Karl Friedrich Christian Brugmann an Hugo Schuchardt (02-01412)

von Karl Friedrich Christian Brugmann

an Hugo Schuchardt

Leipzig

15. 07. 1894

language Deutsch

Schlagwörter: Weiterleitung von Korrespondenz Reflexion über Korrespondenz Festschrift Lautgesetze Polemik Junggrammatiker Rezension Indogermanische Forschungen Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze Streitberg, Wilhelm Graz Triest

Zitiervorschlag: Karl Friedrich Christian Brugmann an Hugo Schuchardt (02-01412). Leipzig, 15. 07. 1894. Hrsg. von Pierre Swiggers und Herman Seldeslachts (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1766, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1766.

Printedition: Swiggers, Pierre; Seldeslachts, Herman (1995): "Ein so alberner Wicht ... bin ich gottlob nicht!": Das schwierige Verhältnis zwischen Karl Brugmann und Hugo Schuchardt. In: Orbis. Bd. 38., S. 197-214.


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Leipzig, 15. Juli 1894

Sehr geehrter Herr College.

Ich habe mit der Beantwortung des Briefes, den Sie am 5. d.M. an mich gerichtet haben, gezögert, um zu sehen, ob es mir möglich wäre, zu der fatalen Angelegenheit innerlich eine andere Haltung zu gewinnen, als ich gleich nach Empfang Ihres Festgrußes eingenommen1 habe. Mittlerweile hat mir Streitberg Ihre Briefe an ihn zugesandt, und da ich aus diesen sehe, dass Sie auf eine Antwort von mir warten, so will ich nicht länger zögern.

Sie haben die Empfindung, als sei es meine Pflicht, die „Formlosigkeit“ meines ersten Briefes an Sie baldigst wieder gut zu machen. Da möchte ich mir die Frage erlauben, auf wessen Seite die größte „Formlosigkeit“ gewesen ist: auf der meinigen oder auf der Seite dessen, der sich den Festtag eines gemeinsamen Freundes dazu aussuchte, um seinen Unmut über uns ans Licht zu bringen? Daß die Anklage |2| in eine witzige Form gekleidet ist, nimmt ihr von ihrer Bitterkeit wohl nichts erkleckliches. Und daß meine „Entrüstung“ nicht gerade einen höflichen Ausdruck bekommen hat, mindert nicht ihre Berechtigung.

Sie bitten, daß wir uns in Ihre Lage versetzen müßten. Ich habe das gethan und kann nur sagen: an Ihrer Stelle würde ich nie und nimmer einen solchen Vorwurf erhoben haben, ehe ich mich nicht davon überzeugt hätte, ob nicht irgend welcher Zufall im Spiel wäre.

Wollen Sie sich nun auch einmal in unsere Lage versetzen! Ihre bisherige Polemik gegen die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze war durchaus sachlich gehalten. Sie haben meines Entsinnens nie etwas gegen mich oder solche2, mit denen ich an einem Strange ziehe, vorgebracht, wodurch sich einer von uns hätte irgendwie persönlich getroffen und3 verletzt4 fühlen können und dürfen. Meinem großen Respekt vor Ihren wissenschaftlichen Arbeiten, insonderheit auch vor den5 die Principienfragen betreffenden, habe ich stets, wo ich von Ihnen |3| zu reden hatte, z.B. in meinen Vorlesungen über die Elemente der Sprachwissenschaft, Ausdruck gegeben. Wenn wir nun trotz der sachlichen Haltung Ihrer Polemik, trotz dem wissenschaftlichen Ernste, der aus Ihren mit diesen Dingen sich beschäftigenden Schriften und6 Recensionen überall7 hervorleuchtet, Sie durch Ausschluß von der Festschrift zu strafen versucht und uns als Bekenner des Satzes bekundet hätten, „daß man zwischen der8 wissenschaftlichen Unabhängigkeit und dem freundschaftlichen Verkehr mit Fachgenossen wählen müsse“, so müßten wir doch äußerst kleinliche Seelen sein. Es hat ja solche immer gegeben und gibt deren auch heute, aber was berechtigt Sie, uns diesen Creaturen zuzuzählen? Ich für mein Theil habe immer meinen Stolz darein gesetzt, sachliche Gegnerschaft ruhig hinzunehmen. Ich darf Sie z.B. darauf hinweisen, daß in den bisher erschienenen Bänden der Indogermanischen Forschungen vielleicht gegen niemanden häufiger polemisiert wird als gegen mich. Mehr als einmal habe ich |4| mit Behagen gelesen, wenn jemand einen Hypothesenbau von mir mit sicherer Hand niederriß.

Hiernach können Sie ermessen, in welcher Stimmung ich mich Ihrem öffentlichen Vorwurf gegenüber befunden habe. Ich beklage es jetzt, daß ich, als ich im Frühjahr des vorigen Jahres über Graz nach Triest (und weiter nach Griechenland) fuhr, in Graz nicht Station gemacht habe, wie ich zuerst vorhatte. Sie hätten dann nicht nur erfahren, daß Sie zur Festschrift aufgefordert worden waren, sondern wohl auch Gelegenheit gehabt zu sehen, daß eine Verstimmung gegen Sie bei mir absolut nicht existiere. Ich habe mich weder in Wien noch in Graz (beide Städte hatte ich bis dahin noch nicht gesehen) aufgehalten, um die ganze Reisezeit9 auf Griechenland selbst verwenden zu können; ich kam zum ersten Male hin und10 werde es auch kaum wiedersehen.

Lassen wir nun die Sache begraben sein! Eine kurze „Erklärung“ von Streitberg und11 mir, |5| in höflichem Tone gehalten, wird im nächsten Heft des Anzeigers12 die Thatsache mittheilen, daß die Aufforderung seinerzeit an Sie abgegangen ist, und unserm Bedauern darüber Ausdruck geben, daß Ihnen der Gedanke an absichtliche Übergehung eher gekommen sei als der, daß irgend ein13 Zufall im Spiel sein möge. Damit ist dann für uns beide der Zwischenfall erledigt.

Sie schreiben an Streitberg14, daß Sie hofften, daß aus dem Bösen Gutes hervorgehen werde. Diese Hoffnung hege auch ich, wenn Ihnen vielleicht auch jetzt noch meine Beurtheilung des Einganges Ihres Festgrußes als eine zu schroffe erscheinen sollte. Diese Beurtheilung wird sich schwerlich ändern, aber ich trage nicht nach.

Mit bestem Gruß, auch an Ihren Herrn Zimmernachbar,

Ihr ergebener

K Brugmann.


1 Brugmann schreibt eingenomen.

2 Hinter solche wurden die Anfangsbuchstaben (de) einer Form des Relativpronomens getilgt.

3 Verkürzt als u. geschrieben.

4 Die Wörter u. verletzt wurden über der Zeile eingefügt.

5 Die Wörter auch vor wurden über der Zeile eingefügt.

6 Im Brief steht u.

7 Das Wort überall steht über der Zeile geschrieben.

8 Das Wort der steht über der Zeile geschrieben.

9 Der Wortteil Reise wurde über der Zeile vor zeit (verbessert aus Zeit) eingefügt.

10 Im Brief steht u.

11 Im Brief steht u.

12 Die Wörter im nächsten Heft des Anzeigers wurden über der Zeile eingefügt.

13 Im Brief steht eine mit durchgestrichenem e.

14 Im Brief verkürzt geschrieben als Str.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 01412)