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Quelle: Literatur und Wissenschaft. Festschrift für R. Baehr, hg. B. Winklehner, Tübingen, Stauffenburg, 1987, S. 371–382.

Der Futurismus als „grande e forte letteratura scientifica“

Betrachtungen über die Widersprüche einer Avantgarde

Der Reiz, den die futuristischen Manifeste nach wie vor bewahren, liegt nicht zuletzt in der Inkohärenz ihrer Thesen. Mit ihr meine ich weniger den vielbesprochenen Gegensatz zwischen dem revolutionären Anspruch einer ästhetischen Avantgarde-Bewegung und dem vermeintlichen Konservativismus ihrer politischen Propaganda. [1] Er löst sich weithin auf, sobald man gewahr wird, daß auch der Kriegskult der Futuristen – und mit ihm ihre Feier der Gewalt, ihr „militarismo“ und ihr „disprezzo della donna“ – über alle Positionen konservativer Vernünftigkeit hinausschießt. Es geht zumal Marinetti ja nicht allein darum, durch einen Krieg im Interesse des italienischen Patriotismus den ‚Haß gegen Österreich‘ („il nostro odio contro l’Austria“) und den ‚Willen zur Erwürgung des Pangermanismus‘ („la nostra volontà di strangolare il Pangermanismo“, S. 278) [2] Tat werden zu lassen. Vielmehr bekämpft er in der Kultur des Feindes gleichzeitig den Inbegriff dessen, was ihm träge, friedfertig und anti-futuristisch erscheint: [3] „il passatismo teutonico“ („fatto di pecoraggine inintelligente, di balordaggine pedantesca e professorale, d’ossessione culturale e plagiaria“, S. 287) und einen „intellettualismo d’origine germanica“, jenen „schifoso intellettualismo socialistoide, antipatriottico, internazionalista, il quale separa il corpo dallo spirito, vagheggia una stupida ipertrofia cerebrale, insegna il perdono delle offese, annunzia la pace universale e la scomparsa della guerra“ (S. 284). Indem solcherart der Kriegsgegner – gewiß mit kräftiger Verzeichnung der historischen Realität – gleichsam als Allegorie des Pazifismus auftritt, verwandelt sich der Krieg für Marinetti in einen Selbstzweck. Mehr als den Gegner zu schlagen, gilt es nun, den Krieg vor der falschen Verlockung des Friedens zu bewahren, der „decrepitezza e agonia delle razze“ wäre. Daher das in einem Aufruf an die Jugend von 1915 fettgedruckte Postulat: „La Guerra, Futurismo intensificato, non ucciderà mai la Guerra, come sperano i passatisti, ma ucciderà il passatismo“ (S. 287f.). [4]
Wesentlicher ist mir ein Widerspruch, den die Charakterisierung der ‚futuristischen Sensibilität‘ in einem Manifest vom 11. Mai 1913 offenbart: „Orrore di ciò che è vecchio e conosciuto. Amore del nuovo, dell’imprevisto“ (S. 58). Hier verkennt die angebliche Synonymie von „vecchio“ und „conosciuto“ völlig den Effekt des Vergessens: nur im Ausnahmefall ungebrochener Tradition erweist sich das Vergangene ja als vertraut; den Normalfall bildet dagegen eine Entwicklung, welche das Alte unbekannt und in steigendem Maß zum Gegenstand archäologischer Neugier macht. Umgekehrt mag das Neue, solange man in ihm mit Marinetti das historisch Gegenwärtige – Automobil oder Flugzeug – sieht, wohl die Kategorie des Lebendigen in Opposition zum verhaßten Musealen verkörpern; doch verspricht es eben deshalb kaum die Überraschung jenes „imprévu“, nach dem sich im 19. Jahrhundert von Stendhal bis zu den Brüdern Goncourt die bourgeoisiekritische Bourgeoisie sehnte [5] .
Noch widersprüchlicher wirkt unter den Thesen des gleichen Manifests die unmittelbar folgende. Sie schließt aus der Eigenart modernen Lebens, die von den „grandi scoperte scientifiche“ (S. 57) hervorgebracht wurde, auf ein „Orrore del quieto vivere, amore del pericolo e attitudine all’eroismo quotidiano“. Zur Begründung dieses ‚Horrors vor dem ruhigen Leben‘ nennt Marinetti indes Sensationen, welche dank den technischen Errungenschaften der Moderne gerade das ruhige Leben dem Kinogänger oder dem Besucher des Variététheaters gefahrlos garantiert (S. 58):
L’abitante pusillanime e sedentario di una qualsiasi città di provincia può concedersi l’ebrietà del pericolo seguendo in uno spettacolo di cinematografo una caccia grossa nel Congo. Può ammirare atleti giapponesi, boxeurs negri, eccentrici americani inesauribili, parigine elegantissime, spendendo un franco al teatro di varietà.
Demnach entsteht für den kritischen Leser der Eindruck eines Dilemmas. Entweder – so wird er denken – degradiert die angeführte Begründung den Gehalt der These zur leeren Rhetorik, oder die These verkehrt die Begründung in ihre geheime Antithese, mindestens Parodie. Beide zugleich können nicht gelten, es sei denn der abenteuernde Heroismus des Alltäglichen und die bequeme Betrachtung von Filmen und Revuen würden als ein und dasselbe vorgestellt.
Um die erwähnten Widersprüche zwar nicht aufzulösen, wohl aber genauer zu begreifen, müssen wir die literaturgeschichtlichen und -soziologischen Ursprünge der Bewegung ins Gedächtnis rufen. Offenkundig hängen sie – wie Karl Eibl in einem klugen Aufsatz treffend, da illusionslos festgestellt hat [6] – wesentlich mit der „Entstehung des literarischen Marktes“ zusammen. Er bewirkt ein „seit Erfindung der Buchdruckerkunst“ „ständig hektischer“ werdendes „Gedrängel auf dem Parnaß“, bei dem jeder lebende Autor „mit einem Heer von Gespenstern“ konkurriert. [7] Dieser „Konkurrenzkampf der Lebenden gegen die Toten“ wird von Marinetti nicht nur stillschweigend vorausgesetzt, sondern bereits 1910 im berühmten Discorso ai Triestini derart offen verkündet, daß sich Don Abbondios vital erleichtertes „Intanto, lui non c’è piú, e noi ci siamo“ gewissermaßen ins Elegisch-Pathetische wendet (S. 211):
Avete mai pensato all’esercito immenso dei genî morti, ormai indiscussi, che avviluppa da ogni parte e schiaccia inesorabilmente l’esiguo battaglione dei genî vivi?
Non si pensa che ai genî morti, non si lavora, non si spende che per loro. A loro, tutto è concesso, tutto è offerto, tutto è facile. [...] Passano trionfalmente dappertutto, attraverso le nostre città, entrano nelle nostre case, appestano d’un lezzo di tomba la nostra atmosfera primaverile.
Bei solchem Konkurrenzkampf besteht die Hauptchance der Lebenden nun darin, als ihre spezielle Domäne Bereiche der aktuellen Realität zu propagandieren, welche die „genî morti“ noch nicht kannten oder die rückwärtsgewandten unter den „genî vivi“ zu kennen verschmähen. Vorzüglich geeignet ist dafür beispielsweise die neue Wirklichkeit des Krieges und seiner Materialschlachten, die in der Tat auch prompt gegen die namentlich genannte Konkurrenz ausgespielt wird (S. 286f.):
I bombardamenti, i treni blindati, le trincee, i duelli d’artiglieria, le cariche, i reticolati e1ettrizzati, non hanno nulla a che fare colla poesia passatista c1assicheggiante, tradizionale, archeologica, georgica, nostalgica, erotica (Baudelaire, Mallarmé, Verlaine, Carducci, Pascoli, D’Annunzio). Questa poesia pacifista è sotterrata.
Der moderne Krieg ergibt freilich nur ein Exempel des umfassenderen Realitätsbereichs wissenschaftlich-technischer Zivilisation, der die Welt des Futurismus ausmachen soll. Ihr entspricht, wie Marinetti in der schon zitierten Triestiner Rede verlangt, das Ideal einer „grande e forte letteratura scientifica, la quale, libera da qualsiasi classicume, da qualsiasi purismo pedantesco, magnifichi le piú recenti scoperte, la nuova ebbrezza della velocità e la vita celeste degli aviatori“ (S. 213). Welche Konkurrenten diese Literatur der Wissenschaft und der Schnelligkeit in erster Linie beseitigen möchte, läßt sich im übrigen auch aus Marinettis erstem Manifest ersehen, das die Literatur des „passatismo“ durch „l’immobilità pensosa, l’estasi e il sonno“ kennzeichnet: Charakteristika, hinter denen man unschwer von Marinetti perhorreszierte Autoren wie Fogazzaro, D’Annunzio oder Pascoli wahrnimmt. [8]
Die Emphase der „letteratura scientifica“, die sich mit dem Prestige der „grandi scoperte scientifiche“ gegen die symbolistischen Rivalen und Vorläufer richtet, erinnert an das ähnliche, zumindest vergleichbare Wissenschaftspathos, das die Naturalisten in ihren theoretischen Schriften zu entwickeln pflegten, allen voran der Zola des Roman expérimental. Was Zola und Marinetti verbindet, ist insbesondere das Ideal perfekter Naturbeherrschung. Sie wird einmal als methodisch vollzogene Unterwerfung konzipiert, von welcher der Naturalismus ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Freiheit‘ erwartet: „On entrera dans un siècle où l’homme tout-puissant aura asservi la nature et utilisera ses lois pour faire régner sur cette terre la plus grande somme de justice et de liberté possible“. [9] Für den Futurismus ereignet sie sich eher abrupt als Vergewaltigung und Penetration, wobei die Gewalt kaum einer Rechtfertigung bedarf: „Nausea della linea curva, della spirale e del tourniquet. Amore della retta e del tunnel“ (S. 60). Oder, jeder Utopie fern und ganz realitätsnah: „Ogni bosco di pini pazzamente innamorato della luna, ha una strada futurista che lo attraversa da parte a parte“ (S. 260).
Solche verschiedenartigen Intonationen eines im Grunde identischen Postulats geben nun zu verstehen, daß gerade der Vergleich mit dem Naturalismus klarmachen kann, worin die Eigentümlichkeit (und die eigentümliche Problematik) des Futurismus als idealtypischer Avantgarde-Bewegung liegt. Ihr erstes Distinktiv ist – wie man weiß – der energischer totalisierende Anspruch, den man gewöhnlich unter dem Begriff einer für die historischen Avantgarden charakteristischen „Aufhebung der Kunst in der Lebenspraxis“ faßt. [10] Dieser Begriff trifft, zumal vom Bewußtsein der Avantgardisten her gesehen, etwas Richtiges; doch verwehrt ihm das undifferenziert vorsoziologische Konzept „Lebenspraxis“, die Prätentionen, Schwierigkeiten und (wenigstens partiellen) Mißerfolge der Avantgarde-Bewegungen geschichtlich genauer zu explizieren. Setzt man das im Rahmen der „Institution Kunst“ entstandene Werk in einen konstitutiven Gegensatz zur „Lebenspraxis“, wird damit ja supponiert, es müsse auch in der Moderne so etwas wie einen Rohstoff „Leben“ und eine institutionenenthobene „Praxis“ an sich geben. In Wahrheit steht der „Institution Kunst“ jedoch nicht das – spätromantisch hypostasierte – „Leben“ entgegen, sondern ein Ensemble weiterer Institutionen, und folglich kann der „Versuch der Avantgardisten, die Kunst in den Lebensprozeß zurückzunehmen“, [11] soziologisch nur beschrieben werden als das Projekt, mit Hilfe gewisser vorwiegend im Funktionssystem Kunst entwickelter ästhetisch-moralischer Prinzipien die anderen Funktionssysteme Wissenschaft, Politik, Erziehung usw. zu infiltrieren und schließlich zu okkupieren.
Eben diese Infiltration und Okkupation verschiedener gesellschaftlicher Funktionssysteme hat der Futurismus indes tatsächlich planmäßiger und ernsthafter betrieben als je zuvor irgendeine künstlerische Schule. So war es Zola lange Zeit allein um die Vereinheitlichung literarischer und wissenschaftlicher Verfahren zu tun, während die Idee, den szientifizierten „roman expérimental“ durch eine „politique expérimentale“ zu ergänzen, [12] verhältnismäßig marginal blieb: erst die unvollendeten Evangiles des Spätwerks erhoben einen ideologischen Machtanspruch auch im religiösen und politischen Bereich. Dagegen zeichnet sich Marinettis Futurismo gegenüber Zolas Naturalisme dadurch aus, daß er von vornherein an seinem wirklichen, ‚lebenspraktischen‘ Willen zur Macht keinen Zweifel läßt.
Daß Marinettis Aktivitäten essentiell auf Machtübernahme ausgerichtet sind, wird nicht bloß von den diktatorialen Stilgesten der futuristischen Manifeste verkündigt: etwa dem ‚Diktat‘, als das sich die elf Thesen des Gründungsmanifests präsentieren (vgl. S. 9), oder den Verboten, die das Manifesto tecnico nach anfänglicher Befreiungsrhetorik bald zur Realität eines unablässigen „abolire“ und „sopprimere“ führen (vgl. S. 40f.) [13] Wesentlicher ist im Vergleich zum Naturalismus die eindrucksvolle Systematik, mit der die Futuristen den diversen sozialen Subsystemen gerecht zu werden suchen. Dabei zeigt sich, daß sie durchaus – und jedenfalls weit stärker, als man bei Revolutionären eigentlich vermuten sollte – deren funktionale Besonderheiten berücksichtigen. Z. B. gibt es für die Institution Erziehung den Vorschlag der „scuole di coraggio“, die gleichsam Curricula physischer Risiken und Gefahren anbieten: „I ragazzi sarebbero sottoposti, indipendentemente dalla loro volontà, alla necessità di affrontare continuamente una serie di pericoli sempre più terribili l’uno dell’altro, sapientemente preparati e sempre imprevisti come: l’incendio, l’annegamento, il crollo d’un soffitto o altri simili disastri...“ (S. 265) Für eine Kirche ist die neue „religione-morale della velocità“ vorgesehen, die als ihre Todsünde die „lentezza peccaminosa delle folle domenicali e delle lagune veneziane“ (S. 112) verfolgt, wobei allerdings deutliche Ironiesignale kundtun, daß Marinetti das Funktionssystem Religion kaum noch ernst nimmt.
Um so seriöser und überlegter erfolgt die Besetzung der Domänen Politik und Wirtschaft, welche seit 1918 nicht mehr allein auf die Bewegung vertraut, sondern sich bewußt funktionsspezifisch der Parteigründung des Partito Politico Futurista Italiano bedient. Bezeichnend ist hier, daß dieser Eintritt in einen Praxisbereich, in dem Marinetti jetzt eher mit Mussolini als mit D’Annunzio konkurriert, unverkennbare Modifikationen der avantgardistischen Programmatik und Rhetorik nach sich zieht. Ihr gemeinsamer Charakter besteht nicht nur, wie Manfred Hardt zu Recht betont, [14] in der Konkretisierung ursprünglich vager Ziele, sondern gleichzeitig in deren Mäßigung. Das heißt einem verbreiteten Vorurteil zum Trotz: Sobald sie sich als politische Partei dem konkurrierenden Faschismus nähert, wird die Avantgarde-Bewegung Futurismus mitnichten radikaler, sondern entschieden moderater. [15] Programmpunkte, die wie der „disprezzo della donna“, der Kult physischer Gewalt oder das Postulat des permanenten Kriegs aller sozialen Integrationsfähigkeit entbehren, verschwinden zwar nicht von der Tagesordnung, treten aber in den Hintergrund. Dort verbleiben sie als ein Arkanum der künstlerischen Avantgarde, welche dem ‚langsamen Empfinden des Volkes notwendigermaßen voraus ist‘. Den Vordergrund nimmt dagegen ein integrativer nationalistischer Sozialismus ein, der das nunmehr gemäßigte und den übrigen europäischen Faschismen (mit einigen ‚technokratischen‘ Abweichungen) durchaus vergleichbare Programm der politischen Partei bestimmt; denn:
Il Partito Politico Futurista sarà nettamente distinto dal movimento artistico futurista. Questo continuerà nella sua opera di svecchiamento e rafforzamento del genio creativo italiano. Il movimento artistico futurista, avanguardia della sensibilità artistica italiana, è necessariamente sempre in anticipo sulla lenta sensibilità del popolo. [...] Il Partito Politico Futurista invece intuisce i bisogni presenti e interpreta esattamente la coscienza di tutta la razza nel suo igienico slancio rivoluzionario (S. 301).
Der zweite Unterschied zum Naturalismus manifestiert sich in dem merkwürdig widersprüchlichen Gebrauch, den die Futuristen vom Konzept der Wissenschaftlichkeit machen. Tatsächlich tritt Marinetti ja nicht einfach als ein direkter Opponent gegen das naturalistische „Programm einer ‚verwissenschaftlichten‘ Kunst“ an. [16] Bei aller Verschiedenheit der literarischen Formen und Strukturen wird „Emilio Zola“ zur Überwindung des Symbolismus und seiner „ultimi amanti della luna“ als einer von „quattro o cinque grandi precursori del Futurismo“ mobilisiert – neben Walt Whitman oder Verhaeren, „glorificatore delle macchine e delle città tentacolari“ (vgl. S. 261) –, und dem bekannten Slogan der „grande e forte letteratura scientifica“ ließen sich viele ähnliche Sätze über „lo splendore geometrico e meccanico e la sensibilità numerica“ (S. 84) oder über die „entusiastica glorificazione delle scoperte scientifiche e del meccanismo moderno“ (S. 80) zur Seite stellen. Was den Futurismus hier vom Naturalismus trennt, ist keinesfalls eine Negation, sondern eine Art Aspektwandel der Wissenschaftsemphase. Bei Zola betraf sie die Wissenschaft als experimentelle Methode; bei Marinetti dagegen fixiert sie sich essentiell verdinglicht, ja fetischisiert, auf die Erzeugnisse und Konsequenzen von Wissenschaft.
Die faszinierte Mimesis der Futuristen folgt demnach nicht mehr einer zweckrational disziplinierten „méthode expérimentale“, sondern deren technischen Produkten: worum es geht, ist die „entusiastica imitazione dell’elettricità e della macchina“ (S. 85), während der bedächtige Rhythmus von „sentiment“ – „raison“ – „expérience“, den Zola und Claude Bernard priesen, [17] gleichgültig oder sogar verächtlich wird. Wenn Marinetti sich einerseits an einer „infinita vita molecolare“ berauscht und sie andererseits doch nicht als „documento scientifico“ („ma come elemento intuitivo“) präsentieren möchte (vgl. S. 64), zeigt diese Distinktion, daß die Produkte zweckrationaler Planung im Futurismus einer literarischen Exaltation („ossessione lirica“) anheimfallen, die jeder zweckrationalen Planung absagen soll. Damit entsteht ein Paradox, das wohl den Hauptwiderspruch in Marinettis kulturrevolutionärem Projekt ausmacht. Zum einen beschwören die futuristischen Manifeste all jene Phänomene, welche Symbole kultureller Modernität konstituieren: Automobile, Lokomotiven, Fabriken, Menschenmassen im Rhythmus ihrer Arbeit oder ihres Vergnügens. Zum anderen verlangen sie den Ausbruch aus einer (bürgerlichen) Rationalität, die eben die gefeierten Phänomene der Moderne allererst möglich macht.
So wird Marinetti nicht müde, ein Pathos der Verströmung und Verschwendung gegen das herrschende Ethos der Ökonomie zu richten. Gleichsam zwischen Baudelaire und Bataille fordert er schon im ersten Manifest: „Bisogna che il poeta si prodighi, con ardore, sfarzo e munificenza“ (S. 10), und im Manifesto tecnico heißt es: „L’arte è un bisogno di distruggersi e di sparpagliarsi, grande inaffiatoio di eroismo che inonda il mondo“ (S. 47). Kaum zu zählen sind die Beschimpfungen jeglicher „saggezza“ und „intelligenza“, deren Destruktion zum vornehmsten Ziel futuristischer Didaxis avanciert: „Poeti futuristi! Io vi ho insegnato a odiare le biblioteche e i musei, per prepararvi a odiare l’intelligenza, ridestando in voi la divina intuizione, dono caratteristico delle razze latine“ (ebda.). Gegen den verhaßten „buon senso“ erhebt sich als zunächst poetologisches, später zunehmend auch politisch konkretisiertes Prinzip die „forte e sana Ingiustizia: „L’arte, infatti, non può essere che violenza, crudeltà ed ingiustizia“ (S. 13).
Deshalb muß die Formel, welche K.A. Ott für die von ihm zu Recht betonte Beziehung des Futurismus zu Zolas Entwurf einer ‚verwissenschaftlichten‘ Ästhetik gefunden hat, [18] genaugenommen umgekehrt werden. Nicht der „rationalistische Gebrauch des Irrationalen“ kennzeichnet Marinettis Programm, sondern der forciert irrationalistische Gebrauch des Rationalen, d. h. des modernen Wissenschaftsprodukts Technik. Insbesondere in den unablässig wiederholten Beschwörungen der ‚Schönheit‘ von Aggressivität, Gewalt und Ausbeutung, die dem Futurismus eben nicht bloß akzidentell als eine Verstrickung ins „Reaktionäre“ anhängen, [19] wird offenkundig, daß die Bewegung sich so exzessiv wie keine andere im 20. Jahrhundert gegen das „Unbehagen in der Kultur“ auflehnt. Wahnwitzig schrill und wortreich läßt sie nicht ab, das Tabu zu attackieren, welches die Rationalität der Zivilisation über der privaten Aggression verhängt hat. Dabei erscheint es mir oberflächlich, Marinettis Rhetorik, die sich gerade in diesem Punkt immer wieder acharniert, [20] als eine schlichte Vulgarisierung Nietzschescher Ideen verstehen zu wollen, wie es zumal in der italienischen Kritik gerne geschieht. [21] Von Nietzsche entfernen sich die Aggressionsappelle der Futuristen nicht allein durch ihren affirmativen und bewußt praktisch-politischen Charakter, sondern mehr noch durch ihre apodiktische Verweigerung jeder Argumentation. Sie sind mit Absicht autoritäre Diktate, welche wohl die ‚großen Entdeckungen der Wissenschaft‘ glorifizieren, die Rationalitätsansprüche eines Dialogs aber hartnäckig zurückweisen:
Ci opponete delle obiezioni? [...] La nostra bella e mendace intelligenza ci afferma che noi siamo il riassunto e il prolungamento degli avi nostri [...] Ma che importa? Non vogliamo intendere! ... Guai a chi ci ripeterà queste parole infami! ... (S. 13).
Das hier wie anderweit sichtbare Nebeneinander eines modernitätsfixierten Wissenschaftsenthusiasmus und einer anarchischen Kontestation moderner Rationalitätsordnungen spiegelt sich nicht zuletzt auch in der eigentümlich komplexen und ambivalenten Gestalt, die der Futurismus innerhalb einer Typologie kulturrevolutionärer Bewegungen annimmt. In einer solchen Typologie können als Idealtypen Bewegungen, die den voluntaristischen Gestus des Putsches beanspruchen, von anderen unterschieden werden, die sich auf die Notwendigkeit der Evolution berufen. Natürlich bleiben die extremen Attitüden von Dezision oder legitimierender Ableitung, was die historische Realität angeht, stets in verschiedener Weise ineinander verschränkt. So legitimiert Joachim Du Bellay die Renaissance-Poetik der Pléiade einerseits mit antiken Gattungsmodellen, geht aber andererseits – wie Rudolf Baehr hervorhebt [22] – durchaus dezisionistisch das „unerhörte Wagnis einer Literatur ohne Klassiker“ in der Muttersprache ein. Von Victor Hugo wird die romantische Literaturrevolution einmal – in der Préface de Cromwell – eher legitimistisch als längst überfälliger Vollzug geschichtsphilosophischer Entwicklungen dargestellt, ein anderes und späteres Mal – in der Réponse à un acte d’accusation – dagegen eher putschistisch als individuelle Revolte, die mit ihrem „Alors, brigand, je vins“ höhnisch auf Boileaus „Enfin Malherbe vint“ repliziert. [23]
In Marinettis Manifesten dominiert, unter diesem Aspekt gesehen, nun weithin die Haltung eines Putschisten. Sie prägt die wütenden Aufrufe zur Destruktion, welche die Vergangenheit in ihren „città venerate“ (S. 12) wie in ihrer Syntax vernichten soll. Zu solcher Putschistengebärde passen vorzüglich all jene Momente, in denen Marinetti gegen die zivilisatorische Rationalität protestiert: das „Usciamo dalla saggezza come da un orribile guscio“ und das darauf folgende „Diamoci in pasto all’Ignoto“ (S. 8). Hier sind die Baudelaireschen Anklänge nicht zu überhören, und gelegentlich hat es sogar den Anschein, als ließen sich die futuristischen Verhöhnungen von „saggezza“ und „intelligenza“ unmittelbar neben die Sarkasmen rücken, die ein Villiers de l’Isle-Adam über dem „Bon Sens“ bürgerlicher Vernunft ausschüttet. [24] Immerhin hatte ja auch der Symbolist damit indirekt „ces bourdonnements de gloire, d’honneur et de courage“ gefeiert, [25] die bei Marinetti als „il coraggio, l’audacia, la ribellione“ („elementi essenziali della nostra poesia“) und als „le belle idee per cui si muore“ wiederkehren (vgl. S. 9f.).
Indesen [sic] zeigt sich eben durch den Vergleich mit dem Symbolismus, daß die futuristische Kulturrevolution in der putschistischen Kontestation nicht völlig aufgehen kann. Für die Zerstörung bürgerlicher Vernunft setzt sie wohl primär die Revolte des puren Willens ein, ruft aber gleichzeitig mit ihrer Glorifikation der „grandi scoperte scientifiche“ auch immer wieder die Tendenz der Geschichte und die Macht der in ihr und durch sie entwickelten Produktivkräfte an. Demnach werden die Mythen von „Avenir“, „Progrès“ und „Science“, die bei Villiers Gegenstand des anti-bürgerlichen Protests waren, [26] bei Marinetti umgekehrt (und höchst paradox) zu dessen hauptsächlichem Instrument. Wo der eine – insgesamt sicher mit größerem Recht – den Ursprung des persiflierten „Bon Sens“ sieht, versucht der andere eigensinnig, eine oppositionelle Kraft auszumachen, die doch zugleich von der allgemeinen historischen Bewegung legitimiert ist und mit ihr – wenigstens tendenziell – übereinstimmt.
Derart bewahrt auch die futuristische Kulturrevolution – trotz aller Putsch-Attitüden ihrer Rhetorik – eine evolutive Komponente. Auch Marinetti legitimiert sich durch die Geschichte, wenn er für seine Revolte die objektiven Konsequenzen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung gleichsam als Fundament und Grundprinzip zitiert: „Il Futurismo si fonda (Hervorhebung U.SB) sul completo rinnovamento della sensibilità umana avvenuto per effetto delle grandi scoperte scientifiche“ (S. 57). So wird, um den „Valore Assoluto Di Novità“ (S. 103) durchzusetzen, zur Begründung nichts anderes als das bereits Erreichte und Etablierte beschworen. Oder andersherum betrachtet: Um dem, was ohnehin geschieht, faszinierenden Glanz zu geben, versehen die Futuristen den Gang der Produktivkräfte mit einem Pathos, als bestünde der technisch-industrielle Fortschritt aus Akten heroischer Rebellion. Auf diese Weise entfernt sich der Futurismus vom naturalistischen Wissenschaftsenthusiasmus, indem er ihm die Motive einer Revolte gegen rationale Zwänge unterschiebt, wie sie von vielen Symbolisten oder Parnassiens betrieben wurde. Dagegen entzieht er sich der symbolistischen Wissenschaftsverweigerung, indem er ihr ein Ideal rationaler Naturbeherrschung und -ausbeutung entgegenhält, wie es manche Naturalisten und vor allem Zola vertraten. [27]
Die letztere Distanzierung wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, daß wesentliche Prinzipien der futuristischen Manifeste für den Symbolisten Villiers de l’Isle-Adam eine entschieden ironisch-parodistische Funktion besaßen. Hieß es in seinen Contes cruels: „Nos victoires sur la Nature ne se comptent plus“ oder „Le Progrès nous emporte en son torrent“, so war das gerade in der Bloßstellung eines affirmativen Slogan-Stils zweifelsohne kritisch gemeint, und Kritik sollte an denselben Stellen auch beim Thema der Schnelligkeit („Découvrons à la hâte! Inventons! Oublions! [...] La vitesse de notre entraînement prend des proportions de brouillard […] admirables“) lautwerden. [28] Erst recht ging es um Widerstand gegen den kapitalistischen Fortschritt, wenn der Conte L’Affichage céleste vorschlug, den Himmel als Reklamefläche zu nutzen, wobei die Schlagworte im Interesse jener „animation extraordinaire que les intérêts financiers sont seuls capables de donner, aujourd’hui, à des villes sérieuses“ lauteten: „élever [...] le ciel à la hauteur de l’époque“, „mettre à profit le firmament jusqu’à ce jour improductif“, „offrir [...] à nos grandes industries manufacturières et même aux petits négociants, le secours d’une Publicité absolue“. [29]
Genau die gleichen Slogans, die der Symbolist kompromittieren möchte, werden vom Futurismus indes triumphal bestätigt. Zwar überdauert aus der oppositionellen Literatur des Dix-Neuvième die Absicht, den alten Kampf gegen Flachheit und Langeweile des „Bon Sens“ radikal fortzuführen; doch besteht die neue Radikalität in der exaltierten Anverwandlung an die Produkte von Fortschritt und Wissenschaft. „Abbiate fiducia nel progresso, che ha sempre ragione, anche quanto (!) ha torto, perché è il movimento, la vita, la lotta, la speranza“ (S. 271), wird jetzt als Botschaft verkündet, und zu den zentralen Punkten des Manifests vom 11. Mai 1913 zählen die aus Villiers’ Hohn ins Affirmative übersetzten Postulate: „Passione, arte, idealismo degli Affari. Nuova sensibilità finanziaria“, oder: „Derisione del divino silenzio verde e del paesaggio intangibile“ (S. 59).
Das Pathos der Verschwendung, Unvernunft und Aggressivität, das dem Futurismus sein putschistisches Gehabe verleiht, ist folglich stets mit einem ebenso emphatischen Appell zur Anpassung an den Weltlauf und zumal den Fortschritt der Produktivkräfte kombiniert, einem Appell, der übrigens dem Surrealismus ziemlich fremd bleiben wird. Dabei kann man feststellen, daß sich der Putsch vorwiegend auf die Verhältnisse im Funktionssystem Kunst bezieht, wo die „sputi gloriosi che il Futurismo ha lasciato cadere sul ridicolo Altare dell’Arte coll’A maiuscolo“ (S. 56) tatsächlich einen transgressiven Akt darstellen mögen. Eben die Transgression im Funktionssystem Kunst setzt bei den Futuristen jedoch eine langfristige Konformität zu den Tendenzen anderer und weniger peripherer gesellschaftlicher Funktionssysteme (z. B. Ökonomie, Militär oder Politik) voraus. So erklärt sich vielleicht auch die merkwürdige Mischung von Erfolg und Mißerfolg, welche den Aktivitäten der Bewegung zuteil wurde. [30] Wie ich vermute, blieb der Futurismus als Kunst-Politik einer putschistischen Führerpersönlichkeit, Gruppe und Partei nur deshalb relativ erfolglos, weil er der Sache nach in seinen wirtschaftlichen oder kriegerischen Postulaten – wenn man so will – allzu erfolgreich wirkte. In gewissem Sinn hat jedenfalls keine weitere Schule avantgardistischer Kunst ähnlich viele Siege erringen können, die sich – aus der Kraft von Marinettis rebellischer Konformität – derart manifest einstellten, daß sie ihre literarischen Förderer und Propheten am Ende überflüssig machten. Was die Futuristen als Infiltration und Okkupation anderer Realitätsbereiche geplant hatten, mündete schließlich – und pour cause – in der eigenen Absorption.
Dabei sind zu den Erfolgen der rebellischen Konformität des Futurismus nicht allein zwei Weltkriege zu zählen, welche Marinetti in ausreichendem Maß die ersehnte ‚hygienische‘ Zerstörung und das Erlebnis eines „Futurismo intensificato“ bieten mochten. Realität wurden seine Forderungen, die ja meistens zugleich Bestätigungen waren, auch im Kleineren und Alltäglichen. Der bereits zitierte Satz „Ogni bosco di pini pazzamente innamorato della luna, ha una strada futurista che lo attraversa da parte a parte“ ist heute nicht mehr Postulat, sondern Wirklichkeit. Desgleichen gehören zur heutigen Wirklichkeit „Cartelloni multicolori sul verde dei prati“ (S. 261), ohne daß es dafür noch der revolutionären Geste des Ausrufs „Ciò basti a dirvi come noi disprezziamo i difensori dell’estetica del paesaggio, stupido anacronismo“ (S. 260) bedürfte. Weltweit verbreitete Realität sind Marinettis Begeisterung am sportlich Quantitativen, „Concezione e amore del ‚record‘“ (S. 59), und selbst seine Ästhetik des „Teatro di Varietà“, die nichts anderers [sic] bedeutet als die Fernseh-Ästhetik der Tagesschau: „cumulo di avvenimenti sbrigati in fretta e di personaggi spinti da destra a sinistra in due minuti (‚ed ora diamo un’occhiata ai Balcani‘: Re Nicola, Enver-bey, Daneff, Venizelos, manate sulla pancia e schiaffi tra Serbi e Bulgari, un couplet, e tutto sparisce)“ (S. 71). Solche und ähnliche Verifikationen futuristischer Programme lassen erkennen, wie sehr die zunächst propagierte Dynamik revoltierender Gewalt von Anfang an zur Teilhabe an der Dynamik herrschender Gewalten drängte. Nur soweit der Futurismus mit ihnen übereinkam, ist er auch selbst ein Element historischer Macht geworden. Vom ‚Reiz‘ seiner Widersprüche kann in dieser Hinsicht dann freilich nicht mehr gesprochen werden, eher von einer desolaten Wahrheit, die sich im objektiven, geschichtlichen Erfolg deutlicher noch offenbart als im subjektiven, zumeist literarischen Scheitern. [31]
1 Für ihn seien exemplarisch zwei Formulierungen der Communis Opinio genannt. H. Finter (Semiotik des Avantgardetextes, Stuttgart 1980, S. IX) zeichnet – freilich als erste Skizze, die später präzisiert wird – das Bild einer „provokativen Mischung aus revolutionärer und reaktionärer Attitüde“ (auch einer „seltsamen Mischung aus modernen Verfahren und rückschrittlichen Gedanken“). C. Salaris befindet über die ‚Widersprüche‘ Marinettis (Storia del Futurismo, Roma 1985, S. 251): „Marinetti è un rivoluzionario dell’arte ma anche accademico, un paladino della rivolta del desiderio, ma anche l’autore di opere belliciste, anarchico e uomo inquadrato.“
2 Die bei allen futuristischen Texten angeführten Seitenzahlen beziehen sich auf die Ausgabe: F.T. Marinetti, Teoria e invenzione futurista,Introduzione, testo e note a cura di Luciano De Maria, Milano 1968.
3 Beispielsweise wird schon 1910 die Erschließung Venedigs für den modernen Straßenverkehr (und die Zuschüttung der Kanäle) mit dem folgenden, gewissermaßen kriegsvorbereitenden Argument propagiert: „Non urlate contro la pretesa bruttezza delle locomotive dei tramvai degli automobili e delle biciclette in cui noi troviamo le prime linee della grande estetica futurista. Potranno sempre servire a schiacciare qualche lurido e grottesco professore nordico dal cappelluccio tirolese“ (S. 32).
4 Zu Marinettis Vorstellung vom Krieg als einem permanenten Fest vgl. auch De Marias – allerdings ausgesprochen apologetisch getönte – Einführung „Marinetti poeta e ideologo“, in: F.T. Marinetti, a.a.O., S. XIX–LXXI, hier S. XLIIIff. Auf jeden Fall zustimmen kann man De Maria bei der Feststellung: „Ogni analisi in profondità della ideologia futurista conduce alla realtà ultima della guerra: lì risiede il tratto grandiosamente regressivo del futurismo, di cui l’acceso nazionalismo bellicista non fu che epifenomeno, incarnazione storico-politica“ (S. XXXII).
5 Vgl. dazu in Le Rouge et le Noir etwa Mathildes Klage über die Furcht des jungen Restaurationsadels vor jeglicher Energie: „Ce n’est au fond que la peur de rencontrer l’imprévu, que la crainte de rester court en présence de l’imprévu“ (Stendhal, Le Rouge et le Noir,Ed. H. Martineau, Paris 1960, S. 312). Im Tagebuch der Goncourt heißt es am 22. Juni 1864: „Jamais une catastrophe, quelque chose de terriblement imprévu, un déluge, pas même une révolution“; am 31. August 1865: „On marche à la destruction de l’aventure et de la grâce du hasard, en toutes choses dans la société, l’architecture, le paysage“ (E. et J. De Goncourt, Journal,Ed. R. Ricatte, Paris 1956, Bd. 2, S. 60 und 195).
6 Vgl. „Das Realismus-Argument“, Poetica 15 (1983), S. 314–328, hier S. 326ff.
7 Im „Gedrängel auf dem Parnaß“ zeigt sich nach Eibl „eine sehr reale Dimension der ‚Zeitlosigkeit‘ von Dichtung, nämlich eine enorme Verschleißfestigkeit. Der Schneidermeister und Weinhändler Göthé war nur kurze Zeit ein Konkurrent anderer Schneidermeister und Weinhändler. Sein Enkel ist nun schon 200 Jahre anderen Dichtern im Wege“ (ebd. S. 326).
8 Deren ausführliche Beschimpfung enthält das Manifest Noi rinneghiamo i nostri maestri simbolisti ultimi amanti della luna (vgl. S. 261). Dort verwirft Marinetti „lo stomachevole caffè e latte di sacristia del nostro deplorevole Fogazzaro“, „il sentimentalismo balbuziente e botanico di Pascoli“ und D’Annunzios „quattro veleni intellettuali“: „la poesia morbosa e nostalgica della distanza e del ricordo, il sentimentalismo romantico [...], l’ossessione della lussuria [...], la passione professorale del passato“.
9 E. Zola, Œuvres complètes, Paris 1906, Bd. 19, Œuvres critiques, S. 119.
10 Vgl. P. Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974, S. 69 und passim.
11 Vgl. ebd. S. 68.
12 Vgl. E. Zola, a.a.O., S. 550ff.
13 Nicht zuletzt angesichts dieser Stilgesten erscheint mir das Beharren De Marias und anderer italienischer Kritiker auf einem ‚essentiell libertären und anarchischen‘ Charakter von Marinettis Ideologie ziemlich unrealistisch und naiv (vgl. F.T. Marinetti, a.a.O., S. XXXVIII).
14 Vgl. „Futurismus und Faschismus“, RF 94 (1982), S. 381–419, bes. S. 390 und 409.
15 Hier sieht Marinetti selbst sicherlich schärfer als die Mehrzahl seiner wohlmeinenden Interpreten, wenn er dem „caro e grande amico Benito Mussolini“ 1924 erklärt, die Machtübernahme durch den Faschismus bedeute nicht mehr als die Realisierung eines futuristischen Minimalprogramms, des „programma minimo futurista“ (vgl. S. 430).
16 Vgl. dazu K.A. Ott, „Die wissenschaftlichen Ursprünge des Futurismus und Surrealismus“, Poetica 2 (1968), S. 371–398, hier S. 374.
17 Vgl. E. Zola, a.a.O., S. 121.
18 Vgl. K.A. Ott, a.a.O., S. 373.
19 Wie intensiv sie bereits Marinettis frühe französische Gedichtsammlungen durchziehen, zeigen eindringlich die Interpretationen von H. Meter, Apollinaire und der Futurismus, o.O. (Rheinfelden) 1977, S. 67–85.
20 Vgl. dazu die erhellende Analyse von J. Riesz, „Der Untergang als ‚spectacle‘ und die Erprobung einer ‚écriture fasciste‘ in F.T. Marinettis ‚Mafarka le Futuriste‘ (1909)“, in: U. Schulz-Buschhaus/H. Meter (Hrsg.), Aspekte des Erzählens in der modernen italienischen Literatur, Tübingen 1983, S. 85–99, bes. S. 92ff.
21 Vgl. z. B. W. Binni, La poetica del Decadentismo, 3Firenze 1961 (1. Aufl. 1936), S. 143; F. Flora, Saggi
di poetica moderna, Messina 1949, S. 81, oder neuerdings L. De Maria (F.T. Marinetti, a.a.O., S. XXIVf.).
22 Vgl. „Die literarhistorische Funktion und Bedeutung der Deffence et illustration de la langue Francoyse“,in Stimmen der Romania – Festschrift für W. Theodor Elwert, Wiesbaden 1980, S. 43–59, hier S. 52.
23 Vgl. V. Hugo, Les Contemplations, Ed. L. Cellier, Paris 1969, S. 20.
24 Vgl. dazu insbesondere die Erzählung Le Traitement du Docteur Tristan in Villiers de l’lsle-Adam, Contes cruels Nouveaux Contes cruels, Ed. P.-G. Castex, Paris 1968, S. 264–269, vor allem S. 266: „Le traitement du Dr Chavassus est tout rationnel; sa devise est: ‚Tout pour le Bon-Sens et par le Bon-Sens!‘ Plus d’inspirations héroïques à craindre, avec lui.“
25 Vgl. ebd. S. 268.
26 Vgl. zu ihnen die Erzählung L’Affichage céleste, ebd. S. 51–58.
27 Mit dieser – wie ich hoffe – hinlänglich differenzierten literarhistorischen Situierung möchte ich explizit einer in Italien üblichen Perspektive widersprechen, welche seit Gramsci (und übrigens auch Trotzki) im Futurismus – zum Bösen oder zum Guten – gerne den letzten Ausläufer einer ‚romantischen‘ Tradition erblickt, was freilich ein extrem weites und unbestimmtes Verständnis des Begriffs Romantik zur Prämisse hat. Vgl. dazu beispielsweise noch L. De Maria (F.T. Marinetti, a.a.O., S. XXVIIff.).
28 Vgl. Villiers de l’Isle-Adam, a.a.O., S. 180 und 264.
29 Vgl. ebd. S. 52f.
30 Zu ergänzenden und gewiß ebenso triftigen Erklärungsargumenten vgl. M. Hardt (a.a.O., S. 418), der bezüglich des partiellen Mißerfolgs vor allem an Marinettis fehlenden Rückhalt bei den Massen erinnert, sowie H. Finter (a.a.O., S. 214f.), welche die „Fetischisierung der Realität in einer erotisierten Technik“ als politisch-strategischen „Mangel“ des futuristischen Diskurses gegenüber der faschistischen „Konkretisierung des einenden Prinzips in einer realen Person“ betrachtet.
31 Woran die futuristische Literatur in ihren konkreten Texten scheiterte, ist am kürzesten und präzisesten wahrscheinlich von Octavio Paz beschrieben worden: „EI poema futurista no se encaminaba hacia el futuro sino que se precipitaba por eI agujero del instante o se inmovilizaba en una serie inconexa de instantes fijos. Eliminación del tiempo corno sucesión y como cambio: la estética futurista del movimiento se resolvió en la abolición del movimiento“ (Los hijos del limo, 3Barcelona – Carácas – México 1981, S. 171). Von Octavio Paz stammen auch die vielleicht prägnantesten Formulierungen einer pointiert anti-futuristischen Poetik der Moderne: „La oposición entre el espíritu poético y le revolucionario es parte de una contradicción mayor: la del tiempo lineal de la modernidad frente al tiempo rítmico del poema. [...] La literatura moderna es una apasionada negación de la era moderna“ (ebd. S. 155).
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