Vatroslav Ignaz Jagič an Hugo Schuchardt (58-05038)

von Vatroslav Ignaz Jagič

an Hugo Schuchardt

Wien

15. 12. 1899

language Deutsch

Schlagwörter: Kaiserliche Akademie der Wissenschaften (Wien)language Serbischlanguage Deutsch Bartoli, Matteo Ive, Antonio Hirt, Hermann

Zitiervorschlag: Vatroslav Ignaz Jagič an Hugo Schuchardt (58-05038). Wien, 15. 12. 1899. Hrsg. von Claudia Mayr und Helena Reimann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4791, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4791.


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Wien 15. Dec 1899
VIII. Kochgasse 15

Hochverehrter Herr College!

Nur in einem Punkte muß ich Dr. Bartoli in Schutz nehmen. Er konnte noch keine Abzüge verwenden, da er sie erst morgen bekommen wird. Ganz gewiß wird er es nicht unterlassen, auch bei Prof. Ive sich einzustellen; freilich hätte er meinen Wink befolgen wollen, so würde das mit freundlicherer Miene geschehen können, als jetzt. Uebrigens ein Sprichwort sagt im Serbischen: daß man die ersten jungen Hunde ins Wasser wirft. Wollen wir auch diese Erstgeburt Dr. Bartoli’s unter dem Gesichtspunkt der Frühgeburt etwas milder beurtheilen. Er wird hoffentlich gewitzigt, in der Zukunft etwas vorsichtiger und umsichtiger zu Werke gehen.

Es ist merkwürdig, wie man mit allem, was aus der Treitl-Stiftung 1 hervorgehen soll; mehr oder weniger Pech hat. Die erste Expedition der naturwiss. Classe hatte uns Pech gebracht, die zweite hat mit den Leoniden Unglück gehabt. Die südarab. Expedition hat über – 70000 Fl. verschlungen und bis jetzt nur gegenseitigen Schimpf und Spott eingebracht. Die erste archaeolog. Expedition nach Bulgarien hat nichts, die zweite fast eben so viel zu Stande gebracht.

Von meinen Emissären ist Aranza 2stecken geblieben, wird nie eine Zeile darüber schreiben, was er hörte, zum Glück konnte ich aus seinen Briefen etwas retten. dr. Miletić hat bis jetzt nicht zur |2| Ausarbeitung schreiten können, weil er sehr gefährlich krank war. Mein Schwiegersohn laborirte auch 2 – 3 Monate an Augen. Dem dr. Bartoli starb der letzte Altvegliote. Lauter Pech, und wieder Pech.

Ich hatte für den letzten Sommer den norweg. Linguisten Olaf Broch nach Vranje und Alexinac in Südwestserbien geschickt, er blieb lange dort, scheint aber jetzt einen „Spröden“ spielen zu wollen! Und für Prof. Hirt scheint der Stoff selbst zu spröde zu sein!

Ich glaube jetzt den Plur „na krkače“ besser zu verstehen. Vuk hat die Phrase nicht richtig erklärt. Nicht das Kind schlingt sich mit den Händen um den Hals des Tragenden, sondern der Getragene reitet auf dem Hals der Tragenden und seine Füße hängen nach vorn herab und werden von dem Tragenden gehalten. Es scheinen also diese beiden Füße eben „krkače“ zu sein.

Mit vielen Grüßen

Ihr

g. erg.

V. Jagić

Auch ich glaube, daß man bei der Aufhebung der Badeni-Gautsch'schen Sprachverordnungen 3 etwas zarter hätte vorgehen können. Denn seien wir doch aufrichtig – was haben die Deutschen davon, daß in rein čechischen Kreisen der innere Schimmel auch čechisch geritten wird. Ich glaube, die Superiorität der deutschen Sprachen und Cultur ist überhaupt nicht von der Amtssprache abhängig, auch nicht von Beamten getragen. Mir will es so vorkommen, daß die Kroaten jetzt, wo sie keine innere und keine äussere deutsche Amtssprache haben, lieber deutsch lernen und sprechen, als |3| vor dreißig Jahren. So wird es einmal auch in Boehmen sein. Glauben Sie es nicht?


1 Joseph Treitl (1804-1895), Kaufmann und Gemeinderat in Wien, war Wohltäter und stiftete testamentarisch einen großen Geldbetrag für die Akademie der Wissenschaften. Die "Treitl-Stiftung" existiert immer noch, sie fördert die Arbeit im Bereich der Naturwissenschaften.

2 Josip Aranza (1864-1948), Philologe und Dialektologe. Er wurde in Wien habilitiert und wirkte auf Jagić' Initiative, in der Balkan-Commission, die als Einrichtung der Akademie der Wissenschaften in Wien 1897 gegründet wurde.

3 Kasimir Badeni (1846-1909), österreichischer Ministerpräsident, erließ 1897 Sprachverordnungen für Böhmen und Mähren, wobei die völlige Zweisprachigkeit der Verwaltung nach innen und außen eingeführt werden sollte. Dies führte zu großen Protesten von deutscher Seite, die Situation eskalierte und die Krise endete im selben Jahr mit der Entlassung Badenis als Regierungschef. Badenis Nachfolger Paul Gautsch von Frankenthurn entschärfte die Verordnungen 1898 zu Gunsten der Deutschböhmen und -mährer. Manfred von Clary-Aldringen hob sie 1899 auf.

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