Hugo Schuchardt an Friedrich Kluge (02-HSFK_01)

von Hugo Schuchardt

an Friedrich Kluge

Graz

24. 01. 1887

language Deutsch

Schlagwörter: Sprachwissenschaft (Beschreibungsebenen/Subdisziplinen) Sprachwissenschaft (Reflexion) Universitätspolitik Universitäre Lehre École pratique des hautes étudeslanguage Englisch Behrens, Dietrich Meyer-Lübke, Wilhelm Paris, Gaston

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Friedrich Kluge (02-HSFK_01). Graz, 24. 01. 1887. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.5603, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.5603.


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Graz, 24 Jänner 18871

Verehrter Herr Kollege

Ihre Frage setzt mich insofern in Verlegenheit als dabei drei verschiedene Gesichtspunkte, der lokal-materielle, der rein paedagogische und der rein wissenschaftliche in‘s Spiel kommen, die aber sehr schwer miteinander sich in Uebereinstimmung bringen lassen.2 Ich gestehe Ihnen ganz offen dass ich von jeher gegen eine Vereinigung des Romanischen und Englischen auf dem |2| Katheder gewesen bin und mich auch in diesem Sinne ausgesprochen habe; soll das Englische nicht selbständig vertreten sein, so gehört es zum Germanischen, nicht zum Romanischen. Nun gebe ich zwar anderseits gern zu, dass Sie und jeder Andere der sich in einer entsprechenden Lage befindet, durch das Englische allzu stark belastet würde. Aber die Romanistik hat in den letzten Zeiten eine derartige Ausdehnung gewonnen, dass auf dieser Seite ein Anschluss des Englischen – wie es früher der Fall gewesen ist – noch unstatthafter erscheint. Der einzige Ausweg dünkt mich: einen |3|Anglicistès3 zu nehmen, denn der muss doch einigermassen wenigstens in der französischen Philologie zu Hause sein. Ein Romanist braucht vom Englischen nicht viel zu wissen. Wenn sich bei Behrens*) [*) dessen Arbeit übrigens auch mir einen günstigen Eindruck gemacht hat]4 nun die beiden Desiderate vereinigt finden, so ist das etwas Zufälliges, und ich glaube jeder Romanist würde sich wenn er es zu einem bestimmten Zwecke, auch zu dem einer Professur, nöthig hätte, soweit ins Englische vertiefen können. Oder ich will gleich mit meinen intimsten Gedanken herausrücken: es scheint mir bei alledem mehr auf die Qualität des Docenten anzukommen, als darauf dass sich der Umfang |4| seines bisherigen Arbeitsgebietes mit dem das er ausfüllen soll, genau deckte. Nun ist unter den jüngeren Romanisten die bei dieser Gelegenheit in Betracht kommen könnten, Wilhelm Meyer in Zürich unbestritten der hervorragendste. Er ist von einer Vielseitigkeit, einer Fruchtbarkeit, einer Gründlichkeit und einer Originalität, die mich bei seinen Jahren geradezu in Erstaunen setzt. Dass Gaston Paris sich ausserdem ein Semester durch ihn vertreten liess (ich glaube: im Kolleg über Vulgarlatein), wissen Sie vielleicht.5 Persönlich kenne ich ihn nicht. Ich hege keinen Zweifel dass er sich sehr leicht in das Angelsächsische u.s.w. hineinarbeiten würde, wenn ihm das (er ist ja von Hause aus Indogermanist) bis jetzt ganz fern geblieben sein sollte. Bei der Beschaffenheit unserer Methode ist es ja für einen Linguisten so einfach sich eines neuen Sprachgebietes zu bemächtigen. Wenn Sie daher unter „etwas Englisch“ das was mir  das Nothwendigste erscheint: nämlich das Sprachgeschichtliche verstehen, so glaube ich wäre W. Meyer Ihr Mann. Würde es sich freilich um Shakespearephilologie u. dgl. handeln, so wüsste ich nichts Spezielles zu seinen Gunsten auszuführen; es früge sich aber ob da auch Behrens zu Hause wäre. In grösster Eile –

Ihr hochachtungsvoll ergebener
H Schuchardt


1 Freiburg i. Br. UB NL 25/260, Nr. 1.

2 Schuchardt antwortet auf Kluges Brief vom 20.1.1887 und liefert das, was man heute ein „vergleichendes Gutachten“ nennen würde, beschränkt sich aber auf Behrens und Meyer(-Lübke). Sein objektives Urteil über Meyer(-Lübke), mit dem er sich später entzweite, ist hervorzuheben.

3 Gem. ist wohl das franz. angliciste, „spécialiste de la langue, littérature et civilisation anglaises“. Ein französischer Anglist wäre Muttersprachler und könnte dann das Franz. mit vertreten. Vielleicht bildet Schuchardt ein Kunstwort wie griech. Καθηγητής (Lehrer)?

4 Vgl. Lfd.Nr. 01-05584.

5 Meyer-Lübke unterrichtete 1885 während eines Paris-Aufenthalts selber an der École des Hautes Études.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Universitäts-Bibliothek Freiburg i.Br. (NL 25/260). (Sig. HSFK_01)