Hugo Schuchardt an Jan Baudouin de Courtenay (01-356)

von Hugo Schuchardt

an Jan Baudouin de Courtenay

Graz

13. 05. 1884

language Deutsch

Schlagwörter: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Wien Kreolistiklanguage Deutschlanguage Maimatschin-Dialektlanguage Pidgins (Russisch)language Pidgins (Englisch)language Slawische Sprachenlanguage Russischlanguage Romanische Sprachenlanguage Polnischlanguage Tschechischlanguage Ukrainisch Schmidt, Johannes Baudouin de Courtenay, Jan (1884) Mugdan, Joachim (Hrsg.) (1984) Glück, Helmut (1986) Schuchardt, Hugo (1900) Schuchardt, Hugo (1882) Schuchardt, Hugo (1882) Schuchardt, Hugo (1883) Schuchardt, Hugo (1884) Schuchardt, Hugo (1884) Schuchardt, Hugo (1884)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jan Baudouin de Courtenay (01-356). Graz, 13. 05. 1884. Hrsg. von Wolfgang Eismann und Bernhard Hurch (2014). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1179, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.1179.


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Graz, 13 Mai 1884

Verehrter Herr Kollege!

In Ihrer Dorpater Antrittsvorlesung,1 welche mir soeben zu Gesichte kommt, verrathen sie ein besonderes Interesse an dem chinesisch-russischen Jargon, der in Kjachta (und auch an andern Sibirischen Grenzorten) gesprochen wird. Meine Aufmerksamkeit hatte derselbe da ich mich seit 1881 mit allen aussereuropäischen “Mischsprachen” europäischer Basis beschäftige*, schon längst auf sich gezogen. Vor zwei Jahren hatte mir ein nach Ostsibirien reisender russischer Gelehrter nähere Mittheilungen darüber versprochen; aber trotzdem dass ich ihn mehrmals an sein |2|Versprechen mahnte, habe ich keine Antwort erhalten, ja nicht einmal erfahren können, wo und ob er überhaupt noch lebt. Sie scheinen genauere Kenntnis von diesem Jargon zu besitzen, wollen Sie denn Nichts darüber veröffentlichen? Oder falls Sie diese Absicht nicht haben, wollen Sie mir nicht etwa zur Erlangung des nöthigen Materials für eine Studie über dies “Pidginrussisch”, wie ich es einmal nach Analogie von “Pidginenglisch” habe bezeichnen hören, gütigst behülflich sein? Ich brauche nicht zu sagen dass eine solche Arbeit in Ihrer Hand eine ganz andere werden würde als in der meinigen; denn wenn ich mich ein ganz klein wenig mit anderen slawischen Sprachen beschäftigt habe, |3|so bisher gar nicht mit dem Russischen. Sie sehen, obwohl ich nie das Vergnügen hatte mit Ihnen in Berührung zu kommen, spreche ich sehr ungenirt mich aus; hoffentlich thun Sie das Gleiche.

Ihre Vorlesung hat mich sehr interessirt, und zwar um so mehr als ich in meiner Habilitationsvorlesung von 18702 einen analogen Gegenstand behandelte, die Verwandtschaftsart der romanischen Sprachen (wobei ich mich gegen die Stammbaumtheorie wandte, wie das Joh. Schmidt später bezüglich der indogermanischen Sprachen that). Ganz besonders hat mir ihre Bemerkung über das Fehlen von Uebergangsdialekten zwischen einzelnen slawischen Sprachen zu denken gegeben. Ich hatte allerdings geglaubt dass solche zwischen |4|dem Polnischen und Tschechischen, sowie dem Grossrussischen und Kleinrussischen bestünden. Wie erklären Sie sich das Fehlen derselben? Aus räumlichen Verschiebungen der Sprachvölker? Gerade jetzt habe ich in meinen Vorlesungen diesen allgemeinen Punkt wieder zu berühren.

Die ausserordentliche Hitze welche wir jetzt haben, macht mich so matt dass ich nur einen so stümperhaften Brief wie diesen fertig bringe. Sie werden es entschuldigen.

Mit der Versicherung ausgezeichneter Hochachtung und wahrer Sympathie

Ihr ergebenster

Dr. Hugo Schuchardt

Ich habe vergessen zu bemerken dass ich mich 1882 und 1883 noch an ein Halbdutzend Personen in Kjachta u.s.w. in der bewussten Sache gewendet habe, aber ohne jeden Erfolg.

*) Ich habe in den Sitzungsberichten der Wiener Akademie Kreolische Studien I–VI veröffentlicht, welche fortgesetzt werden sollen.3


1 Baudouins Antrittsvorlesung, Übersicht der slavischen Sprachenwelt im Zusammenhange mit den andern arioeuropäischen (indogermanischen) Sprachen, wurde 1884 in Leipzig im Verlag T.O.Weigel veröffentlicht [Nachdruck in Mugdan, Joachim (ed.). 1984.> Jan Baudouin de Courtenay, Ausgewählte Werke in deutscher Sprache. München: Wilhelm Fink, S. 1-21]. Diese Antrittsvorlesung auf Deutsch gehalten und veröffentlicht zu haben, war ein politisches Statement (vgl. auch Glück, Helmut. 1986. 'Die Speisekarte der Sprachenfresser. Zur Aktualität von Jan Baudouin de Courtenay (1845-1929) für die sprachensoziologische Forschung'. In Germanistische Mitteilungen 23: 3-25). In der Antrittsvorlesung heißt es zum vorliegenden Bezug auf S. 20f: „An dem chinesisch-russischen Kjachta-Dialekt, wo das russische Sprachmaterial ganz nach der chinesischen Art verarbeitet wurde, kann man die Bildung einer Mischsprache durch den gegenseitigen Einfluss zweier Nationalitäten sehen.“

2 Schuchardt, Hugo. 1900. Über die Klassifikation der romanischen Mundarten (Leipziger Probevorlesung von 1870). Graz: Selbstverlag. Schuchardt publiziert diesen Vortrag, der wesentlich die These der Kontinuität der Dialekte für das gesamten romanische Sprachgebiet argumentiert, erst mit 30-jähriger Verspätung und stellt mit ihm eine Säule der neueren Dialektologie und Sprachwandeltheorie auf.

3 Die „Kreolischen Studien I-VI“ sind in den Jahren 1882 und 1883 allesamt in den Sitzungsberichten der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien erschienen (Bände 101, 102, 103 und 105). Sie widmen sich dem „Negerportugiesischen von S. Thomé“ (I), dem „Indoportugiesischen von Cochim“ (II), dem „Indoportugiesischen von Diu“ (III), dem „Malaiospanischen der Philippinen“ (IV), dem „ Melaneso-englischen“ (V) und dem „Indoportugiesischen von Mangalore“ (VI) (Brevier-/Archivnr. 132, 133, 147, 148, 149, 150). Sie gelten als die Begründung der Kreolistik und werden bis in die frühen 90er Jahre von Schuchardt in unterschiedlicher Form fortgesetzt, als Serie, aber auch in anderen Einzelarbeiten. Die Forschung zu Sprachmischung und Mischsprachen prägt insgesamt sein Schaffen grundlegend.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Archiv der Petersburger Akademie der Wissenschaften. (Sig. 356)