Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (335-11096)

von Leo Spitzer

an Hugo Schuchardt

Bonn

10. 03. 1922

language Deutsch

Schlagwörter: language Katalanischlanguage Spanischlanguage Ungarisch Richter, Elise Paul, Hermann Gilliéron, Jules Trombetti, Alfredo Urtel, Hermann Richter, Elise (1919) Spitzer, Leo (1918) Schulz, Hans (1913) Sainéanu, Lazare (1920) Zweifel, Marguerite (1921)

Zitiervorschlag: Leo Spitzer an Hugo Schuchardt (335-11096). Bonn, 10. 03. 1922. Hrsg. von Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.2179, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.2179.

Printedition: Hurch, Bernhard (2006): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt. Berlin: Walter de Gruyter.


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Bonn den 10. März 1922

Verehrter lieber Freund!

Zuerst einige Bemerkungen zu Ihren Etymologien im nächsten Heft der Zeitschrift: kat. dos "Nadelöhr" kann nicht von capsa beeinflusst sein, da dies im Kat. caixa gibt. Warum sollte corpus "Nadelöhr" auffallen, wo span. cuerpo u.a. die dicke Stelle im Gewebe bedeutet? – Was ist das für ein öster. Wort Hummer? – Zu cruna vgl. noch die Bedeutung "Gipfel des Hügels" bei Petrocchi. – Ueber den b-Anlaut der Wörter für "dumm" haben schon El. Richter in ihrem Aufsatz über boche und ich in meinem Anti-Chamberlain gehandelt.

Ist Tunte eigentlich hochdeutsch? Ich lernte es erst in Berlin kennen. Paul und Sanders haben es nicht, dafür Meyer, "der richtige Berliner". Dummhut: vgl. unter dummhäuptig im Dtsch. Wörterbuch. Uebrigens heisst Breithut "Hahnrei" (Dtsch. Wb.) Vgl. Dummbart, Dummschnute.

Ihre Darstellung des Problems fix "behende" wird durch die Belege bei Hans Schulz, Dtsch. Fremdwörterbuch1 nicht bestätigt: zunächst kommt fix und teuglich 1590 von einem Werkzeug gebraucht vor. Schulz erklärt über das Zwischenglied "beständig, verlässlich, sicher" |2|aus "fest". Sie selbst haben ja gezeigt, dass einsilbige Fremdwörter sich am gründlichsten einbürgern. Es müsste sich also ficken "coire" volksetymologisch eingeschlichen haben, vgl. Flüche wie fickerment, fix Laudon usw. – Madj. kukorék ist nach dem ungar. Betonungsgesetz wohl auf der ersten Silbe betont, entscheidet also für das angeschnittene Problem nichts. Die Konstanz der Konsonanten beim Hahnenschrei hat mich immer an die semitischen Wurzelverhältnisse erinnert.

Gilliérons Adresse ist Levallois, Seine, rue Carnot 59.

Ihre Zeilen über die "Namensverschweigung" haben mich vollkommen befriedigt und ich möchte, wenn es Ihnen recht ist, unter die Sache einen Strich machen. Sie werden sich ja nicht wundern, wenn ich nach meinen vielen Misserfolgen Zufallsfügungen oder formelle Unstimmigkeiten schwärzer und grösser sehe als andere normalere Menschen.

Ein sehr schönes und die etymologische Forschung mächtig beförderndes Werk ist Sainéans Buch über das Pariserisch des 19. Jahrhunderts.2 Es ist eigentlich merkwürdig, dass niemand vor ihm sich dieser dankbaren Aufgabe erbarmt hat, die Zusammensetzung des Wortschatzes der mächtigsten Kulturzentrale Frankreichs zu studieren. Eine Unzahl bisher ungelöster Etymologien sind da wie spielend geklärt worden. Sehr befriedigt hat mich auch die hübsche Broschüre des Frl. Zweifel, die einen von mir angeregten Gedanken in die Tat umgesetzt hat.3Trombettis Werke werde ich wohl zeitlebens nicht mehr sehen, = Maski! sagen die Levantiner.

Wer hat denn in der Ill. Zeitung über Sie geschrieben?

Meine Italienische Umgangssprache ist bis zum 14. Bogen gedruckt und wird wohl in zwei Monaten vollständig vorliegen. Ausser den beiden für Sie bestimmten etymologischen Artikeln habe ich nichts in Vorbereitung. Ich dressiere mich künstlich von der Wissenschaft ab, einerseits in dem ich lang im Bett bleibe, anderseits indem ich mich mit vermögenstechnischen Fragen abgebe – das einzige Mittel, um die Zeitgenossen durch Ueberproduktivität nicht zu verstimmen.

Ich habe Urtel und Wagner zu Vorträgen über Portugal bzw. Spanisch-Amerika im Rahmen des hiesigen Auslandsinstituts eingeladen. Ersterer hat schon |3|zugesagt. Bei ihm scheint namenloses Unglück zu herrschen: Zur hoffnungslosen Krankheit seiner Frau ist eine vorübergehende Erkrankung seiner selbst (Springen eines Blutgefässes in der Lunge infolge Ueberanstrengung) getreten.

Die allerherzlichsten Grüsse von uns beiden

Ihr

Spitzer


1 Hans Schulz, Deutsches Fremdwörterbuch. Straßburg: Trübner 1913ff.

2 Lazare Sainéanu, Le langage parisien au XIXe siècle. Paris: de Boccard 1920.

3 Marguerite Zweifel, Untersuchung über die Bedeutungsentwicklung von Langobardus-Lombardus mit besonderer Berücksichtigung französischer Verhältnisse. Halle a.S.: Niemeyer 1921.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 11096)