Hugo Schuchardt an Elise Richter (01-266_27-5)

von Hugo Schuchardt

an Elise Richter

Graz

16. 06. 1903

language Deutsch

Schlagwörter: Dankschreiben Publikationsversand Sprachursprung Frauen in der Wissenschaft Dissertation Promotion Glückwünsche Romanische Philologie Universität Wienlanguage Spanischlanguage Portugiesischlanguage Italienisch Wundt, Wilhelm Chamberlain, Houston Stewart Richter, Elise (1903) Spitzer, Leo (1918) Hurch, Bernhard (Hrsg.) (2009) Schuchardt, Hugo (1905) Renzi, Lorenzo (1963–1964)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Elise Richter (01-266_27-5). Graz, 16. 06. 1903. Hrsg. von Bernhard Hurch (2009). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.339, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.339.


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Graz 16 Juni '03

Mein verehrtes Fräulein,

Bis dat qui cito dat – so leitete einst mein Lehrer Ritschl1 einen Brief ein in dem er mir für eine wissenschaftliche Gabe2 dankte. Schon damals erkannte ich – der Brief war nämlich recht maliziös – dass in diesem lateinischen Sprichwort wie in so manchem andern eine falsche Lebensweisheit steckte. In der Tat habe ich geradezu um Entschuldigung zu bitten dass ich Ihnen für Ihr liebenswürdiges |2|Geschenk sofort danke, das heisst bevor ich überhaupt die Zeit haben konnte mich mit ihm vertraut zu machen. Aber was ich nicht an demselben Tage erledige an dem ich mirs vornehme, ist allzusehr der Gefahr der "griechischen Kalender" ausgesetzt.

So kann ich denn für jetzt nur sagen, was das Sachliche anlangt, dass der Gegenstand Ihres Buches mir sehr naheliegt. Ich habe mich mit den Grundfragen (Subjekt, Prädikat usw.) seiner Zeit sehr gründlich beschäftigt, bin aber mit meinen Anschauungen nicht herausgerückt und jetzt, nach |3|Wundt und den Übrigen, wird mir das doppelt schwer. Aber der Dilettantismus dem ich jetzt huldige – unbeeinflusst von dem ihm jüngst seitens H. St. Chamberlain gespendeten Lob – geht sehr verschlungene und mannigfache Pfade und führt mich vielleicht auf das betreffende Gebiet zurück.3

Und was das Persönliche betrifft, so freue ich mich ganz ausserordentlich nun auch eine Dame sich in der romanischen Sprachforschung so wacker betätigen zu sehen (seit Karoline Michaelis4 wüsste |4|ich keine andere). Ein wenig haben wir wohl auch hierfür unserem Freunde Mussafia5 zu danken6. Gestatten Sie mir Ihnen auf den weiteren Weg herzlichst Glück zu wünschen und zu dem errungenen Hut Sie herzlichst zu beglückwünschen; es ist der schönste Hut den eine Frau tragen kann - ihn schmücken keine gemordeten Colibris, nein die belebten Worte aus allen Gauen der Romania.

In aufrichtiger Bewunderung

Ihr ganz ergebener

HSchuchardt


1 Friedrich Wilhelm Ritschl (1806-1876) Altphilologe, insbesondere Altlatein, textkritische Arbeiten; Schuchardts Doktorvater in Bonn. Nur wenige Briefe an HS, Nrn: 9669-9671. Schuchardt bezieht sich konkret auf Brief 9670 vom 19. März 1866, in dem Ritschl ihm für die Übersendung und die Widmung (an Friedrich Diez und Ritschl) seiner Dissertation dankt.

2 Elise Richter (1903): Dabei handelt es sich um ihre Dissertation, eine der ersten von einer Frau geschriebenen Dissertationen in Österreich.

3 Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) war einer der Theoretiker des militanten Nationalismus und Rassismus. Er darf als einer der einflußreichen 'intellektuellen' Wegbereiter nationalsozialistischer Ideologie bezeichnet werden. Linguistischerseits hat sich jedenfalls Leo Spitzer mit Chamberlains Kriegsaufsätzen kritisch auseinandergesetzt (Spitzer 1918). Warum Schuchardt – wenn auch in etwas ironischer und distanzierender Weise – gerade gegenüber Elise Richter Chamberlain im Munde führt, ist nicht nachvollziehbar.

4 Caroline Michaëlis (Carolina Michaëlis de Vasconcellos) (1851-1925) Romanistin, gebürtige Berlinerin, die nach Portugal heiratete, wo sie als anerkannte Autorität für Hispanistik und Lusitanistik 1912 als erste Frau einen Lehrstuhl (allerdings für Germanistik in Coimbra) erhielt. Zahlreiche philologische Arbeiten und Editionen älterer literarischer Texte des Spanischen und Portugiesischen; linguistische Studien zur portugiesischen Enklisis, zur Wortstellung und zum flektierten Infinitiv. Die gesamten Korrespondenzen mit Hugo Schuchardt und mit Elise Richter sind in Hurch (Hg.) (2009) enthalten.

5 Adolfo Mussafia (1835-1905) Romanist, erster Inhaber eines Lehrstuhls für Romanische Philologie an der Universität Wien; stammt aus jüdisch-dalmatinischer Familie. Veröffentlicht zu norditalienischen Dialekten, zur altspanischen Philologie, Editionstätigkeit (Dante). Von weitreichender Bekanntheit waren seine Sprachlehren des Italienischen. M. war der eigentliche Mentor und bis zu seinem Tod tief verbundene Freund Elise Richters. Schuchardt widmet ihm 1905 zum 70. Geburtstag eine bekannte Festschrift ('An Adolf Mussafia'. Graz. Brevier/Archiv Nr. 480). Mussafia war eine wichtige verbindende Figur zwischen Richter und Schuchardt. Der Briefwechsel zwischen Schuchardt und Mussafia beginnt 1867 und endet erst mit Mussafias Tod. Er umfaßt die Nrn. 7635-7691. Der Briefwechsel zwischen Mussafia und den Richter-Schwestern wurde von Renzi 1963-64 herausgegeben.

6 Die Bedeutung Mussafias für den Werdegang Richters, aber auch die tiefen persönlichen und menschlichen Beziehungen wurden – natürlich neben ihren eigenen autobiographischen Schriften – von Renzi (1963-64) herausgearbeitet.

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