Twilight Zones

Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880 - 1940)

Das moderne Ich

Gottfried Benn

Source: Benn, Gottfried. “Das moderne Ich.” In Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur, edited by Thomas Anz. Stuttgart: Metzler, 1982: 212-214.
First edition: Benn, Gottfried. “Das moderne Ich.” Tribüne der Kunst und Zeit 12, Berlin (1920): 47-56.
Cite as: Benn, Gottfried. “Das moderne Ich.” In Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur, edited by Thomas Anz. Stuttgart: Metzler, 1982: 212-214, in: Twilight Zones. Liminal Texts of the Long Turn of the Century (1880-1940). Eds. Knaller, Susanne/Moebius, Stephan/Scholger, Martina. hdl.handle.net/11471/555.10.14

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Domains: culture

Frame: literature and art scene

Genre: proclamation, talk

Mode: experimental

Transgression: literature/science

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Meine Herren, die Biographie des Ich ist nicht geschrieben, aber wo Sie sich in die Geschichte des Verhältnisses von Welt und Ich vertiefen, sehen Sie mit großer Deutlichkeit diese Entwicklung vor sich: die Erstarkung des Gefühls der Selbständigkeit des individuellen Subjekts. Das Ich sich zunächst durchaus in die äußere Welt hineinstellend, in seinem Bewußtsein anfangs kaum die Stellung der eigenen Person und der es umgebenden Lebewesen in seinem Weltbild unterscheidend, sammelt und konzentriert allmählich das subjektive Lebensgefühl zu der Bewußtheit von einer individuellen Existenz.

Aber dies, der Individualismus der attischen Epoche und der hellenistischen Zeit, noch durchaus objektivistisch wie das gesamte Weltbild der Periode, vollendet sich in zwei parallelen Entwicklungsreihen zu dem heutigen Bewußtsein im Sinne des Trägers der rein phänomenalen Welt.

Der Veränderung des Weltbildes, ausgehend von der durchaus pluralistischen Weltauffassung des Animismus: die Welt zerklüftet in unzählige objektive Einzelexistenzen, unter denen das Ich, ein Einzelwesen wie jene, keine irgendwie ausgezeichnete Stellung einnimmt, über des [213] Polytheismus allmählich sich verschärfende Trennung zwischen Göttern und Geistern: dem vielspältigen, unberechenbaren, launischen Wirken der Geister das irgendwie gesetzliche Walten der Götter gegenüberstellt, bis zu des Monotheismus Einheitsidee: die Welt von einem Willen, einem Gesetz geregelt, von einem Prinzip des Lebens beseelt, geht eine Entwicklung des Lebensgefühls des Menschen parallel, indem das Ich Zug für Zug jenen Gedanken des Subjektivismus in sich bildet, daß die ganze äußere Welt als ein inneres Erlebnis ihm gegeben ist.

Sie kennen den Weg von Heraklits dunklem und fast verschollenem Werk über Marc Aurels Buch an sich selbst, die Lyrik Gregors von Nazianz und Augustins Konfessionen bis zu dem großen Aufstand in der Renaissance, als das Ich es aufgab, sich nur »als Korporation oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen« (Burckhardt) zu fühlen; Ihnen steht vor Augen die dunkle Fülle subjektivistischer Motive aus der christlichen Mystik des Mittelalters, Sie erinnern sich des grundsätzlichen Zweifels an aller Realität des Descartes, des Neookkasionalismus von Malebranche, für den alle uns mögliche echte Erkenntnis sich in der Erfassung von Ideen und deren Beziehungen erschöpft, des Psychologismus Lockes und seiner Nachfolger, der Trennung Kants von Dingen an sich und Erscheinungen und schließlich vor Ihren Augen des modernen Positivismus Relativierung von Zeit und Raum geradezu orgiastischen Finales.

Nun steht es da dies Ich, Träger alles erlebten Inhaltes, allem erlebbaren Inhalt präformiert. Anfang und Ende, Echo und Rauchfang seiner selbst, Bewußtsein bis in alle Falten, Apriori experimentell evakuiert, Kosmos, Pfauenrad diskursiver Eskapaden, Gott durch keine Nieswurz zu Geräusch lanciert; — Bewußtsein, fladenhaft, Affekte Zerebrismen; Bewußtsein bis zur Lichtscheu, Sexus inhärent; Bewußtsein, Fels mit des Königs Inschrift, krank von der Syntax mythischem Du, letzter großer Buchstabe: persisch, susisch, eleamitisch, drohend Gewalt unterworfenen Ebenen: Erbe und Ende und Achämenide.

Erloschenes Auge, Pupille steht nach hinten, nirgends mehr Personen, sondern immer nur das Ich; Ohren verwachsen, lauschend in die Schnecke, doch kein Geschehnis, immer nur das Sein; überreif, faulig, giraffig, unbeschneidbar, ohne Glauben und ohne Lehre, ohne Wissenschaft und ohne Mythe, nur Bewußtsein ewig sinnlos, ewig qualbestürmt —: von den Küsten an die Strände, von den Wüsten an die Belte, über die Meere, auf die großen Schiffe, durch die Brisen, zwischen die Azorenmöven, zwischen die springenden Fische, durch die Golfströme über New-Yorkens hellstes Weib —: verfluchtes bräunliches Gestöhne, Cowboygerammel, Prärienotzucht, womöglich in Wäsche, schneeleinern, etwas abstehend, wo Kaliforniens große Frucht und Kanadas glühender Stoß des Sommers, — oder von Giften, letzten, die die Schleimhäute zerfressen, an den Abgrund der Vergehen bringt.

Erwachend: witternd: nach südlichem Wort; in die Runde: nach: ligurischem Komplexe — tödlicher, nördlicher, nebliger Fluch, abendländisches Funèbre.

Hellstes Griechenland, die Taineschen Hellenen, wie kräftig der Hals und wie hoch die Brust. Arme, sparsame, junge Rasse, Hirten von drei Oliven lebend, einer Knoblauchszehe und einem Sardellenkopf; schlafend auf Straßen, die Frauen auf den Dächern, helle Winde, Glücke um ein Nichts —, ihre Götter, die nicht sterben, die die Winde nicht erschüttern, die der Regen nie durchnäßt, die der Schnee nicht erreicht, »wo wolkenlos der Äther sich öffnet und das weiße Licht leichtfüßig läuft.« [214] Hellstes Griechenland, die Taineschen Hellenen, arme sparsame junge Rasse und plötzlich: aus Thrazien: Dionysos.

Aus den phrygischen Bergen, von Kybelens Seite, unter dem Brand von Fackeln um Mitternacht, beim Schmettern eherner Becken, einklingend ihm tieftönende Flöte von der Lippe taumelnder Auleten, umschwärmt von Mänaden in Fuchspelz und gehörnt, tritt er in die Ebene, die sich ergibt.

Kein Zaudern, keine Frage: Über die Höhen geht der Nächtliche, die Fichte im Haar, der Stiergestaltete, der Belaubte: Ihm nach nun, und nun das Haupt geschwungen, und nun den Hanf gedünstet, und nun den ungemischten Trank -: nun ist schon Wein und Honig in den Strömen - nun: Rosen, syrisch - nun: gärend Korn - nun ist die Stunde der großen Nacht, des Rausches und der entwichenen Formen.

Es ist eine Esse von Haschisch auf der Welt, zwischen Haiti und den Abiponen, es ist ein Schrei, von einer Insel an der Mündung der Loire bis zu den Tlinkitindianern nach dem Übergang, nach den Epiphanien. Es ist ein Tanz zwischen den beiden Reichen der Brüder, die Sie so umschlungen sehn: die zu Boden gesenkte Fackel halten Sie und Sie den Mohnstengel, Sie träumen und dem anderen ist es schon geschehn.

Es ist Mittag über dem Ich oder Sommer, es schweigt von Früchten, über allen Hügeln, es schweigt von Mohn. Es ruft; Echo ruft —, das ist keine Stimme, keine Antwortstimme, kein Glück, kein Ruf.

Nun eilt es durch den Hain, durch die Räucherungen der Lentisken, es ist lange nach den Adoniden, es ist Sommer, Pan glüht.

»Wo bist du, dessen Schatten vor mir geht, durch gelbe Wiesen, durch Wiesenschaumkrautwiesen, rotdörniges Land und fliedriges Gedörfe, wo bist du, ich sah dich doch am Wasser, zwischen den Ulmen, am Rand.«

»Wo ist Wasser, dort ist Meer. Es war Wasser ohne die Delphine, wo gurrt es, es ist doch Sommer, ich streifte eine Distel, von Honig ein Atem haftete an meiner Hand. Die Myrthe sir- rend, Rosmarien, Salbei, Lavendel stürmend ihren Traum; das Land räuchert, es brennt wie Harz die Insel, — wo ist Oleander, der den Bächen folgt?

Wo bist du? Ich bin einsam, ich bin immer auf den Triften, im Wachtelland bei meinen Netzen, in den Wäldern, wo verschlungen Kräuter, Iltis und Orions Stern —«

Es ist Mittag über dem Ich, oder Sommer, es schweigt von Früchten, über allen Hügeln, es schweigt von Mohn. Es ruft, Echo ruft, das ist keine Stimme, keine Antwortstimme, kein Glück, kein Ruf.

Aber es sind Felder über der Erde, die tragen nichts als Blumen des Rauschs - halt an, Narciß, es starben die Moiren, mit den Menschen sprichst du wie mit Wind —, wie weit du fühltest, wie weit du spültest, dir ward dein eignes lyäisches Bild.

Narciß, Narciß, es schweigen die Wälder, die Meere schweigen um Schatten und Baum: — Du, Erde, Wolken, Meer, um deine Schultern, schreiend nach Zeugung, hungernd in den Fäusten, dir Stücke aus dem Leib der Welt zu reißen, sie formend und sich tief in sie vergessend, aus aller Not und Scham der Einsamkeit - dann: über die Lider des Baumes Hauch, dann: Gurren, dann: zwischen Asphodelen schaust du dich selbst in stygischer Flut.

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