Grazer didaktisches Textportal zur Literatur des Mittelalters

Bitte um Inspiration (V. 1-22)
Marîâ, muoter, küneginne,
Maria, Mutter, Königin,
Befreierin der ganzen Welt:
verlîch mir, vrouwe, solhe sinne
Verleihe mir, Herrin, die nötige Geisteskraft,
daz ich diss püechelîns beginne
um dieses Büchlein zu beginnen
dâ ich dich müge loben inne,
und dich darin zu preisen,
dâ von ich dîn genâde gewinne
damit ich dadurch deine Gnade erlange
und Jêsus, dînes kindes, minne,
und die Liebe deines Sohnes Jesus -
des hilf mir, wîsiu meisterinne!
dazu verhilf mir, weise Lehrmeisterin!
Ich wil schrîben, reiniu magt,
Ich will alles aufschreiben, reine Jungfrau,
allez daz diu schrift uns sagt
was die Heilige Schrift uns berichtet
von dîner grôzen heilikeit
von deiner großen Heiligkeit
und dînes lîbes reinikeit.
und der Makellosigkeit deiner Person.
swaz ich gehôrt hân und gelesen
Alles, was ich von dir gehört und gelesen habe,
von dir, swâ ich pin gewesen,
wo immer ich herumkam,
daz wil ich al der werlde künden,
das will ich der ganzen Welt kundtun,
daz du, vrowe, von mînen sünden
damit du, Herrin, mich
genædiclîche helfest mir,
gnädig aus meinen Sünden befreist,
wand al mîn trôst der stêt an dir.
denn all mein Trost liegt in dir.
reiniu Marjâ, nu bite ich dich
Reine Maria, darum bitte ich dich nun,
daz du geruochest lêren mich,
dass du mich unterweisen mögest,
daz ich ditze puoch volbringen müeze,
damit ich dieses Buch zustande bringen kann;
des hilf mir, reiniu magt süeze!
dabei hilf mir, reine, liebe Jungfrau!
Das Aussehen Marias (V. 798-851/887)
Swâ Marîâ hin gienc,
Wo Maria auch hinging,
nider ir houbt ein wênic hienc.
sie hielt ihren Kopf ein wenig gesenkt.
ûfreht sî doch ze gên phlac
Ihr Gang war jedoch stets aufrecht,
und nider mit den ougen sach.
während sie ihre Augen nach unten richtete.
Sie ließ es nicht zu
daz sî niht möhten des gesehen
dass ihr Blick auf etwas fiel,
daz ir herze mohte gekrenken
was ihr Herz belasten
und niemen valsch ûf sî gedenken.
und unreine Gedanken auf sie lenken könnte.
als iemen kam zuo der süezen
Wenn jemand auf Maria zukam,
Marîen, der sî wolde grüezen,
der sie grüßen wollte,
dem antwurts vil diemüeticlîche
war ihre Erwiderung demütig
und dancte im andæhteclîche.
und sie dankte ihm voller Ehrfurcht.
solher worte hete sî site,
Sie antwortete den Leuten stets
dâ sî den liuten dancte mite:
mit den folgenden Grußworten:
‚got sî gelobt von himelrîch
„Gott sei gelobt im Himmelreich
und sîn vride gesegene dich.‘
und sein Friede segne dicht.“
Envollen niemen mac gereiten
Niemand wird es je vermögen,
Marîen lop und daz gebreiten
Maria und all ihren guten Eigenschaften
und al die tugent der sî phlac:
mit seinem Lob gerecht zu werden:
heiliger vrowen nie mensche gesach.
Denn nie sah man eine vollkommenere Frau als sie.
Auf folgende Weise beschrieb der heilige Epiphanius
in sînem buoche schrîbt alsus
in seinem Buch,
von sant Marîen, der magt hêre,
wie die heilige Maria,
wie daz sî gestalt wære,
die himmlische Magd, aussah,
wie schœne und ouch wie wol getân,
wie schön und wohlgeraten,
wie minneclîch und wunnesam.
wie leibreizend und herrlich sie war.
dar umbe schrîbet er uns ouch daz,
Dabei schildert er uns auch genau,
als Marjâ geziert was
was Maria auszeichnete,
an ir sêl mit tugenden rîch,
und dass ihre Seele so vorbildlich war,
als was diu vrouwe wunneclîch
wie sie sich als Frau leibreizend
und wol getân an ir lîbe:
und von feiner Gestalt zeigte:
sî was schœnest aller wîbe.
Sie war die schönste aller Frauen!
sî was wîz, schœn unde blanc,
Sie war hellhäutig, von leuchtender Schönheit
sî was niht kurz, ze mâzen lanc.
und dabei nicht zu klein und nicht zu groß.
ir houbt was wîz und wol gevar,
Ihr Kopf war strahlend hell,
frei von jeglichem Makel.
gel und goltvar was ir hâr,
Goldblond waren ihre Haare,
daz sagt uns diu schrift vür wâr.
wie uns die Schrift zuverlässig berichtet.
ir zopfe grôz, lanc unde sleht,
Ihre prächtigen Zöpfe waren lang und fest,
schône gevlohten unde reht.
hübsch und sorgfältig geflochten.
ir brân wârn brûn unde smal,
Ihre Augenbrauen waren dunkel und schmal,
wol getân ouch daz hirnstal.
auch ihre Stirn war schön bemessen.
ir ougen sam daz kerzenlieht
Ihre Augen leuchteten
lûhten unde wâren niht
wie das Kerzenlicht
noch ze grôz noch ze kleine:
und waren weder zu groß noch zu klein:
wol gelîch dem edelen steine
Sie glichen dem Edelstein,
der saphîrus ist genant
der Saphir heißt,
oder dem der heizt jochant.
oder auch dem Hyazintstein.
daz wîze inn ougen milchvar was,
Das milchige Weiß ihrer Augen
glîzent als daz wîze glas.
schimmerte wie reinstes Glas.
ir nase was sleht und wol getân,
Ihre Nase war gerade und wohlgeraten,
aller slahte wandels ân.
vollkommen fehlerlos.
ir mündelîn was wunneclîch
Ihr Mündlein war herzig
und an ze schouwen minneclîch.
und wahrhaft liebreizend anzusehen.
ir lefse rôt und rôsenvar,
Ihre Lippen waren rot und rosenfarben
reine und ân gepresten gar.
herrlich und gar fehlerlos.
alle gelîch und wol gereht
Ihre Zähne waren alle ebenmäßig,
ir zende wâren und vil sleht.
gleichförmig angeordnet und sehr gerade.
ir wengel wâren liljenvar,
Ihre Wangen hatten die Farbe von Lilien
und het sich ouch gemischet dar
doch hatte sich auch die Farbe roter Rosen
rôter rôsen varwe unt schîn,
leuchtend darunter gemischt,
dâ von wurden diu wenglîn
wovon die Wänglein geziert wurden,
geziert sam der ein rôsenblat
wie wenn man ein Rosenblatt
leit ûf ein liljen diu wîz stât.
auf eine weiße Lilie legt.
ir kinne daz war sinewel,
Ihr Kinn war rund
und schön, ohne irgendeinen Makel.
mitten gie ein grüebelîn
In der Mitte ging ein Grübchen
durch daz kinne, dâ von sin
durch das Kinn, wovon
gezierede deste groezer was,
seine Zierde umso größer wurde
daz antlütze stuont ouch deste baz.
und das Antlitz umso besser aussah.
ir kel was wîz unde blanc,
Ihre Kehle war weiß und hell,
ir hals niht dic, zu mâzen lanc.
ihr Hals nicht dick und von richtiger Länge.
sô schoener lîp und sêle reine
Ein so schöner Körper und eine so reine Seele
wurden mit Ausnahme von Gottes Sohn
gesament wurden nie gemeine
nie sonst miteinander verbunden,
als an der magt Marîen reine.
nur in der reinen Jungfrau Maria.
wîz und schoene Marîen hende
Hell und schön waren Marias Hände
wâren unde wol behende
und gar geschickt
ze allem werke vröuwelîch,
bei allen weiblichen Aufgaben,
diu ir waren zimelîch.
die ihr angemessen waren.
ir vinger wâren blanc unt smal,
Ihre bleichen Finger waren schmal,
ir negel rein, schoen über al.
ihre Fingernägel rein und gar schön.
hovelîch was ir gên ir stên,
Höfisch war ihr Gang und ihre Haltung,
wunneclîch ir ougen sên.
liebreizend ihr Blick.
al ir site und ir gebâren
Alle ihre Angewohnheiten und ihr Benehmen
schoene und ouch zühtic wâren,
waren so schön anzusehen und züchtig,
daz alle die ir leben sâhen
dass alle, die Marias Leben sahen,
des alle mit einander jâhen
übereinstimmend sagten,
daz si waere sunderlîche
dass sie ganz besonders
genâden vol von himelrîche.
von himmlischer Gnade erfüllt sei.
Widmung des Buches (V. 10082-10092)
swer daz hœren unde lesen
Wer das hört, liest
und ouch schrîben heizen wil,
oder abschreiben lässt,
dem gît Marîâ gnâden vil.
dem wird Marias Gnade reichlich zuteil.
sî hilft im ouch ûz sîner nôt,
Sie hilft ihm auch aus seiner Not,
daz er nimmer bœsen tôt
damit er niemals einen schweren Tod
gewinnet an des lîbes ende.
erleidet an seinem Lebensende.
ouch ditz büechelîn ich sende
Ich widme dieses Büchlein ferner
an den bruodern von dem diutschen hûs,
den Brüdern vom Deutschen Orden,
die hân ich lange erkorn ûz,
die ich schon lange schätze,
wan sî gern Marîen êrent
denn sie verehren Maria sehr
und den gelouben Christes mêrent.
und verbreiten den Glauben an Christus.
Verteidigung gegen Kritiker und Bitte um das Seelenheil (V. 10103-10133)
den ungelerten und den affen
Jeglichen Widerspruch verbiete ich
den verbiut ich widerklaffen,
den Ungebildeten und Narren,
die ir tôrheit dâ mit meldent
die ihre Dummheit dadurch offenbaren,
daz sî zaller zît das scheltent
dass sie zu jeder Zeit das schlecht machen,
daz sî selbe niht erkunnen,
was sie selbst nicht zu Stande bringen
des wellent sî doch niemen gunnen.
und deshalb auch sonst niemandem zugestehen wollen.
swer doch wil ditz büechelîn
Wer jedoch dieses Büchlein
bezzern mit den sinnen sîn
voll Verstand verbessern
und mit getihte daz gemêren
und diese Dichtung zum Lob und Preis
ze lobe Marîen und ze êren,
Marias bereichern will,
dem wil ich gerne erlouben daz:
dem möchte ich das gerne erlauben:
ich kan ez niht gemeistern baz.
Ich selber kann es nicht besser vollbringen.
alle die in disem buoche
Alle, die in diesem Buch lesen,
lesent, der genâde ich suoche,
ersuche ich um ihre Gnade,
daz sî wellent haben staete
auf dass sie mich in Gottes Namen
mich durch got an ir gebete
stets in ihr Gebet einschließen
und biten Jêsum daz er sich
und Jesus bitten, dass er sich
welle erbarmen über mich.
über mich erbarmen möge.
bruoder Philipp bin ich genant,
Ich werde Bruder Philipp genannt,
Gott ganz zu ergründen, gelingt mir leider nicht.
In dem Orden der Karthäuser
geschriben hân ich in dem hûs
habe ich in der Niederlassung zu Seitz
ze Seitz ditz selbe büechelîn:
dieses Büchlein geschrieben:
sand Jôsep was der maner mîn
Der Hl. Josef war mein Ermahner,
der Marîen huoter was,
er war auch der Beschützer Marias,
diu Jêsus, gotes suns, genas.
die Jesus, Gottes Sohn, gebar.
der selbe Jêsus müez uns geben
Derselbe Jesus möge uns angesichts
trôst durch sîner muoter leben.
des Lebenswandels seiner Mutter Gnade gewähren!
Marîen leben gêt hie ûz.
Das ‚Marienleben‘ geht hier zu Ende.
nu helf uns ir kint Jêsus.
Stehe uns nun ihr Kind, Jesus, bei!
Amen!
Amen!