
Alltäglichkeit wegen gewöhnlich uninteressant. Hinter die Exotik des Alltags kommen auch die radikalen
Intellektuellen nicht leicht. Und die Angestellten selber? Sie am
allerwenigsten haben das Bewußtsein ihrer Situation. Aber ihr Dasein
verläuft doch in voller Öffentlichkeit? Durch seine Öffentlichkeit ist es, dem
»Brief Ihrer Majestät« in E. A. Poes
Erzählung gleich, erst recht vor
Entdeckung geschützt. Niemand bemerkt den Brief, weil er obenauf liegt. Freilich sind gewaltige Kräfte im
Spiel, die es hintertreiben möchten, daß einer hier etwas bemerkt. Dabei wäre
es längst an der Zeit, daß das Licht der Öffentlichkeit auf die öffentlichen
Zustände der Angestellten fiele. Ihre Lage hat sich seit den Jahren vor dem
Krieg von Grund auf verändert.
Schon rein zahlenmäßig: es gibt heute in Deutschland 3,5 Millionen Angestellte, von
denen 1,2 Millionen Frauen sind. Im gleichen Zeitraum, in dem sich die
Zahl der Arbeiter noch nicht verdoppelt hat, haben sich die Angestellten
annähernd verfünffacht. Auf jeden fünften Arbeiter kommt gegenwärtig ein
Angestellter. Auch die öffentlichen Beamten haben einen starken Zuwachs
erfahren.
Diese gewaltigen Angestelltenmassen sind fast zur
Hälfte im Handel, bei Banken und im Verkehr beschäftigt. Bemerkenswert ist, daß
in den letzten Jahren die Zahl der Industrieangestellten besonders rasch
zugenommen hat; sie beträgt jetzt bereits 1,35 Millionen. Der verbleibende Rest
von einer halben Million entfällt auf Behörden, Organisationen usw. - Was die Berufsgliederung betrifft, so ist die weitaus bedeutendste Gruppe die
der kaufmännischen Angestellten mit 2 ¼ Millionen. Ihr folgen in erheblichem
Abstand die übrigen, fast gleich großen Gruppen der Büroangestellten, Techniker
und Werkmeister, deren jede sich auf rund eine Viertelmillion beläuft.
Die Gründe für die ungeheure Vermehrung mögen in der
Fachliteratur nachgelesen werden. Sie sind im wesentlichen an die
Strukturwandlungen der Wirtschaft geknüpft. Die Entwicklung zum modernen
Großbetrieb bei gleichzeitiger Veränderung seiner Organisationsform; das
Anschwellen des Verteilungsapparates; die Ausdehnung der Sozialversicherung und
der großen Verbände, die das Kollektivleben zahlreicher Gruppen regeln - das alles
hat, jedem Abbau zum Trotz, die Ziffern nach oben getrieben. Daß gerade so viele
Frauen in die Angestelltenberufe
geströmt sind, läßt sich noch im besonderen aus der Erhöhung des Frauenüberschusses, den wirtschaftlichen Folgen von Krieg
und Inflation und dem Bedürfnis der neuen Frauengeneration nach wirtschaftlicher Selbständigkeit erklären.
Der dialektische Umschlag der Quantität in die
Qualität ist nicht ausgeblieben. Oder inhaltlich ausgedrückt: die Qualität ist in
die Quantität umgeschlagen. Ursache dieses Umschlages ist die vielgenannte
Rationalisierung. Seit der Kapitalismus besteht,
ist innerhalb der ihm gezogenen Grenzen schon immer rationalisiert worden, aber
die Rationalisierungsperiode 1925 bis 1928 bezeichnet doch einen besonders
wichtigen Abschnitt. Sie hat das Eindringen der Maschine und der Methoden
des »fließenden Bandes« in die Angestelltensäle der Großbetriebe bewirkt. Durch
diese nach amerikanischem Muster vorgenommene Umstellung - sie ist noch lange
nicht abgeschlossen - erhalten große Teile der neuen Angestelltenmassen eine gegen
früher herabgeminderte Funktion im Arbeitsprozeß. Es gibt heute un- und angelernte
Angestellte in Menge, die eine mechanische Tätigkeit versehen. (In den seit kurzem
entstandenen Einheitspreisgeschäften etwa werden die Obliegenheiten der
Verkäuferin mechanisiert.) Aus den ehemaligen »Unteroffi-
zieren des Kapitals« ist ein stattliches Heer geworden, das in seinen
Reihen mehr und mehr Gemeine zählt, die untereinander austauschbar sind.
Kein Geringerer als Emil Lederer nennt es
»eine objektive Tatsache, wenn man behauptet, daß die Angestellten das Schicksal des
Proletariats teilen«. Ja, er wagt die Aussage: »…der gesellschaftliche Raum, in dem
wir noch die moderne Sklaverei finden..., ist heute nicht mehr der Betrieb, in
welchem die große Masse der Arbeiter arbeitet, sondern dieser soziale Raum ist das
Bureau«»Die
Umschichtung des Proletariats«, enthalten in dem vom Afa-Bund herausgegebenen Band
»Angestellte und Arbeiter«, Freier Volksverlag, Berlin 1928. Über das
Quantum der Sklaverei hier und dort läßt sich streiten, aber die Proletarisierung der
Angestellten ist nicht zu bezweifeln. Jedenfalls gelten für breite, im
Angestelltenverhältnis befindliche Schichten ähnliche soziale Bedingungen wie für das
eigentliche Proletariat. Es hat sich eine industrielle Reservearmee der Angestellten
gebildet. Der Auffassung, daß sie eine vorübergehende Erscheinung sei, steht die
andere gegenüber, daß sie erst mit dem System abgerüstet werden könne, durch das sie
heraufbeschworen worden ist - eine Diskussion, von der noch zu reden sein wird.
Ferner ist die Existenzunsicherheit gewachsen und die Aussicht auf Unabhängigkeit
nahezu völlig geschwunden. Kann danach der Glaube aufrechterhalten werden, daß die
Angestelltenschaft so etwas wie ein »neuer Mittelstand« sei? Man wird sehen, daß die
für Angestellte produzierten Illusionen auf reichliche Nachfrage stoßen.
Immerhin ist der Wirklichkeitssinn der Angestellten durch ihre gedrückte materielle
Lage geschärft worden. Durchschnittsgehälter, die für Ausgelernte bei unter 150 Mark
anheben und für berufsältere Kräfte in gehobenen Stellungen kaum je 500 Mark
erreichen, nötigen sie dazu, sich mindestens in ökonomischer Hinsicht als
Arbeitnehmer zu fühlen. Das Einkommen der weiblichen Angestellten ist übrigens in der
Regel 10 bis 15 Prozent niedriger. In dem Kampf um bessere Arbeitsbedingungen haben
sich gegen 30 Prozent der Angestellten gewerkschaftlich organisiert. Die drei
Spitzenverbände sind: der Allgemeine Freie Angestelltenbund (Afa-Bund) mit über 400 000 Mitgliedern. Ihm angeschlossen: der Zentralverband der
Angestellten (Z. d. A.), der Deutsche Werkmeisterverband, der Bund der technischen
Angestellten und Beamten (Butab), der Allgemeine Verband der Deutschen
Bankangestellten; ferner seemännische Verbände und beinahe alle Gewerkschaften der
Künstler. Ein Organisationsvertrag
regelt die Beziehung des freigewerklichen Afa-Bundes zum Allgemeinen Deutschen
Gewerkschaftsbund; politisch ist er mit der Sozial-demokratischen Partei verwachsen.
Er erstrebt den Ausbau der sozialpolitischen Gesetzgebung und die Überführung des
kapitalistischen Systems in die vergesellschaftete Wirtschaft.
Der Gewerkschaftsbund der Angestellten (G. d. A.). Er ist ein Einheitsverband, der
Angestellte aller Berufe umfaßt; in der Hauptsache kaufmännische und
Büro-Angestellte. Zusammen mit dem Deutschen Bankbeamtenverein und dem Allgemeinen
Verband der Versicherungsangestellten, mit denen er in dem die Hirsch-Dunckerschen
Gewerkvereine einbegreifenden Deutschen Gewerkschaftsring organisiert ist, bildet er
die 376 000 Mitglieder umfassende »freiheitlich-nationale« Gruppe der
Angestelltenbewegung. Seine Haltung ist in ihren Grundzügen demokratisch.
Gewerkschaftspolitisch stimmt er weitgehend mit dem Afa-Bund überein.
Der Gesamtverband Deutscher Angestelltengewerkschaften (Gedag) mit über 400 000
Mitgliedern. Seine wichtigsten Verbände sind der Deutschnationale
Handlungsgehilfen-Verband (D. H. V.) und der Verband der weiblichen Handels- und
Büroangestellten. Der Gedag gehört zum christlich-nationalen Flügel der
Gewerkschaften. Er ist ein Gegner des Sozialismus und mit Antisemitismus behaftet. Sein oft radikales
gewerkschaftliches Vorgehen in Tarifverhandlungen läßt sich mit seiner
bürgerlich-ständischen Ideologie schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen.
Außerdem ist noch ein Reichsbund Deutscher Angestellten-Berufsverbände (mit 60 000
Mitgliedern) vorhanden, der sich dem Reichsausschuß werksgemeinschaftlicher Verbände
anschließt. Nicht unwichtig zu erwähnen, daß sich die Vereinigung der
leitenden Angestellten (Vela) von der gewerkschaftlichen Betätigung zurückhält. Sie
genügt sich mit der Krankenhilfe, einer Sterbekasse und allgemeiner
Interessenvertretung.
Das sind ein paar Tatsachen. Sie umreißen notdürftig das Gebiet, in das diese kleine
Expedition gehen soll, die vielleicht
abenteuerlicher als eine Filmreise nach Afrika ist. Denn indem sie die Angestellten
aufsucht, führt sie zugleich ins Innere der modernen Großstadt. Sombart
hat einmal bemerkt, daß unsere großen deutschen Städte heute keine Industriestädte,
sondern Angestellten- und Beamtenstädte seien. Wenn das von einer Stadt gilt, so von
Berlin. Hier ist der wirtschaftliche
Prozeß, der die Angestelltenmassen aus sich herausgesetzt hat, am weitesten gediehen;
hier finden die entscheidenden praktischen und ideologischen Auseinandersetzungen
statt; hier wird besonders auffällig die Gestalt des öffentlichen Lebens von den
Bedürfnissen der Angestellten und denen bestimmt, die ihrerseits diese Bedürfnisse
bestimmen möchten. Berlin ist heute die Stadt der ausgesprochenen Angestelltenkultur;
das heißt einer Kultur, die von Angestellten für Angestellte gemacht und von den
meisten Angestellten für eine Kultur gehalten wird. Nur in Berlin, wo die Bindungen an Herkunft und Scholle so weit
zurückgedrängt sind, daß das Weekend große Mode werden kann, ist die Wirklichkeit der Angestellten zu erfassen. Sie
ist auch ein gut Teil von der Wirklichkeit Berlins.
Ergibt sich diese Wirklichkeit der üblichen Reportage? Seit mehreren Jahren genießt in
Deutschland die Reportage die
Meistbegünstigung unter allen Darstellungsarten, da nur sie, so meint man, sich
des ungestellten Lebens bemächtigen könne. Die Dichter kennen kaum einen
höheren Ehrgeiz, als zu berichten; die Reproduktion des Beobachteten ist Trumpf. Ein
Hunger nach Unmittelbarkeit, der ohne Zweifel die Folge der Unterernährung durch den
deutschen Idealismus ist. Der Abstraktheit
des idealistischen Denkens, das sich durch keine Vermittlung der Realität zu nähern
weiß, wird die Reportage als die Selbstanzeige konkreten Daseins entgegengesetzt.
Aber das Dasein ist nicht dadurch gebannt, daß man es in einer Reportage bestenfalls noch einmal hat. Sie ist
ein legitimer Gegenschlag gegen den Idealismus gewesen; mehr nicht. Denn sie verliert sich nur in dem Leben,
das dieser nicht finden kann, das ihm und ihr gleich unnahbar ist. Hundert Berichte
aus einer Fabrik lassen sich nicht zur Wirklichkeit der Fabrik addieren, sondern
bleiben bis in alle Ewigkeit hundert Fabrikansichten. Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben
beobachtet werden, damit sie erstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder
minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie
einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der
Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird. Die Reportage
photographiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild.