Wilhelm Ostwald an Hugo Schuchardt (1-08425)

von Wilhelm Ostwald

an Hugo Schuchardt

Leipzig

01. 01. 1902

language Deutsch

Schlagwörter: Annalen der Naturphilosophie Weltsprache Wissenschaftstheoretische Reflexion Publikationsvorhaben Bitte um wissenschaftliche Meinung Internationale Verständigungssprachelanguage Plansprachen Jena Couturat, Louis (1902) Mayer, Herbert (2001) Schuchardt, Hugo (1902) Schuchardt, Hugo (1888) Schuchardt, Hugo (1894) Schuchardt, Hugo (1901) Schuchardt, Hugo (1904) Schuchardt, Hugo (1907)

Zitiervorschlag: Wilhelm Ostwald an Hugo Schuchardt (1-08425). Leipzig, 01. 01. 1902. Hrsg. von Johannes Mücke (2016). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.3368, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.3368.


|1|


[gedruckt] Prof. Dr. W. Ostwald
Physikalisch-chemisches Institut
Linnéstr. 2/3
[gedruckt] Leipzig, den [handschriftlich] 1. Jan [gedruckt] 190 [handschriftlich] 2

Hochgeehrter Herr College!

Mit gleicher Post geht an Sie Heft 2 der von mir herausgegebenen "Annalen der Naturphilosophie" ab, in welchem Sie einen Aufsatz von Couturat über die Weltsprache finden.1 Ich gestatte mir auf Anregung von Prof Delbrück2 in Jena Sie zu bitten, sich den Aufsatz anzusehen, und womöglich sich in den "Annalen" über diese Frage (oder ähnliche) zu äußern.3 Zur näheren Kentnißnahme des Zweckes der "Annalen" und ihres Mitarbeiterkreises füge ich das seiner Zeit in Umlauf gesetzte Anschreiben bei. 4


In der Hoffnung einer günstigen Antwort bin ich

Ihr ganz ergebener
W Ostwald


[Anhang, in Wolf 1993 als Bibl Nr. 08424 katalogisiert]
[gedruckt] Leipzig den [handschriftlich] 1. Oct. [gedruckt] 1901

Sehr geehrter Herr Kollege!

Die gegenwärtige Philosophie ist einstimmig darüber, dass sie ihren Inhalt den einzelnen Wissenschaften zu entnehmen hat, und dass ihre Aufgabe darin besteht, deren Ergebnisse zu einer zusammenhängenden und widerspruchsfreien Gesamtauffassung der Welt zu vereinigen. Bisher hat man die Aufgabe derart zu lösen versucht, dass der einzelne Philosoph sich eine möglichst vollständige Kenntnis dieser allgemeinen Ergebnisse zu erwerben suchte und dann die Zusammenfassung vornahm. Die ausserordentlichen Schwierigkeiten dieses Verfahrens und die Unsicherheit seiner Ergebnisse liegen auf der Hand. Insbesondere gelangen auf solche Weise nur die Anteile der Wissenschaften zur Verwertung, welche bereits in die Lehrbücher und zusammenfassenden Darstellungen übergegangen sind, denen also im allgemeinen ein Alter von wenigstens zehn Jahren zukommt. Die treibenden Gedanken, durch welche jede Wissenschaft eben jetzt wächst, kommen hierbeit zur Geltung, und so ist die erhaltene Gesamtauffassung nicht die der Wissenschaft von heute, sondern der von gestern und vorgestern.

Dieser Weg ist aber nicht der einzige. Immer wieder haben die hervorragenden Forscher in den Einzelwissenschaften das Bedürfnis empfunden, das Allgemeine, was sich aus ihren Arbeiten ergab, auch in allgemeiner Form auszusprechen. Solche Aussprüche sind aber meist nur verstreut an einzelnen Stellen ihrer Veröffentlichungen zu finden, und es besteht in Nachwirkung der philosophischen Verfehlungen vom Anfange des neunzehnten Jahrhunderts eine weitverbreitete Scheu vor der Aufstellung und Durchführung allgemeiner Betrachtungen.

Erst in jüngster Zeit hat die drängende Notwendigkeit fast alle Wissenschaften auf den Weg einer derartigen Selbstbesinnung geführt, und erkenntnistheoretische oder, allgemein gesagt, philosophische Betrachtungen treten häufiger |2| und häufiger in der Fachpresse auf. Hierbei entstehen nun mancherlei Schwierigkeiten seitens der Herausgeber und auch der Leser; auch gelangen alsdann diese Betrachtungen nicht in den weiteren Kreis, für den sie eigentlich erst von Nutzen sein würden.

Um allen diesen Bedürfnissen abzuhelfen, soll ein eigenes Organ geschaffen werden, in welchem allgemeine Fragen der Erkenntnistheorie und der wissenschaftlichen Methodik behandelt werden sollen. Dadurch dass die Forscher diese Angelegenheiten vor einen grösseren Kreis gleichstrebender Mitarbeiter bringen, sichern sie ihren eigenen Arbeiten die teilnehmdsten und sachkundigsten Leser; dadurch dass diese Arbeiten sich auf die verschiedensten Gebiete der Gesamtwissenschaft, von der Mathematik bis zur Psychologie, einschliesslich Biologie, Sprachkunde und Geschichte, erstrecken werden, ist die grösstmögliche Wirksamkeit der Einzelbestrebungen im Sinne der Ausgestaltung einer allgemeinen Weltansicht gewährleistet.

Durch die Mitarbeit einer Anzahl hervorragender Forscher, unter denen Mach (Wien),5 Bütschli (Heidelberg),6 Ratzel (Leipzig),7 J. Loeb (Chicago),8 Delbrück (Jena), Volkmann (Königsberg),9 Bücher (Leipzig)10 genannt sein mögen, ist schon jetzt dem neuen Unternehmen eine sichere Grundlage im Sinne strenger Wissenschaftlichkeit gegeben. Die Übernahme des Verlags seitens der Verlagsbuchhandlung Veit & Comp. in Leipzig sichert ihm eine würdige und vornehme äussere Erscheinung.

Der Titel der Zeitschrift:

Annalen der Naturphilosophie

ist gewählt, um womöglich den üblen Klang, der im Deutschen dem guten Namen der Naturphilosophie anhaftet, zu beseitigen und diesem einen neuen Inhalt im Sinne einer exakten Gesamtwissenschaft zu geben.

Falls Sie, sehr geehrter Herr Kollege sich den vorstehend gekennzeichneten Bestrebungen anzuschliessen geneigt sind, ergeht hiermit an Sie die Bitte, sich durch die Mitteilung entsprechender Arbeiten an der Zeitschrift thätig zu beteiligen. Das Erscheinen des ersten Heftes ist bereits gesichert und wird im Oktober diesen Jahres erfolgen. Sendungen und etwaige Anfragen an den unterzeichneten Herausgeber sind nach Leipzig, Linnéstrasse 2/3, zu richten.

In ausgezeichneter Hochachtung
[handschriftlich] W Ostwald


1 Im 2. Heft des ersten Bands findet sich Couturats Beitrag 'Die internationale Sprache' (Couturat 1902). Der Mathematiker und Philosoph Louis  Couturat (1868-1914) war ein starker Verfechter der Etablierung einer künstlichen Welthilfssprache. Er korrespondierte ausführlich mit Schuchardt (Bibl. Nr. 01959-02021). Vgl. dazu Mayer (1991, 2001).

2 Berthold Delbrück (1842-1922), Sprachwissenschaftler, korrespondierte in den 1880er Jahren ebenfalls mit Schuchardt (Bibl. Nr. 02271-02273). Sein Beitrag zum ersten Band der Annalen der Naturphilosophie war ein Artikel unter dem Titel 'Das Wesen der Lautgesetze' (Delbrück 1902) . Die dort wieder eingeforderte prinzipielle Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze veranlasste Schuchardt noch im selben Jahr zu einer kurzen kritischen Erwähnung (Schuchardt 1902 [= HSA 431]: 8).

3 Schuchardt hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach zur Frage einer Plansprache zur internationalen Verständigung öffentlich geäußert (u.a. Schuchardt 1888 [=HSA 206], 1894 [=HSA 279], 1901 [=HSA 384]). Zu einer Publikation in Ostwalds Annalen der Naturphilosophie kam es nicht, aber es folgten noch andere Publikationen zum Thema in späteren Jahren (wie etwa Schuchardt 1904 [=HSA 455] und 1907 [=HSA 527]).

4 Dieser Brief wurde im Herbst 1901 von Ostwald an von ihm für eine Mitarbeit an den Annalen der Naturphilosophie vorgesehene Wissenschaftler verschickt. So findet sich etwa im Nachlass des Physikers und Philosophen Ernst Mach (1838-1916) derselbe Brief handschriftlich datiert auf den 6.9.1901 (Deutsches Museum, Archiv, NL 174). Da Ostwald hier am 1.1. 1902 einen auf Oktober 1901 datierten Brief an Schuchardt nachschickt (irrtümlich als separater Brief Nr. 08424 in Wolf 1993), ist anzunehmen, dass Schuchardt nicht zum ursprünglich von Ostwald intendierten Adressatenkreis gehörte.

5 Ernst Mach, auch ein Anhänger der Idee einer internationalen Welthilfssprache, korrespondierte zur selben Zeit ebenfalls mit Schuchardt (vgl. Mücke 2015 ). In der ersten Ausgabe der Annalen der Naturphilosophie publizierte er einen Aufsatz unter dem Titel 'Die Aehnlichkeit und die Analogie als Leitmotiv der Forschung' (Mach 1902) . Darüber hinaus korrespondierten auch Mach und Ostwald miteinander, jedoch wird in dem noch unveröffentlichten Briefwechsel – soweit der Verfasser der vorliegenden Edition dies beurteilen kann – nirgendwo Bezug auf Schuchardt genommen.

6 Der Zoologe Otto Bütschli (1848-1920) publizierte zwar erst in späteren Nummern der Annalen der Naturphilosophie, Ostwald rezensierte jedoch ein Werk Bütschlis in der ersten Nummer ( Ostwald 1902 ). Briefe von ihm an Schuchardt liegen nicht vor.

7 Der Geograph und Zoologe Friedrich Ratzel (1844-1904) publizierte in der ersten Nummer der Annalen der Naturphilosophie den Aufsatz 'Die Zeitforderung in den Entwickelungswissenschaften I' (Ratzel 1902) . Von Ratzel liegen zehn Briefe im Nachlass Schuchardts vor (Bibl. Nr. 09147-09156).

8 Der Biologe Jacques Loeb (1859-1924) publizierte erst in der fünften Nummer der Annalen der Naturphilosophie. Briefe an Schuchardt liegen nicht vor.

9 Der Physiker und Mathematiker Paul Volkmann (1856-1938) veröffentlichte im ersten Band der Annalen der Naturphilosophie den Beitrag 'Ueber die Fragen der Existenz, Eindeutigkeit und Vieldeutigkeit der Probleme und ihre mannigfaltige Bedeutung und Rolle für naturwissenschaftliche Auffassung und Erkenntnis' (Volkmann 1902) . Auch von ihm liegen keine Briefe im Nachlass Schuchardts vor.

10 Der Nationalökonom und Soziologe Karl Bücher (1847-1930) publizierte keinen Artikel in den Annalen der Naturphilosophie, ferner liegen auch keine Briefe an Schuchardt vor.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 08425)