Ferdinand Hestermann an Hugo Schuchardt (2-04697)

von Ferdinand Hestermann

an Hugo Schuchardt

Wien

01. 01. 1916

language Deutsch

Schlagwörter: Anthropos Universität Wien Erster Weltkrieg Biographisches Publikationsversand Privatbibliotheken Bitte um Publikationszusendung Gründung von Zeitschriften Vergleichende Sprachwissenschaft Neujahrsgrüßelanguage Georgischlanguage Kaukasische Sprachenlanguage Russischlanguage Englisch Schmidt, Wilhelm

Zitiervorschlag: Ferdinand Hestermann an Hugo Schuchardt (2-04697). Wien, 01. 01. 1916. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6643, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6643.


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Wien, am 1. Jänner 1916.

Sehr verehrter Herr Hofrat!

Zunächst benütze ich die durch den heutigen Tag gegebene Veranlassung, Ihnen, sehr geehrter Herr Hofrat, meine ganz ergebensten Wünsche zum Jahreswechsel darzubringen. Möge Ihnen dieses neue Jahr ebenso wie bisher in unverminderter Kraft an den großen Zielen mitzuarbeiten verstatten, denen auch wir unsere Kräfte widmen, und die in Ihrer verehrten Person einen ihrer ersten Förderer sehen müssen.

Dann bitte ich gütigst zur Kenntnis nehmen zu wollen, - - was ich Herrn Hofrat längst würde mitgeteilt haben, hätte ich nicht erst vorgestern das Glück gehabt, Ihre werte Adresse zu bekommen - - daß ich mit dem ersten des Oktober aus der Redaktion des Anthropos1 ausgetreten bin,2 und nunmehr meiner Graduierung an der Wiener Universität obliege. Ich hatte ja in meinem Leben noch keine Vorlesung gehört, nicht die geringste Ahnung vom Betrieb an unseren Hochschulen, meine ganze Wissenschaft war autodidaktisch, auch H. P. Schmidt3 war, nebenbei bemerkt, nie mein Lehrer, und etwaige Äußerungen in meinen Arbeiten darüber sind reine Lizenzen und Floskeln. Aus letzterem Umstand erklärt sich auch mein linguistisch-methodischer Gegensatz zu seiner Methode. Genug, der Krieg hat auch hier Wandlungen gebracht, die zwar nicht so vorauszusehen waren, aber dennoch einem seit Jahren verhaltenen Wunsche entsprachen. So war es dazu gekommen, daß mehrere Herren sich mehrjährigen Studien hingeben konnten, auch solche, die auf der Arbeitsrampe des Anthropos dann garnicht erschienen, während ich in der Redaktion saß, und Anforderungen zu entsprechen mich bemüßigt fand, denen ich allmählich unmöglich gewachsen bleiben konnte.

Daß ich durch meine Umsattelung in eine sehr trostlose Lage kommen mußte, konnte niemandem so klar sein als es mir selber war. Denn meine gesamten Bücher, Rezensionsexemplare und eigene, Alles was ich hatte, verschwand in der Redaktionsbibliothek des Anthropos, und ich stand ohne jede Stellung da. Ich war mit einemmale auf meine Malerei angewiesen, die auch heute immer noch meine letzte Hoffnung ist.

Trotzdem ist es mir schon gelungen, die Dispens von der Matura zu erlangen, und stehe ich eben vor dem Gesuch um Dispens von den geforderten Semestern. Dann werde ich zu doktorieren versuchen usw.

Auch hat mich die veränderte Lebenslage, die infolge der soso herrschenden traurigen Zeiten Ungeheuerliches von einem Existenzlosen verlangen, nicht abgehalten, wissenschaftlich zu arbeiten. Denn ich beginne mit dem heutigen Tage seit dem 1. Okt. schon die dritte Arbeit.

Meine zuletzt erschienene Arbeit über die Lolo-Syllabare erlaube ich mir mit gleicher Post ganz ergebenst zu übersenden.4

Und wenn ich eine bescheidene Bitte wagen dürfte, so wäre es diese: ob Herr Hofrat nicht in der Lage wären, meiner fast gänzlichen Bücherlosigkeit durch leicht zu erübrigende Separata aus Ihrer geschätzten Feder ein wenig abzuhelfen. Dafür würde ich ganz besonders dankbar sein. Wie schon betont, besitze ich gar nichts mehr und fang ganz von vorne an.

Es wird Herrn Hofrat wohl auch interessieren, daß ich, seitdem ich das Vergnügen hatte, bei Ihnen einmal vorzusprechen, der Kaukasischen Sprachen mich ganz besonders angenommen habe. Schon damals fand ich mich in dem leihweisen Besitz eines altgeorgischen Ms, und seitdem habe ich die gesamten Ms-Bestände des Georgischen fertig, nach dem Russischen, Englischen, Georgischen usw. Das Ganze ist druckfertig und dürfte der Krieg ja unser Interesse in dieser Hinsicht wohl nur günstig beeinflussen. Ich hatte dabei auch an das in Ih- |2| rem Besitz befindliche Ms gedacht,5 dessen Geschichte und Bestimmung ich ganz zufällig einmal in Wien erfahren habe. Jetzt hätte das Nähere darüber ja noch Zeit.

Etwas ganz Neues, wozu ich sehr gern die Ansicht von Ihnen, sehr verehrter Herr Hofrat hätte, wäre Folgendes:

In Wiener Kreisen, denen die Zukunft Österreich-Ungarns am Herzen liegt, also mehr bei bestgesinnten Politikern als in wissenschaftlichen Zirkeln, sprach dieser oder jener die Meinung aus, wir müßten vor allen Dingen in Österreich Dinge zu erreichen suchen, die in Deutschland und vielleicht auch sonst noch nirgends vorhanden seien. Dem gegenüber wies ein junger Orientalist auf das Fehlen einer Zeitschrift für Vergleichende Sprachwissenschaft hin (nicht = Vergleichende Indogermanistik). Derselbe betonte zugleich, es müsse eine Gesellschaft begründet werden, deren Organ die zu gründende Zeitschrift sein müsse. Mit diesem fertigen und so formulierten Gedanken kam man zu mir. Ich konnte dem Vorgebrachten hinzufügen, daß ja die Redaktion des Anthropos mit 1. Jänner oder “16 eine rein ethnologische Zeitschrift herauszugeben beabsichtige, jedenfalls in Hinkunft eine Trennung vorgenommen werde. In diesem Sinne war ja auch die Sprachen-Bibliothek am Anthropos begründet worden.

Man kann nun nicht sagen, daß die Sache sehr vertrauenerweckend sich ausnehme, aber der Gedanke, eine Gesellschaft für diesen Zweck zu gründen, ist doch sehr vorteilhaft. Jedenfalls habe ich durch meine Weigerung der Sache nicht schaden wollen, ja ich muß sogar sagen, ich habe mich mit großer Hingebung der Sache gewidmet. Bereits mehreren Herren habe ich die Ansicht vorgelegt, und bis jetzt darin äußerst sympathische Zustimmung gefunden. Ich dachte an Herren aus Österreich-Ungarn, Deutschland, Holland, Schweden, Schweiz, evtl aus den Tropen noch welche. Freilich betont man, und gewiß mit Recht, die ganz sichere Fundierung der Sache.

Nun hätte Wien einen Vorzug darin, daß an seiner Akademie direkt eine Stiftung zur Herausgabe illiterater Sprachen besteht.6 In Wien brauchte sie auch nicht „… für Kolonialsprachen“ zu heißen. Jedenfalls werde ich, soviel an mir liegt, alles tun, alles an Stimmung für die Sache zu wecken, das nur zu wecken ist.

Sollten Herr Hofrat mir die Ehre einer Antwort über diesen Punkt schenken, so bitte ich, meine Adresse - - unter Weglassung des geistlichen Titels, da ich privat und zivil zu wohnen gezwungen bin - - Wien XII, Graf Seilerngasse 22/II dafür gütigst zu benützen.

Indem ich nun nochmals meine eben geäußerten Wünsche wiederhole, bitte ich auch fernerhin Ihr geneigtes Wohwollen gütigst bewahren zu wollen, indem ich bin

geschätztem Herrn Hofrat

ganz ergebenster

Ferdinand Hestermann
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1 Zur Zeitschrift selber vgl. Rudolf Rahmann, „ Fünfzig Jahre ,Anthropos‘ “, Anthropos 51, 1956, 1-18; Anton Quack, „ 100 Years of ,Anthropos‘ “, Anthropos 101, 2006, 3-7.

2 Offenbar hat Hestermann seine Sprachkenntnisse im Selbstunterricht und nicht als Missionar vor Ort erworben, vgl. z.B. P. Franz Vormann, S.V.D. / P. Wilh. Scharfenberger, S.V.D., Die Monumbo-Sprache. Grammatik und Wörterverzeichnis. Mit Einleitung und Anhang von Ferd. Hestermann, Wien: Mechitharisten-Buchdr. - Wien: Admin. d. Athropos, 1914 (Anthroposophische Linguistische Bibliothek; 1). – Monumbo ist eine papuanische Sprache in Neuginea.

3 Vermutlich „Herr Pater Schmidt“. Dieser stattet ihm seinen Dank ab in der Vorrede zu „ Kulturkreise und Kulturschichten in Südamerika “ ( Zeitschrift für Ethnologie 45. Jg., 1913, 1010-1130). Hier sei aus der brasilianischen Übers. vom Jahr 1942 (Companhia Editora Nacional), S. 11 zitiert: „Devo agradecer em particular ao meu confrade P. F. Hestermann, que me auxiliou tanto na compilação de material e com os seus preciosos conhecimentos de linguistica sul-americana; foi graças ás suas indicações que se tornou possivel delinear a carta linguistica da America do Sul, annexa ao presente estudo“. (Die Karte findet sich auf S. 242).

4 Hestermann, „ Die nichtchinesische Schrift der Lolo in Yünnan (Südwestchina) “, Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 29, 1915, 231-245.

5 Zu Einzelheiten vgl. Brief 01-05535 (Grigor Khalatian, Moskau, 29.7.1897, an Hugo Schuchardt).

6 Kommission zur Erforschung von illiteraten Sprachen außereuropäischer Völker (1897–1938). Von der ph. Kl. als Kommission zur Erforschung amerikanischer, asiatischer und afrikanischer Sprachen eingesetzt am 3. Februar 1897, umbenannt 1910, durch Vereinigung mit der Kommission zur Herausgabe der in den Kriegsgefangenenlagern aufgenommenen Gesänge und Texte aufgegangen in der Kommission zur Erforschung primitiver Kulturen und Sprachen (Ethnologische Kommission) am 2. März 1938. - Obmänner: Reinisch (1901), Junker (1923).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 04697)