Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (386-11141)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

03. 05. 1924

language Deutsch

Schlagwörter: Germanisch-Romanische Monatsschrift Revue de Linguistique Romane Revista Internacional de los Estudios Vascos Baskologielanguage Altfranzösischlanguage Baskisch Meyer-Lübke, Wilhelm Moldenhauer, Gerhard Voretzsch, Carl Schröder, Heinrich Bloch, Oscar Terracher, Louis Adolphe Gilliéron, Jules Diez, Friedrich Meillet, Antoine Saroïhandy, Jean-Joseph Vossler, Karl Saussure, Ferdinand de Brugmann, Karl Friedrich Christian Schuchardt, Hugo (1924)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (386-11141). Bonn, 03. 05. 1924. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2232, abgerufen am 18. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2232.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 3. Mai 1924.

Verehrter lieber Freund,

Dank für Ihren ausführlichen Brief. Verschiedene Separata, mit denen ich Ihren Etymologen-Unmut wohl aufstöre (besonders mit dem brrr!, das altindisch uranah sein soll!), werden Sie wohl erhalten haben, ebenso die Abschrift des M-L-Artikels und meiner Glosse, die ich zu konterglossieren bitte. G. Moldenhauer ist jener Voretzsch-Schüler, der über den Herzog Naims im altfrz. Epos Gutes geschrieben haben soll, wie diejenigen behaupten, die was davon verstehen. Wer ist der spanische 50er, der geehrt werden muß? Bonilla? Ich würge schon eben an einer Walzel-Festschrift, die, von Klemperer inszeniert, natürlich "geisteswissenschaftlich" sein soll: "geisteswiss." ist nämlich jetzt ein Komparativ oder Elativ zu "naturwiss." geworden ("Geist" mehr als "Natur", daher Geisteswiss. mehr als Naturwiss.). So sehr ich geisteswissenschaftlich gerichtet zu sein glaube, so sehr ärgert es mich, wenn einzelne Gelehrte den Geist gepachtet zu haben glauben – ähnlich wie jene Religiösen,|2| die Religiösität, religiöse Wahrheit, Aufrichtigkeit usw. gepachtet haben.

Ihrer Verurteilung des Handwerklichen im GRM stimme ich bei. Ich sende nie mehr 2 Ex. an die GRM. Wenn Sie übrigens H. Schröder persönlich kennten, würden Sie manches begreiflich finden.

Nun zum Projekt Bloch- Terracher. Ich bin nicht ganz mit Ihrer Haltung einverstanden, wie ich gleich aufrichtig bemerken will, u.zw. ist es mein altes Steckenpferd, daß in solchen programmatischen Dingen von den Kontingenten – Alter, Gesundheit, Stoffmangel, Lustmangel etc. – abgesehen werden müsse. Sie lachen natürlich in diesem Augenblick: er hat gut reden mit seinen schäbigen angegänzten 40 Jahren! Ich meine also, wenn Sie theoretisch Lust haben, die Zusammenarbeit mit franz. Gelehrten öffentlich zu betonen, so müssen Sie – das Ihnen ominöse muß! – irgend etwas hergeben, meinetwegen die baskischen Kreiselnamen, die ja, eben weil mit Gilliéron in Zusammenhang stehend, in eine Rev.d. linguistique romane gewiß hineinpassen.1 Wenn man diese Arbeit dann in der Revue |3| basque erscheinen sieht, so denkt man doch, daß die Entschuldigung mit dem Alter des – Diez nicht der eigentliche Grund Ihres Ausbleibens war. Wenn Sie wieder anderseits die Clémencistische Folterinquisition den Franzosen verübeln, dann müssen Sie auch die Zusammenarbeit abschlagen. Ich glaube ja nun, daß sich bei Ihrer Objektivität beide Motive in Ihnen kontaminieren, so daß Sie schwer in einer Richtung Stellung nehmen können – aber schließlich ist die negative Stellung mit dem "Ich kann nicht" denn doch gegeben, was ich beklage: denn einmal muß ja doch die Arbeit zwischen deutschen u. französischen Romanisten wieder beginnen. Wenn also Meillet als Angehöriger der Siegernation die Hand reicht, so sollte Schuchardt als Angehöriger der Besiegten die Hand nicht ausschlagen. Wollen Sie sich es also nicht doch noch überlegen? Es kann ja, was Sie einsenden, eine halbe Seite sein – und trotzdem ist diese halbe Seite eine ganze Hand, eine programmatische Stellungnahme, die mehr bedeutet als ein Bogen aus meiner Feder, der ich ja Pazifist à outrance stets war. Allerdings kann ich als einziger Deutscher auch nicht an einem französischen Unternehmen teilnehmen.

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Ich stimme Ihnen vollkommen bei, wenn Sie das erzwungene Schuldbekenntnis tadeln – aber bedenken Sie eines: wenn mir ein Nachbar das Haus angezündet hat, so frage ich nicht danach, ob vielleicht meine Frau den Nachbarn gereizt hat, sondern für mich ist dann eben nur der Nachbar schuld. So steht es mit Frankreich. Wir wissen nicht – ich meine mit dem Herzen – die Zerstörungen in Nordfrankreich, die doch eben da sind und nicht so notwendig waren wie die Razzia machenden Militärs uns einredeten.

Was übrigens die Baskologie betrifft, so muß ich noch lachen, wenn ich denke, mit welcher ironischen Verachtung mir Gilliéron von "ce pauv' Saroïandy" sprach, der nichts zuwegebringe.

Meillet, den Gilliéron auch nur einen "vulgarisateur" nennt, kenne ich ja von meinem Pariser Studienjahr gut und bin zu jeder "Auskunft" bereit. Auf den Anti-Scientia-Artikel schrieb er mir, er sei "désolé" zu sehen, daß sein Artikel als Kampfartikel aufgefaßt worden sei, was ihm ganz fern liege. Er schätze Vossler nicht wie ich, auch sei eine Abhängigkeit Saussure's von Brugmann nicht vorhanden. In einem 2. Brief versicherte er mich seiner Hochschätzung für meinen Charakter wie wissenschaftliche Art. Er hat auch O. Bloch zu seiner Aufforderung an mich bestimmt.

Herzlichen Gruß von Ihrem ergebenen
Spitzer


1 Schuchardt veröffentlichte besagte Etymologie jedoch andernorts: "Der Kreisel im Baskischen (zu RB 1923, 676ff.)", in: Revista internacional de estudios vascos 15 (1923): 351-360, und nicht in der Revue de Linguistique Romane.

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