Die Tatsache dieser Bewegung, die man ruhig Expressionismus nennen kann, ist nicht zu bezweifeln. Ein, zwei Jahre vor
dem Krieg hatte ich Gelegenheit französische, russische, italienische Künstler der
jetzt dominierenden Generation zu sprechen; zu meinem Erstaunen, dessen Heftigkeit
ich mich noch entsinne, äußerten sie, die mit deutschen Verhältnissen gerade so
unbekannt waren wie ich mit ihren, Wünsche, Urteile, Pläne über Kunst und Verwandtes,
die verblüffend mit einigen in Deutschland umgehenden übereinstimmten. Es war und ist eine Bewegung, eine atmosphärische
Welle, wie ein wanderndes barometrisches Maximum oder Minimum. Keine
Richtung, durchaus im Gegenteil: Gärung ohne Richtung; etwa Zeitströmung im Sinne von Brandes [1], nicht einmal so
bestimmt und gezielt wie etwa ganz allgemein »Romantik«. Einen wirklich bezeichnenden
Namen kann das Ganze nicht, oder noch nicht, haben; spricht man von Expressionismus,
so bezeichnet man den Wagen nach einem Rad; möglich ist, daß mit Expressionismus sich
schon ein wesentlicher Einzelwille der Bewegung formuliert. Was voranging, so in der
am meisten auffälligen Malerei, in Kubismus, Futurismus, aber noch früher, ja
vielleicht längst vorher im Impressionismus, jawohl Impressionismus, gehört zu der
gleichen Geisteswelle, die durchweg bei ihren Trägern oder Befallenen durch eine
zunehmende Steigerung des Lebensgefühls, ein leidenschaftliches Sichbesinnen sich
charakterisiert, durch eine berserkerhaft entschlossene Stellungnahme im Formalen und
Inhaltlichen, Drang zu intensiver ungebrochener Äußerung.
Vielleicht hängt diese Bewegung, nicht nur zeitlich,
mit anderen Bewegungen im Leben der europäischen Nationen zusammen: mit dem
Erstarken der ganzen Volkskörper im letzten Jahrzehnt, dem Anschwellen des
Nationalgefühls; wirtschaftliche Parallelvorgänge sind wahrscheinlich. Ich habe
das Gefühl, daß diese Bewegung aus keiner Not, sondern einem Überfluß stammt; Stolz ist ihr charakteristisches Grundgefühl.
Es ist keine Bewegung der Jugend, ich meine kein plötzliches Auftreten einer neuen
Jugend in der Kunst, »die nicht von Joseph wußte«. Die Herren, deren Personalien mir
bekannt sind, sind zum Teil zwischen zwanzig und dreißig, welche zwischen dreißig und
vierzig und schon darüber. Weder Franz Marc
noch der sehr befallene August Stramm waren
Knaben. Nun ist es zweifellos, daß diese und andere schon vorher, früher
charakteristische Züge aufwiesen, jedoch der Durchbruch, die Ausbreitung, das
Bodenfinden, damit das Hervortreten an die Öffentlichkeit ist erst in diesem
Jahrzehnt ermöglicht. Jetzt konnten die einzelnen zu
einer Welle zusammenschlagen, sich verstärken, indem sie rechts und links
Bereitschaften verwirklichten. Und dieser Prozeß und sein Durchschlagen ist
erst im Beginn, seine Ausbreitung auf andere Gebiete ist sehr wahrscheinlich und
steht bevor. Die Persönlichkeit hat sich ihrer Haut zu wehren gegenüber
einer geistigen Bewegung. Personen sind die Träger
der Bewegung, ihre Macher, sind die Beweger, andere geraten in das Fahrwasser,
ahnungslos oder bewußt, treiben mit ihm. Von dieser Welle werden einzelne
kaum bespült, andere waten knietief hinein, andere schwimmen darin stoßweise nach
eigenem Antrieb, andere werden weggeschwemmt, liegen nach Abflauen der Flut platt auf
dem Strand. Von solcher Bewegung erfahren viele eine Reinigung, viele eine Stärkung,
viele eine Richtung. Sie folgen, wie einmal Hegel sagt, den Seelenführern, denn sie
fühlen die unwiderstehliche Gewalt ihres eigenen inneren Geistes, der ihnen
entgegentritt.
Das muß noch genauer gesagt werden, möglichst unbildlich oder mit anderen Bildern.
Das fesselnde Renkontre von geistiger Bewegung und Charakter. Zunächst ist
festzuhalten:
eine Bewegung ist keine Mache oder das
Arrangement einer Gruppe Interessenten. Vielmehr, aus zahlreichen zunächst
dunklen Ursachen sozialer politischer menschlicher Art wächst sie, hier flammt
es, dort flammt es bei Feinfühligen, Scharfhörigen, Hellsichtigen auf, durch
sie kommt die Maschine zu ihren ersten Kolbenstoßen und Umdrehungen.
Und so sich voranschiebend, unsicher ratternd, mehr dampfend als bewegend, ist
sie außerhalb bestimmter oder überhaupt einzelner Menschen, eine allgemeine
öffentliche Angelegenheit, aber was mehr als das ist, unabhängig von den Plänen und
dem Vorhaben von Menschen. Ein aus bestimmten
Situationen und Konstellationen fließendes breites Spannungs- und
Kraftgefälle. Ein Außerhalb des Menschen wie eben ein Milieumerkmal. Dies
ist überaus wichtig, denn damit entfallen viele Angriffspunkte. Bewegungen sind
prinzipiell zunächst einmal zu erkennen; damit ist schon alles geschehen. Daß ein
Konservativer nicht die Notwendigkeit des Zentrums, des Liberalismus oder gar der
Sozialdemokratie anerkennen wird, ist ihm nachzufühlen, er bedarf dieser Partei nicht
zu seiner Existenz, aber daraus folgt nicht die fehlende Existenzberechtigung der
Parteien. Der Eitelkeitsfrage ist damit der Boden entzogen, denn da die Bewegung kein
Privateigentum ist, kann sich jeder von ihr aneignen, was er will und wieviel er
will. Man kann sich auch ohne Entschuldigung von dieser Table d’hote zurückziehen und
Diner à part bevorzugen. Wie es Goethe mit der Romantik gemacht hat, bald so bald so,
ist bekannt. Was Theodor Fontane im Alter getan hat, war kein Schade für ihn. Es muß
jeder wissen, wie ihm zumute ist.
Die der Bewegung mit Leib und Seele verschrieben sind, werden ihre Märtyrer. Sie
werden von der Bewegung aufgebraucht und bleiben nachher liegen krüppelhaft,
invalide. Hier kann man in der Tat sagen: sie werden verschluckt von der Idee, nur
werden sie wieder ausgespien, nachdem ihr Bestes und Brauchbarstes resorbiert ist.
Sie hatten außerordentlich feine Organe für die Not ihrer Zeit, sie dienten
leidenschaftlich ihrer Zeit, trieben eine Art hohen Journalismus, sie begleiteten den
Tag als sein Priester oder vielleicht als Vorreiter, um an einer bestimmten
Wegstrecke abgedankt zu werden. Was sie leisteten: ein meist bald verschollenes Werk,
das höchst signifikant für die Sache war, scharf ein paar Jahre vorwärts leuchtete,
bei dessen Betrachtung man später rasch das dünne wesenlose Menschlein erkennt, das
daran zappelt, aufgehängt erstickt an seiner Momentbegabung. Was ihnen fehlte? Oh an
sich nichts, keinem Menschen fehlt etwas, nur die Ursache dieses Verlaufs war das
dünne Wesenlose der Persön- lichkeit. Wesenhaft nämlich ist dieser
Mensch nur gewesen in seiner Zeitspanne, aus ihr floß sein Wesen, zugleich mit ihr
war er hin, verbrannt, verpufft, verronnen.
Das Tempo des Menschen aber, der nicht Märtyrer der Zeit, sondern ihr Herr ist, ist
ein durchaus eigentümliches; ein Organismus wächst,
entfaltet sich, altert aus sich heraus, rücksichtslos, keine Zeit hält damit, mit
dieser Sonderbarkeit, Schritt. Und wie sollte sie auch. In unserem Leben
sind Jahrmillionen zusammengezogen der Erd- und Menschengeschichte, was können mich
sechzig Jahre lehren? Oder bloß zehn. Wie könnten »Bewegungen« anders als flüchtig
über uns schwimmen; ein wirklich umwälzendes Geschehen ist auf keine Weise möglich.
Wir sind gut gesichert gegen Einbruchdiebstahl und Verführung. Man will nicht, man
kann auch nicht aus seiner Haut heraus.
Die Bindung der Bewegung an die Persönlichkeiten ist ganz und gar nicht zwingend. Und
hier beginnt ein besonderes, sehr fesselndes Kapitel. Es ist das Kapitel, das
Ruhmreiches erzählt, denn es behandelt die Trennung
Nietzsches von Wagner, das traurig ist, wenn es erzählt, wie von den
Bewegungen Menschen wie von Hefe aufgetrieben und dann fallen gelassen werden. Die
Zeit ist danklos, treulos, erbarmungslos. Gegen die Zeit gibt es keine Rettung als
unser angeborenes adern- und darmdurchflossenes Altenteil, anderthalb Meter hoch,
sechzig, siebzig Kilogramm schwer. Ja die Entscheidung letzter Stunde liegt bei der
Persönlichkeit. An dieser Stelle ist es Zeit Fanfaren zu blasen. Es ist das Kapitel
von der menschlichen Freiheit.
Es braucht keiner Furcht haben, es verliert
sich niemand, auch nicht an eine Bewegung. Etwas Abwechslung ist immer erwünscht. Und
viel mehr kommt bei dem Zauber hier doch nicht heraus.
Wenn eine Bewegung viel getan hat, hat sie archäologisch gewirkt: sie hat eine
Verschüttung in uns beseitigt.
Die Bewegung macht ein Ritzchen: tut nicht weh, tut nicht weh. Homer bewegt dabei
nicht den Kopf, und nur das liebe Kindchen schreit.
Die Zeit dringt verschieden tief in unsere Poren ein. Man glaube nur nicht, daß die
blanke glatte Hingabe an die Zeit die Regel und das Gewöhnliche wäre. Die wenigsten
Menschen erleben ihre Zeit, das muß hart festgestellt werden, die meisten Menschen
sind geschäftlich tätig und haben keine Zeit für ihre Zeit. Woraus nun nicht folgt,
daß sie das Haupt in die Sterne erheben. Vielmehr, aber man weiß schon, was ich sagen
will: sie sind überhaupt nicht vorhanden in einem gewissen Sinne. Die Gegenwart senkt
sich verschieden tief in die künstlerischen Individuen, dies ist kein einfacher
Vorgang wie zwischen Zeus und Danae. Es gibt im Menschen recht viele, sehr
unterschiedliche Strömungen; für literarische Zwecke kann man diesen Tatbestand nicht
brauchen, jetzt haben wir keinen Grund ihn zu verheimlichen. Wie die Erde einen Kern
von Nickeleisen hat, sechstausend Kilometer tief, drüber einen Mantel von Magnesium
Silicium 1500 km tief, darüber eine ganz schmale Schicht Silicium, Aluminium, Basalt,
Diabas, der Boden unserer Erde, dann wehend unsere Stickstoffatmosphäre,
überragt von Wasserstoff in zweihundert Kilometer Höhe, so geschichtet und noch
schlimmer verschoben und verschachtelt die erdgeborenen Individuen. Wir haben Fältelungen in uns, die auf die Eiszeit zurückgehen,
andere, die mit Christi Geburt datieren, andere; wir stammen durch Vater und
Mutter von sehr weit her, die kreuz und quer ab, das sind Dutzende Quellen, aere
perennius. Aber in dies dunkle Triebwerk von Erinnerungen und Instinkten greift
unsere Erziehung. Unsere Umwelt, unser Umgang gruppiert hier, macht es wie
bei einer Gesellschaftsphotographie: läßt den im Dunklen, setzt den in scharfes
Licht, schiebt den vor, den daneben. Um unseren
Reichtum zu zeigen, müssen Ereignisse herankommen. Die Bewegung als Reiz,
Versuchung, Aufspaltung. Als Schlüssel zum Geldschrank.
Und da ist die Rolle der Bewegung für das Leben der Individuen schon klar; sie ist
nicht mehr und nicht weniger wie sonst ein Ereignis von Belang. Über den Prozeß
Steinheil seligen Angedenkens können wir eine Umwälzung, eine Erdrevolution im
Wasserglase sozusagen erfahren, oder über dem Buch so und so von Tolstoi oder über
dem Urteil in einem Prozeß, über einer Zeitungsnotiz, einer kindlichen Bemerkung,
einer Reifbildung an einer Holzlatte.
Die Entscheidung letzter Stunde liegt bei der Persönlichkeit. Es gibt Menschen, die eine solche Spannung ihrer Vitalität
durchstrafft, daß sie gänzlich unfähig sind, aufzumerken, ihrer Zeit bewußt zu
werden, Einflüssen zu unterliegen. Produkte fließen aus ihnen kontinuierlich, aus
ihnen schlägt es dauernd von Urteilen, Hinweisen, Anregungen, Förderungen.
Sie sind eisern gepanzert, halb taub, halb blind. Ihre Kraftquellen kommen tief
herauf. Sie sind umdüstert von den Gewalten ältester Zeiten, können nur wirken, sich
ausstrahlen. Ihre persönliche Entwicklung ist wichtiger als alle Bewegung, welche
demgegenüber nur ein Hilfsmittel ist, etwa wie der Ersatz eines großen Staatsmannes
durch ein Parlament. Sie berührt keine Bewegung, was sollte sie bei ihnen? Etwas
aufdecken? Vulkane oder Sterne aufdecken? Sie können selbst Reihen von Bewegungen
auslösen.
Die Bewegung ist mit einer Egge zu vergleichen, die
den Boden aufreißt; das heißt, sie befruchtet nicht. Befruchten ist ein
irreführendes Bild; die Persönlichkeit zentriert und orientiert sich an dem
Geschehen. Die Bewegung revidiert, bietet mutig Ladenhüter aus. Daher die
Rückwärtsentdeckungen: Rampsenit der Zwölfte [2] als Novität.
Sie wirkt wie das bekannte Salzkörnchen in der Mutterlauge, um das die
Kristallisation, aber die der Mutterlauge, stattfindet.
Einseitigkeit, Monomanie der Bewegung. Die Gäule bekommen Scheuklappen, Selbstfahren
verboten.
Eine Massenerscheinung, Erscheinung an Massen. Es gibt noch Aristokraten.
Ein Heilungsprozeß, der zu einer neuen Gesundheit
führt. Es gibt noch Gesunde.
Ein Wachstumsprozeß. Er geht Erwachsene nichts an.
Eine Epidemie. Unbeschadet daß manche schon aus den Masern heraus sind.
Unzeitliche aus Not: sie sind innerlich gefesselt, ihr Organismus erschöpft sich in
Störungen, Reibungen. Sie kommen nicht zu sich, geschweige zu andern.
Reiz und Auslösung. Es werden manche in die falsche
Zeit hineingeboren, erleben staunend Bewegungen mit, deren Reize an ihnen
vorbeigleiten. Ein dumpfes suchendes quälendes Gefühl in ihnen: sie können nicht.
Sind verbiestert. Die Raffaels ohne Arme, die Fehlgeburten. Mit der
Demokratie allein ist es nicht getan; wie kommt der Tüchtigste, wenn das Malheur es
nicht will, zu seiner höchsten Potenz? Wer geht politisch gegen das Malheur vor?
Ceterum: die ganze Menschenbetrachterei ist überflüssig. In der Kunst dreht es sich
um das Opus. Der Künstler ist nur die Möglichkeit zum Opus, wir reden von den Fakten.
Die Merkmale der Größe beim mazedonischen Alexander und Napoleon sind nicht schwer zu
finden; das Ungeheure, das sie leisteten, springt hervor, man kann es negieren, man
muß es erleiden, man hört: die und die Völker ausgerottet, umgepflanzt, Grenzen in
dem und dem Maße verschoben, so und so viele hunderttausend Tote. Hier nun die Kunst, das Reich der Werte, jenseits des
Zentimetermaßes, der Arithmetik, der Waagschale. Werte: das ist, was zwischen
Menschen von Mensch zu Mensch geht. Das Opus ein Gewirr ethischer und ästhetischer
Werte. Die Güte dieses Übertragungsapparates bemißt sich nach dem, was er
überträgt, und wie er übertragen kann. Ein physikalisches Instrument, das
psychische Spannungen beherbergt wie ein Kopf.
An sich ist ein Buch, Bild ein Raumfüllsel, —
gänzlich ohne diese psychische Spannung. Nicht einmal ein Übertragungsapparat:
nämlich dazu gehört einer, der sich etwas übertragen läßt. Das ist peinlich;
Michelangelos Deckenmalerei ist Anstrich ohne den Herrn Müller und seine beiden
Töchter, die sich die Sache besehen. Es ist peinlich, aber es hilft nichts. Michelangelo hat nicht an den Herrn Müller bei seiner
Arbeit gedacht, aber von dem Augenblick an, wo er seinem Werke den Rücken kehrte,
war es auf Herrn Müller angewiesen, als auf seinen nunmehrigen Pflegevater.
Will dieser Herr nicht, so verkommt das Kind. Und so geschieht es bekanntlich: Dinge
von ehemaliger Kostbarkeit verschwinden von der Bildfläche wie nichts, ohne Recht zu
tragischer Grimasse zu haben. Was es ist, ob der Übertragungsapparat nicht
funktioniert, ob die übertragenen Werte nicht taugen, beurteilt einzig Seine Majestät
Herr Müller, es hängt von seinem Belieben ab.
Solche Zeitperiode ist ein weißer Elefant, pompös
über und über behängt mit Dingen, die ihm Spaß machen, die es fressen und saufen
kann, mit denen es sich und andere belustigt. Manchmal sitzt einer oben,
mimt den Lenker. Die Bestie trabt gigantisch vorwärts, langt sich mit dem Rüssel
heran, was es mag, wirft ab, was ihm nicht paßt, schabt sich an Bäumen, Felsen wie
eine Laus den Michelangelo ab. Man hat leicht, ironisch »Herr Müller« sagen! Es läßt
sich großartig sagen: das Kunstwerk ist ein organisches Gewächs. Ist es leider nicht,
dann brauchte es nicht nach dem genannten Herrn zu rufen, um auf seinen, nämlich
dessen Beinen zu stehen. Ist eine totale Null, von Haus aus belangloser als ein
Kretin, nicht mal soviel wert, wie eine Leiche, ja dies, woran Flaubert bluttriefend
sechs Jahre lang feilte. [3] Und in welcher Zeit wird ein Kind gezeugt
von einem Betrunkenen und einer Betrunkenen? Das Opus ist einfach von dem Range einer
alten Hose, günstigstenfalls einer neuen, und es können Debatten entstehen über den
Wertunterschied von Bratkartoffeln und einem Beethovenquintett. Kein Wunder, wenn man
das Großhirn ohne nennenswerten Schaden aus dem Kopf entfernen kann, dagegen bei dem
Versuch nichts zu essen —
Man weiß, daß in der katholischen Kirche nur der geweihte Priester die Vollmacht hat
zu absolvieren, die Pforte zum Himmel zu öffnen. In der Kunst hat Herr Müller diese
Vollmacht. Dies sind die Massen der Zeitgenossen,
ein vielgestaltiges Gebilde. Sie sind tief gestaffelt wie ein römisches
Karree und eine spanische Armada. Zähflüssig für sie wie das Magma, auf dem unsere
Erdrinde schwimmt. Sie werden wie das Individuum von hundert, sich fremden,
aneinander, durcheinander ziehenden Strömungen durchwogt, — das ist das Leben der
Massen. Hundert Instinkte brauchen Sättigung, Störung, jene Instinkte, die die Werte
spenden, von welchen alles abhängt, unsere Zeitgötter, die verblichene Marlitt, der
glatte ewige Raffael, Munch der gespenstige, Zend-Avesta [4], Räuberpistolen,
Frömmigkeit, Atheismus, Zoterei. Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen. Noch einmal müssen Fanfaren geblasen werden zum Lobe
dieser Massen und der menschlichen
Freiheit. Einmal nämlich fallen mir die Zähne aus, meine Haare werden weiß
werden, knickebeinig werde ich gehen, falls ich nicht vorher ins Gras gebissen habe.
Dann wird sich, was ich produziere, vergeblich umsehen nach einer Bewegung, die schon
längst guten Morgen gesagt hat und um die Ecke geschwunden ist, nicht ohne einen
angenehmen Duft hinterlassen zu haben. Meine armen lumpengestampften Kinder werden
ins Weinen geraten. Aus dem Kreise des Herrn Müller wird einer an sie herantreten und
wird sie fragen, wie es ihnen geht. Sie werden zusammen dinieren, Bratkartoffeln mit
Schinkenstückchen; wenn noch Krieg ist, Kohlrabi mit Wuchertunke. Es wird anders sein als in früheren Zeiten, aber es wird auch
sein.