Bruchstück einer Hysterieanalyse (1905 [1901]): Twilight Zones Edition Freud Sigmund TEI encoding Schöfberger, Riccardo data modeling Scholger, Martina text compilation, text analysis Knaller, Susanne text compilation, text analysis Moebius, Stephan text editing, text correction Huber, Mario text editing, text correction Pachner, Marie-Therese digital implementation Stüger, Marie Twilight Zones Knaller, Susanne Moebius, Stephan Scholger, Martina Zentrum für Informationsmodellierung - Austrian Centre for Digital Humanities, Karl-Franzens-Universität Graz GAMS - Geisteswissenschaftliches Asset Management System 2020 Graz o:liminal.freud.1980 context:liminal.texts Bruchstück einer Hysterieanalyse (1905 [1901]) <title type="main">Freud-Studienausgabe In 10 Bänden plus Ergänzungsband Freud Sigmund Mitscherlich Alexander 1980 Frankfurt am Main Fischer Freud, Sigmund. Bruchstück einer Hysterie-Analyse. Berlin: Karger, 1905. Domains sciences everyday culture gender Frame family and school body and psyche Genre chronicle Mode narrative anecdotal autobiographical montage Transgression literature/science German Basic TEI encoding TEI encoding Terms Genre novella miscellaneous confessions dream Emotions emotion types love shame feeling disgust fear jealeousy revenge description and paraphrase of emotions Tools language Body and Psyche desease psyche Frame and Location private and institutional spaces family Fields sciences natural sciences arts literat Techniques Styles discursive Intertextual Patterns quotes names notions works Concepts Author Roles healer Body and Psyche Values truth Perception observative Me/We-Relation experience autographical gender Frame and Location family body and psyche
I DER KRANKHEITSZUSTAND

Nachdem ich in meiner 1900 veröffentlichten Traumdeutung nachgewiesen habe, daß Träume im allgemeinen deutbar sind und daß sie nach vollendeter Deutungsarbeit sich durch tadellos gebildete, an bekannter Stelle in den seelischen Zusammenhang einfügbare Gedanken ersetzen lassen, möchte ich auf den nachfolgenden Seiten ein Beispiel von jener einzigen praktischen Verwendung geben, welche die Kunst des Traumdeutens zuzulassen scheint. Ich habe schon in meinem BucheDie Traumdeutung (1900a), II. Kapitel [einige Seiten nach dem Kapitelanfang] erwähnt, auf welche Weise ich an die Traumprobleme geraten bin. Ich fand sie auf meinem Wege, während ich Psychoneurosen durch ein besonderes Verfahren der Psychotherapie zu heilen bemüht war, indem mir die Kranken unter anderen Vorfällen aus ihrem Seelenleben auch Träume berichteten, welche nach Einreihung in den lange ausgesponnenen Zusammenhang zwischen Leidenssymptom und pathogener Idee zu verlangen schienen. Ich erlernte damals, wie man aus der Sprache des Traumes in die ohne weitere Nachhilfe verständliche Ausdrucksweise unserer Denksprache übersetzen muß. Diese Kenntnis, darf ich behaupten, ist für den Psychoanalytiker unentbehrlich, denn der Traum stellt einen der Wege dar, wie dasjenige psychische Material zum Bewußtsein gelangen kann, welches kraft des Widerstrebens, das sein Inhalt rege macht, vom Bewußtsein abgesperrt, verdrängt und somit pathogen geworden ist. Der Traum ist, kürzer gesagt, einer der Umwege zur Umgebung der Verdrängung, eines der Hauptmittel der sogenannten indirekten Darstellungsweise im Psychischen. Wie die Traumdeutung in die Arbeit der Analyse eingreift, soll nun das vorliegende Bruchstück aus der Behandlungsgeschichte eines hysterischen Mädchens dartun. Es soll mir gleichzeitig Anlaß bieten, von meinen Ansichten über die psychischen Vorgänge und über die organischen Bedingungen der Hysterie zum ersten Male in nicht mehr mißverständlicher Breite einen Anteil öffentlich zu vertreten. Der Breite wegen brauche ich mich wohl nicht mehr zu entschuldigen, seitdem es zugegeben wird, daß man nur durch liebevollste Vertiefung, aber nicht durch vornehmtuende Geringschät- zung den großen Ansprüchen nachkommen kann, welche die Hysterie an den Arzt und Forscher stellt. Freilich:

»Nicht Kunst und Wissenschaft allein,

Geduld will bei dem Werke sein!«[Faust, I. Teil, 6. Szene.]

Eine lückenlose und abgerundete Krankengeschichte voranschicken, hieße den Leser von vornherein unter ganz andere Bedingungen versetzen, als die des ärztlichen Beobachters waren. Was die Angehörigen des Kranken - in diesem Falle der Vater des 18jährigen Mädchens - berichten, gibt zumeist ein sehr unkenntliches Bild des Krankheitsverlaufs. Ich beginne dann zwar die Behandlung mit der Aufforderung, mir die ganze Lebens- und Krankheitsgeschichte zu erzählen, aber was ich darauf zu hören bekomme, ist zur Orientierung noch immer nicht genügend. Diese erste Erzählung ist einem nicht schiffbaren Strom vergleichbar, dessen Bett bald durch Felsmassen verlegt, bald durch Sandbänke zerteilt und untief gemacht wird. Ich kann mich nur verwundern, wie die glatten und exakten Krankengeschichten Hysterischer bei den Autoren entstanden sind. In Wirklichkeit sind die Kranken unfähig, derartige Berichte über sich zu geben. Sie können zwar über diese oder jene Lebenszeit den Arzt ausreichend und zusammenhängend informieren, dann folgt aber eine andere Periode, in der ihre Auskünfte seicht werden, Lücken und Rätsel lassen, und ein andermal steht man wieder vor ganz dunkeln, durch keine brauchbare Mitteilung erhellten Zeiten. Die Zusammenhänge, auch die scheinbaren, sind meist zerrissen, die Aufeinanderfolge verschiedener Begebenheiten unsicher; während der Erzählung selbst korrigiert die Kranke wiederholt eine Angabe, ein Datum, um dann nach längerem Schwanken etwa wieder auf die erste Aussage zurückzugreifen. Die Unfähigkeit der Kranken zur geordneten Darstellung ihrer Lebensgeschichte, soweit sie mit der Krankheitsgeschichte zusammenfällt, ist nicht nur charakteristisch für die NeuroseEinst übergab mir ein Kollege seine Schwester zur psychotherapeutischen Behandlung, die, wie er sagte, seit Jahren erfolglos wegen Hysterie (Schmerzen und Gangstörung) behandelt worden sei. Die kurze Information schien mit der Diagnose gut vereinbar; ich ließ mir in einer ersten Stunde von der Kranken selbst ihre Geschichte erzählen. Als diese Erzählung trotz der merkwürdigen Begebenheiten, auf die sie anspielte, vollkommen klar und ordentlich ausfiel, sagte ich mir, der Fall könne keine Hysterie sein, und stellte unmittelbar darauf eine sorgfältige körperliche Untersuchung an. Das Ergebnis war die Diagnose einer mäßig vorgeschrittenen Tabes, die dann auch durch Hg-Injektionen (Ol. cinereum, von Prof. Lang ausgeführt) eine erhebliche Besserung erfuhr., sie entbehrt auch nicht einer großen theoretischen Bedeutsamkeit. Dieser Mangel hat nämlich folgende Begründungen: Erstens hält die Kranke einen Teil dessen, was ihr wohlbekannt ist und was sie erzählen sollte, bewußt und absichtlich aus den noch nicht überwundenen Motiven der Scheu und Scham (Diskretion, wenn andere Personen in Betracht kommen) zurück; dies wäre der Anteil der bewußten Unaufrichtigkeit. Zweitens bleibt ein Teil ihres anamnestischen Wissens, über welchen die Kranke sonst verfügt, während dieser Erzählung aus, ohne daß die Kranke einen Vorsatz auf diese Zurückhaltung verwendet: Anteil der unbewußten Unaufrichtigkeit. Drittens fehlt es nie an wirklichen Amnesien, Gedächtnislücken, in welche nicht nur alte, sondern selbst ganz rezente Erinnerungen hineingeraten sind, und an Erinnerungstäuschungen, welche sekundär zur Ausfüllung dieser Lücken gebildet wurdenAmnesien und Erinnerungstäuschungen stehen im komplementären Verhältnis zueinander. Wo sich große Erinnerungslücken ergeben, wird man auf wenig Erinnerungstäuschungen stoßen. Umgekehrt können letztere das Vorhandensein von Amnesien für den ersten Anschein völlig verdecken.. Wo die Begebenheiten selbst dem Gedächtnis erhalten geblieben, da wird die den Amnesien zugrunde liegende Absicht ebenso sicher durch Aufhebung eines Zusammenhanges erreicht, und der Zusammenhang wird am sichersten zerrissen, wenn die Zeitfolge der Begebenheiten verändert wird. Letztere erweist sich auch stets als der vulnerabelste, der Verdrängung am ehesten unterliegende Bestandteil des Erinnerungsschatzes. Manche Erinnerungen trifft man sozusagen in einem ersten Stadium der Verdrängung, sie zeigen sich mit Zweifel behaftet. Eine gewisse Zeit später wäre dieser Zweifel durch Vergessen oder Fehlerinnern ersetztBei zweifelnder Darstellung, lehrt eine durch Erfahrung gewonnene Regel, sehe man von dieser Urteilsäußerung des Erzählers völlig ab. Bei zwischen zwei Gestaltungen schwankender Darstellung halte man eher die erst geäußerte für richtig, die zweite für ein Produkt der Verdrängung. [Vgl. eine Erörterung über Zweifel im Zusammenhang mit Träumen in Die Traumdeutung (VII. Kapitel, ziemlich zu Anfang des Abschnitts A). Uber den ganz anderen Mechanismus des Zweifels in der Zwangsneurose s. die Fallstudie des »Rattenmannes« (1909 d, Teil II, Abschnitt C)..

Ein solcher Zustand der auf die Krankheitsgeschichte bezüglichen Erinnerungen ist das notwendige, theoretisch geforderte Korrelat der Krankheitssymptome. Im Verlaufe der Behandlung trägt dann der Kranke nach, was er zurückgehalten oder was ihm nicht eingefallen ist, obwohl er es immer gewußt hat. Die Erinnerungstäuschungen erweisen sich als unhaltbar, die Lücken der Erinnerung werden ausgefüllt. Gegen Ende der Behandlung erst kann man eine in sich konsequente, verständ- liche und lückenlose Krankengeschichte überblicken. Wenn das praktische Ziel der Behandlung dahin geht, alle möglichen Symptome aufzuheben und durch bewußte Gedanken zu ersetzen, so kann man als ein anderes, theoretisches Ziel die Aufgabe aufstellen, alle Gedächtnisschäden des Kranken zu heilen. Die beiden Ziele fallen zusammen; wenn das eine erreicht ist, ist auch das andere gewonnen; der nämliche Weg führt zu beiden.

Aus der Natur der Dinge, welche das Material der Psychoanalyse bilden, folgt, daß wir in unseren Krankengeschichten den rein menschlichen und sozialen Verhältnissen der Kranken ebensoviel Aufmerksamkeit schuldig sind wie den somatischen Daten und den Krankheitssymptomen. Vor allem anderen wird sich unser Interesse den Familienverhältnissen der Kranken zuwenden, und zwar, wie sich ergeben wird, auch anderer Beziehungen wegen als nur mit Rücksicht auf die zu erforschende Heredität.

Der Familienkreis der 18jährigen Patientin umfaßte außer ihrer Person das Elternpaar und einen um 1 1/2 Jahre älteren Bruder. Die dominierende Person war der Vater, sowohl durch seine Intelligenz und Charaktereigenschaften wie durch seine Lebensumstände, welche das Gerüst für die Kindheits- und Krankengeschichte der Patientin abgeben. Er war zur Zeit, als ich das Mädchen in Behandlung nahm, ein Mann in der zweiten Hälfte der Vierzigerjahre, von nicht ganz gewöhnlicher Rührigkeit und Begabung, Großindustrieller in sehr behäbiger materieller Situation. Die Tochter hing an ihm mit besonderer Zärtlichkeit, und ihre frühzeitig erwachte Kritik nahm um so stärkeren Anstoß an manchen seiner Handlungen und Eigentümlichkeiten.

Diese Zärtlichkeit war überdies durch die vielen und schweren Erkrankungen gesteigert worden, denen der Vater seit ihrem sechsten Lebensjahr unterlegen war. Damals wurde seine Erkrankung an Tuberkulose der Anlaß zur Übersiedlung der Familie in eine kleine, klimatisch begünstigte Stadt unserer südlichen Provinzen; das Lungenleiden besserte sich daselbst rasch, doch blieb der für nötig gehaltenen Schonung zuliebe dieser Ort, den ich mit B. bezeichnen werde, für die nächsten zehn Jahre ungefähr der vorwiegende Aufenthalt sowohl der Eltern wie auch der Kinder. Der Vater war, wenn es ihm gut ging, zeitweilig abwesend, um seine Fabriken zu besuchen; im Hochsommer wurde ein Höhenkurort aufgesucht.

Als das Mädchen etwa zehn Jahre alt war, machte eine Netzhautablö- sung beim Vater eine Dunkelkur notwendig. Bleibende Einschränkung des Sehvermögens war die Folge dieses Krankheitszufalles. Die ernsteste Erkrankung ereignete sich etwa zwei Jahre später; sie bestand in einem Anfalle von Verworrenheit, an den sich Lähmungserscheinungen und leichte psychische Störungen anschlossen. Ein Freund des Kranken, dessen Rolle uns noch später beschäftigen wird [s. S. 106, Anm. 3], bewog damals den nur wenig Gebesserten, mit seinem Arzte nach Wien zu reisen, um meinen Rat einzuholen. Ich schwankte eine Weile, ob ich nicht bei ihm eine Taboparalyse annehmen sollte, entschloß mich aber dann zur Diagnose diffuser vaskulärer Affektion und ließ, nachdem eine spezifische Infektion vor der Ehe vom Kranken zugestanden war, eine energische antiluetische Kur vornehmen, infolge deren sich alle noch vorhandenen Störungen zurückbildeten. Diesem glücklichen Eingreifen verdankte ich wohl, daß mir der Vater vier Jahre später seine deutlich neurotisch gewordene Tochter vorstellte und nach weiteren zwei Jahren zur psychotherapeutischen Behandlung übergab.

Ich hatte unterdes auch eine wenig ältere Schwester des Patienten in Wien kennengelernt, bei der man eine schwere Form von Psychoneurose ohne charakteristisch-hysterische Symptome anerkennen mußte. Diese Frau starb nach einem von einer unglücklichen Ehe erfüllten Leben unter den eigentlich nicht voll aufgeklärten Erscheinungen eines rapid fortschreitenden Marasmus.

Ein älterer Bruder des Patienten, den ich gelegentlich zu Gesichte bekam, war ein hypochondrischer Junggeselle.

Das Mädchen, das im Alter von 18 Jahren meine Patientin wurde, hatte von jeher mit seinen Sympathien auf Seite der väterlichen Familie gestanden und, seitdem sie erkrankt war, ihr Vorbild in der erwähnten Tante gesehen. Es war auch mir nicht zweifelhaft, daß sie sowohl mit ihrer Begabung und intellektuellen Frühreife als auch mit ihrer Krankheitsveranlagung dieser Familie angehörte. Die Mutter habe ich nicht kennengelernt. Nach den Mitteilungen des Vaters und des Mädchens mußte ich mir die Vorstellung machen, sie sei eine wenig gebildete, vor allem aber unkluge Frau, die besonders seit der Erkrankung und der ihr folgenden Entfremdung ihres Mannes alle ihre Interessen auf die Hauswirtschaft konzentriere und so das Bild dessen biete, was man die »Hausfrauenpsychose« nennen kann. Ohne Verständnis für die regeren Interessen ihrer Kinder, war sie den ganzen Tag mit Reinmachen und Reinhalten der Wohnung, Möbel und Gerätschaften in einem Maße beschäftigt, welches Gebrauch und Genuß derselben fast unmöglich machte.

Man kann nicht umhin, diesen Zustand, von dem sich Andeutungen häufig genug bei normalen Hausfrauen finden, den Formen von Wasch- und anderem Reinlichkeitszwang an die Seite zu stellen; doch fehlt es bei solchen Frauen, wie auch bei der Mutter unserer Patientin, völlig an der Krankheitserkenntnis und somit an einem wesentlichen Merkmal der »Zwangsneurose«. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter war seit Jahren ein sehr unfreundliches. Die Tochter übersah die Mutter, kritisierte sie hart und hatte sich ihrem Einfluß völlig entzogenIch stehe zwar nicht auf dem Standpunkte, die einzige Ätiologie der Hysterie sei die Heredität, möchte aber gerade mit Hinblick auf frühere Publikationen (»L’hérédité et l’étiologie des névroses«, 1896 a), in denen ich den obigen Satz bekämpfe, nicht den Anschein erwecken, als unterschätzte ich die Heredität in der Ätiologie der Hysterie oder hielte sie überhaupt für entbehrlich. Für den Fall unserer Patientin ergibt sich eine genügende Krankheitsbelastung aus dem über den Vater und dessen Geschwister Mitgeteilten; ja, wer der Anschauung ist, daß auch Krankheitszustände wie der der Mutter ohne hereditäre Disposition unmöglich sind, wird die Heredität dieses Falles für eine konvergente erklären können. Mir erscheint für die hereditäre oder besser konstitutionelle Disposition des Mädchens ein anderes Moment bedeutsamer. Ich habe erwähnt, daß der Vater vor der Ehe Syphilis überstanden hatte. Nun stammt ein auffällig großer Prozentsatz meiner psychoanalytisch behandelten Kranken von Vätern ab, die an Tabes oder an Paralyse gelitten haben. Infolge der Neuheit meines therapeutischen Verfahrens fallen mir nur die schwersten Fälle zu, die bereits jahrelang ohne jeglichen Erfolg behandelt worden sind. Tabes oder Paralyse des Erzeugers darf man als Anhänger der Erb-Fournierschen Lehre als Hinweise auf eine stattgehabte luetische Infektion aufnehmen, welche in einer Anzahl von Fällen bei diesen Vätern auch von mir direkt festgestellt worden ist. In der letzten Diskussion über die Nachkommenschaft Syphilitischer (XIII. Internat. Medizin. Kongreß zu Paris, 2.-9. August 1900, Referate von Finger, Tarnowsky, Jullien u. a.) vermisse ich die Erwähnung der Tatsache, zu deren Anerkennung mich meine Erfahrung als Ncuropathologe drängt, daß Syphilis der Erzeuger als Ätiologie für die neuropathische Konstitution der Kinder sehr wohl in Betracht kommt..

Der einzige, um 1 1/2 Jahre ältere Bruder des Mädchens war ihr in früheren Jahren das Vorbild gewesen, dem ihr Ehrgeiz nachgestrebt hatte. Die Beziehungen der beiden Geschwister hatten sich in den letzten Jahren gelockert. Der junge Mann suchte sich den Familienwirren möglichst zu entziehen; wo er Partei nehmen mußte, stand er auf seiten der Mutter. So hatte die gewöhnliche sexuelle Attraktion Vater und Tochter einerseits, Mutter und Sohn anderseits einander näher gebracht.

Unsere Patientin, der ich fortan ihren Namen Dora geben will, zeigte schon im Alter von acht Jahren nervöse Symptome. Sie erkrankte damals an permanenter, anfallsweise sehr gesteigerter Atemnot, die zuerst nach einer kleinen Bergpartie auftrat und darum auf Überanstrengung bezogen wurde. Der Zustand klang im Laufe eines halben Jahres langsam unter der ihr aufgenötigten Ruhe und Schonung ab. Der Hausarzt der Familie scheint bei der Diagnose einer rein nervösen Störung und beim Ausschluß einer organischen Verursachung der Dyspnoe keinen Moment geschwankt zu haben, aber er hielt offenbar solche Diagnose für vereinbar mit der Ätiologie der ÜberanstrengungÜber den wahrscheinlichen Anlaß dieser ersten Erkrankung s. weiter unten [S. 150]..

Die Kleine machte die gewöhnlichen Kinderinfektionskrankheiten ohne bleibende Schädigung durch. Wie sie (in symbolisierender Absicht! [vgl. S. 151, Anm.]) erzählte, machte gewöhnlich der Bruder den Anfang mit der Erkrankung, die er im leichten Grade hatte, worauf sie mit schweren Erscheinungen nachfolgte. Gegen das Alter von 12 Jahren traten migräneartige halbseitige Kopfschmerzen und Anfälle von nervösem Husten bei ihr auf, anfangs jedesmal miteinander, bis sich die beiden Symptome voneinander lösten, um eine verschiedene Entwicklung zu erfahren. Die Migräne wurde seltener und war mit 16 Jahren überwunden. Die Anfälle von tussis nervosa, zu denen ein gemeiner Katarrh wohl den Anstoß gegeben hatte, hielten die ganze Zeit über an. Als sie mit 18 Jahren in meine Behandlung kam, hustete sie neuerdings in charakteristischer Weise. Die Anzahl dieser Anfälle war nicht festzustellen, die Dauer derselben betrug drei bis fünf Wochen, einmal auch mehrere Monate. In der ersten Hälfte eines solchen Anfalles war wenigstens in den letzten Jahren komplette Stimmlosigkeit das lästigste Symptom gewesen. Die Diagnose, daß es sich wieder um Nervosität handle, stand längst fest; die mannigfachen gebräuchlichen Behandlungen, auch Hydrotherapie und lokale Elektrisierung, blieben ohne Erfolg. Das unter diesen Zuständen zum reifen, im Urteil sehr selbständigen Mädchen herangewachsene Kind gewöhnte sich daran, der Bemühungen der Ärzte zu spotten und zuletzt auf ärztliche Hilfe zu verzichten. Sie hatte sich übrigens von jeher gesträubt, den Arzt zu Rate zu ziehen, obwohl sie gegen die Person ihres Hausarztes keine Abneigung hatte. Jeder Vorschlag, einen neuen Arzt zu konsultieren, erregte ihren Widerstand, und auch zu mir trieb sie erst das Machtwort des Vaters.

Ich sah sie zuerst im Frühsommer ihres 16. Jahres mit Husten und Heiserkeit behaftet und schlug schon damals eine psychische Kur vor, von der dann Abstand genommen wurde, als auch dieser länger dauernde Anfall spontan verging. Im Winter des nächsten Jahres war sie nach dem Tode ihrer geliebten Tante in Wien im Hause des Onkels und seiner Töchter und erkrankte hier fieberhaft an einem Zustand, der damals als Blinddarmentzündung diagnostiziert wurdeVgl. über denselben die Analyse des zweiten Traumes [S. 168].. In dem darauf folgenden Herbst verließ die Familie endgültig den Kurort B., da die Gesundheit des Vaters dies zu gestatten schien, nahm zuerst in dem Orte, wo sich die Fabrik des Vaters befand, und kaum ein Jahr später in Wien dauernden Aufenthalt.

Dora war unterdes zu einem blühenden Mädchen von intelligenten und gefälligen Gesichtszügen herangewachsen, das ihren Eltern aber schwere Sorge bereitete. Das Hauptzeichen ihres Krankseins war Verstimmung und Charakterveränderung geworden. Sie war offenbar weder mit sich noch mit den Ihrigen zufrieden, begegnete ihrem Vater unfreundlich und vertrug sich gar nicht mehr mit ihrer Mutter, die sie durchaus zur Teilnahme an der Wirtschaft heranziehen wollte. Verkehr suchte sie zu vermeiden; soweit die Müdigkeit und Zerstreutheit, über die sie klagte, es zuließen, beschäftigte sie sich mit dem Anhören von Vorträgen für Damen und trieb ernstere Studien. Eines Tages wurden die Eltern in Schreck versetzt durch einen Brief, den sie auf oder in dem Schreibtisch des Mädchens fanden, in dem sie Abschied von ihnen nahm, weil sie das Leben nicht mehr ertragen könneDiese Kur und somit meine Einsicht in die Verkettungen der Krankengeschichte ist, wie ich bereits mitgeteilt habe, ein Bruchstück geblieben. Ich kann darum über manche Punkte keinen Aufschluß geben oder nur Andeutungen und Vermutungen verwerten. Als dieser Brief in einer Sitzung zur Sprache kam [S. 165 f.], fragte das Mädchen wie erstaunt: »Wie haben sie den Brief nur gefunden? Er war doch in meinem Schreibtische eingeschlossen.« Da sie aber wußte, daß die Eltern diesen Entwurf zu einem Abschiedsbrief gelesen hatten, so schließe ich, daß sie ihnen denselben selbst in die Hände gespielt.. Die nicht geringe Einsicht des Vaters ließ ihn zwar annehmen, daß kein ernsthafter Selbstmordvorsatz das Mädchen beherrsche, aber er blieb erschüttert, und als sich eines Tages nach einem geringfügigen Wortwechsel zwischen Vater und Tochter bei letzterer ein erster Anfall von BewußtlosigkeitIch glaube, daß in diesem Anfalle auch Krämpfe und Delirien zu beobachten waren. Da aber die Analyse auch zu diesem Ereignis nicht vorgedrungen ist, verfüge ich über keine gesicherte Erinnerung hierüber. einstellte, für den dann auch Amnesie bestand, wurde trotz ihres Sträubens bestimmt, daß sie in meine Behandlung treten solle.

Die Krankengeschichte, die hier bisher skizziert, erscheint wohl im ganzen nicht mitteilenswert. »Petite hystérie« mit den allergewöhnlichsten somatischen und psychischen Symptomen: Dyspnoe, tussis nervosa, Aphonie, etwa noch Migränen, dazu Verstimmung, hysterische Unverträglichkeit und ein wahrscheinlich nicht ernst gemeintes taedium vitae. Es sind gewiß interessantere Krankengeschichten von Hysterischen ver- öffentlicht worden und sehr oft sorgfältiger aufgenommene, denn auch von Stigmen der Hautempfindlichkeit, Gesichtsfeldeinschränkung u. dgl. wird man in der Fortsetzung nichts finden. Ich gestatte mir bloß die Bemerkung, daß uns alle Sammlungen von seltsamen und erstaunlichen Phänomenen bei Hysterie in der Erkenntnis dieser noch immer rätselhaften Erkrankung um nicht vieles gefördert haben. Was uns not tut, ist gerade die Aufklärung der allergewöhnlichsten Fälle und der allerhäufigsten, der typischen Symptome bei ihnen. Ich wäre zufrieden, wenn mir die Verhältnisse gestattet hätten, für diesen Fall kleiner Hysterie die Aufklärung vollständig zu geben. Nach meinen Erfahrungen an anderen Kranken zweifle ich nicht daran, daß meine analytischen Mittel dafür ausgereicht hätten.

Im Jahre 1896, kurz nach der Veröffentlichung meiner Studien über Hysterie [1895 d] mit Dr. J. Breuer bat ich einen hervorragenden Fachgenossen um sein Urteil über die darin vertretene psychologische Theorie der Hysterie. Er antwortete unumwunden, er halte sie für eine unberechtigte Verallgemeinerung von Schlüssen, die für einige wenige Fälle richtig sein mögen. Seither habe ich reichlich Fälle von Hysterie gesehen, habe mich einige Tage, Wochen oder Jahre mit jedem Falle beschäftigt, und in keinem einzigen Falle habe ich jene psychischen Bedingungen vermißt, welche die Studien postulieren, das psychische Trauma, den Konflikt der Affekte und, wie ich in späteren Publikationen hinzugefügt habe, die Ergriffenheit der Sexualsphäre. Man darf bei Dingen, welche durch ihr Bestreben, sich zu verbergen, pathogen geworden sind, freilich nicht erwarten, daß die Kranken sie dem Arzt entgegentragen werden, oder darf sich nicht bei dem ersten »Nein«, das sich der Forschung entgegensetzt, bescheidenHier ein Beispiel fürs letztere. Einer meiner Wiener Kollegen, dessen Überzeugung von der Belanglosigkeit sexueller Momente für die Hysterie durch solche Erfahrungen wahrscheinlich sehr gefestigt worden ist, entschloß sich bei einem 14jährigen Mädchen mit bedrohlichem hysterischen Erbrechen zur peinlichen Frage, ob sie vielleicht gar eine Liebesbeziehung gehabt hätte. Das Kind antwortete: Nein, wahrscheinlich mit gut gespieltem Erstaunen, und erzählte in seiner respektlosen Weise der Mutter: Denk’ dir, der dumme Kerl hat mich gar gefragt, ob ich verliebt bin. Es kam dann in meine Behandlung und enthüllte sich - freilich nicht gleich bei der ersten Unterredung - als eine langjährige Masturbantin mit starkem fluor albus (der viel Bezug auf das Erbrechen hatte), die sich endlich selbst entwöhnt hatte, in der Abstinenz aber von dem heftigsten Schuldgefühl gepeinigt wurde, so daß sie alle Unfälle, welche die Familie betrafen, als göttliche Strafe für ihre Versündigung ansah. Außerdem stand sie unter dem Einflüsse des Romans ihrer Tante, deren uneheliche Gravidität (mit zweiter Determination für das Eibrechen) ihr angeblich glücklich verheimlicht worden war. Sie galt als ein »ganzes Kind«, erwies sich aber als eingeweiht in alles Wesentliche der sexuellen Beziehungen..

Bei meiner Patientin Dora dankte ich es dem schon mehrmals hervorgehobenen Verständnis des Vaters, daß ich nicht selbst nach der Lebens- anknüpfung, wenigstens für die letzte Gestaltung der Krankheit, zu suchen brauchte. Der Vater berichtete mir, daß er wie seine Familie in B. intime Freundschaft mit einem Ehepaar geschlossen hätten, welches seit mehreren Jahren dort ansässig war. Frau K. habe ihn während seiner großen Krankheit gepflegt und sich dadurch einen unvergänglichen Anspruch auf seine Dankbarkeit erworben. Herr K. sei stets sehr liebenswürdig gegen seine Tochter Dora gewesen, habe Spaziergänge mit ihr unternommen, wenn er in B. anwesend war, ihr kleine Geschenke gemacht, doch hätte niemand etwas Arges daran gefunden. Dora habe die zwei kleinen Kinder des Ehepaares K. in der sorgsamsten Weise betreut, gleichsam Mutterstelle an ihnen vertreten. Als Vater und Tochter mich im Sommer vor zwei Jahren aufsuchten, waren sie eben auf der Reise zu Herrn und Frau K. begriffen, die Sommeraufenthalt an einem unserer Alpenseen genommen hatten. Dora sollte mehrere Wochen im Hause K. bleiben, der Vater wollte nach wenigen Tagen zurückreisen. Herr K. war in diesen Tagen auch zugegen. Als der Vater aber zur Abreise rüstete, erklärte das Mädchen plötzlich mit größter Entschiedenheit, sie reise mit, und sie hatte es auch so durchgesetzt. Einige Tage später gab sie erst die Aufklärung für ihr auffälliges Benehmen, indem sie der Mutter zur Weiterbeförderung an den Vater erzählte, Herr K. habe auf einem Spaziergang nach einer Seefahrt gewagt, ihr einen Liebesantrag zu machen. Der Beschuldigte, beim nächsten Zusammentreffen von Vater und Onkel zur Rede gestellt, leugnete aufs Nachdrücklichste jeden Schritt seinerseits, der solche Auslegung verdient hätte, und begann das Mädchen zu verdächtigen, das nach der Mitteilung der Frau K. nur für sexuelle Dinge Interesse zeige und in ihrem Hause am See selbst Mantegazzas Physiologie der Liebe und ähnliche Bücher gelesen habe. Wahrscheinlich habe sie, durch solche Lektüre erhitzt, sich die ganze Szene, von der sie erzählt, »eingebildet«.

»Ich bezweifle nicht«, sagte der Vater, »daß dieser Vorfall die Schuld an Doras Verstimmung, Gereiztheit und Selbstmordideen trägt. Sie verlangt von mir, daß ich den Verkehr mit Herrn und besonders mit Frau K., die sie früher geradezu verehrt hat, abbreche. Ich kann das aber nicht, denn erstens halte ich selbst die Erzählung Doras von der unsittlichen Zumutung des Mannes für eine Phantasie, die sich ihr auf- gedrängt hat, zweitens bin ich an Frau K. durch ehrliche Freundschaft gebunden und mag ihr nicht wehe tun. Die arme Frau ist sehr unglücklich mit ihrem Manne, von dem ich übrigens nicht die beste Meinung habe; sie war selbst sehr nervenleidend und hat an mir den einzigen Anhalt. Bei meinem Gesundheitszustand brauche ich Ihnen wohl nicht zu versichern, daß hinter diesem Verhältnis nichts Unerlaubtes steckt. Wir sind zwei arme Menschen, die einander, so gut es geht, durch freundschaftliche Teilnahme trösten. Daß ich nichts an meiner eigenen Frau habe, ist Ihnen bekannt. Dora aber, die meinen harten Kopf hat, ist von ihrem Haß gegen die K. nicht abzubringen. Ihr letzter Anfall war nach einem Gespräch, in dem sie wiederum dieselbe Forderung an mich stellte. Suchen Sie sie jetzt auf bessere Wege zu bringen.«

Nicht ganz im Einklang mit diesen Eröffnungen stand es, daß der Vater in anderen Reden die Hauptschuld an dem unerträglichen Wesen seiner Tochter auf die Mutter zu schieben suchte, deren Eigenheiten allen das Haus verleideten. Ich hatte mir aber längst vorgenommen, mein Urteil über den wirklichen Sachverhalt aufzuschieben, bis ich auch den anderen Teil gehört hätte.

In dem Erlebnis mit Herrn K. - in der Liebeswerbung und der darauffolgenden Ehrenkränkung - wäre also für unsere Patientin Dora das psychische Trauma gegeben, welches seinerzeit Breuer und ich als unerläßliche Vorbedingung für die Entstehung eines hysterischen Krankheitszustandes hingestellt haben[S. den Vortrag »Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene« (1893 b), in diesem Band S. 13 ff.]. Dieser neue Fall zeigt aber auch alle die Schwierigkeiten, die mich seither veranlaßt haben, über diese Theorie hinauszugehenIch bin über diese Theorie hinausgegangen, ohne sie aufzugeben, d. h. ich erkläre sie heute nicht für unrichtig, sondern für unvollständig. Aufgegeben habe ich bloß die Betonung des sogenannten hypnoiden Zustandes, der aus Anlaß des Traumas bei dem Kranken auftreten und die Begründung für das weitere psychologisch abnorme Geschehen auf sich nehmen soll. Wenn es bei gemeinsamer Arbeit gestattet ist, nachträglich eine Eigentumsscheidung vorzunehmen, so möchte ich hier doch aussagen, daß die Aufstellung der »hypnoiden Zustände«, in welcher dann manche Referenten den Kern unserer Arbeit erkennen wollten, der ausschließlichen Initiative Breuers entsprungen ist. Ich halte es für überflüssig und irreleitend, die Kontinuität des Problems, worin der psychische Vorgang bei der hysterischen Symptombildung bestehe, durch diese Namengebung zu unterbrechen. [»Hypnoide Zustände« sind im Vortrag (1893 h) beschrieben; s. oben S. 15 und S. 23 f. Die theoretischen Meinungsverschiedenheiten zwischen Freud und Breuer sind in der »Editorischen Vorbemerkung« zum »Vortrag« (S. 12 oben) kurz skizziert.], vermehrt durch eine neue Schwierigkeit besonderer Art. Das uns bekannte Trauma der Lebensgeschichte ist nämlich, wie so oft in den hysterischen Krankengeschichten, untauglich, um die Eigenart der Symptome zu erklären, sie zu determinieren; wir würden ebensoviel oder ebensowenig vom Zusammenhang erfassen, wenn andere Symptome als tussis nervosa, Aphonie, Verstimmung und taedium vitae der Erfolg des Traumas gewesen wären. Nun kommt aber hinzu, daß ein Teil dieser Symptome - der Husten und die Stimmlosigkeit - schon Jahre vor dem Trauma von der Kranken produziert worden sind und daß die ersten Erscheinungen überhaupt der Kindheit angehören, da sie in das achte Lebensjahr fallen. Wir müssen also, wenn wir die traumatische Theorie nicht aufgeben wollen, bis auf die Kindheit zurückgreifen, um dort nach Einflüssen oder Eindrücken zu suchen, welche analog einem Trauma wirken können, und dann ist es recht bemerkenswert, daß mich auch die Untersuchung von Fällen, deren erste Symptome nicht bereits in der Kindheit einsetzten, zur Verfolgung der Lebensgeschichte bis in die ersten Kinderjahre angeregt hatVgl. meine Abhandlung: >Zur Ätiologie der Hysterie< (1896 c), [S. 64 ff. und S. 74 ff. des vorliegenden Bandes]..

Nachdem die ersten Schwierigkeiten der Kur überwunden waren, machte mir Dora Mitteilung von einem früheren Erlebnisse mit Herrn K., welches sogar besser geeignet war, als sexuelles Trauma zu wirken. Sie war damals 14 Jahre alt. Herr K. hatte mit ihr und seiner Frau verabredet, daß die Damen am Nachmittag in seinen Geschäftsladen auf dem Hauptplatz von B. kommen sollten, um von dort aus eine kirchliche Feierlichkeit mitanzusehen. Er bewog aber seine Frau, zu Hause zu bleiben, entließ die Kommis und war allein, als das Mädchen ins Geschäft trat. Als die Zeit der Prozession herannahte, ersuchte er das Mädchen, ihn bei der Türe, die aus dem Laden zur Treppe ins höhere Stockwerk führte, zu erwarten, während er die Rollbalken herunterließ. Er kam dann zurück, und anstatt durch die offene Türe hinauszugehen, preßte er plötzlich das Mädchen an sich und drückte ihm einen Kuß auf die Lippen. Das war wohl die Situation, um bei einem 14jährigen unberührten Mädchen eine deutliche Empfindung sexueller Erregtheit hervorzurufen. Dora empfand aber in diesem Moment einen heftigen Ekel, riß sich los und eilte an dem Manne vorbei zur Treppe und von dort zum Haustor. Der Verkehr mit Herrn K. dauerte nichtsdestoweniger fort; keiner von ihnen tat dieser kleinen Szene je Erwähnung, auch will sie dieselbe bis zur Beichte in der Kur als Geheimnis bewahrt haben. In der nächsten Zeit vermied sie übrigens die Gelegenheit, mit Herrn K. allein zu sein. Das Ehepaar K. hatte damals einen mehrtägigen Ausflug verabredet, an dem auch Dora teilnehmen sollte. Nach dem Kuß im Laden sagte sie ihre Beteiligung ab, ohne Gründe anzugeben.

In dieser, der Reihe nach zweiten, der Zeit nach früheren Szene ist das Benehmen des 14jährigen Kindes bereits ganz und voll hysterisch. Jede Person, bei welcher ein Anlaß zur sexuellen Erregung überwiegend oder ausschließlich Unlustgefühle hervorruft, würde ich unbedenklich für eine Hysterika halten, ob sie nun somatische Symptome zu erzeugen fähig sei oder nicht. Den Mechanismus dieser Affektverkehrung aufzuklären, bleibt eine der bedeutsamsten, gleichzeitig eine der schwierigsten Aufgaben der Neurosenpsychologie. Nach meinem eigenen Urteil bin ich noch ein gut Stück Weges von diesem Ziel entfernt; im Rahmen dieser Mitteilung werde ich aber auch von dem, was ich weiß, nur einen Teil Vorbringen können[Dies ist eines der Probleme, die ständig in Freuds Schriften wiederkehren. Ein neuer Lösungsvorschlag findet sich in Hemmung, Symptom und Angst (1926d); s. S. 237 des vorliegenden Bandes.].

Der Fall unserer Patientin Dora ist durch die Hervorhebung der Affektverkehrung noch nicht genügend charakterisiert; man muß außerdem sagen, hier hat eine Verschiebung der Empfindung stattgefunden. Anstatt der Genitalsensation, die bei einem gesunden Mädchen unter solchen UmständenDie Würdigung dieser Umstände wird durch eine spätere Aufklärung erleichtert werden. [Vgl. S. 153 f.] gewiß nicht gefehlt hätte, stellt sich bei ihr die Unlustempfindung ein, welche dem Schleimhauttrakt des Einganges in den Verdauungskanal zugehört, der Ekel. Gewiß hat auf diese Lokalisation die Lippenerregung durch den Kuß Einfluß genommen; ich glaube aber auch noch die Wirkung eines anderen Moments zu erkennenAkzidentelle Ursachen hatte der Ekel Doras bei diesem Kusse sicherlich nicht, diese wären unfehlbar erinnert und erwähnt worden. Ich kenne zufällig Herrn K.; es ist dieselbe Person, die den Vater der Patientin zu mir begleitet hat [S. 98], ein noch jugendlicher Mann von einnehmendem Äußern..

Der damals verspürte Ekel ist bei Dora nicht zum bleibenden Symptom geworden, auch zur Zeit der Behandlung war er nur gleichsam potentiell vorhanden. Sie aß schlecht und gestand eine gelinde Abneigung gegen Speisen zu. Dagegen hatte jene Szene eine andere Folge zurückgelassen, eine Empfindungshalluzination, die von Zeit zu Zeit auch während ihrer Erzählung wieder auftrat. Sie sagte, sie verspüre jetzt noch den Druck auf den Oberkörper von jener Umarmung. Nach gewissen Regeln der Symptombildung, die mir bekannt geworden sind, im Zusammenhalt mit anderen, sonst unerklärlichen Eigentümlichkeiten der Kranken, die z. B. an keinem Manne Vorbeigehen wollte, den sie in eifrigem oder zärtlichem Gespräch mit einer Dame stehen sah, habe ich mir von dem Hergang in jener Szene folgende Rekonstruktion geschaffen. Ich denke, sie verspürte in der stürmischen Umarmung nicht bloß den Kuß auf ihren Lippen, sondern auch das Andrängen des erigierten Gliedes gegen ihren Leib. Diese ihr anstößige Wahrnehmung wurde für die Erinnerung beseitigt, verdrängt und durch die harmlose Sensation des Druckes am Thorax ersetzt, die aus der verdrängten Quelle ihre übergroße Intensität bezieht. Eine neuerliche Verschiebung also vom Unterkörper auf den OberkörperSolche Verschiebungen werden nicht etwa zum Zwecke dieser einen Erklärung angenommen, sondern ergeben sich für eine große Reihe von Symptomen als unabweisbare Forderung. [Vgl. S. 152 Anm.] Ich habe seither von einer früher zärtlich verliebten Braut, die sich wegen plötzlicher Erkaltung gegen ihren Verlobten, die unter schwerer Verstimmung eintrat, an mich wendete, denselben Schreckeffekt einer Umarmung (ohne Kuß) vernommen. Hier gelang die Zurückführung des Schrecks auf die wahrgenommene, aber fürs Bewußtsein beseitigte Erektion des Mannes ohne weitere Schwierigkeit.. Der Zwang in ihrem Benehmen ist hingegen so gebildet, als ginge er von der unveränderten Erinnerung aus. Sie mag an keinem Manne, den sie in sexueller Erregung glaubt, Vorbeigehen, weil sie das somatische Zeichen derselben nicht wieder sehen will.

Es ist bemerkenswert, wie hier drei Symptome - der Ekel, die Drucksensation am Oberkörper und die Scheu vor Männern in zärtlichem Gespräch - aus einem Erlebnis hervorgehen und wie erst die Aufeinanderbeziehung dieser drei Zeichen das Verständnis für den Hergang der Symptombildung ermöglicht. Der Ekel entspricht dem Verdrängungssymptom von der erogenen (durch infantiles Lutschen, wie wir hören werden [S. 126], verwöhnten) Lippenzone[Die orale erogene Zone wird näher auf S. 126 beschrieben.. Das Andrängen des erigierten Gliedes hat wahrscheinlich die analoge Veränderung an dem entsprechenden weiblichen Organ, der Clitoris, zur Folge gehabt, und die Erregung dieser zweiten erogenen Zone ist durch Verschiebung auf die gleichzeitige Drucksensation am Thorax fixiert worden. Die Scheu vor Männern in möglicherweise sexuell erregtem Zustande folgt dem Mechanismus einer Phobie, um sich vor einer neuerlichen Wiederbelebung der verdrängten Wahrnehmung zu sichern.

Um die Möglichkeit dieser Ergänzung darzutun, habe ich in der vorsichtigsten Weise bei der Patientin angefragt, ob ihr von körperlichen Zeichen der Erregtheit am Leibe des Mannes etwas bekannt sei. Die Antwort lautete für heute: ja, für damals: sie glaube nicht. Ich habe bei dieser Patientin von Anfang an die größte Sorgfalt aufgewendet, um ihr keinen neuen Wissensstoff aus dem Gebiete des Geschlechtslebens zuzuführen, und dies nicht aus Gründen der Gewissenhaftigkeit, sondern weil ich meine Voraussetzungen an diesem Falle einer harten Probe unterziehen wollte. Ich nannte ein Ding also erst dann beim Namen, wenn ihre allzu deutlichen Anspielungen die Übersetzung ins Direkte als ein sehr geringfügiges Wagstück erscheinen ließen. Ihre prompte und ehrliche Antwort ging auch regelmäßig dahin, das sei ihr bereits bekannt, aber das Rätsel, woher sie es denn wisse, war durch ihre Erinnerungen nicht zu lösen. Die Herkunft all dieser Kenntnisse hatte sie vergessenVgl. den zweiten Traum. [S. 166 f. — S. auch S. 112, Anm., S. 135 und S. 184, Anm.].

Wenn ich mir die Szene des Kusses im Laden so vorstellen darf, so gelange ich zu folgender Ableitung für den EkelHier wie an allen ähnlichen Stellen mache man sich nicht auf einfache, sondern auf mehrfache Begründung, auf Überdeterminierung gefaßt. [Dieses Merkmal hysterischer Symptome wird in »Zur Ätiologie der Hysterie«, S. 76 oben, erwähnt.]. Die Ekelempfindung scheint ja ursprünglich die Reaktion auf den Geruch (später auch auf den Anblick) der Exkremente zu sein. An die exkrementellen Funktionen können die Genitalien und speziell das männliche Glied aber erinnern, weil hier das Organ außer der sexuellen auch der Funktion der Harnentleerung dient. Ja, diese Verrichtung ist die älter bekannte und die in der vorsexuellen Zeit einzig bekannte. So gelangt der Ekel unter die Affektäußerungen des Sexuallebens. Es ist das inter urinas et faeces nascimur des Kirchenvaters, welches dem Sexualleben anhaftet und aller idealisierenden Bemühung zum Trotze von ihm nicht abzulösen ist. Ich will es aber ausdrücklich als meinen Standpunkt hervorheben, daß ich das Problem durch den Nachweis dieses Assoziationsweges nicht für gelöst halte. Wenn diese Assoziation wachgerufen werden kann, so ist damit noch nicht erklärt, daß sie auch wachgerufen wird. Sie wird es nicht unter normalen Verhältnissen. Die Kenntnis der Wege macht die Kenntnis der Kräfte nicht überflüssig, welche diese Wege wandelnAn all diesen Erörterungen ist viel Typisches und für Hysterie allgemein Gültiges. Das Thema der Erektion löst einige der interessantesten unter den hysterischen Symptomen. Die weibliche Aufmerksamkeit für die durch die Kleider wahrnehmbaren Umrisse der männlichen Genitalien wird nach ihrer Verdrängung zum Motiv so vieler..

Es widersprach keineswegs meiner Erwartung, daß ich mit dieser Darlegung bei Dora den entschiedensten Widerspruch hervorrief. Das »Nein«, das man vom Patienten hört, nachdem man seiner bewußten Wahrnehmung zuerst den verdrängten Gedanken vorgelegt hat, konstatiert bloß die Verdrängung und deren Entschiedenheit, mißt gleichsam die Stärke derselben. Wenn man dieses Nein nicht als den Ausdrucke eines unparteiischen Urteils, dessen der Kranke ja nicht fähig ist, auffaßt, sondern darüber hinweggeht und die Arbeit fortsetzt, so stellen sich bald die ersten Beweise ein, daß Nein in solchem Falle das gewünschte Ja bedeutet. Sie gab zu, daß sie Herrn K. nicht in dem Maße böse sein könne, wie er es um sie verdient habe. Sie erzählte, daß sie eines Tages auf der Straße Herrn K. begegnet sei, während sie in Begleitung einer Kusine war, die ihn nicht kannte. Die Kusine rief plötzlich: »Dora, was ist dir denn? Du bist ja totenbleich geworden!« Sie hatte nichts von dieser Veränderung an sich gefühlt, mußte aber von mir hören, daß Mienenspiel und Affektausdruck eher dem Unbewußten gehorchen als dem Bewußten und für das erstere verräterisch seienVgl. »Ruhig mag ich Euch erscheinen, Ruhig gehen sehn.« [Diese Worte, in den bisherigen Ausgaben der »Dora« nicht ganz richtig zitiert, stammen aus Schillers Ballade »Ritter Toggenburg«; die äußerlich gleichgültig erscheinende, in Wirklichkeit aber liebende Dame richtet sie an den zum Kreuzzug aufbrechenden Ritter.]. Ein andermal kam sie nach mehreren Tagen gleichmäßig heiterer Stimmung in der bösesten Laune zu mir, für die sie eine Erklärung nicht wußte. Sie sei heute so zuwider, erklärte sie; es sei der Geburtstag des Onkels und sie bringe es nicht über sich, ihm zu gratulieren; sie wisse nicht, warum. Meine Deutungskunst war an dem Tage stumpf; ich ließ sie weitersprechen, und sie erinnerte sich plötzlich, daß heute ja auch Herr K. Geburtstag habe, was ich nicht versäumte, gegen sie zu verwerten. Es war dann auch nicht schwer zu erklären, warum die reichen Geschenke zu ihrem eigenen Geburtstage einige Tage vorher ihr keine Freude bereitet hatten. Es fehlte das eine Geschenk, das von Herrn K., welches ihr offenbar früher das wertvollste gewesen war.

Indes hielt sie noch längere Zeit an ihrem Widerspruche gegen meine Behauptung fest, bis gegen Ende der Analyse der entscheidende Beweis für deren Richtigkeit geliefert wurde [S. 173 f.].

Ich muß nun einer weiteren Komplikation gedenken, der ich gewiß keinen Raum gönnen würde, sollte ich als Dichter einen derartigen Seelenzustand für eine Novelle erfinden, anstatt ihn als Arzt zu zer- gliedern. Das Element, auf das ich jetzt hinweisen werde, kann den schönen, poesiegerechten Konflikt, den wir bei Dora annehmen dürfen, nur trüben und verwischen; es fiele mit Recht der Zensur des Dichters, der ja auch vereinfacht und abstrahiert, wo er als Psychologe auftritt, zum Opfer. In der Wirklichkeit aber, die ich hier zu schildern bemüht bin, ist die Komplikation der Motive, die Häufung und Zusammensetzung seelischer Regungen, kurz die Überdeterminierung Regel. Hinter dem überwertigen Gedankenzug, der sich mit dem Verhältnis des Vaters zu Frau K. beschäftigte, versteckte sich nämlich auch eine Eifersuchtsregung, deren Objekt diese Frau war - eine Regung also, die nur auf der Neigung zum gleichen Geschlecht beruhen konnte. Es ist längst bekannt und vielfach hervorgehoben, daß sich bei Knaben und Mädchen in den Pubertätsjahren deutliche Anzeichen von der Existenz gleichgeschlechtlicher Neigung auch normalerweise beobachten lassen. Die schwärmerische Freundschaft für eine Schulkollegin mit Schwüren, Küssen, dem Versprechen ewiger Korrespondenz und mit aller Empfindlichkeit der Eifersucht ist der gewöhnliche Vorläufer der ersten intensiveren Verliebtheit in einen Mann. Unter günstigen Verhältnissen versiegt die homosexuelle Strömung dann oft völlig; wo sich das Glück in der Liebe zum Mann nicht einstellt, wird sie oft noch in späteren Jahren von der Libido wieder geweckt und bis zu der oder jener Intensität gesteigert. Ist so viel bei Gesunden mühelos festzustellen, so werden wir im Anschlusse an frühere Bemerkungen [S. 124 f.] über die bessere Ausbildung der normalen Perversionskeime bei den Neurotikern auch eine stärkere homosexuelle Anlage in deren Konstitution zu finden erwarten. Es muß wohl so sein, denn ich bin noch bei keiner Psychoanalyse eines Mannes oder Weibes durchgekommen, ohne eine solche recht bedeutsame homosexuelle Strömung zu berücksichtigen. Wo bei hysterischen Frauen und Mädchen die dem Manne geltende sexuelle Libido eine energische Unterdrückung erfahren hat, da findet man regelmäßig die dem Weibe geltende durch Vikariieren verstärkt und selbst teilweise bewußt.

Ich werde dieses wichtige und besonders für die Hysterie des Mannes zum Verständnis unentbehrliche Thema hier nicht weiter behandeln, weil die Analyse Doras zu Ende kam, ehe sie über diese Verhältnisse bei ihr Licht verbreiten konnte. Ich erinnere aber an jene Gouvernante [s. S. 112 f.], mit der sie anfangs in intimem Gedankenaustausch lebte, bis sie merkte, daß sie von ihr nicht ihrer eigenen Person, sondern des Vaters wegen geschätzt und gut behandelt worden sei. Dann zwang sie dieselbe, das Haus zu verlassen. Sie verweilte auch auffällig häufig und mit besonderer Betonung bei der Erzählung einer anderen Entfremdung, die ihr selbst rätselhaft vorkam. Mit ihrer zweiten Kusine, derselben, die später Braut wurde [S. 114], hatte sie sich immer besonders gut verstanden und allerlei Geheimnisse mit ihr geteilt. Als nun der Vater zum erstenmal nach dem abgebrochenen Besuch am See wieder nach B. fuhr und Dora es natürlich ablehnte, ihn zu begleiten, wurde diese Kusine aufgefordert, mit dem Vater zu reisen, und nahm es an. Dora fühlte sich von da an erkaltet gegen sie und verwunderte sich selbst, wie gleichgültig sie ihr geworden war, obwohl sie ja zugestand, sie könne ihr keinen großen Vorwurf machen. Diese Empfindlichkeiten veranlaßten mich zu fragen, welches ihr Verhältnis zu Frau K. bis zum Zerwürfnis gewesen war. Ich erfuhr dann, daß die junge Frau und das kaum erwachsene Mädchen Jahre hindurch in der größten Vertraulichkeit gelebt hatten. Wenn Dora bei den K. wohnte, teilte sie das Schlafzimmer mit der Frau; der Mann wurde ausquartiert. Sie war die Vertraute und Beraterin der Frau in allen Schwierigkeiten ihres ehelichen Lebens gewesen; es gab nichts, worüber sie nicht gesprochen hatten. Medea war ganz zufrieden damit, daß Kreusa die beiden Kinder an sich zog; sie tat gewiß auch nichts dazu, um den Verkehr des Vaters dieser Kinder mit dem Mädchen zu stören. Wie Dora es zustande brachte, den Mann zu lieben, über den ihre geliebte Freundin so viel Schlechtes zu sagen wußte, ist ein interessantes psychologisches Problem, das wohl lösbar wird durch die Einsicht, daß im Unbewußten die Gedanken besonders bequem nebeneinander wohnen, auch Gegensätze sich ohne Widerstreit vertragen, was ja oft genug auch noch im Bewußten so bleibt.

Wenn Dora von Frau K. erzählte, so lobte sie deren »entzückend weißen Körper« in einem Ton, der eher der Verliebten als der besiegten Rivalin entsprach. Mehr wehmütig als bitter teilte sie mir ein andermal mit, sie sei überzeugt, daß die Geschenke, die der Papa ihr gebracht, von Frau K. besorgt worden seien; sie erkenne deren Geschmack. Ein andermal hob sie hervor, daß ihr offenbar durch die Vermittlung von Frau K. Schmuckgegenstände zum Geschenk gemacht worden seien, ganz ähnlich wie die, welche sie bei Frau K. gesehen und sich damals laut gewünscht habe. Ja, ich muß überhaupt sagen, ich hörte nicht ein hartes oder erbostes Wort von ihr über die Frau, in der sie doch nach dem Standpunkt ihrer überwertigen Gedanken die Urheberin ihres Unglücks hätte sehen müssen. Sie benahm sich wie inkonsequent, aber die scheinbare Inkonsequenz war eben der Ausdruck einer komplizierenden Gefühlsströmung. Denn wie hatte sich die schwärmerisch geliebte Freundin gegen sie benommen? Nachdem Dora ihre Beschuldigung gegen Herrn K. vorgebracht und dieser vom Vater schriftlich zur Rede gestellt wurde, antwortete er zuerst mit Beteuerungen seiner Hochachtung und erbot sich, nach der Fabrikstadt zu kommen, um alle Mißverständnisse aufzuklären. Einige Wochen später, als ihn der Vater in B. sprach, war von Hochachtung nicht mehr die Rede. Er setzte das Mädchen herunter und spielte als Trumpf aus: Ein Mädchen, das solche Bücher liest und sich für solche Dinge interessiert, das hat keinen Anspruch auf die Achtung eines Mannes. Frau K. hatte sie also verraten und angeschwärzt; nur mit ihr hatte sie über Mantegazza und über verfängliche Themata gesprochen. Es war wieder derselbe Fall wie mit der Gouvernante; auch Frau K. hatte sie nicht um ihrer eigenen Person willen geliebt, sondern wegen des Vaters. Frau K. hatte sie unbedenklich geopfert, um in ihrem Verhältnis mit dem Vater nicht gestört zu werden. Vielleicht, daß diese Kränkung ihr näher ging, pathogen wirksamer war als die andere, mit der sie jene verdecken wollte, daß der Vater sie geopfert. Wies nicht die eine so hartnäckig festgehaltene Amnesie in betreff der Quellen ihrer verfänglichen Kenntnis [S. 108] direkt auf den Gefühlswert der Beschuldigung und demnach auf den Verrat durch die Freundin hin?

Ich glaube also mit der Annahme nicht irrezugehen, daß der überwertige Gedankenzug Doras, der sich mit dem Verhältnis des Vaters zur Frau K. beschäftigte, bestimmt war nicht nur zur Unterdrückung der einst bewußt gewesenen Liebe zu Herrn K., sondern auch die in tieferem Sinne unbewußte Liebe zu Frau K. zu verdecken hatte. Zu letzterer Strömung stand er im Verhältnis des direkten Gegensatzes. Sie sagte sich unablässig vor, daß der Papa sie dieser Frau geopfert habe, demonstrierte geräuschvoll, daß sie ihr den Besitz des Papas nicht gönne, und verbarg sich so das Gegenteil, daß sie dem Papa die Liebe dieser Frau nicht gönnen konnte und der geliebten Frau die Enttäuschung über ihren Verrat nicht vergeben hatte. Die eifersüchtige Regung des Weibes war im Unbewußten an eine wie von einem Mann empfundene Eifersucht gekoppelt. Diese männlichen oder, wie man besser sagt, gynäkophilen Gefühlsströmungen sind für das unbewußte Liebesieben der hysterischen Mädchen als typisch zu betrachten[S. die Anmerkung auf S. 184.].

II DER ERSTE TRAUM

Als wir gerade Aussicht hatten, einen dunkeln Punkt in dem Kinderleben Doras durch das Material, welches sich zur Analyse drängte, aufzuhellen, berichtete Dora, sie habe einen Traum, den sie in genau der nämlichen Weise schon wiederholt geträumt, in einer der letzten Nächte neuerlich gehabt. Ein periodisch wiederkehrender Traum war schon dieses Charakters wegen besonders geeignet, meine Neugierde zu wecken; im Interesse der Behandlung durfte man ja die Einflechtung dieses Traumes in den Zusammenhang der Analyse ins Auge fassen. Ich beschloß also, diesen Traum besonders sorgfältig zu erforschen.

I. Traum: »In einem Haus brennt esEs hat nie bei uns einen wirklichen Brand gegeben, antwortete sie dann auf meine Erkundigung., erzählte Dora, der Vater steht vor meinem Bett und weckt mich auf. Ich kleide mich schnell an. Die Mama will noch ihr Schmuckkästchen retten, der Papa sagt aber: Ich will nicht, daß ich und meine beiden Kinder wegen deines Schmuckkästchens verbrennen. Wir eilen herunter, und sowie ich draußen bin, wache ich auf.«

Da es ein wiederkehrender Traum ist, frage ich natürlich, wann sie ihn zuerst geträumt. - Das weiß sie nicht. Sie erinnert sich aber, daß sie den Traum in L. (dem Orte am See, wo die Szene mit Herrn K. vorfiel) in drei Nächten hintereinander gehabt, dann kam er vor einigen Tagen hier wiederEs läßt sich aus dem Inhalt nachweisen, daß der Traum in L. zuerst geträumt worden ist.. - Die so hergestellte Verknüpfung des Traumes mit den Ereignissen in L. erhöht natürlich meine Erwartungen in betreff der Traumlösung. Ich möchte aber zunächst den Anlaß für seine letzte Wiederkehr erfahren und fordere darum Dora, die bereits durch einige kleine, vorher analysierte Beispiele für die Traumdeutung geschult ist, auf, sich den Traum zu zerlegen und mir mitzuteilen, was ihr zu ihm einfällt.

Sie sagt: »Etwas, was aber nicht dazu gehören kann, denn es ist ganz frisch, während ich den Traum gewiß schon früher gehabt habe.«

Das macht nichts, nur zu; es wird eben das letzte dazu Passende sein. »Also der Papa hat in diesen Tagen mit der Mama einen Streit gehabt, weil sie nachts das Speisezimmer absperrt. Das Zimmer meines Bruders hat nämlich keinen eigenen Ausgang, sondern ist nur durchs Speisezimmer zugänglich. Der Papa will nicht, daß der Bruder bei Nacht so abgesperrt sein soll. Er hat gesagt, das ginge nicht; es könnte doch bei Nacht etwas passieren, daß man hinaus muß.«

Das haben Sie nun auf Feuersgefahr bezogen?

»Ja.«

Ich bitte Sie, merken Sie sich ihre eigenen Ausdrücke wohl. Wir werden sie vielleicht brauchen. Sie haben gesagt: Daß bei Nacht etwas passieren kann, daß man hinaus mußIch greife diese Worte heraus, weil sie mich stutzig machen. Sie klingen mir zweideutig. Spricht man nicht mit denselben Worten von gewissen körperlichen Bedürfnissen? Zweideutige Worte sind aber wie »Wechsel« für den Assoziationsverlauf. Stellt man den Wechsel anders, als er im Trauminhalt eingestellt erscheint, so kommt man wohl auf das Geleise, auf dem sich die gesuchten und noch verborgenen Gedanken hinter dem Traum bewegen..

Dora hat nun aber die Verbindung zwischen dem rezenten und den damaligen Anlässen für den Traum gefunden, denn sie fährt fort:

»Als wir damals in L. ankamen, der Papa und ich, hat er die Angst vor einem Brand direkt geäußert. Wir kamen in einem heftigen Gewitter an, sahen das kleine Holzhäuschen, das keinen Blitzableiter hatte. Da war diese Angst ganz natürlich.«

Es liegt mir nun daran, die Beziehung zwischen den Ereignissen in L. und den damaligen gleichlautenden Träumen zu ergründen. Ich frage also: Haben Sie den Traum in den ersten Nächten in L. gehabt oder in den letzten vor Ihrer Abreise, also vor oder nach der bekannten Szene im Walde? (Ich weiß nämlich, daß die Szene nicht gleich am ersten Tage vorfiel und daß sie nach derselben noch einige Tage in L. verblieb, ohne etwas von dem Vorfälle merken zu lassen.)

Sie antwortet zuerst: Ich weiß nicht. Nach einer Weile: Ich glaube doch, nachher.

Nun wußte ich also, daß der Traum eine Reaktion auf jenes Erlebnis war. Warum kehrte er aber dort dreimal wieder? Ich fragte weiter: Wie lange sind Sie noch nach der Szene in L. geblieben?

»Noch vier Tage, am fünften bin ich mit dem Papa abgereist.«

Jetzt bin ich sicher, daß der Traum die unmittelbare Wirkung des Erlebnisses mit Herrn K. war. Sie haben ihn dort zuerst geträumt, nicht früher. Sie haben die Unsicherheit im Erinnern nur hinzugefügt, um sich den Zusammenhang zu verwischenVgl. das eingangs S. 96 über den Zweifel beim Erinnern Gesagte.. Es stimmt mir aber noch nicht ganz mit den Zahlen. Wenn Sie noch vier Nächte in L. blieben, können Sie den Traum viermal wiederholt haben. Vielleicht war es so?

Sie widerspricht nicht mehr meiner Behauptung, setzt aber, anstatt auf meine Frage zu antworten, fortEs muß nämlich erst neues Erinnerungsmaterial kommen, ehe die von mir gestellte Frage beantwortet werden kann.: »Am Nachmittag nach unserer Seefahrt, von der wir, Herr K. und ich, mittags zurückkamen, hatte ich mich wie gewöhnlich auf das Sofa im Schlafzimmer gelegt, um kurz zu schlafen. Ich erwachte plötzlich und sah Herrn K. vor mir stehen...« Also wie Sie im Traume den Papa vor Ihrem Bette stehen sehen?

»Ja. Ich stellte ihn zur Rede, was er hier zu suchen habe. Er gab zur Antwort, er lasse sich nicht abhalten, in sein Schlafzimmer zu gehen, wann er wolle; übrigens habe er etwas holen wollen. Dadurch vorsichtig gemacht, habe ich Frau K. gefragt, ob denn kein Schlüssel zum Schlafzimmer existiert, und habe mich am nächsten Morgen (am zweiten Tag) zur Toilette eingeschlossen. Als ich mich dann nachmittags einschließen wollte, um mich wieder aufs Sofa zu legen, fehlte der Schlüssel. Ich bin überzeugt, Herr K. hatte ihn beseitigt.«

Das ist also das Thema vom Verschließen oder Nichtverschließen des Zimmers, das im ersten Einfall zum Traume vorkommt und das zufällig auch im frischen Anlaß zum Traum eine Rolle gespielt hatIch vermute, ohne es noch Dora zu sagen, daß dies Element wegen seiner symbolischen Bedeutung von ihr ergriffen wurde. »Zimmer im Traum wollen recht häufig »Frauenzimmer« vertreten, und ob ein Frauenzimmer »offen« oder »verschlossen« ist, kann natürlich nicht gleichgültig sein. Auch welcher »Schlüssel« in diesem Falle öffnet, ist wohlbekannt.. Sollte der Satz: ich kleide mich schnell an, auch in diesen Zusammenhang gehören?

»Damals nahm ich mir vor, nicht ohne den Papa bei K. zu bleiben. An den nächsten Morgen mußte ich fürchten, daß mich Herr K. bei der Toilette überrasche, und kleidete mich darum immer sehr schnell an. Der Papa wohnte ja im Hotel, und Frau K. war immer schon früh weggegangen, um mit dem Papa eine Partie zu machen. Herr K. belästigte mich aber nicht wieder.«

Ich verstehe, Sie faßten am Nachmittag des zweiten Tages den Vorsatz, sich diesen Nachstellungen zu entziehen, und hatten nun in der zweiten, dritten und vierten Nacht nach der Szene im Walde Zeit, sich diesen Vorsatz im Schlafe zu wiederholen. Daß Sie am nächsten - dritten - Morgen den Schlüssel nicht haben würden, um sich beim Ankleiden einzuschließen, wußten Sie ja schon am zweiten Nachmittag, also vor dem Traum, und konnten sich vornehmen, die Toilette möglichst zu beeilen. Ihr Traum kam aber jede Nacht wieder, weil er eben einem Vorsatz entsprach. Ein Vorsatz bleibt so lange bestehen, bis er ausgeführt ist. Sie sagten sich gleichsam: ich habe keine Ruhe, ich kann keinen ruhigen Schlaf finden, bis ich nicht aus diesem Hause heraus bin. Umgekehrt sagen Sie im Traume: Sowie ich draußen hin, wache ich auf.

Ich unterbreche hier die Mitteilung der Analyse, um dieses Stückchen einer Traumdeutung an meinen allgemeinen Sätzen über den Mechanismus der Traumbildung zu messen. Ich habe in meinem Buche Die Traumdeutung (1900a). ausgeführt, jeder Traum sei ein als erfüllt dargestellter Wunsch, die Darstellung sei eine verhüllende, wenn der Wunsch ein verdrängter, dem Unbewußten angehöriger sei, und außer bei den Kinderträumen habe nur der unbewußte oder bis ins Unbewußte reichende Wunsch die Kraft, einen Traum zu bilden. Ich glaube, die allgemeine Zustimmung wäre mir sicherer gewesen, wenn ich mich begnügt hätte zu behaupten, daß jeder Traum einen Sinn habe, der durch eine gewisse Deutungsarbeit aufzudecken sei. Nach vollzogener Deutung könne man den Traum durch Gedanken ersetzen, die sich an leicht kenntlicher Stelle in das Seelenleben des Wachens einfügen. Ich hätte dann fortfahren können, dieser Sinn des Traumes erwiese sich als ebenso mannigfaltig wie eben die Gedankengänge des Wachens. Es sei das eine Mal ein erfüllter Wunsch, das andere Mal eine verwirklichte Befürchtung, dann etwa eine im Schlafe fortgesetzte Überlegung, ein Vorsatz (wie bei Doras Traum), ein Stück geistigen Produzierens im Schlafe usw. Diese Darstellung hätte gewiß durch ihre Faßlichkeit bestochen und hätte sich auf eine große Anzahl gut gedeuteter Beispiele, wie z. B. auf den hier analysierten Traum, stützen können.

Anstatt dessen habe ich eine allgemeine Behauptung aufgestellt, die den Sinn der Träume auf eine einzige Gedankenform, auf die Darstellung von Wünschen einschränkt, und habe die allgemeinste Neigung zum Widerspruche wachgerufen. Ich muß aber sagen, daß ich weder das Recht noch die Pflicht zu besitzen glaubte, einen Vorgang der Psychologie zur größeren Annehmlichkeit der Leser zu vereinfachen, wenn er meiner Untersuchung eine Komplikation bot, deren Lösung zur Einheitlichkeit erst an anderer Stelle gefunden werden konnte. Es wird mir darum von besonderem Werte sein zu zeigen, daß die scheinbaren Ausnahmen, wie Doras Traum hier, der sich zunächst als ein in den Schlaf fortgesetzter Tagesvorsatz enthüllt, doch die bestrittene Regel neuerdings bekräftigen. [Vgl. S. 154 ff.]

Über das Verhältnis zwischen den in den Schlaf sich fortsetzenden Wachgedanken - den Tagesresten - und dem unbewußten traumbildenden Wunsche habe ich in der Traumdeutung [Kapitel VII, Abschnitt C.] einige Bemerkungen niedergelegt, die ich hier unverändert zitieren werde, denn ich habe ihnen nichts hinzuzufügen, und die Analyse dieses Traumes von Dora beweist von neuem, daß es sich nicht anders verhält.

»Ich will zugeben, daß es eine ganze Klasse von Träumen gibt, zu denen die Anregung vorwiegend oder selbst ausschließlich aus den Resten des Tageslebens stammt, und ich meine, selbst mein Wunsch, endlich einmal Professor extraordinarius zu werdenDies bezieht sich auf die Analyse des dort zum Muster genommenen Traumes [des Traumes »Otto schaut schlecht aus«, im V. Kapitel, etwa sechs Seiten vor Ende des Kapitels]., hätte mich diese Nacht ruhig schlafen lassen können, wäre nicht die Sorge um die Gesundheit meines Freundes vom Tage her noch rührig gewesen. Aber diese Sorge hätte noch keinen Traum gemacht; die Triebkraft, die der Traum bedurfte, mußte von einem Wunsche beigesteuert werden; es war Sache der Besorgnis, sich einen solchen Wunsch als Triebkraft des Traumes zu ver- schaffen. Um es in einem Gleichnisse zu sagen: Es ist sehr wohl möglich, daß ein Tagesgedanke die Rolle des Unternehmers für den Traum spielt; aber der Unternehmer, der, wie man sagt, die Idee hat und den Drang, sie in Tat umzusetzen, kann doch ohne Kapital nichts machen; er braucht einen Kapitalisten, der den Aufwand bestreitet, und dieser Kapitalist, der den psychischen Aufwand für den Traum beistellt, ist allemal und unweigerlich, was immer auch der Tagesgedanke sein mag, ein Wunsch aus dem Unbewußten

Wer die Feinheit in der Struktur solcher Gebilde wie der Träume kennengelernt hat, wird nicht überrascht sein zu finden, daß der Wunsch, der Vater möge die Stelle des versuchenden Mannes einnehmen, nicht etwa beliebiges Kindheitsmaterial zur Erinnerung bringt, sondern gerade solches, das auch die intimsten Beziehungen zur Unterdrückung dieser Versuchung unterhält. Denn wenn Dora sich unfähig fühlt, der Liebe zu diesem Manne nachzugeben, wenn es zur Verdrängung dieser Liebe anstatt zur Hingebung kommt, so hängt diese Entscheidung mit keinem anderen Moment inniger zusammen als mit ihrem vorzeitigen Sexualgenusse und mit dessen Folgen, dem Bettnässen, dem Katarrh und dem Ekel. Eine solche Vorgeschichte kann je nach der Summation der konstitutionellen Bedingungen zweierlei Verhalten gegen die Liebesanforderung in reifer Zeit begründen, entweder die volle widerstandslose, ins Perverse greifende Hingebung an die Sexualität oder in der Reaktion die Ablehnung derselben unter neurotischer Erkrankung. Konstitution und die Höhe der intellektuellen und moralischen Erziehung hatten bei unserer Patientin für das letztere den Ausschlag gegeben.

Ich will noch besonders darauf aufmerksam machen, daß wir von der Analyse dieses Traumes aus den Zugang zu Einzelheiten der pathogen wirksamen Erlebnisse gefunden haben, die der Erinnerung oder wenigstens der Reproduktion sonst nicht zugänglich gewesen waren. Die Erinnerung an das Bettnässen der Kindheit war, wie sich ergab, bereits verdrängt. Die Einzelheiten der Nachstellung von seiten des Herrn K. hatte Dora niemals erwähnt, sie waren ihr nicht eingefallen.

Diese Arbeiten zur Aufklärung des zweiten Traumes hatten zwei Stunden in Anspruch genommen. Als ich nach Schluß der zweiten Sitzung meiner Befriedigung über das Erreichte Ausdruck gab, antwortete sie geringschätzig: Was ist denn da viel herausgekommen? und bereitete mich so auf das Herannahen weiterer Enthüllungen vor.

Zur dritten Sitzung trat sie mit den Worten an: »Wissen Sie, Herr Doktor, daß ich heute das letzte Mal hier bin?« - Ich kann es nicht wissen, da Sie mir nichts davon gesagt haben. - »Ja, ich habe mir vorgenommen, bis NeujahrEs war der 31. Dezember. halte ich es noch aus; länger will ich aber auf die Heilung nicht warten.« - Sie wissen, daß Sie die Freiheit auszutreten immer haben. Heute wollen wir aber noch arbeiten. Wann haben Sie den Entschluß gefaßt? - »Vor 14 Tagen, glaube ich.« - Das klingt ja wie von einem Dienstmädchen, einer Gouvernante, 14tägige Kündigung. - »Eine Gouvernante, die gekündigt hat, war auch damals bei K., als ich sie in L. am See besuchte.« - So? von der haben Sie noch nie erzählt. Bitte erzählen Sie.

»Es war also ein junges Mädchen im Hause als Gouvernante der Kinder, die ein ganz merkwürdiges Benehmen gegen den Herrn zeigte. Sie grüßte ihn nicht, gab ihm keine Antwort, reichte ihm nichts bei Tisch, wenn er um etwas bat, kurz, behandelte ihn wie Luft. Er war übrigens auch nicht viel höflicher gegen sie. Einen oder zwei Tage vor der Szene am See nahm mich das Mädchen auf die Seite; sie habe mir etwas mitzuteilen. Sie erzählte mir dann, Herr K. habe sich ihr zu einer Zeit, als die Frau gerade für mehrere Wochen abwesend war, genähert, sie sehr umworben und sie gebeten, ihm gefällig zu sein; er habe nichts von seiner Frau usw.« ... Das sind ja dieselben Worte, die er dann in der Werbung um Sie gebraucht, bei denen Sie ihm den Schlag ins Gesicht gegeben [166]. - » Ja. Sie gab ihm nach, aber nach kurzer Zeit kümmerte er sich nicht mehr um sie, und sie haßte ihn seitdem.« - Und diese Gouvernante hatte gekündigt? - »Nein, sie wollte kündigen. Sie sagte mir, sie habe sofort, wie sie sich verlassen gefühlt, den Vorfall ihren Eltern mitgeteilt, die anständige Leute sind und irgendwo in Deutschland wohnen. Die Eltern verlangten, daß sie das Haus augenblicklich verlasse, und schrieben ihr dann, als sie es nicht tat, sie wollten nichts mehr von ihr wissen, sie dürfe nicht mehr nach Hause zurückkommen.« - Und warum ging sie nicht fort? - »Sie sagte, sie wolle noch eine kurze Zeit abwarten, ob sich nichts bei Herrn K. ändere. So zu leben, halte sie nicht aus. Wenn sie keine Änderung sehe, werde sie kündigen und fortgehen.« - Und was ist aus dem Mädchen geworden? - »Ich weiß nur, daß sie fortgegangen ist.« - Ein Kind hat sie von dem Abenteuer nicht davongetragen? - »Nein.«

Da war also - wie übrigens ganz regelrecht - inmitten der Analyse ein Stück tatsächlichen Materials zum Vorscheine gekommen, das früher aufgeworfene Probleme lösen half. Ich konnte Dora sagen: Jetzt kenne ich das Motiv jenes Schlages, mit dem Sie die Werbung beantwortet haben. Es war nicht Kränkung über die an Sie gestellte Zumutung, sondern eifersüchtige Rache. Als Ihnen das Fräulein seine Geschichte erzählte, machten Sie noch von Ihrer Kunst Gebrauch, alles beiseite zu schieben, was Ihren Gefühlen nicht paßte. In dem Moment, da Herr K. die Worte gebrauchte: Ich habe nichts an meiner Frau, die er auch zu dem Fräulein gesagt, wurden neue Regungen in Ihnen wachgerufen, und die Waagschale kippte um. Sie sagten sich: Er wagt es, mich zu behandeln wie eine Gouvernante, eine dienende Person? Diese Hochmutskränkung zur Eifersucht und zu den bewußten besonnenen Motiven hinzu: das war endlich zu vielEs war vielleicht nicht gleichgültig, daß sie dieselbe Klage über die Frau, deren Bedeutung sie wohl verstand, auch vom Vater gehört haben konnte, wie ich sie aus seinem Munde gehört habe [S. 104].. Zum Beweise, wie sehr Sie unter dem Eindrücke der Geschichte des Fräuleins stehen, halte ich Ihnen die wiederholten Identifizierungen mit ihr im Traume und in Ihrem Benehmen vor. Sie sagen es den Eltern, was wir bisher nicht verstanden haben, wie das Fräulein es den Eltern geschrieben hat. Sie kündigen mir wie eine Gouvernante mit 14tägiger Kündigung. Der Brief im Traume, der Ihnen erlaubt, nach Hause zu kommen, ist ein Gegenstück zum Briefe der Eltern des Fräuleins, die es ihr verboten hatten.

»Warum habe ich es dann den Eltern nicht gleich erzählt?«

Welche Zeit haben Sie denn verstreichen lassen?

»Am letzten Juni fiel die Szene vor; am 14. Juli habe ich’s der Mutter erzählt.«

Also wieder 14 Tage, der für eine dienende Person charakteristische Termin! Ihre Frage kann ich jetzt beantworten. Sie haben ja das arme Mädchen sehr wohl verstanden. Sie wollte nicht gleich fortgehen, weil sie noch hoffte, weil sie erwartete, daß Herr K. seine Zärtlichkeit ihr wieder zuwenden würde. Das muß also auch Ihr Motiv gewesen sein. Sie warteten den Termin ab, um zu sehen, ob er seine Werbung erneuern würde, daraus hätten Sie geschlossen, daß es ihm Ernst war und daß er nicht mit Ihnen spielen wollte wie mit der Gouvernante.

»In den ersten Tagen nach der Abreise schickte er noch eine Ansichtskarte.«Dies die Anlehnung für den Ingenieur [S. 163 f.], der sich hinter dem Ich in der ersten Traumsituation verbirgt.

Ja, als aber dann nichts weiter kam, da ließen Sie Ihrer Rache freien Lauf. Ich kann mir sogar vorstellen, daß damals noch Raum für die Nebenabsicht war, ihn durch die Anklage zum Hinreisen nach Ihrem Aufenthalte zu bewegen.

»...Wie er’s uns ja auch zuerst angetragen hat«, warf sie ein. - Dann wäre Ihre Sehnsucht nach ihm gestillt worden - hier nickte sie Bestätigung, was ich nicht erwartet hatte - und er hätte Ihnen die Genugtuung geben können, die Sie sich verlangten.

»Welche Genugtuung?«

Ich fange nämlich an zu ahnen, daß Sie die Angelegenheit mit Herrn K. viel ernster aufgefaßt haben, als Sie bisher verraten wollten. War zwischen den K. nicht oft von Scheidung die Rede?

»Gewiß, zuerst wollte sie nicht der Kinder wegen, und jetzt will sie, aber er will nicht mehr.«

Sollten Sie nicht gedacht haben, daß er sich von seiner Frau scheiden lassen will, um Sie zu heiraten? Und daß er jetzt nicht mehr will, weil er keinen Ersatz hat? Sie waren freilich vor zwei Jahren sehr jung, aber Sie haben mir selbst von der Mama erzählt, daß sie mit 17 Jahren verlobt war und dann zwei Jahre auf ihren Mann gewartet hat. Die Liebesgeschichte der Mutter wird gewöhnlich zum Vorbilde für die Toch- ter. Sie wollten also auch auf ihn warten und nahmen an, daß er nur warte, bis Sie reif genug seien, seine Frau zu werdenDas Warten, bis man das Ziel erreicht, findet sich im Inhalte der ersten Traumsituation; in dieser Phantasie vom Warten auf die Braut sehe ich ein Stück der dritten, bereits [S. 167, Anm. 1] angekündigten Komponente dieses Traumes.. Ich stelle mir vor, daß es ein ganz ernsthafter Lebensplan bei Ihnen war. Sie haben nicht einmal das Recht zu behaupten, daß eine solche Absicht bei Herrn K. ausgeschlossen war, und haben mir genug von ihm erzählt, was direkt auf eine solche Absicht deutetBesonders eine Rede, mit der er im letzten Jahre des Zusammenlebens in B. das Weihnachtsgeschenk einer Briefschachtel begleitet hatte.. Auch sein Benehmen in L. widerspricht dem nicht. Sie haben ihn ja nicht ausreden lassen und wissen nicht, was er Ihnen sagen wollte. Nebstbei wäre der Plan gar nicht so unmöglich auszuführen gewesen. Die Beziehungen des Papa zu Frau K., die Sie wahrscheinlich nur darum so lange unterstützt haben, boten Ihnen die Sicherheit, daß die Einwilligung der Frau zur Scheidung zu erreichen wäre, und beim Papa setzen Sie durch, was Sie wollen. Ja, wenn die Versuchung in L. einen anderen Ausgang genommen hätte, wäre dies für alle Teile die einzig mögliche Lösung gewesen. Ich meine auch, darum haben Sie den anderen Ausgang so bedauert und ihn in der Phantasie, die als Blinddarmentzündung auftrat, korrigiert. Es mußte also eine schwere Enttäuschung für Sie sein, als anstatt einer erneuten Werbung das Leugnen und die Schmähungen von seiten des Herrn K. der Erfolg Ihrer Anklage wurden. Sie gestehen zu, daß nichts Sie so sehr in Wut bringen kann, als wenn man glaubt, Sie hätten sich die Szene am See eingebildet. [Vgl. S. 121.] Ich weiß nun, woran Sie nicht erinnert werden wollen, daß Sie sich eingebildet, die Werbung sei ernsthaft und Herr K. werde nicht ablassen, bis Sie ihn geheiratet.

Sie hatte zugehört, ohne wie sonst zu widersprechen. Sie schien ergriffen, nahm auf die liebenswürdigste Weise mit warmen Wünschen zum Jahreswechsel Abschied und - kam nicht wieder. Der Vater, der mich noch einige Male besuchte, versicherte, sie werde wiederkommen; man merke ihr die Sehnsucht nach der Fortsetzung der Behandlung an. Aber er war wohl nie ganz aufrichtig. Er hatte die Kur unterstützt, solange er sich Hoffnung machen konnte, ich würde Dora »ausreden«, daß zwischen ihm und Frau K. etwas anderes als Freundschaft bestehe. Sein Interesse erlosch, als er merkte, daß dieser Erfolg nicht in meiner Absicht liege. Ich wußte, daß sie nicht wiederkommen würde. Es war ein unzweifel- hafter Racheakt, daß sie in so unvermuteter Weise, als meine Erwartungen auf glückliche Beendigung der Kur den höchsten Stand einnahmen, abbrach und diese Hoffnungen vernichtete. Auch ihre Tendenz zur Selbstschädigung fand ihre Rechnung bei diesem Vorgehen. Wer wie ich die bösesten Dämonen, die unvollkommen gebändigt in einer menschlichen Brust wohnen, aufweckt, um sie zu bekämpfen, muß darauf gefaßt sein, daß er in diesem Ringen selbst nicht unbeschädigt bleibe. Ob ich das Mädchen bei der Behandlung erhalten hätte, wenn ich mich selbst in eine Rolle gefunden, den Wert ihres Verbleibens für mich übertrieben und ihr ein warmes Interesse bezeigt hätte, das bei aller Milderung durch meine Stellung als Arzt doch wie ein Ersatz für die von ihr ersehnte Zärtlichkeit ausgefallen wäre? Ich weiß es nicht. Da ein Teil der Faktoren, die sich als Widerstand entgegenstellen, in jedem Falle unbekannt bleibt, habe ich es immer vermieden, Rollen zu spielen, und mich mit anspruchsloserer psychologischer Kunst begnügt. Bei allem theoretischen Interesse und allem ärztlichen Bestreben zu helfen, halte ich mir doch vor, daß der psychischen Beeinflussung notwendig Grenzen gesetzt sind, und respektiere als solche auch den Willen und die Einsicht des Patienten.

Ich weiß auch nicht, ob Herr K. mehr erreicht hätte, wäre ihm verraten worden, daß jener Schlag ins Gesicht keineswegs ein endgültiges »Nein« Doras bedeutete, sondern der zuletzt geweckten Eifersucht entsprach, während noch die stärksten Regungen ihres Seelenlebens für ihn Partei nahmen. Würde er dieses erste »Nein« überhört und seine Werbung mit überzeugender Leidenschaft fortgesetzt haben, so hätte der Erfolg leicht sein können, daß die Neigung des Mädchens sich über alle inneren Schwierigkeiten hinweggesetzt hätte. Aber ich meine, vielleicht ebenso leicht wäre sie nur gereizt worden, ihre Rachsucht um so ausgiebiger an ihm zu befriedigen. Auf welche Seite sich in dem Widerstreite der Motive die Entscheidung neigt, ob zur Aufhebung oder zur Verstärkung der Verdrängung, das ist niemals zu berechnen. Die Unfähigkeit zur Erfüllung der realen Liebesforderung ist einer der wesentlichsten Charakterzüge der Neurose; die Kranken sind vom Gegensätze zwischen der Realität und der Phantasie beherrscht. Was sie in ihren Phantasien am intensivsten ersehnen, davor fliehen sie doch, wenn es ihnen in Wirklichkeit entgegentritt, und den Phantasien überlassen sie sich am liebsten, wo sie eine Realisierung nicht mehr zu befürchten brauchen. Die Schranke, welche die Verdrängung aufgerichtet hat, kann allerdings unter dem Anstürme heftiger, real veranlaßter Erregungen fallen, die Neurose kann noch durch die Wirklichkeit überwunden werden. Wir können aber nicht allgemein berechnen, bei wem und wodurch diese Heilung möglich wäreNoch einige Bemerkungen über den Aufbau dieses Traumes, der sich nicht so gründlich verstehen läßt, daß man seine Synthese versuchen könnte. Als ein fassadenartig vorgeschobenes Stück läßt sich die Rachephantasie gegen den Vater herausheben: Sie ist eigenmächtig von Hause weggegangen; der Vater ist erkrankt, dann gestorben... Sie geht jetzt nach Hause, die anderen sind schon alle auf dem Friedhofe. Sie geht gar nicht traurig auf ihr Zimmer und liest ruhig im Lexikon. Darunter zwei Anspielungen auf den anderen Racheakt, den sie wirklich ausgeführt, indem sie die Eltern einen Abschiedsbrief finden ließ: Der Brief (im Traume von der Mama) und die Erwähnung des Leichenbegängnisses der für sie vorbildlichen Tante. - Hinter dieser Phantasie verbergen sich die Rachegedanken gegen Herrn K., denen sie in ihrem Benehmen gegen mich einen Ausweg geschafft hat. Das Dienstmädchen - die Einladung - der Wald - die 2 1/2 Stunden stammen aus dem Material der Vorgänge in L. Die Erinnerung an die Gouvernante und deren Briefverkehr mit ihren Eltern tritt mit dem Element ihres Abschiedsbriefes zu dem im Trauminhalte vorfindlichen Brief, der ihr nach Hause zu kommen erlaubt, zusammen. Die Ablehnung, sich begleiten zu lassen, der Entschluß, allein zu gehen, läßt sich wohl so übersetzen: Weil du mich wie ein Dienstmädchen behandelt hast, lasse ich dich stehen, gehe allein meiner Wege und heirate nicht. - Durch diese Rachegedanken verdeckt, schimmert an anderen Stellen Material aus zärtlichen Phantasien aus der unbewußt fortgesetzten Liebe zu Herrn K. durch: Ich hätte auf dich gewartet, bis ich deine Frau geworden wäre - die Defloration - die Entbindung. - Endlich gehört es dem vierten, am tiefsten verborgenen Gedankenkreise, dem der Liebe zu Frau K. an, daß die Deflorationsphantasie vom Standpunkte des Mannes dargestellt wird (Identifizierung mit dem Verehrer, der jetzt in der Fremde weilt) und daß an zwei Stellen die deutlichsten Anspielungen auf zweideutige Reden (wohnt hier der Herr ***) und auf die nicht mündliche Quelle ihrer sexuellen Kenntnisse (Lexikon) enthalten sind. Grausame und sadistische Regungen finden in diesem Traume ihre Erfüllung..