Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (356-11116)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

27. 10. 1922

language Deutsch

Schlagwörter: language Neugriechischlanguage Persischlanguage Französischlanguage Spanischlanguage Baskisch Vossler, Karl Rohlfs, Gerhard Niemeyer, Hermann Debrunner, Albert Spitzer, Emma Küchler, Walther Lerch, Eugen Meyer-Lübke, Wilhelm Wien Sizilien Spitzer, Leo (1922) Foligno, Cesare (1922) Spitzer, Leo (1920) Spitzer, Leo (1923)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (356-11116). Bonn, 27. 10. 1922. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2202, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2202.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn, 27. Oktober

Verehrter lieber Freund,

Dank für Ihren lieben Brief. Ich wünsche Ihnen, daß Sie bald die Existenz auf dem Diwan mit einer solchen nahe dem Ofen – wie steht es in dieser Beziehung in Ihrer Wohnung? – vertauschen mögen.

Ihr Bild von der Hausfrau mit der Wäsche im Regen kann ich würdigen – nur pflegen sich die Hausfrauen meist bald damit zu trösten, daß der Regen ja doch die Wäsche nur reiner macht, mehr bleicht. So glaube ich, auch die unliebsame Unterbrechung Ihrer Studien wird diesen irgendwie zugute kommen.

Auch ich kann nicht systematisch lesen. Auch ich lese nur kursorisch neu gesandte Sachen und bilde mir ein vielleicht vorschnelles Urteil. Aber im allgemeinen ist der erste Eindruck doch der richtigste: die Tragweite einer Arbeit erkennt man sofort, auch hat man ein Gefühl für das ungefähr Richtige oder Unrichtige.

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Vosslers Artikel ist sehr schön – so schön wie eine Fata Morgana, auch wenn man weiß, daß es nichts als eine solche ist. Da ich den Wahrheits-Wert der Wissenschaft ziemlich problematisch betrachte, kann ich mich an solchen Dingen erfreuen, die nicht "wahr", d.h. richtig sein müssen. "Man kann alles sagen", hat Strindberg geschrieben. Das kann man auch Vossler gegenüber anwenden. Vossler begnügt sich nicht mit dem Planen, Ebenen, er hintergründet gern – wie aber wenn "hinten" nichts vorhanden ist? Im vorliegenden Fall frage ich mich vor allem, was ist bei den "neuen Denkformen" des Vlt. spezifisch einmalig, was Eigentümlichkeit einer richtigen Volkssprache? Die Parallelen mit Neugriech., Neupers. liegen auf der Hand.

Ihr Einwand gegen mich berührt sich mit einem brieflichen Vosslers, der meint, das Impersonale könne jederzeit mythologisch aufgefaßt werden, wenn es auch vorher grammatikalisiert war.

Über meine Personenvertauschung wird Rohlfs nächstens handeln. Er scheint an Ort und Stelle neue Beobachtungen gesammelt zu haben. Ich glaube nicht an Ihr donnez = donner, vor allem weil man den Befehls-Infinitiv im Frz. |3|nicht in der gleichen Situation (Kindern gegenüber) anwenden würde.

Bezüglich des Breviers habe ich Castro sofort geschrieben. Ich glaube, es müßte noch Niemeyer befragt werden. Ich mache selbstverständlich keine Schwierigkeiten, nur möchte ich verschiedene Mängel in der span. Ausgabe1 beseitigt sehen, vor allem in der Numerierung der Bibliographie, auch Lücken dieser usw. Ferner, wie steht es mit meiner Einleitung? Soll sie mitübersetzt werden?

Haben Sie Debrunners Artikel gelesen? Da war sogar der Untertitel zitiert, aber die "Namensverschweigung" durfte nicht ausbleiben. Unverbesserlicher Spitzer, höre ich Sie sagen.

Die Mode ist nicht ganz (höchstens halb) die Domäne meiner Frau, aber allerdings meine Pflegemutter, Gräfin Arco-Janisch, die selbst Modekönigin war, pflegte zu sagen: "Wissen Sie, wie man Moden macht? Man trägt immer das Gegenteil von dem, was Mode ist". So einfach scheint die Sache nicht zu stehen, vielmehr entsteht wohl aus dem Conubium (oder Commercium) von Schneider, |4|Halb- und Theaterwelt die Mode. Die französische Mode = Laune, Bizarrerie. Sie will nicht Lebensstil sein, sondern momentane Verkleidung. Heuer ist die Französin mager, nächstes Jahr dick. Such is fashion!

Wir haben in Wien 1 Woche sozusagen sorglos darauflosgelebt, waren sogar 2 mal im Theater (Graf von Chardlais und Dame Kobold), wobei 1 Sitz 30.000 K kostete! Es regnete in Strömen, aber Wien bleibt Wien. Ich hatte gar nicht das Gefühl, weg gewesen zu sein, obwohl die alten Freunde in alle Winde verweht waren.

In Wien lernte ich Küchler samt Frau kennen. Er sehr liebenswürdig und lebhaft, wenn auch das Gegenteil eines bedeutenden Kopfes. Sie eine echte häusliche Französin, die sich weder in Deutschland noch in Frankreich mehr wohl fühlt. Küchler erzählte mir, was ich auch so schon wußte: er habe Lerch mit aller Macht durchsetzen wollen, sei aber auf eine Einheitsfront gestoßen. Durch Lerchs Avancement wäre dann München für mich in Frage gekommen, wie auch er bestätigte. Lerch soll angeblich sein schroffes Verhältnis

[halbes Blatt fehlt]

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Das meine ich auch, mein Buch ist u.a. ein Protest gegen den Krieg gewesen! Foligno2 aber meint, es sei "repulsive" zu sehen, wie ich die Briefe der Armen mit dem "glee" des Philologen durchstudiere usw. Das ist so, wie wenn der Mediziner nicht die Kriegsverwundungen oder die Einflüsse des Kriegs auf den menschlichen Organismus mit wissenschaftl. Kühle studieren dürfte! Auch mein Buch hat ja eine Heilwirkung im Auge: "nie wieder Krieg!"

Nun zu unseren Finanzen: das Ministerium hat mir entsprechend meiner Bitte 165.000 M bewilligt, was zusammen mit Privateinkommen zwar dem Existenzminimum von Sept., aber nicht dem jetzigen (300.000-400.000) entspricht. Ein Ordinarius erhält jetzt hier 600.000 M! Nun ist die Ansicht sämtlicher Ordinarien, mit denen ich gesprochen habe, daß, wenn M-L einen Antrag auf ein Extraord. machte, niemand hier etwas dagegen hätte – aber M-L wird diesen Antrag nicht stellen, 1) weil er sich von seinem Einfluß auf die Regierung nicht viel verspricht, 2) weil er mir nicht wohl will. Daß ein Kollege ihm den Gedanken souffliert, ist schwer möglich, weil seine Verletzlichkeit in diesem Punkt bekannt

[halbes Blatt fehlt]

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in dem Brief nach Caltanisetta = 'Zeitung'?).

Was ist das nun für ein Wort? Und merkwürdig, daß es von einem Kgf. gebraucht wurde, der offenbar in Sizilien zu Hause ist!

Herzliche Grüße von uns drei und pronta risposta!

Spitzer


1 Die spanische und baskische Fangemeinde Schuchardts plante unmittelbar nach dem Erscheinen der Erstausgabe eine Übersetzung ins Spanische. Wie aus dem Briefwechsel besonders der Jahre 1925/26 hervorgeht, wird diese Ausgabe zwar begonnen, aber nicht zu Ende geführt.

2 Cesare Foligno bespricht 1922 in der Modern Language Review (197ff.) das Hungerbuch von Spitzer äußerst ablehnend. Spitzer antwortet darauf mit dem Artikel "Abwehr" im Archivum Romanicumi VII: 164-166 (1923).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11116)