Vatroslav Ignaz Jagič an Hugo Schuchardt (11-05021)

von Vatroslav Ignaz Jagič

an Hugo Schuchardt

Graz

20. 02. 1886

language Deutsch

Schlagwörter: Archiv für slavische Philologielanguage Slowenischlanguage Serbischlanguage Ukrainisch Miklosich, Franz von Radloff, [Wilhelm Friedrich]

Zitiervorschlag: Vatroslav Ignaz Jagič an Hugo Schuchardt (11-05021). Graz, 20. 02. 1886. Hrsg. von Claudia Mayr und Helena Reimann (2022). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4774, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4774.


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20.2.1886

Hochverehrter Herr College!

Die übliche Ableitung des Wortes крачоунъ-корочун hat ihr mißliches darin daß wir ja bei regelrechter slav. Wortbildung nur кракоунъ-корокунъ erwarten würden, man vergl. бьгунъ, говoрунъ опекунъ, крикунъ, скакунъ,  sloven.vrhun-ec, serb.стрьгунь, klruss. брехунъ, u sw. Was die Bekanntschaft mit dem Worte anbelangt, so scheinen es eigentlich doch nur die Rußen und Slovaken zu kennen. Ob es den Bulgaren bekannt ist, das weiß ich nicht sicher. Miklosich erwähnt fürs kleinrussische auch die Form kerečun. Der sonst nicht übliche Wechsel zwischen керечун i корочунъ ist allerdings verdächtig. Ausnahmsweise kann auch im rußischen der sogenannte Volllaut in Fremdwörtern eintreten, wo man ihn nicht erwartet. Z.B. Βλάσιος könnte auch Волосъ|2| (neben Власъ) geben, daran ist nicht zu zweifeln. Vergleichen Sie noch коромы́сло und κρεμαστήρ falls die Zusammenstellung richtig ist.

Sie sehen, daß ich an Ihrer Ableitung immer mehr Geschmack bekomme und weit entfernt davon bin sie irgendwie belächeln zu wollen. Sie könnte uns vielleicht eine Notiz fürs Archiv über das Wort liefern? Sie sehen, man ist egoistisch, wenn man das Unglück hat als Redakteur zu fungieren. Doch nicht absichtlich, sondern gegen meinen Willen hat sich die Beantwortung Ihres lieben Briefes bis jetzt verzögert.

Ich kann leider weniger bieten, als bitten. So frage ich Sie, könnten Sie auf eine glückliche Combination betreffs des ruß. Wortes bečevá (бечевá) kommen. Im russischen bedeutet das Wort eigentlich Tau, Strick (namentlich am Schiffe, denn |3|бечеву тянуть bedeutet das Schiff am Tau schleppen). Heutzutage wollen viele бичевá schreiben, offenbar unter volksthümlicher Anlehnung an бичъ = Peitsche, doch aus älterer Zeit ist nur die Schreibart mit e: бечевá beglaubigt. Unsere Sinologen u Turkologen (d.h. Radloff1) wissen keinen Rath. Ich verfiel schon auf das mittelhochd. gezouwe – leider kann ich kein bezouwe belegen, da würde ich kühner sein. Es scheint das Wort wirklich orientalisch zu sein.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr ganz ergebener

AR## Jagić


1 Friedrich Wilhelm Radloff (1837 – 1918), deutsch-russischer Sprachwissenschaftler, Turkologe, Orientalist, Ethnograph; Jens Peter, "Radloff, Friedrich Wilhelm" in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 96-97 [Onlinefassung];(abgerufen am 28. 04. 2016)

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05021)