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libri ordinarii of the Salzburg metropolitan province

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St. Nikola

Der Liber ordinarius des Mengotus aus dem Augustiner­chorherrenkloster St. Nikola vor Passau.

In der Diözese Passau erfuhr die von Papst Gregor VII. (†1085) auf der Lateran­synode von 1059 initiierte Chorherrenbewegung große Resonanz. Bischof Altmann (†1091) gründete in der Folge das regulierte (Augustiner-) Chor­herren­kloster St. Nikola vor den Stadttoren Passaus (um 1067). Die Gemein­schaft sollte Ausbildungsstätte und Vorbild für den Dom- und Diözesan­klerus sein und die Ideen der Gregorianischen Kirchenreform vermitteln. Die durch Altmann initiierte Chorherrenbewegung strahlte weit über die Diözesangrenzen hinaus. Etwa 50 Jahre später stellte sich Erzbischof Konrad I. von Salzburg (†1147) vor diese Bewegung. Er wandelte das mit unregulierten Chorherren besetzte Salzburger Domstift in ein reguliertes Augustiner­chorherrenstift um. Viele Klöster, auch aus der Diözese Passau, schlossen sich dem von Konrad initiierten Salzburger Chorherrenverband an.


Der Liber ordinarius des Mengotus (A-Wn Cod. 1482), um 1150-60 niedergeschrieben, war bis 1806 Teil der Domkapitelbibliothek Salzburg. Ent­gegen älterer Zuschreibungen kann dieser Liber ordinarius eindeutig nach St. Nikola Passau verortet werden. Der Codex ist bekannt als das früheste Zeugnis des deutschsprachigen Osterliedes „Christ ist erstanden“. „Mengotus“ enthält eine Passauer Chorherrenliturgie. Für das Fest des Klosterpatrons ist folgendes Formular vorgesehen: „In festo s. Nicolai ad vesperas R. Beatus Nicolaus. Te deum laudamus et Gloria in excelsis dicitur. Officium Statuit ei. Festive omnia sicut de apostolo. … Postea de s. Andrea“. Nikolaus wird als Hochfest gefeiert, die Oktavfeier des zweiten Klosterpatrons Andreas kommemoriert. Zudem sind Formulare für das Hauptfest des hl. Andreas (mit Vigil am Vortag und Angaben für die Tage in der Oktav nach Andreas) sowie für Pantaleon vorhanden (dritter Klosterpatron, „novem lectiones et non vacatur“). Das Fest des hl. Jakobus (Patron der Klosterpfarrkirche) ist besonders hervorgehoben. Die erste Weihnachtsmesse fand „ad sanctam Mariam“ statt, der Spitalkirche von St. Nikola. In der zweiten Weihnachtsvesper wird der hl. Stephanus ad „sanctum Stephanum“ kommemoriert. Im Jahr 1227 wird diesem damals bereits bestehenden Stephanusaltar eine Stiftung zu Teil. Ein bei der Palmprozession erwähntes Atrium (Vorhalle, Westbau) der Klosterkirche ist bauhistorisch ge­sichert.

Der bereits erwähnte Schreiber Mengotus hat sich am Ende des Liber ordinarius verewigt: „Obsecro te, quicumque hec legeris vel transscripseris memento in bonum Mengoti peccatoris …“. In den Regesten der Passauer Bischöfe erwähnt Egon Boshof einen Mengotus, Passauer Kanoniker und Archidiakon, der nach 1187 als Zeuge in Urkunden auftritt. Vielleicht ist in diesem Domkanoniker der Schreiber des Ordo identifiziert.

Der Liber ordinarius von St. Nikola war Vorbild für den Passauer und auch für den Salzburger Regeltext. Allen Ordinarii sind zahlreiche liturgische Kommentare gemein. Darüber hinaus ist eine weitgehend übereinstimmende liturgische Tradition Bestandteil der Regelbücher aus St. Nikola, der Passauer Chor­herrenklöster (A-Gu 208, fragmentarischer Ordo aus St. Florian) und der Domkirche bzw. der Diözese (u.a. A-SPA 83/3). Die sogenannte „Weltzeiten­klammer“ (Bericht über die „sex aetas“) verbindet „Mengotus“ mit Ordinarii, die von Salzburg abhängig sind (Salzburg, Vorau, Suben, Ranshofen, Waldhausen und St. Florian). Beide Diözesan- und die Chorherrentraditionen zeigen zudem eine deutliche Abhängigkeit von den liturgischen Entwicklungen des Bodenseeraumes des 11. Jahrhunderts, die nicht erst durch die Hirsauer Reformklöster, sondern bereits zur Zeit Altmanns im deutschen Südosten initiiert wurde. So beinhalten die frühesten Quellen die „Rheinauer“ Sonderoffizien für Papst Gregor, für Afra, Mauritius und Gallus. Ferner wurden zahlreiche Rubriken aus dem Micrologus des Bernold von Konstanz (†1100) übernommen. Bernold und Altmann waren Weggefährten und überzeugte Anhänger der Gregoria­nischen Reform. In einigen Rubriken nennt „Mengotus“ Papst Gregor VII. als Autorität und zitiert aus Gregors „Regula canonica“, in der u.a. das auf der Lateran­synode beschlossene besitzlose Zusammenleben von Kanonikern festgelegt ist.

Musik-liturgische Quellen aus dem Mittelalter bzw. der frühen Neuzeit aus St. Nikola waren bis vor Kurzem nicht bekannt. Drei Breviere ohne musikalische Notation aus dem 15. Jahrhundert, die heute unter den Signaturen Clm 16141-16143 in der bayerischen Staatsbibliothek München aufbewahrt werden, vermitteln einen umfassenden Eindruck von der liturgischen Tradition St. Nikolas. In der Bibliothek des Augustinerchorherrenklosters Vorau (Steiermark) ist unter der Signatur 90 ein mit linienloser Neumennotation ausgestattetes Brevier (Winterteil) erhalten, das im Umfeld von St. Nikola in Gebrauch war. Der aufwändig illuminierte Codex wurde vermutlich im vierten Viertel des 13. Jahrhunderts hergestellt. Dieser enthält auch besondere Gesänge für den Passauer Diözesanpatron Valentin sowie für die beiden Klosterpatrone Andreas und Nikolaus, für Letzteren die CantioNicolai solemnia sua praesens familia. Bemerkenswert ist das neumierte Antiphonar Clm 16141 der Bayerischen Staatsbibliothek München. Das um 1300 angefertigte Gesangbuch war in einer Klosterpfarre von St. Nikola in Gebrauch. Es stellt eine der ältesten Offiziumsquellen mit musikalischer Notation für die Passauer Diözesan­liturgie dar. Ein kunstvoll ausgestattetes Chormissale, das heute unter der Signatur 74 in der Stiftsbibliothek Melk aufbewahrt wird und im vierten Viertel des 15. Jahrhunderts entstanden sein dürfte, enthält ebenfalls Hinweise auf St. Nikola. Eine Verwendung im Kloster erscheint jedoch fraglich, da es wiederum eine Passauer Diözesan- und keine Chorherrentradition beinhaltet.

Eindeutig dem Gebrauch der Passauer Chorherren zuweisen lässt sich ein 1593 hergestelltes Prozessionar. Das mit gotischer Choralnotation auf Linien notierte Buch wird heute unter der Handschriftensignatur 209 in der Oberöster­reichischen Landesbibliothek Linz aufbewahrt. Der kleinformatige Codex enthält 164 gezählte Folien und ausschließlich Gesänge, die bei den täglichen Prozessionen im Kloster und im näheren Umfeld von St. Nikola, zum Vortrag kamen. Interessant ist, dass das Textrepertoire und die Melodien immer noch die mittelalterliche liturgische Tradition wiederspiegeln. Das mit dem Wappen des Propstes Abraham Anzengruber (regiert 1585-1599) und der Jahreszahl 1593 ausgestattete Titelblatt enthält nachfolgenden Text: „Responsorium. In usum Monasterii S. Nicolai extra muros Passavienses“. Der zeitgenössische Einband trägt als Blindstempel ebenfalls das Wappen des Propstes mit der Jahreszahl 1588, die Insignien „A A“ und den umlaufenden Text: „DOMINUS PRAEPOSITUS NICOL[AI] ABRAHAMUS ÄNTZENGRUEBER“.

Der Ablauf der Gesänge im Prozessionar folgt dem Kirchenjahr, wobei Herren- und Heiligenfeste getrennt voneinander berücksichtigt wurden. Etliche Rubriken weisen auf besondere Anlässe, Prozessionswege oder Orte bzw. Kapellen hin. So fand in der Christnacht (und an weiteren Festtagen) eine Prozession in die Krypta der Klosterkirche statt. Dabei trugen die „Rectores“ (Leiter der Schola) als besonderen Sologesang den Tropus „Facturae plasmator et conditor“ vor. Bei der feierlichen Prozession am Palmsonntag, die zu Beginn in eine Kapelle führte, werden die verschiedenen Akteure genannt: Neben dem Rektor waren die „pueri“ (Sängerknaben) beteiligt, die den Hymnus „Gloria laus et honor“ zu singen hatten, an den darauffolgenden Tagen den Hymnus „Tellus ac aethra“. Am Karfreitag wurden die Improperien im Wechsel von „duo regentes“, „chorus puerorum“ und dem „chorus“ gesungen. Danach folgte die Kreuzverehrung des „clero et praeposito“ (Geistliche und Propst) und die Anbetung am hl. Grab. Am Karsamstag sangen der Knabenchor und der Chor alternatim den Hymnus „Inventor rutili“, anschließend folgte die Heiligen­litanei „circa baptisterium“. Ausführlich werden die Prozessionswege in der Osternacht zum hl. Grab, zum Eingang und zum Chor der Kirche beschrieben, wobei hier zum ersten Mal der Kantor genannt wird. Bemerkenswert ist, dass die im Mittelalter weit verbreiteten Gesänge für die Visitatio sepulchri nicht erwähnt werden. Es ist gut möglich, dass dieser Brauch am Ende des 16. Jahrhunderts nicht mehr üblich war. Für die Zeit nach Ostern folgen nun einige Suffragialgesänge für Maria, die Patrone Andreas, Pantaleon und Nikolaus sowie für den Ordenspatron Augustinus. Bei den Gesängen für die Bittprozessionen vor Christi Himmelfahrt wird die Kloster­pfarrkirche St. Jakob erwähnt und ein Gesang aus dem Sonderoffizium für den Heiligen vorgeschlagen. Weitere, im Jahr 1631 hinzugefügte Rubriken verweisen auf Stationes „ad sanctum Ioannem“ (Johannesspital am Rindermarkt) und „ad sanctum Paulum“ (Stadtpfarrkirche St. Paul am Eingang zum Dombezirk). Die Prozession endete „ad sanctum Stephanum“, also in der Domkirche. Am folgenden Tag führte der Weg über die Heilig­Geist­Spitalkirche (Heiliggeistgasse) zum Dom und über St. Jakob (Bahnhofsstraße) zurück nach St. Nikola. An Christi Himmelfahrt und Pfingsten führten Prozessionen „ad insulam“. Hier wurde eine kleine Kirche zu Ehren Maria Magdalenas besucht, die sich am linken Innufer (auf Höhe der heutigen Eisenbahnbrücke) befand und zu St. Nikola gehörte. In der vollständig vom Inn umfluteten Kirche sangen die Scholares Strophen des Hymnus „Salve festa dies“. Am Fronleichnamsfest der folgenden Woche hielt die festliche Prozession wiederum eine Statio in St. Jakob. Das Sanctorale beginnt mit „In festivitate D. Nicolai patroni nostri“. Herausragend sind Gesänge aus dem Sonderoffizium für den hl. Florian, die hier zum Teil unikal mit Melodien überliefert sind. Der Ursprung dieser Historia ist im Augustinerchorherrenkloster St. Florian bei Linz zu finden. Nur hier mit Melodien überliefert sind zudem Gesänge für den Klosterpatron Pantaleon. Eine besondere Bedeutung scheint auch der hl. Agatha zugekommen zu sein. So ist unter den Suffragialgesängen ein Responsorium für die Heilige vorgesehen. Es ist gut möglich, dass die hervor­gehobene Stellung Agathas mit der alten Klosterpfarre Aidenbach zu tun hat, deren Kirche ein Agathapatrozinium führt.

Prozessionare enthalten in der Regel nicht nur Gesänge, die während des Gehens zum Vortrag kamen, sondern auch solche, die an den Stationen notwendig waren (z.B. Gesänge für die Messe in Stationskirchen, zur Kommemo­ratio an besonderen Altären, für besondere Riten wie die Fußwaschung am Grün­donnerstag oder die Lichter­prozession an Maria Reinigung). Für diese besonderen Riten waren auch nur für diesen Zweck komponierte Gesänge vorgesehen. Der größere Teil der Prozessionare besteht jedoch aus Responsorien, Antiphonen und Hymnen aus dem regulären Offiziumsrepertoire der betreffenden Institution. So fanden vor allem die großen Responsorien der Matutin Verwendung. Für das Temporale sind das in der Regel allgemein übliche Gesänge. Das Proprium einer Institution wird durch die Auswahl für das jeweilige Fest bestimmt. Interessanter sind hingegen die Gesänge für das Sanctorale, vorallem wenn man diese aus Historiae (meist gereimte Sonderoffizien) für lokal bedeutende Heilige entnahm. Für St. Nikola sind das neben den bereits erwähnten Historiae für Florian und Pantaleon die für Maria, Maria Magdalena, Jakob, Anna, Augustinus, Kaiserin Kunigunde und Ursula.

von Robert Klugseder

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