Reinhold Köhler an Hugo Schuchardt (024-05695)

von Reinhold Köhler

an Hugo Schuchardt

Weimar

31. 12. 1868

language Deutsch

Schlagwörter: Großherzogliche Bibliothek Weimar Italienischsprachige Literatur Académie françaiselanguage Sizilianische Dialekte Fernow, Hans Eduard Liebrecht, Felix Teza, Emilio Bartsch, Karl Friedrich Boccaccio, Giovanni Ritschl, Friedrich Wilhelm Mussafia, Adolf Lemcke, Ludwig Richter, Gustav Schneller, Christian Italien Rom Neapel Messina Bologna Venedig Mailand Weimar Gotha Ersch, Johann Samuel/Gruber, Johann Gottfried (Hrsg.) (1884) Schuchardt, Hugo (1868) Corssen, Wilhelm (1858–1859) Schneller, Christian (1867) Schneller, Christian (1870)

Zitiervorschlag: Reinhold Köhler an Hugo Schuchardt (024-05695). Weimar, 31. 12. 1868. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6673, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6673.


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[Weimar, 31.12.1868]

Lieber Herr Doctor!

Mit Ihrem interessanten Briefe haben Sie mir eine rechte Freude gemacht und ich danke Ihnen herzlichst dafür. Ich hatte schon lange gewünscht, wieder einmal etwas von Ihnen zu hören. Ich freue mich, daß Sie sich nun entschlossen haben, ganz Romanist zu werden. Alterthums- und Kunstforscher reisen jahr aus, jahr ein so viele nach Italien und nach Rom, aber wie selten sind die, welche die Sprache und die Sitten etc. der heutigen Italiener wissenschaftl., nicht blos touristisch zu erkundigen sich vorsetzen. Also Glück auf dabei!

Um gleich Ihrer Bitte wegen Miccheli1 zu genügen, so kann ich Ihnen die erfreuliche Nachricht geben, daß seine Handschriftliche Poesie und seine handschr. Libertà Romana aus Fernows Nachlaß in die hiesige Grßh. Bibliothek übergegangen sind. Die beiden Hss. stehen Ihnen nach Ihrer Rückkehr nach Deutschland jederzeit zu Diensten (+ Natürlich bin ich auch, wenn Sie deren noch in Italien bedürftig sind, gern zu Mittheilungen über und aus den Hss. gern bereit). Unsre Bibliothek besitzt auch aus Fernows Bibliothek viele gedruckte mundartliche italienische Werke, so z. B. die von ihm erwähnten römischen Dichtungen Il maggio romanesco und Il Meo Patacco. Auch Abbattutis (Basiles) Pentamerone besitzen wir in mehreren Ausgaben. Ich selbst besitze ihn in der Ausgabe von 1788 (Neapel) und in Felix Liebrechts trefflicher deutscher Übersetzung und benutze ihn bei meinen Märchenstudien2 unablässig.

Daß in Rom selbst Märchen kaum vorkommen mögen, glaube ich gern. Dagegen müssen im Gebirge wol noch viele existiren u. die nach Rom kommenden Modelle dürften oft auch Quellen sein. So hat mir Hermann Grimm3 einige |2| mitgetheilt, die ihm ein männliches Modell aus Sora (Neapel) in Rom erzählt hatte, u. ich habe sie in Lemckes Jahrbuch herausgegeben.4 Im Augenblick habe ich eine Menge sicilischer, zum Theil sehr anziehender Märchen in Händen, die eine in Messina geborene Deutsche für Dr. Hartwig in Marburg5 gesammelt u. in deutsche Sprache – mit gelegentlicher Angabe einzelner Stellen in sicilischer Mundart – aufgezeichnet hat. Die Märchen werden demnächst mit Anmerkungen von mir erscheinen.6 Sammeln Sie doch in Rom was Sie von Volksbüchern, Storie popolari u. dgl. auftreiben können. Ich selbst besitze durch Tezas7 Freundlichkeit und durch Erwerb bei deutschen Antiquaren und aus Auctionen eine hübsche Anzahl, meist Drucke aus diesem Jhrh. aus Bologna und Todi, auch aus Venezia, Milano, Lucca, Bassano, Foligno. Römische Drucke habe ich gar nicht.

Wilhelm Müller,8 der sich für römisches u. ital. Leben u. Sprache sehr interessierte wie sein Buch „Rom u. die Römer“ und seine Volksliedersammlung „Egeria“ beweist, hat in seiner schönen Novelle „Debora“ ein römisches Volksgedicht aus den ersten Jahrzehnten dieses Jhrh. erwähnt, worin in die Ottaven – fast alle ital. Volksbücher sind in Ottaven – die Geschichte eines jungen Spaniers Don Alonso de Floridias erzählt ist, der eine Jüdin im römischen Ghetto bekehrt hatte u. von den Juden ermordet wurde. Sollte dies Gedicht, welches schwerl. eine Fiction Müllers ist, nicht noch aufzutreiben sein?9 Könnten Sie mir vielleicht auch verschaffen

Novelluzze ed Esempli morali, Thoma topografia al Sole 1861?10

Noch ein Anliegen, auf das ich erst dieser Tage gekommen bin. Ich habe übernommen für die Encyclpädie von Ersch und Gruber bis um 1. März |3| einen eingehenden Artikel über Griseldis zu liefern.11 Nun ist in Greiths Spicilegium Vaticanum12 S. 85 verzeichnet

LIII. Grisilidis Romancium gallicum. Chr. 1514.

LIV. Grisilidis Romancium gallicum. Chr. 1519.13

Es wäre mir sehr lieb, wenn ich durch Sie oder durch Bartsch, den ich herzlich zu grüßen bitte, etwas über beide Handschriften erfahren würde. Sind es Gedichte oder Prosa? Wie verhalten sie sich zueinander und zu Boccaccios bekannter Novelle?

Daß Ihr Snip Snap Sn. gedruckt ist, wissen Sie vielleicht? Neulich hatte der Verleger einen Wechsel für das Honorar an eine hiesige Buchhandlung geschickt, damit ich es für Sie in Empfang nehmen sollte, ich habe aber der Buchhandlung die Weisung gegeben, den Wechsel an Ihren Hr. Vater zu schicken.14

Den 3ten Band Ihres Werkes15 habe ich zugeschickt erhalten – wol durch Ihren Vater – und danke Ihnen herzlich. Lassen Sie nur die classischen Philologen im einzelnen daran mäkeln! Sie haben doch die Ehre und das Verdienst zum erstenmal ein eingehendes Werk über den Gegenstand geschrieben zu haben, Sie können sich rühmen, der Wissenschaft in fruchtbarster Weise gedient zu haben. Und obendrein wer kann sich gleich Ihnen auf ein dreibändiges Erstlingswerk berufen? Hat doch auch die franz. Akademie Ihr Buch gerühmt und muss doch auch Corssen in seiner neuen Ausgabe16 anerkennen, was er Ihnen schuldet. Mag also Ritschl indirect mäklen,17 es wird ihm auf die Dauer doch nichts helfen.

Ich halte die Aussichten für Romanisten keineswegs für schlecht. Sie müssen sich aber auch noch auf das Englische legen, denn wol an den meisten Univer- |4| sitäten ist nur eine Professur für roman. u. engl. Sprachen u. Litt.

Von mir habe ich Ihnen nichts besonderes mitzutheilen. Ich bin dies ganze Jahr fast gar nicht aus Weimar weggekommen, nur die Würzburger Philologenversammlung habe ich besucht.18 Leider fehlten dort manche, auf die ich gehofft hatte, so Mussafia, Bartsch, Lemcke. Übrigens war aber auch diese Versammlung angenehm und anregend. Auf der Rückreise habe ich auch einen Nachmittag in Gotha in Pertsch19 Gesellschaft zugebracht, der mir von Ihnen keine nähere Nachricht zu geben wußte. Von Coburg bis Eisenach fuhr ich mit Ihrem Freund Richter20 aus Pforta. Sie wissen vielleicht noch nicht, daß Richter Ostern hierher an unser Gymnasium kömmt. Daran ist die Würzburger Versammlung Schuld, wo R. viel mit dem hiesigen Gymnasialdirektor, der in Würzburg auf der Lehrerjagd war, zusammengekommen war u. ihm sehr gefallen hatte.

Zum Schluß noch die gewiss interessierende Mittheilung, daß Professor Schneller,21 seit kurzem am Gymnasium in Innsbruck, vorher 12 Jahre Gymnasiallehrer in Roveredo, der im vorigen Jahr eine interessante Sammlung „Sagen und Märchen aus Wälschtirol“ herausgegeben hat, eine größere Arbeit über sämtliche italienische und ladinische Mundarten Südtirols (Grammatik, Idiotikon, Litteratur & Mundarten, etwa 100 Volkslieder) fertig hat.22

Doch nun schließe ich! Seien Sie herzlichst gegrüßt und lassen Sie es sich noch möglichst lange in dem schönen Rom recht wol gehen! Mit den besten Glückwünschen zum neuen Jahr

Ihr ergebener

Reinhold Köhler

Weimar,

31. Dec. 1868


1 Vgl. Schuchardts Brief vom 18.12.1868.

2 Köhler, Aufsätze über Märchen und Volkslied, Berlin: Weidmann, 1894 .

3 Hermann Grimm (1828-1901), Sohn von Wilhelm Grimm, Kunsthistoriker (Nachfolger Wölfflins) und Goethe-Forscher.

4 Köhler, „Italienische Volksmärchen“, Jb. f. rom. u. engl. Literatur 8, 1865, 241-270 . Dort heißt es im Vorwort: „Die nachstehenden drei italienischen Volksmärchen verdanke ich der freundlichen Mittheilung des Herrn Dr. Hermann Grimm in Berlin. Ein siebzehnjähriger, sehr schöner junger Mensch aus der Gegend von Sora im Neapolitanischen, welcher den Malern in Rom als Modell diente, hat sie ihm im Februar 1862 in Rom erzählt“.

5 Otto Hartwig (1830-1903), Bibliothekar und Historiker zunächst in Marburg, später in Halle.

6 Sicilianische Märchen. Aus dem Volksmund gesammelt, mit Anmerkungen Reinhold Köhler’s und einer Einleitung hrsg. von Otto Hartwig, 2 Teile, Leipzig: Engelmann 1870. – Die Märchenerzählerin war die in Messina geb. Schweizerin Laura Gonzenbach, verh. La Racine (1842-1878).

7 Emilio Teza, vgl Brief 05694. In Weimar, GSA 109/782 gibt es im NL Köhlers 54 Briefe aus den Jahren 1864-88 an ihn.

8 Ludwig Wilhem Müller (1794-1832), deutscher Dichter, dessen Gedichte z. T. von Franz Schubert vertont wurden. Die Geschichte von Don Alonso findet sich bei Wilhelm Müller, „Debora“, in: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. Paul Heyse u. Hermann Kurz, Bd. 218, Berlin 1910, 1-148, hier 58f .

9 Quelle nicht nachgewiesen.

10 Francesco Saverio Zambrini, Novelluzze ed esempli morali con una notevole pistola; tratta dal Cod. Vaticano N. 1860; testi inediti del buon secolo, pubbl. per cura di F. D. V., Roma 1861.

11 Köhler, „Griselda (Griseldis)“, Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste. Hrsg. von Johann Samuel Ersch / Johann Gottfried Gruber. Band: Sect. A-G; Sec. 1, Th. 91, Leipzig1871, 413-421; wieder abgedr. als Nr 66a in: Köhler, Kleinere Schriften 2. Band: Zur erzählenden Dichtung des Mittelalters, Berlin: Emil Felber, 1900, 501-545.

12 Carl Johann Greith, Spicilegium Vaticanum. Beiträge zur näheren Kenntnis der Vatikanischen Bibliothek für Deutsche Poesie des Mittelalters, Frauenfeld: Ch. Beyel, 1838.

13 Vgl. Ernest Langlois, „Notices des manuscrits français et provençaux de Rome antérieurs au XVIe siècle“, Notices et extraits des manuscrits de la Bibliothèque nationale et autres bibliothèques, 33:2, 1889, 1-347, hier 184-1875.

14 Vgl. Schuchardts Brief Gotha, 16.3.67.

15 Schuchardt, Vokalismus des Vulgärlateins III, 1868.

16 Paul Wilhem Corssen, Über Aussprache, Vokalismus und Betonung der lateinischen Sprache I, Leipzig 1868, XI: „Die reichen und fleissigen Sammlungen von Schreibweisen spätlateinischer Schriftstücke in dem Buche von H. Schuchardt: der Vokalismus des Vulgärlateins, als dessen ersten Zweck der Verfasser das Zusammentragen und Aufschichten von Bausteinen angiebt, erkenne ich als verdienstlich sowohl für die Sprachforschung als für handschriftliche Kritik vollkommen an, und hebe ausdrücklich hervor, dass sie mir für die Berichtigung und Erweiterung meiner Ansichten über die spätlateinische Volkssprache von wesentlichem Nutzen gewesen sind. Aber ich habe dieselben mit grosser Vorsicht benutzt, da ich die Ueberzeugung hege, dass sich unter den von Schuchardt aufgeschichteten Bausteinen viel mehr untaugliches Gerüll befindet, als er selbst anzunehmen geneigt ist, dass hier neben ächten Sprachformen der spätlateinischen Volkssprache Massen von Schreibfehlern angehäuft sind aus den Zeiten verwilderten Lateinischen und Griechischen Orthographie in der Hand von Ungebildeten und Halbgebildeten, nachdem im vierten und fünften Jahrhundert nach Christus der Vokalismus der Lateinischen und der Griechischen Sprache bis zur Lautgestaltung der Romanischen Sprachen und des Neugriechischen entartet war, und nun Schreibweisen nach der neueren Aussprache mit der Rechtschreibung nach der älteren Aussprache oder nach der Etymologie der Wortformen in wüstem Wirrwarr durcheinander gemengt wurden“ usw.

17 Vgl. Ritschls säuerlichen Brief vom 19.3.1866 (HSA 2-09670).

18 Vgl. Verhandlungen der sechsundzwanzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Würzburg vom 30. September bis 3. October 1868, Leipzig 1869.

19 Wilhelm Pertsch (1832-1899), Orientalist u. Bibiothekar in Gotha.

20 Gustav Richter (1838-1904), Historiker, Gymnasiallehrer in Posen, Schulpforta und Weimar; Kommilitone Schuchardts aus Bonner Tagen.

21 Christian Schneller (1831-1908), Lehrer und Volkskundler.

22 Schneller, Sagen und Märchen aus Wälschtirol; ein Beitrag zur deutschen Sagenkunde, Innsbruck: Wagner, 1867; Die romanischen Volksmundarten in Südtirol: Nach ihrem Zusammenhange mit den romanischen und germanischen Sprachen etymologisch und grammatikalisch dargestellt. Erster Band: Literatur, Einleitung, Lautlehre, Idioticon, Gera: Amthor, 1870.

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