Adolf Tobler an Hugo Schuchardt (10-11715)

von Adolf Tobler

an Hugo Schuchardt

Berlin

18. 12. 1893

language Deutsch

Schlagwörter: Privatbibliotheken Biographisches Universität Leipzig Universitäre Lehre Dankschreiben Glückwünsche Universität Berlin (Friedrich-Wilhelms-Universität) Gabelentz, Hans Georg Conon von der Richthofen, Ferdinand von Leipzig China Schuchardt, Hugo (1893)

Zitiervorschlag: Adolf Tobler an Hugo Schuchardt (10-11715). Berlin, 18. 12. 1893. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.4046, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.4046.


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Berlin d. 18. Dez. 1893.

Verehrter Herr Kollege,

irgend welche genauere Auskunft über Leben & Wesen meines verstorbenen Amtsgenossen v. d. Gabelentz1 Ihnen zu geben oder zu verschaffen bin ich zu meinem Bedauern nicht in der Lage. Er hat, so weit ich weiß, mit keinem seiner Kollegen in vertrauterem Verkehr gestanden außer etwa mit dem Geographen v. Richthofen,2 den er von Leipzig her kannte, mit dem ihn wohl auch das beiderseitige Interesse für China zusammenbrachte, vielleicht auch die Standesgemeinschaft, die unter Männern zwar weniger zu bedeuten pflegt, für den geselligen Verkehr Verheirateter jedoch manchmal in Betracht kommt. G. war wohl nicht ungeselliger Natur, sprach gern & lebendig auch über andere als Fachgegenstände; aber er ist hier doch ziemlich einsam geblieben. Anfangs war er noch unverheiratet, mehrfach auch auf längere Zeit beurlaubt, die er auf einem kleinen Besitztum bei Altenburg, wo seine Bücher  geblieben waren, verbrachte3. Als er dann vor etwa 1½ Jahren sich wieder verheiratete (mit einer, wie mir schien, liebenswürdigen jungen Wittwe von Adel),4|2| blieb er wohl noch mehr als zuvor in seinen vier Wänden. Er hinterläßt außer mehreren Kindern erster Ehe, die glaub ich nie hier gewesen sind, ein Kind seiner zweiten Frau, & diese erwartet, wie ich höre, die Geburt eines zweiten. Der riesengroße, anscheinend kräftige Mann litt an Steinbeschwerden, gestorben ist er an Nieren- verbunden mit Lungenentzündung. Seine akademische Wirksamkeit war ganz gering & zwar nicht allein, soweit sie Chinesisch, Mandschuh u. dgl. galt, sondern auch wenn sie allg. Sprachwissenschaft zum Gegenstand hatte. Woran das gelegen haben mag, weiß ich nicht. Er stotterte allerdings ziemlich stark, was in Verbindung mit sehr auffälligem Schielen die Unterhaltung mit ihm nicht eben angenehm machte; aber in Leipzig soll er trotzdem als Dozent, was man so nennt, großen Erfolg gehabt haben. Mir kam es so vor, als ob er sich nicht hinlänglich dazu verstehen könne, sich um eine ernstliche Förderung seiner Zuhörer auch mit einiger Selbstüberwindung zu bemühen. Aber ob das Ursache oder Wirkung der geringen Teilnahme von Seite der Studenten war, weiß ich nicht. |3| Ich bin den Winter über alle 14 Tage mit ihm in einer Gesellschaft von 15 Männern des Gelehrtenstandes zusammengekommen5, wo jedesmal ein Vortrag gehalten wurde, ich viel Anregendes gehört & mit Freude auch selbst gesprochen habe, wenn an mir die Reihe war. Auch da hat er die angemessene Art nicht zu treffen verstanden; den Eindruck der Sicherheit, die ein methodisches Arbeiten giebt, bekam man nicht, viel eher den eines gewissen unsteten Dilettantismus. Er war gewiß ein Mann von großem Talent & mannigfaltigem Wissen; aber mir scheint, es habe ihm eine gründiche Schulung gefehlt. Sie wissen, daß er eigentlich die Rechte studiert hat & auf lange Zeit (im Elsaß) in der Verwaltung thätig gewesen ist; daß er erst später, wie ich glaube, ganz auf eigene Faust die Studien seines Vaters6 aufgenommen hat & vielleicht etwas zu früh auf einem Gebiete lehrend aufgetreten ist, wo man unter spärlicher Kontrole arbeitet, mag die Gebrechen seiner Thätigkeit erklären. Man hat seiner Zeit große Anstrengungen gemacht, um ihn für Berlin zu gewinnen; aber allgemein ist doch eine gewisse Enttäuschung gewesen7, & es sollte mich nicht wundern, wenn nach der gemachten Erfahrung man sich längere Zeit dazu nähme den Lehrstuhl des Verstorbenen |4| wieder zu besetzen. Für Chinesisch haben wir den tüchtigen Extradorinarius8, an den G. selbst die Studenten gerne wies, die er zu unterrichten keine Neigung empfand. Das ist, was ich Ihnen über G. zu sagen weiß. Was ich in hiesigen Zeitungen über ihn gelesen habe, waren die ganz nichtsnützigen Elaborate, denen wir arme Teufel, wenn wir sterben, regelmäßig verfallen. Zu genaueren Daten würde Ihnen wohl am ehesten Richthofen (Geh. Rat Freiherr Ferdinand v. Richth., Kurfürstenstr. 117) verhelfen können.

Für Ihren freundlichen Gruß zu meiner silb. Hochzeit9 sage ich Ihnen herzlichen Dank.

Ihr ganz ergebener
A. Tobler.


1 Der Sinologe Hans Georg Conon von der Gabelentz (1840-1893) war am 10. Dezember d.J. verstorben. Schuchardts Frage steht offenbar in Zusammenhang mit seiner Besprechng „G. v. d. Gabelentz, Baskisch und Berberisch“, Literaturblatt für germ. u. rom. Philologie 1893, 14, 334-338. Vgl. auch seine Korrespondenz mit v. d. Gabelentz (HSA, Bibl. Nr. 03204-03210).

2 Ferdinand Frhr. von Richthofen (1833-1905) gilt als Begründer der Geomorphologie und lehre ab 1886 in Berlin.

3 S. Anm. 4 zu Brief 11-11716.

4 Seine erste Ehe mit Alexandra Freiin von Rothkirch und Trach (1854-1925) war 1889 geschieden worden; 1891 heiratete er Gertrud verw. von Adelebsen, geb. Freiin von Oldershausen (1858-1904). Aus der 1. Ehe stammte u.a. der Sohn Albrecht (1873-1933), Direktor der Staatl. Museen in Altenburg; aus der 2. der Verlagsbuchhändler, Kunstsammler und Direktor des Staatlichen Lindenau-Museums Altenburg, Hanns-Conon (1892-1977); vgl. insgesamt NDB 6, 1964, 2-3 (Walter Böttger).

5 Es handelt sich hierbei um die Berliner Mittwochsgesellschaft, die am 19.1.1863 gegründet worden war und deren Kreis auf sechzehn Personen beschränkt wurde. Reihum wurden Vorträge gehalten und protokolliert. Sie bestand in dieser Form bis 1944. Tobler war 1890 nach dem Ausscheiden von Vatroslav Jagić aufgenommen worden und hielt den ersten Vortrag über das Thema „Aufgaben und Schwierigkeiten bei der Erstellung eines wissenschaftlichen Wörterbuches für Altfranzösisch“, vgl. Christian Wagner, „ Adolf Tobler (1835-1910) ,“ Humboldt-Universität 29. Jg., Nr. 27, 28.3.1985, 6.

6 Hans Conon von der Gabelentz (1807-1874), Geheimrat, Minister, Landschaftspräsident und vor allem Sprachforscher.

7 Toblers kritisches Urteil kontrastiert lebhaft mit der heute überaus positiven Beurteilung v. d. Gabelentz‘, vgl. z.B. Martin Gimm, Georg von der Gabelentz zum Gedenken. Materialien zu Leben und Werk, Wiesbaden 2013 (Sinologica Coloniensia, Bd. 32).

8 Carl Arendt (1838-1902), von 1874 bis 87 Dolmetscher der deutschen Gesandtschaft in Peking, von 1887 bis 1902 Dozent am neugegründeten Seminar für Orientalische Sprachen. – Alfred Forke (1857-1944), Schüler von Carl Arendt, und von 1890 bis 1903 Dolmetscher im Konsulatsdienst in Peking, wurde 1903 berufen.

9 Tobler hatte 1868 Ottilie (Bädeker-)Hirzel (1838-1908), Tochter des Buchhändlers Salomon Hirzel (1804-1877) geheiratet, der 1853 in Leipzig einen eigenen wissenschaftlichen Verlag gegründet hatte. Gaston Paris veranstaltete zur Feier der Silberhochzeit einen Privatdruck, Le Lai de la Rose a la Dame leal, imprimé pour les noces d’argent de Adolf Tobler et Ottilie Hirzel, 24. Nov. 1893, Mâcon 1893, wodurch das Datum allgemein bekannt wurde.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11715)