Dialect Cultures

Datenbank bairisch-österreichischer Mundartkunst vor 1800

Gattung: Lyrik
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Zeitraum Entstehung: 1765 +/- 5
Hauptvariante (Text):
Musikvarianten:
Textvarianten:
Kommentar:

Ein traditionelles Hirtenlied ist bezeichnenderweise die älteste uns überlieferte Mundartdichtung Peter Gottlieb Lindemayrs. Denn diese vor allem im Alpenraum kultivierte Liedform ist nicht nur eine der beliebtesten des Volksgesangs und bis heute fest im Liedgut um den Weihnachtskreis verankert. Im Bereich der Dialektliteratur nimmt das Hirtenlied darüber hinaus eine Schlüsselstellung ein, war es doch an der Ausprägung und Verbreitung dieser Dichtungsart wesentlich beteiligt. Grund dafür ist das aus bäuerlicher Sicht hohe Identifikationsangebot der thematischen Vorgabe, die neutestamentarische Überlieferung von den Hirten auf dem Feld, denen der Engel die frohe Botschaft von der Ankunft des Herrn überbrachte (Lukas 2, 8-20). Im Mittelpunkt steht hier der einfache, ländliche Mensch, der – mit einem zentralen Mysterium der christlichen Glaubenslehre konfrontiert – intuitiv die richtige Entscheidung trifft und die Nähe des Herrn sucht, um ihn nach seinen bescheidenen Möglichkeiten zu huldigen. Bereits im 3. Jahrhundert findet sich diese Szene in den Bildprogrammen der Katakombenkunst. In der deutschen Literatur ist sie verbunden mit den Anfängen des Schauspiels als Teil unangestrengter religiöser Unterweisung für die ungebildeten Schichten in der Weihnachtsliturgie. Ab dem ausgehenden Mittelalter lassen sich schließlich vielfältige lyrische Umsetzungen, zumal in der Volkskultur, nachweisen. Die Ausgestaltung der bäuerlichen Lebenswelt, die gute szenische Umsetzbarkeit aufgrund der zumeist dialogischen Form, die Orientierung am Alltagssprachlichen und die Möglichkeit, wichtige Glaubensinhalte auch mit komischen und sentimentalen Elementen zu vermitteln, machten das Hirtenlied zu einem fixen Bestandteil des weihnachtlichen Brauchtums gerade in ländlichen Gegenden.

Doch Bedeutung hatten diese Lieder als Ausdruck der Volksfrömmigkeit nicht nur im liturgischen Zusammenhang etwa bei der Hirtenmesse oder in privaten Andachten. Wichtig waren derartige Brauchtumslieder vor allem auch für die arme Bevölkerung als zusätzliche Erwerbsmöglichkeit. Wie u. a. Matthias Höfer und Pius Schmieder bezeugen, waren bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts die alten Stadlinger Schiffleute und auch Kinder unterwegs, um sich mit dem Singen von Liedern in der Weihnachtszeit bis um Dreikönigtag ein wenig Geld dazuzuverdienen, um den sonst einkommenslosen Winter zu überstehen. Gut denkbar, dass hier der junge Stadelschreiber seinen Untergebenen unter die Arme griff, indem er ihnen in den ersten Amtsjahren ein neues Lied für ihr Repertoire schrieb. So kann es auch nicht wundern, dass diese bezaubernde Pastorelle zum bekanntesten Lied P.G. Lindemayrs wurde und sich in erstaunlich vielen, teils stark zersungenen Fassungen erhalten hat. Einen ersten Überblick über die reiche Überlieferungssituation ab 1826 gibt Alfred Webinger 1923, den Arnold Blöchl in seinem Melodieergänzungsband zu Wilhelm Paillers wichtiger Weihnachtsliedersammlung überarbeitet. Nicht erfasst allerdings ist in beiden Zusammenstellungen neben der ältesten und authentischsten Handschrift auch die älteste überlieferte Melodie, die im Folgenden wiedergegeben wird. Die Autorenzuordnung, erstmals in Schmieders Edition 1875 getroffen und durch Hans Anschober, der das Lied unbegründet Maurus Lindemayr zuordnet, ein halbes Jahrhundert später in Frage gestellt, wird durch die Übereinstimmung der frühen Überlieferungsträger eindeutig bestätigt.

Auf den ersten Blick verarbeitet Han Nächten bey ünsern Darfrichtä durchaus traditionell die drei wichtigsten Handlungsmomente des Hirtenlieds: die Verkündigung durch den Engel, der Aufbruch zum Ort des Geschehens und die Anbetung des Kinds. Interessant allerdings ist die Modifikation der Sprechsituation, die der Autor in der ersten Strophe vornimmt. Denn das Lied beginnt nicht mit einem Simultanbericht der Ereignisse im Gespräch der Hirten oder einem unmittelbaren Augenzeugenbericht. Der bäuerliche Sprecher Lippel erzählt vielmehr, wie er über den besonderen Vorfall zunächst vom Dorfrichter informiert wurde, der ihn selbst nur durch Hörensagen vermittelt bekommen hat. Um dem Gesagten nachzugehen, machte er sich umgehend auf den Weg und fand die Heilige Familie im Stall. In der Schlussstrophe, in der erstmals eine konkrete Zuhörerschaft angesprochen wird, fordert er konsequenterweise auch alle seine Nachbarn auf, nach seinem Bericht sich von der Wahrheit des Gesagten persönlich zu überzeugen. So wird bereits über die Spezifizierung der Redesituation auf einen wesentlichen Aspekt der christlichen Heilslehre hingewiesen, den Glauben an die gute Botschaft („Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben“, Joh. 5,24).
Durchaus dem Bilderschatz der Gattungstradition entnommen sind die folgenden Schilderungen des bäuerlichen Sprechers, doch gewinnen sie durch die geschickte Kombination von Erhabenem und Niedrigem, von Transzendentem und Allzumenschlichem im Hausruckviertler Basisdialekt einen besonderen Reiz. Das Halleluja der Engel wird zur rübensüßen ‚Musi‛ barocker Putti, die ausgelassen um den zu Tode erschrockenen Lippel herumtollen. Dieser wiederum versetzt die stillende Gottesmutter mit seinem ungestümen Auftreten in Angst und Schrecken. Ungleich zurückhaltender ist der Bauer aber dann in der entzückenden Szene mit dem Jesuskind, das er nur schüchtern anzustupsen wagt, bevor er es schließlich doch in seiner überschäumenden Begeisterung umarmt und küsst. Ein eher selten verarbeitetes Motiv ist dagegen die selbstreflexive Thematisierung des Liedsingens.

Nicht nur die Inszenierung des Sprechers, auch die Strophenform mit zweiteiligem Aufbau verwendet Peter Gottlieb Lindemayr wenige Jahre später auch bei seinem ‚Urlaublied‘ "Es hat mä mein Nachbä dä Kramä" wieder. Der erste Strophenteil verbindet stumpf und klingend endende Verse im Kreuzreim, der zweite besteht aus zwei Paarreimen, der erste mit klingender, der zweite mit stumpfer Kadenz. Die dreihebigen Verszeilen mit Auftakt und überwiegenden Doppelsenkungen verweisen auf eine dem ‚Landler‘ nahestehende originale Vertonung im Dreiviertel- bzw. Sechsachteltakt. Ob sie mit jener Melodie identisch ist, die Frauenberger für Klavier arrangiert hat, müssen weitere Quellenfunde weisen. Stilistisch weist die Literarisierung des Dialekts noch einige Unsicherheiten auf; nicht selten kommt es zu Interferenzen mit standardsprachlichen Formulierungen (so etwa in der vierten Strophe der Reim ‚hinein-ein‘).

Literatur:
Permalink: http://hdl.handle.net/11471/510.15.502
Zuletzt geändert: am: 2.9.2016 um: 12:35:24 Uhr